Einfach gelöscht.
Erst auf Facebook und danach seine E-Mailadresse.
Die wöchentlichen Anrufe über den großen Teich bleiben aus und somit herrscht Funkstille.
Adrian hatte Max noch am Silvesternachmittag angerufen, um ihm gute Besserung zu wünschen.
Max war seit Tagen krank, so wie er sich anhörte.
„Nichts schlimmes,“ beruhigte er Adrian. “Ich habe mir eine leichte Erkältung eingefangen.“
Erkältungen belasteten seine Bronchien. Eine Angelegenheit, die er seit Kindertagen mit sich herumschleppte und Adrian war besorgt.
Telefonkosten auf das Handy seines Sohnes spielten deswegen im Moment keine Rolle. Normalerweise telefonierten er oder Veronique mit Max über dessen Firmentelefon, da konnten sie die Countryflat nutzen.
„Mir geht es gut,“ bestätigte Max nochmal.
Wiedermal fiel Adrian auf, wie wenig sie sich bei den wöchentlichen Telefongesprächen zu sagen hatten.
Kurz darauf meldete sich Max erneut und verlangte umgehend seine Mutter zu sprechen. Adrian wunderte sich zwar, ging aber gleich nach oben ins Schlafzimmer, in dem sich seine Frau gerade aufhielt und überreichte ihr das Telefon.
„Max nochmal,“ sagte er und reichte ihr den Hörer.
Später - nach einer gefühlten Stunde – betrat Veronique das Wohnzimmer. Natalie - ihre gemeinsame Tochter - saß auf dem Sofa, während Adrian gerade mit seiner Enkeltochter Fangen spielte, wobei er gebückt hinter ihr her lief, während das Kind versuchte mit seinen tapsigen Beinchen kreischend vor Freude um den Tisch herum zu laufen.
„Max möchte in Zukunft keine Anrufe mehr von uns, vor allem nicht von dir,“ platzte Veronique in die traute Zweisamkeit von Opa und Enkelin hinein.
Adrian verspürte einen Stich in der Brust und dachte: Nicht wieder ich und nicht wieder eine Abwendung, weil ich als Mensch und als Vater versagt habe.
Seine Frau setzte sich neben Natalie, die auf der Couch.
„Das habe ich kommen sehen,“ sagte Natalie und stand auf. Sie nahm die Kleine und ging mit ihr in die Küche um sie zu füttern.
„Er sagt, dass er in nächster Zeit viel nachdenken muss. Außerdem ist die Beziehung mit dieser Isländerin mittlerweile eine gewesene Beziehung.“
Adrian liebte nach über 30 Jahren Ehe und 2 Kindern immer noch Veroniques gebrochenes Deutsch und ihre sprachlichen Stilblüten. Trotzdem überhörte er nicht ihre Missstimmung.
“Das ging aber schnell," entfuhr es ihm. Es war noch keine zwei Monate her, seit er diese Frau in New York kennengelernt hatte.
„Er ist jetzt endlich zu dem Entschluss gelangt, an seiner Unfähigkeit, Beziehungen zu führen, zu arbeiten.“
„Ist er bei einem Psychiater?“ Adrian wusste gleich, dass es so war, als er die Frage stellte. Alle Amerikaner gingen zum Psychiater.
„Er hat bereits zwei Sitzungen hinter sich. Max meint, dadurch habe er erkannt, dass ihn unsere Art, mit ihm umzugehen überfordert. Das war mit der Grund, warum er an Weihnachten nicht da war. Jedes mal gibt es Streit zwischen uns. Er kann es nicht mehr ertragen."
Schmerzlich wurde Adrian bewusst, wie recht Max hatte. Es gab zu oft Streit zwischen ihm und Veronique. Trotzdem hingen sie seit über 30 Jahren aneinander wie die Kletten. Veronique seufzte.
"Es liegt ja auch an mir, nicht alleine an Dir. Bei uns Zuhause wurde oft herum geschrien."
Aha, dachte Adrian, das war eine neue Seite an ihr, die er nicht kannte.
Veronique erzählte ihm die Geschichte von dem Nachbarn im Haus ihrer Eltern. Er randalierte einmal im Alkoholrausch herum, worauf sich ihr Vater darüber bei ihm beschwerte. Der Mann antwortete ihm, dass er still sein müsse. Schließlich war es ja bekannt, dass er sich mit seiner Frau fast täglich lauthals stritt, so dass es jeder in der Nachbarschaft mit bekäme.
„Das habe ich nie vergessen,“ sagte Veronique.
„Ich war auch nicht viel besser in den vergangenen 30 Jahren,“ gestand Adrian und erhoffte sich Mitleid von Veronique wegen dieses Geständnisses.
Natalie kam mit der Kleinen zurück. Das Kind wollte sofort auf den Boden, um Schnurstraks wieder um den Tisch zu laufen.
„Und? Was ist jetzt mit Max?“ wollte Natalie wissen.
Veronique erzählte ihr nun ausführlicher von dem Telefonat, das sie mit ihrem Bruder geführt hatte. Adrian versuchte derweil nachzuvollziehen, wie unwohl sich Max hier gefühlt haben musste. Er hörte Natalie sagen, sie hätte auch vermutet, dass der Umgang zwischen ihm und Veronique der Grund für Max fernbleiben sei.
Natalie hatte selbst nach Adrians und Veroniques Auffassung genug eigene Probleme. Sie kam mit ihrem Lebenswandel und ihrem sozialen Gefüge nicht klar. Zum Glück hatte sie Matthias – ihren Ehemann -, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Die Eltern durften halt am wenigsten sagen. Außerdem erholte sich Natalie gerade von einem längeren Krankenhausaufenthalt, da hatten die Eltern sie gefälligst zu schonen. „Wartet ihr mal, ich muss was schauen.“
Natalie schwebte ins Esszimmer und setzte sich an Adrians Laptop, während Veronique sich mit ihrer Enkeltochter beschäftigte.
„Max ist nicht beziehungsfähig," platzte Adrian in die Stille hinein.
„Das weiß er ja auch und gibt seiner Erziehung die Schuld,“ meinte Veronique.
„Meistens erziehen sich die Kinder selber und können es nicht mehr auf ihre Eltern schieben“ war Adrian der Meinung.
„Das was in der Kindheit war, prägt sie für ihr ganzes Leben."
"Und da gab es auch schöne Momente,“ antwortete er.
„Die selten genug waren.“
„Danke“.
Veronique ging mit dem Kind auf dem Arm in die Küche und machte sich dort geräuschvoll zu schaffen.
„Max hat mich von der Freundschaftslist bei Facebook entfernt,“ rief Natalie entrüstet herüber.
„Das war klar,“ rief Veronique aus der Küche.
„Na klar ist das nicht,“ raunzte Natalie und kaute an ihren Fingernägeln, während sie seufzend den Bildschirm von Adrians Laptop schloss.
„Ich finde das unmöglich.“
Veronique kam mit den Fonduezutaten zurück und setzte den Topf auf die Flamme. Hinter ihr lief die Kleine und sie ermahnte das Kind, nicht zu nah an den Tisch zu kommen.
„So, wer will kann essen,“ forderte sie die Beiden auf und setzte sich neben Natalie. Die Kleine platzierte sie in sicherer Entfernung von der Flamme auf die Eckbank.
„Mir ist nicht nach Essen,“ maulte Adrian. Er erbarmte sich trotzdem, zwei Stückchen Fleisch aufzuspießen.
„Das ist wieder mal typisch für dich,“ maulte Veronique zurück und sah Adrian enttäuscht an.
„Ich hasse dieses mimosenhafte Getue. Genau wie letztes Weihnachten. Du standest plötzlich beleidigt vom Tisch auf und gingst rüber in die Nebenwohnung, um dir die halbe Nacht am Computer um die Ohren zu schlagen, während dein Sohn alleine hier am Tisch saß. Am meisten hat es ihn getroffen, als du ihm am anderen Tag sagtest, froh zu sein, wenn er ginge.“
Veronique starrte Adrian verbissen an, während sie lustlos vor sich hin kaute.
„Doch nur, weil er gesagt hat, es ist ihm ganz recht, wenn er wieder fort muss,“ versuchte sich Adrian halbherzig zu verteidigen.
„Mach nur so weiter.“
„Nein Papa, das war nicht in Ordnung,“ mischte sich Natalie ein und schüttelte zur Bestätigung ihren Kopf. Adrian wunderte sich, wie aggressiv Natalie in letzter Zeit geworden war.
"Es gab bei euch jede Weihnachten Stress.“
„Du warst die letzten 5 Weihnachten nicht da,“ entgegnete Adrian genervt.
„Das haben wir aber geklärt, oder?“
„Natalie das ist eine andere Sache," meldete sich Veronique zu Wort.
„Nein Mama, das ist keine andere Sache, sondern das Thema.“ Sie warf ihre Gabel regelrecht auf den Teller und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas, während die Kleine sie verschreckt von der Eckbank aus anstarrte.
„Warum ich die letzten 5 Jahre nicht hier war hat andere Gründe und damit müsst ihr euer Problem mit Max nicht auf mich schieben.“
„Tun wir doch gar nicht,“ entgegnete Adrian besänftigend. „Im Übrigen scheint Max auch mit dir nichts mehr zu tun haben zu wollen.“
„Der ist halt geschockt, von der ganzen Familientragödie,“ verteidigte sich Natalie.
„Ich bringe mal die Kleine zu Bett.“ Veronique stand auf und ging mit dem Kind nach oben.
Der Gedanke an einen Streit am Silvesterabend war für Adrian wie ein schlechtes Gewürz, das sein fein geschmackliches Aroma verloren hatte. Zudem war es in der Vergangenheit bei solchen oder ähnlichen Gelegenheiten immer zu Streitigkeiten gekommen. Ob mit Nadine oder Veronique, oder mit Beiden. Solche Erkenntnisse stimmten Adrian nachdenklich und ihm kam es vor, als schien es Äonen her zu sein, seit es in dieser Familie gute Gespräche und ruhige Abende gab.
Veronique kam wieder herunter und setzte sich an den Tisch.
„Die Kleine ist gleich eingeschlafen,“ bemerkte sie beiläufig und aß weiter
„Max hat sich nie wohl gefühlt hier,“ sagte Natalie jetzt.
„Wie kommst du da drauf?" Adrian sah seine Tochter fragend an. „Er sagte, dieses Haus sei für ihn Heimat......“
„....und fühlte sich mehr und mehr eingeengt, wegen den Streitereien,“ gab Natalie zu bedenken.
„Das Thema hatten wir gerade,“.
„Es sollte endlich besprochen werden,“ beharrte Natalie stur darauf.
„Ich will nicht über die Vergangenheit sprechen.“
„Dann solltest du endlich mal damit anfangen Papa, so kann man die Gegenwart bewältigen.“
„Damit alle sagen, der böse Adrian sei Schuld daran, dass die Familie verkorkst ist?“
„Dein Vater hat keine Vergangenheit,“ mischte sich Veronique ein. „Er sieht nur die Gegenwart. Wenn ich ihn auf Vergangenes anspreche blockt er ab“.
„Es geht hier um Max und die derzeitige Situation,“ gab ich lauter, als beabsichtigt zu bedenken.
„Schrei nicht.“ Veronique schien auf einmal irritiert zu sein.
„So gesehen haben wir wohl alle unsere Leichen im Keller.“ Damit überging Adrian den Einwand seiner Frau geflissentlich, wie er alle ihre Einwände im Laufe der Jahre übergangen hatte.
Natalie sah ihren Vater fragend an
„Du mit deinen Leichen, was soll das denn immer? Was willst du mir damit sagen?“
„Vielleicht wird Max erst jetzt die Geschichte mit Laura bewusst“ bohrte Adrian.
„Welche Geschichte?“ fragte Natalie lauernd und erhob ebenfalls ihre Stimme.
„Ach Natalie, denk an die vergangenen 5 Jahre mit deinem letzten Kerl und was er mit Laura........“
„Jetzt reicht es.“
Erbost schmiss sie ihre Fonduegabel erneut auf den Teller und die Papierserviette hinterher, während sie abrupt aufstand und uns mitteilte, dass sie Matthias anrufe.
"Mir reicht es, ich habe die Nase voll von euch. Er soll uns gleich abholen“ Damit verließ sie den Raum. Veronique schwieg. Adrian schwieg. Jeder hing seinen Gedanken nach. Nach einer halben Stunde kam Natalie zurück.
„Matthias kann jetzt nicht, er hat in der Küche viel zu tun....“
„Das war klar,“ unterbrach sie Adrian so ruhig wie möglich.
„Ach was, er hat gesagt, wenn was wäre, soll ich anrufen. Jetzt ist es halt mal so. Ich lege mich hoch zu der Kleinen. Für mich ist Silvester gelaufen.“
Für Adrian war Silvester ebenso gelaufen und für Veronique auch.
Gemeinsam räumten sie noch den Tisch ab. Danach sagte er, dass er ins Bett ginge.
„Wie jedes Silvester.“ giftete Vereonique hinter ihm her.
Als Adrian und Veronique am Neujahrsmorgen spät aufstanden, waren Natalie und die Kleine bereits fort. Matthias musste die Beiden früh abgeholt haben, ohne dass sie es merkten.
Schweigend verlief das Frühstück. Kein Wort vom gestrigen Abend. Keine gegenseitigen guten Wünsche im Neuen Jahr.
Wie jedes Jahr, dachte Adrian und kaute verbissen an seinem Frühstücksbrot herum.
„Hast du Natalie heute morgen gehört?“ fragte er in das Schweigen hinein.
Veronique gähnte zunächst demonstrativ.
„Nein,“ sagte sie dann mokant und sah auf. „Natalie ist krank,“ sprach sie weiter und beschäftigte sich mit ihrem Terminkalender. "Und sie braucht Hilfe.“
„Möglich wäre das, ich verstehe aber trotzdem nicht warum Max unsere Accounts gelöscht hat."
Veronique sah ihn seufzend an.
„Das hatten wir gestern besprochen." Ihm kamen die ganzen Ereignisse zwischen Natalis Freund und ihrer ältesten Tochter hoch. "Dieser Missbrauchsversuch...“
„Pscht......schweig bitte.“
„Ich darf.......“
„Natürlich darfst du Veronique. Aber wir haben jetzt eine neue Situation.“
„Ich habe Max gesagt, dass ich monatlich eine Mail an ihn schicke, um zu wissen, ob es ihm gut geht. Ansonsten keine Anrufe mehr von unserer Seite.“
Für einen Moment fragte sich Adrian, ob seine Frau nicht zu hart mit ihrem Sohn umging. Aber sie würde sich wieder einkriegen, dessen war er sich sicher.
„Ich glaube, wir werden uns in Zukunft um uns und unsere Probleme kümmern. Die Kinder sollen ihr eigenes Ding machen.“
„Ich war halt der Meinung, dass Eltern sind für ihre Kinder da sein sollten, egal was kommt,“ gab Adrian zu bedenken.
„Die Kinder sind für uns aber auch nicht da. Du hast es jetzt erlebt. Max hat uns gelöscht. Natalie ist ohne ein weiteres Wort abgehauen. Du bist über 60 und ich gehe auf die 60 zu. Wer weiß, wie lange wir beide noch fit sind. Können wir auf die Kinder zählen, wenn es uns mal nicht gut geht? Ich glaube nicht. Wir unternehmen in Zukunft zusammen das, was wir uns finanziell leisten können und die Kinder bleiben außen vor."
"Du hast recht," sagte Adrian und musste an Aristoteles denken: Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
widme diese Kurzgeschichte wie immer meiner Frau Madeleine Stephanny, die meine Spinnereien erträgt.
Das Coverbild wurde freundlicherweise von BookRix zur Verfügung gestellt