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Quo Vadis

Endlich besuche ich wieder meine Heimatstadt. Dort bin ich aufgewachsen, habe gelebt, geliebt, getrauert. Gut zwei Jahre sind es jetzt her, seit ich das Grab abgeräumt habe. Es barg die letzten Erinnerungsgeheimnisse der Familie. Die Namen von Eltern und Großeltern auf den Steinen sind verblasst. Sie lebten am Rande der Großstadt, am Rande des Dschungels. Der Regen hatte nichts als hässlich angesäuertes Grün in den Ritzen der Buchstaben hinterlassen.

Ich bin ein Landmensch geworden und die Großstadt ist nicht mehr mein Ding. Je mehr ich sie meide, desto weniger komme ich mit ihr und ihrem Umfeld zurecht. Es ist nicht der Drang, meine Wurzeln zu spüren. Eher die Angst, mich mit ihnen in dieser Anonymität zu verlieren.

Als Kind verbrachte ich meine Ferien bei Onkel und Tante auf dem Land. Der Onkel war ein bösartiger Mensch, der seinen Mitmenschen das Leben, das Geld und mir meine Träume neidete. Ich kokettierte vor ihm gerne und aus der kindlichen Naivität heraus mit viel inbrünstiger Überzeugungskraft, dass ich in einer Großstadt lebe.

„Das ist doch keine Großstadt,“ hänselte er mich gehässig, was mir Tränen in die Augen trieb. Ich litt regelrecht für meine Großstadt.

„Ihr lebt natürlich in einer Großstadt,“ gab mir meine Tante für gewöhnlich recht, war sie doch selbst dort geboren.

Mein Vater bezeichnete unsere Stadt als Großstadt. Ich musste meine Mutter öfters ins Stadtzentrum zum Einkaufen begleiten. Mich faszinierte dieses Gewusel von Menschen, Klingeln der Straßenbahnen und Hupen der Autos dermaßen, dass es mir eiskalt den Rücken herunterlief. Ich kam mir zwischen all den eilig entgegenkommenden Fußgängern verloren vor. Trotzdem wusste ich instinktiv, dass ich ein Teil dieses Dschungels war. Gerade heute bin ich auf dem besten Weg, den Dschungel zu erspüren und ihn hautnah zu erleben. Ich freue mich darauf.

In meiner alten Straße lasse ich das Auto stehen. Hier bin ich groß geworden, zwischen bedeutungsschwangeren Dramen der Nachkriegszeit. Ich habe sie bis heute nicht vergessen.

Während ich aussteige, streift mein Blick unseren ehemaligen Wohnblock und bleibt an der Jahreszahl der Erbauung, die in seltsamen lateinischen Lettern an der Fassade prangert, haften. Hier ist kein Mensch mehr in der Lage, lateinische Majuskel zu lesen, geschweige denn, sich Gedanken über den Ursprung solcher Häuser zu machen. Die Städtische Siedlungsgesellschaft war in den 80ern bei der ersten Renovierung der Meinung, dass die historische Jahreszahl erhalten werden musste.

Ich schaue mich um, wobei ich den Eindruck habe, dass nichts mehr an die Straße meiner Kindheit erinnert. Verwahrloste und ungepflegte Hecken. Dazwischen Papier- und Plastikfetzen. Fahrräder liegen auf dem ehemals sauber geschnittenen Rasen, daneben stehen Fahrradanhänger. Die modernen, die es heutzutage zu kaufen gibt. Mit Verdeck für ein Kind, oder für Zwillinge.

Ich beschließe – entgegen meinem ursprünglichen Vorhaben – zu Fuß ins Stadtzentrum zu gehen. Obwohl ich vorne an der Ecke in die Straßenbahn einsteigen wollte. scheue ich mich die Fahrkarten zu lösen. Ich habe Angst, jemanden fragen zu müssen, wie das funktioniert. Als Landmensch verlernt man schnell, sich im Dschungel zurechtzufinden.

Als meine Mutter hier noch lebte, war die Tatsache, dass die Bahn ihren Stadtteil erreicht hat einer der Höhepunkte in ihrem langen Leben.

„Heute morgen habe ich zweimal den Bus verpasst, schimpfte sie seinerzeit öfters".

„Du musst halt früher losgehen,“ antwortete ich ihr gewöhnlich.

„Bin ich ja, aber dann traf ich Frau Maier und gleich drauf Frau Eisinger. Die hielten mich wie auf.“

Das war vor der Straßenbahn. Sie kam jetz alle 10 Minuten, und es reichte für ein oder zwei Schwätzchen mit irgend jemandem. Aber diese „Irgendjemande“ wurden mit der Zeit weniger, so dass sie in den letzten Jahren ihres Hierseins die Straßenbahn nichtmehr verpasste. So war das damals in der Großstadt. An jeder Ecke traf man jemanden und die gemeinsamen Themen gingen nie aus.

Vorbei an den alten Schrebergärten erreiche ich den Dorfbach. Er fließt in leicht mäandernder Richtung, die sich in 40 Jahren scheinbar nicht geändert hat. Der Bach – einst ein Revier meiner Kindheit -, fristet heute eher das Dasein eines traurigen Rinnsales. Die Großstädter haben links und rechts von ihm breite Spazierwege angelegt, was heutzutage eher einem Parkcharakter gleich kommt.

Ich bleibe vor unserem ehemaligen Schrebergarten stehen. Jetzt im Winter gleichen sich alle Gärten in ihrer Verwahrlosung. Ich erinnere mich an die Mühe, die sich meine Eltern mit ihm gegeben haben. Jedes abgefallene Blütenblatt bedeutete sauber machen „in meines Vaters Garten“.

„Du kannst dir ein kleines Gärtlein anlegen,“ meinte meine Mutter einmal. Sie wollte mich dazu animieren, das Wochenende mit ihnen im Garten zu verbringen. Heute begreife ich, wie wichtig den Eltern diese Synthese zwischen Natur und Großstadt war.

Wehmütig erinnere ich mich, dass auf der Straße daneben früher kaum Verkehr herrschte. Heute reiht sich Auto an Auto. Ich bedauere die Gartenbesitzer wegen dem Dreck, den sie ertragen müssen.

Unmittelbar dahinter befindet sich das mittlerweile weitläufige Gelände der Feuerwehrzentrale. Früher war es am Wochenende nervtötend, wenn die Sirenen los brüllten und meine Eltern sich in ihrer Samstag-Sonntäglichen Kleingartenruhe gestört fühlten.

„Heute können sie es wieder,“ pflegte mein Vater zu schimpfen, wobei er durch das blühende Barock der Brombeerhecke auf die Straße schielte.

„Das ist eben Großstadt,“ kommentierte meine Mutter lapidar.

Aus der in die Jahre gekommenen Feuerwache wurde ein ansehnliches Rettungszentrum. Aus dem schmalen Radweg davor ein breiter Boulevard für Radfahrer in beide Richtungen. Die Stadt, die eine der beliebtesten Universitäten unseres Landes beherbergt, trägt hier der Masse an Radfahrern Rechnung und wird ihrer Verantwortung gerecht.

Ein ehemaliges Gewerbeviertel säumt jetzt meinen Weg. Hier befindet sich in jedem Haus, jeder Baracke ein anderes alternatives Projekt. Wo früher ausschließlich Handwerker angesiedelt waren, prangern heutzutage zwischen verwildertem Rasen und alternativ angestrichenen Bauwagen bunte Schilder mit Namen von Musik- oder Jazzschulen. Hie und da tummelt sich eine wilde Horde Schulkinder. In einer anderen Ecke steht eine Gruppe rauchender und I-phone spielender Heranwachsender.

Endlich bin ich im Zentrum angelangt, wo der Verkehr unbeschreiblich ist. Die Straßen- und Häuserschluchten ringsum sind nicht wiederzuerkennen. Überall Bistros, kleine Boutiquen in denen Fummel, Schuhe und Gürtel angeboten werden. Dazwischen ein türkischer Reiseladen, oder ein Backshop vor dem jetzt – bei der Kälte - die Passanten an runden Stehtischen im Freien ihre Croissants essen und den obligaten Cappu dazu trinken.

Mein erstes Ziel ist der Bahnhof. Seit mehr als 10 Jahren gibt es in dieser großen Stadt einen neuen Bahnhof und ich hatte bisher weder Gelegenheit, ihn zu bewundern noch Zeit, dieses nachgesagte Monstrum zu kritisieren.

„Es ist eine Schande für uns, solch einen heruntergekommenen Bahnhof zu haben," sagte mein Vater, wenn er vom alten Nachkriegsbahnhof beim Besuch auf dem Land, sprach.

„Ihr lebt in einer Kleinstadt,“ konterte mein Onkel daraufhin.

Worauf ich mich nicht zurückhielt und erwiderte:

„Stimmt nicht. Außerdem wird bald ein Neuer gebaut werden.“

Das war vor nahezu 30 Jahren.

„Es gäbe keinen Platz für einen größeren Komplex,“ bemerkte mein Vater, wie zur Entschuldigung.

Als ob diese Entschuldigung bei den Stadtverordneten erhört wurden, gibt es nun einen neuen Bahnhof (na ja, so neu ist er mittlerweile auch nicht mehr) mit allem, was ein Großstadtbahnhof braucht. Es ist kein Monstrum geworden, wie ihm nachgesagt wurde.

Trotzdem staune ich über diesen modernen Bahnhof und stehe verloren – wie auf allen Bahnhöfen – in der großen geräumigen Halle. Großstadtmenschen und Reisende wuseln eilig vorbei, sitzen an den Theken der Bistros, die durch ihre räumliche Offenheit zum nett Verweilen einladen.

Während ich meinen Spaziergang fortsetze bin ich überwältigt von der Ladenzeile. Früher saßen hier einsame Zugreisende auf harten Bänken.

Ziemlich spät gelange ich ins eigentliche Großstadtzentrum. Über eine ehemalige Geschäftsstraße, in der meine Mutter vor nahezu 40 Jahren in einem Schreibwarengeschäft gearbeitet hat. Keine hauchdünne Spur mehr von dem Geschäft. Meine Mutter, die nie müde wurde zu erzählen, welche Persönlichkeiten hier tagtäglich aus und ein gingen, würde über eine verhangene Fensterfront staunen. Ohne jeglichen Hinweis darauf, wer oder was in diese heiligen Hallen einzieht.

Ein paar Straßenzüge weiter schweift mein Blick über einen Platz, den sich sechs Straßenbahnlinien teilen. Weiter hinten steht ziemlich versteckt zwischen zwei modernen Gebäuden aus den späten 70ern ein schmales, unscheinbares Haus mit einem kleinen Laden im Erdgeschoss. Die Menschen um mich herum versperren mir gelegentlich den Blick dorthin. Deshalb schweife ich ab und bin nur Zuschauer, der sich Gedanken macht.

In diesen Laden hatte sich die ABF (allerbeste Freundin) meiner Mutter vor etlichen Jahren zurückgezogen.

„Weist Du Hidi, ich will dort nochmal von vorne anfangen und zu meinen Wurzeln zurückkehren“.

Sie nannte meine Mutter liebevoll „Hidi“ statt Hildegard und war 30 Jahre jünger.

Ihre Wurzeln sprossen in diesem Laden, in dem sie mit knapp 16 Jahren eine Lehre begonnen hatte, um tagtäglich aus einem weit entfernten Kaff zuerst mit Zug, dann mit Straßenbahn in den Dschungel zu fahren.

„Ich liebe dieses Gewusel im Laden und außerhalb,“ wurde die ABF früher nicht müde, zu betonen.

Sie wäre am Liebsten in der Stadt geblieben, aber ihr Mann – ein gemächlicher Briefträger und Feierabendweinbauer – liebte das Land. Er hatte dort ein Haus geerbt. So fügte sich eines zum anderen.

Ich zögere zunächst, entschließe mich aber gegen meine Überzeugung bei ihr vorbeizuschauen. Eingedenk der alten Zeiten, wie ich mir vorbete, könnten wir beide wohl ein Schwätzchen halten.

Falsch gedacht. Ich werde vom vorweihnachtlichen Einkaufsrummel in diesem wirklich engen Verkaufsraum überrumpelt, zwänge mich leicht verwirrt zwischen den Kunden und Solchen, die es noch werden wollen, hindurch.

Ganz hinten, am Ende des Verkaufsraumes, steht sie hoch oben auf einer Leiter. Ein Kunde inspiziert die von ihr präsentierten Ordner. Sie wird nicht müde, Erklärungen abzugeben, die ich natürlich akustisch nicht verstehe.

Während sie endlich von der Leiter herunter steigt, treffen sich unsere Blicke. Sie ist grau geworden. Nichts mehr von der frischen Erotik und jugendlichen Erscheinung der frühen 80er. Ihr Blick verrät die Müdigkeit und ein wenig Resignation.

Ich lache sie an um zu signalisieren, dass wir uns kennen. Sie reagiert nicht, blickt schnell zur Seite. Vielleicht liegt es an der Atmosphäre, oder daran, dass sie mich nicht mehr als den Sohn ihrer ABF wahrnimmt. Großstadtdschungel eben, in dem alles unter geht und schnell in Vergessenheit gerät. Aber auch ich habe mich verändert.

Wieder draußen sauge ich gierig die kalte Winterluft ein, schaue kurz auf die Menschenmassen. Plötzlich kommen mir die 68er in den Sinn. Hier an dieser Stelle fanden die tollsten Auseinandersetzungen der Studentenrevolte statt. Hier regierten nicht nur die Demonstranten, sondern auch die Wasserwerfer. Wie oft kam meine Mutter nass bis über beide Ohren nach Hause, weil sie sich aus Versehen in deren Nähe aufgehalten hatte. Mir verbot sie während dieser Zeit, unter Androhung von Hausarrest, das Stadtzentrum zu besuchen.

Ich verlasse den Platz und sein Umfeld, laufe an Menschen vorbei und zwischen ihnen hindurch. Bis ich beschließe aus dem Dschungel zurückzukehren. Raus aus einer Anonymität, die ich gut zwei Jahre so nicht mehr gespürt habe. Nur weg von diesem mir fremd gewordenen Ort.

Langsam erhole ich mich auf meinem Rückzug, während sich vor mir eine ruhigere Gegend öffnet. Über eine uralte Bogenbrücke, auf der noch das Kopfsteinpflaster der 60er ruht, betrete ich ein ehemaliges Brauereiviertel.

Früher hing hier regelrecht der Geruch von Malz und Gerste in der Luft. Daneben gab es eine Kokerei in der man seinerzeit Stadtgas produzierte. Alles nicht mehr vorhanden. Stattdessen Wohnhäuser und viele Autos. Kaum Menschen, kaum Läden. Alles anonym, wie eben Wohngebiete sind.

Nachdenklich gehe ich den Rest des Weges. Ich lasse die Großstadt und meine Eindrücke noch einmal Revue passieren, bevor ich in meinem alten Kiez ankomme.

Einen Moment überlege ich tatsächlich, ob ich nicht zu unserem ehemaligen Eingang gehen und hoch in den dritten Stock steigen sollte. Dann klingeln und fragen, ob ich, quasie der alten Zeiten wegen, die Wohnung anschauen kann.

Welch ein naiver Gedanke in diesem Dschungel.

 

 

Impressum

Texte: Bernd Stephanny
Bildmaterialien: Privates Archiv von Rebecca Herrmann Thema: Paris
Lektorat: Bernd Stephanny
Übersetzung: Madeleine Stephanny
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Kurzgeschichte - wie immer . Madeleine Stephanny, die für die Ungereimtheiten meines lebens stets Verständnis zeigt.

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