Müllerleile kehrte heim nach Forbach. Mit dem Bus war er gekommen, nach sechs Stunden Fahrt. Neben sich ein kleiner dicker Franzose, der unentwegt von der bretonischen Heimat erzählte.
Als der Bus weiterfuhr und ihn stehen ließ, spie ihm der Regen ins Gesicht. Dankbar roch er den vertrauten Duft von Tannen, die von der Höhe herab grüßten. Aufatmend spürte er den Wind, der ins Tal herab wehte.
Endlich daheim.
Gemächlich sich mit seinen Füßen auf dem rissigen Gehsteig nach vorne tastend und jeden Schritt geniesend ging es in Richtung Freiheit.
Sepp, der Briefträger kam ihm entgegen und blieb stehen, als er seiner gewahr wurde.
„Sevus, bist du wieder da?“
Müllerleile nickte blos und lief gebückt weiter.
„Schau halt, dass du wieder zurecht kommst, rief ihm der Sepp nach und schob sein Rad weiter.
Als er am Gasthaus Schwert angekommen war, nahm er den Koffer fester in seine Hand und betrat die Gaststube
Jetzt, am frühen Nachmittag, saßen zwei Gäste an einem der hinteren Tische. Der Duft von badischem Schmorbraten brannte sich regelrecht in seine Nase. Göll, der Wirt kam ihm sofort misstrauisch dreinblickend entgegen.
„Du, ja sag blos…..“
„Ja ich,“ entgegnete Müllerleile ruhig und gefasst. „Habt ihr ein Zimmer für mich?“
„Für einen Brandstifter und Vergewaltiger haben wir kein Zimmer,“ sagte sein Gegenüber und ein harter Zug grub sich in dessen Gesicht. Müllerleile wusste, dass Göll es auch so meinte.
„Na dann eben nicht,“ entgegnete er lauter, als beabsichtigt und verließ die Gaststube. Gölls Frau kam hinter der Theke hervor.
„Hans, das hätte jetzt nicht sein müssen.“
„Ach, ist doch wahr, Brandstifter bleibt Brandstifter, auch wenn er frei gesprochen wurde,“ argumentierte der nur und verschwand im Faßkeller.
Draußen wandte Müllerleile sich Richtung Kirche, seinem früheren Arbeitsplatz zu, während Sepp der Briefträger von seiner Posttour nach Hause kam.
„Ich hab den Müllerleile getroffen,“ erzählte er Monika seiner Frau.
„Das der sich hier nochmal blicken lässt,“ seufzte sie.
„Seine Unschuld wurde doch bewiesen,“ sagte Sepp und sah Monika an.
„Für mich ist er derjenige, der die Liesbeth umgebracht hat. Punkt und aus.“
Sepp schüttelte den Kopf und überlegte, wie dem Müllerleile am besten zu helfen wäre, ohne die ganze Dorfbagage gegen sich zu haben.
Der Pfarrer schaute von oben aus seinem Fenster herunter, nachdem Müllerleile am Pfarrhaus geklingelt hatte. Wortlos verschwand er und Müllerleile wartete wie ein Bettler, der Allmosen empfängt.
Dann stand der Gottesmann lächelnd vor ihm in der geöffneten Haustüre und bat ihn herein.
„Na endlich,“ sagte er.
Müllerleile deutete es als Aufforderung. Nachdem er sich im Pfarrbüro auf den einzigen Stuhl gesetzt hatte, sah er den Pfarrer an, der plötzlich hilflos vor ihm stand.
„Ich hätte gerne wieder meine alte Arbeit,“ sagte Müllerleile.
Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers wechselte von Entsetzen zu Unverständnis.
„Das geht doch nicht. Äh…. Ich meine…,“ dabei verhaspelte er sich, bekam von einem Ohr zum anderen hektische rote Flecken.
„Ich habe gut gearbeitet.“
„Ja, aber verstehen sie doch. Die Leute müssen sich erst mal wieder daran gewöhnen….“
An was?
Hilflos zuckte der Pfarrer mit den Schultern und sah Müllerleile säuerlich an.
„Meine Unschuld wurde bewiesen, dass hat der Abschiedsbrief von Altmann gezeigt oder nicht?“
„Naja Abschiedsbriefe….Aber in den Köpfen Müllerleile, in den Köpfen……
Der Herr Pfarrer schaute zum Fenster hinaus.
Abrupt drehte er sich um.
„Ich kann ihnen die Messnerstelle nicht mehr geben tut mir Leid.“
„Aber wo soll ich denn hin, Herr Pfarrer.“
Der Herr Pfarrer blickte erneut zum Fenster hinaus.
Diese Geste begleitete Müllerleile, nachdem er das Pfarrhaus lange danach verlassen hatte und weiter im peitschenden Regen durchs Dorf lief. Die Leute auf den Straßen sahen mit Regenschirmen, Kaputzen und hochgezogenen Kragen hinter ihm her und schüttelten die Köpfe.
Das man so einen Kerl frei herumlaufen ließe, meinte einer. Ein Anderer: Es ist eine Schande mit unserer Justiz. Und der dritte. Nach acht Jahren soll es angeblich jemand anders gewesen sein?
Müllerleile drehte sich zu ihnen um. Die, die das sagten schauten mit vor Scham roten Köpfen weg. Selbst der Metzger weigerte sich, ihm was zu verkaufen.
Jetzt, acht Jahre später stand er als ein zu Unrecht Verurteilter erneut mit leeren Händen und ratlos mitten in seinem Heimatdorf.
Der Glaube alleine und die Hoffnung darauf, dasss für ihn die Geschichte neu geschrieben werden würde, hatte nicht geholfen. Nicht einmal, als Altmann der Lehrer in seinem Abschiedsbrief zugegeben hatte, Liesbeth vergewaltigt und anschließend das Haus angezündet zu haben. War der Selbstmord nicht Beweis genug für Müllerleiles Unschuld? Was musste noch geschehen um die Leute davon zu überzeugen?
Der Gefängnisdirektor hatte es ihm bei seiner Entlassung prophezeit: Es gibt keine Rehabilitation für unschuldig Verurteilte. Sie werden es zu spüren bekommen. Daran dachte Müllerleile gerade und stand unschlüssig auf der Straße neben dem Metzgerladen. Sein Blick fiel auf einen Kälberstrick, der an der Hauswand hing.
„Der Müllerleile ist mit einem Strick in den Wald hinaufgelaufen,“ schrie Monika über den Hof, so dass der Sepp es in seiner Garage hören sollte.
Entsetzt hob er den Kof, ließ das Beil in den Holzklotz krachen und rannte aus der Garage.
„Wenn du ihn findest, sag ihm, er kann vorerst bei uns wohnen.“
Das war wiedermal typisch, dachte Sepp und lief in Richtung Wald. Plötzlich wird der Mensch sich seiner Schuld bewusst und begreift, dass die Schuld, deretwegen ein anderer beschuldigt wurde, gar keine war.
Spät kam die Einsicht seiner Monika, aber sie kam vermutlich zu spät.
Skeptischen Schrittes betrat er den Wald. Er kam atemlos oben auf der Bergkuppe an. Hier stand der Baum, an dem der Lehrer Altmann sich aufgehängt hatte und an diesem gleichen Baum hing der leblose Körper Müllerleiles.
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2013
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Widmung:
Ich widme diese Kurzgeschichte wie immer meiner Frau Madeleine Stephanny