Prolog
Lautlos glitt das weiße Raumschiff durch die Stille des Alls. Inmitten der dunklen Nacht leuchtete es matt, beschienen durch die kleine ferne Sonne, durch deren System es gerade flog. Die beleuchteten Fenster und die blinkenden Positionslichter hoben sich deutlich von der Schwärze des Alls ringsherum ab. So als wollten sie dem tödlichen Vakuum zeigen, dass sie trotz der lebensfeindlichen Umstände hier waren, in einer Oase des Lebens, und dabei immer weiter in das All vordrangen. Unaufhaltsam und allen Gefahren trotzend.
Das Raumschiff bestand aus einem dicken, nahezu runden Rumpf, der sich nach hinten in die Länge zog. Über ihm schwebte majestätisch, mit einem relativ schmalem Hals verbunden, eine runde Scheibe, die mehrere Decks hoch war und in deren Mitte leicht erhöht eine kleine Kuppel hervorragte, unter der sich die Brücke befand. Diese sogenannte Untertassensektion war größer als der Rumpf und beherbergte die Unterkünfte der Mannschaft des Schiffes. Im Rumpf befanden sich fast ausschließlich die technische Einrichtung und der Maschinenkern. Vom hinteren Teil des Rumpfes verließen in einem Winkel von dreißig Grad zueinander zwei Streben das Schiff und trugen an ihren Enden, direkt hinter der Untertassensektion, zwei lange zigarrenförmige Röhren, deren vordere Enden rötlich schimmerten. Dies war der Warpantrieb, der Hauptantrieb des Schiffes, ohne den es nicht in der Lage gewesen wäre, schneller als Lichtgeschwindigkeit zu fliegen.
Und diese Geschwindigkeit musste das Schiff fliegen können, denn die Crew war viele Lichtjahre von zuhause entfernt. Ohne den Warpantrieb würde niemand von ihnen den Heimatplaneten je wieder lebend erreichen. Zu groß war die Entfernung. Der Ausfall des Warpantriebs würde die Besatzung stranden lassen, mitten im Nirgendwo, mit nur geringen Chancen, überhaupt noch einen bewohnbaren Planten zu erreichen. Viel größer war die Wahrscheinlichkeit, inmitten der unendlichen Weiten einfach vergessen zu werden. Und trotz dieser Gefahr konnte niemand an Bord sich vorstellen nicht dabei zu sein. Sie waren Forscher, getrieben von ihrer Neugier, dort draußen, in den Weiten des Alls, Antworten zu finden. Antworten auf die Fragen, woher das Universum und die Menschheit kamen, wo alles hinführte und was es auf dem Weg alles zu lernen gab. Selbst neue Fragen wurden freudig aufgenommen, bedeutete das doch, dass es noch mehr zu lernen gab, noch mehr Wissen, das einen näher an eine allumfassende, fast göttliche Weisheit bringen konnte und das man zum Wohle der Menschheit einsetzten konnte. In der Hoffnung, dass die Menschheit sich weiter entwickelte und irgendwann wahrhaft unsterblich würde.
USS MANDELA
stand in großen schwarzen Buchstaben auf der Oberseite der Untertassensektion und darunter die Registriernummer, unter der das Schiff bei der Sternenflotte verzeichnet war.
Es war ein Schiff der Constallation-Class. Das am meisten gebaute Schiff jener Zeit. Und dank der ständigen Nachrüstungen noch immer mit das modernste, auch wenn dieser Schiffstyp inzwischen mehr als vierzig Jahre alt war. Lange Jahre hatte es keinen Grund gegeben andere Schiffe zu bauen, denn die Vorhandenen waren einfach perfekt in Ausstattung und Technik. Sie hatten sich bisher auch ohne größeren Aufwand mit der sich weiterentwickelnden Technik ausrüsten lassen. Und optisch gab es an dem Schiff ohnehin kaum etwas zu verbessern. Seine Eleganz war einzigartig unter den Schiffen der bekannten Völker.
Doch inzwischen hatte sich die Technik soweit weiter entwickelt, dass es allmählich doch immer schwieriger wurde, diese neuen Komponenten in das alte Schiff zu integrieren. Auch gab es Neuerungen, für die dieser Schiffstyp nie ausgelegt war. Denn mit der neuen Technik stieg auch die Reichweite der Schiffe. Immer länger dauerten die Missionen, immer seltener kehrten die Crews zurück nach Hause. Aus den einstigen Transportmitteln mussten Lebensräume werden. Kleine fliegende Städte, die den Herausforderungen der Zukunft gewachsen waren. Mit den längeren Missionen stieg der Anspruch an die Freizeitgestaltung und an den Bedarf nach Möglichkeiten zur sozialen Kontaktaufnahme. Niemand wollte nach Dienstschluss alleine in seinem Quartier sitzen. Wenn eine Mission mehrere Jahre dauern konnte, dann musste es weitaus mehr Möglichkeiten als nur ein kleines Freizeitdeck geben.
All dies erfüllten die alten Schiffe nicht und sie waren auch schlicht zu klein, um all das nachträglich einzubauen. Denn bessere Technik, bessere Software konnte man problemlos dann einbauen, wenn der dafür nötige Platz nicht größer wurde. Stieg allerdings der Raumbedarf, was besonders bei der Erfüllung von menschlichen Grundbedürfnissen der Fall war, stieß man schnell an die Grenzen. So waren in den letzten Jahren andere Schiffstypen entworfen und gebaut worden, die den Anforderungen an die jeweiligen Missionen besser angepasst waren. Bisher waren dies ausnahmslos kleinere Schiffe im Vergleich zur Constallation-Class. Sie hatten auch weniger Personal an Bord und waren nicht für jahrelange Forschungsreisen bestimmt. Das war noch immer den alten Schiffen vorbehalten. Doch würde ihre Zeit auch unweigerlich zu Ende gehen. Bereits jetzt wurde mit der USS Excelsior
ein neuer Schiffstyp getestet, der größer und technisch besser war und aufgrund seines moderneren Antriebs eine höhere Reichweite hatte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis diese Schiffe das neue Rückgrat der Flotte bilden würden.
Captain Bogat wollte daran nicht denken. Er liebte dieses Schiff. In seinen Augen war es noch immer das beste Schiff, das je gebaut worden war, eine technische Meisterleistung und die lange Nutzungsdauer bestätigte dies in seinen Augen nur. Bereits seit sieben Jahren war er Captain der Mandela
und kannte dieses Schiff in- und auswendig. Sowie auch die Crew, von der die Meisten seit genau dieser Zeit ihren Dienst unter ihm versahen.
Bogat war Mitte vierzig und von schlanker Statur. Für einen Mann war er relativ klein, was seinem Auftreten jedoch keinen Abbruch tat. Sein Körper wirkte trainiert und fit. Wie die meisten Offiziere machte er regelmäßig Sport, jedoch ohne es zu übertreiben. Er hatte es nicht auf den Titel „Mr. Universum“ abgesehen.
Sein Gesicht war schmal und seine kleinen Augen schauten listig über die Brücke. Kleine Lachfältchen hatten sich um die Augen herum gebildet, die ihm ein vertrauenerweckendes Aussehen gaben. Seine dunkelblonden Haare bildeten einen wirren Lockenkopf, den er dringendst mal wieder von einem Frisör zurecht schneiden lassen musste. Doch schien er es damit nicht eilig zu haben. Insgesamt machte er eher den Eindruck eines zerstreuten Professors, als den eines Offiziers. Einzig die Uniform machte diesen Eindruck wieder wett. Und seine Crew wusste, dass der Captain zwar meist freundlich und umgänglich war, er aber auch anders konnte. Befehle waren auszuführen, ohne Widerspruch. Denn er glaubte bedingungslos an die Hierarchie des Militärs.
Derzeit aber war der Captain äußerst entspannt. Die Mission war weder schwierig noch aufregend. Sie hatten Befehl, einige Sonnensysteme entlang der Föderationsgrenze zu untersuchen. Die Planeten waren dahingehend zu prüfen, ob sie menschliches Leben tragen konnten und ob sie bereits eigenes Leben hervor gebracht hatten. Und wenn das der Fall war, dann musste genauestens geprüft werden, ob eine menschliche Kolonie womöglich die Chance auf Entwicklung einer planeteneigenen Intelligenz zerstören würde. Denn auf keinen Fall wollte die Föderation die Evolution auf anderen Planeten verhindern oder verändern. Natürlich ließ sich das nicht immer ganz vermeiden. Denn dann dürfte niemals irgendwo eine Kolonie gegründet werden, wenn es bereits Leben irgendwelcher Art gab und seien es nur Mikroben und Einzeller. Gab es jedoch in der einheimischen Tier und Pflanzenwelt Anzeichen, dass sich höheres Leben entwickeln könnte oder es bereits auf dem Weg dorthin war, so war der Planet nur noch für Biologen und andere Forscher zugänglich. So sollte eine Einmischung verhindert werden.
Ein Zeichen von Intelligenz oder der Entwicklung dahin wären Wesen wie Primaten. Oder auch intelligente Wasserlebewesen wie Delfine. Es konnte aber auch schon so etwas einfaches wie ein Rudel Wildtiere sein, die ein koordiniertes Jagdverhalten an den Tag legten und in der Lage waren, dieses zu variieren und verschiedenen Situationen anzupassen.
Es gab einen ganzen Katalog an Vorschriften, wann ein Planet für eine Kolonie geeignet war und wann nicht. Niemand hatte alle diese Vorschriften im Kopf, daher analysierte der Computer die Daten der Forscher und forderte weitere Informationen, wenn ihm für ein Ergebnis noch etwas fehlte. So konnte etliche Zeit vergehen, die sie bei einem zu untersuchenden Planeten verbrachten. Tage, wenn die ersten Messergebnisse den Planeten schon durch das grobe Raster aussortieren. Wochen, wenn der Planet auf den ersten Blick geeignet erschien und weiter untersucht werden musste.
Das Schlimmste an solchen Forschungen war, dass zum Teil wunderschöne Planeten direkt unter dem Schiff lagen. Planeten mit Gegenden, die so schön waren, dass man sie sich nicht einmal erträumen konnte. Und doch durfte außer den Forschern niemand einen Fuß darauf setzten. Zu groß war die Gefahr, unbewusst etwas am Ökosystem zu zerstören, dass der gesamten Natur schaden konnte. Oder aber sich womöglich eine tödliche Krankheit einzufangen. Erst wenn die Forschungen soweit abgeschlossen waren, dass weder für die Natur des Planeten noch für die fremden Besucher eine Gefahr bestand durfte ein Planet betreten werden. Doch dann war auch die Arbeit der Mandela
beendet und es ging weiter zum nächsten Planeten. Landurlaub gab es bei einer solchen Mission nicht.
Die Besatzung hatte sich damit arrangiert. Schließlich war die Crew extra für solche Missionen zusammengesetzt worden. Die meisten Besatzungsmitglieder waren ohnehin Forscher und die gesamte Zeit über mehr als beschäftigt mit ihrer Arbeit.
„Captain, das Außenteam ist wieder an Bord“, meldete Fähnrich Yoeh von ihrer Station. Da sie vor dem Captain saß, musste sie sich umdrehen um ihn zu sehen. Yoeh war noch jung und vor dem Start frisch von der Akademie gekommen. Sie war ein wenig frustriert darüber einer in ihren Augen so langweiligen Mission zugeteilt worden zu sein. Doch das ging den meisten Frischlingen so. Ohnehin gab es kaum Missionen, die so abenteuerreich waren, wie man es gerne in Geschichten hörte. Besonders in den Geschichten, die unter den Kadetten so beliebt waren.
Bogat nahm die Information nickend zur Kenntnis. Er hatte über jeden Außenbordeinsatz unterrichtet werden wollen. Allerdings nicht wegen den einzelnen, anstehenden Forschungsschritten. Er wollte nur immer wissen, wieviele Crewmitglieder sich außerhalb des Schiffes befanden. Zwar gab es kaum etwas zu befürchten, doch wollte er sicher sein, in einem möglichen Gefahrenfall alle seine Untergebenen einsammeln zu können, ohne erst fragen zu müssen, wer wo war.
Vom Ergebnis der Forschung würde er erst später erfahren, wenn die gesammelten Daten analysiert waren. Ohnehin verstand er nur wenig von den einzelnen Forschungsschritten. Wenn die Wissenschaftler ihm aufgeregt berichteten, was sie entdeckt hatten, dann glaubte er immer, sie hätten ein Wesen entdeckt, das so intelligent war, dass es wenigstens zwei plus zwei rechnen konnte. Aber wenn ihm dann berichtet wurde, es sei eine unerwartete Molekülverbindung gefunden worden und man ihm das als Durchbruch verkaufen wollten, konnte er nur den Kopf schütteln. Wissenschaftler waren schon ein wenig wundersame Menschen.
Wenige Minuten später stand überraschend der Leiter des Außenteams, Everett Soto, auf der Brücke. Er wirkte erschöpft und enttäuscht. Mit dunklen Ringen unter den Augen, die deutlich machten, dass er lange nicht geschlafen hatte, trat er näher. „Wir können weiter“, sagte er mit rauer Stimme.
„Der Planet ist ungeeignet?“ Bogat sah ihn an und es klang mehr wie eine Feststellung denn eine Frage. Obwohl er schon ein wenig überrascht war. Sie waren seit sieben Wochen hier und Bogat war sich allmählich sicher gewesen, endlich einen Erfolg vermelden zu können. Und nun das.
Soto nickte langsam. „Wir waren so in unsere Arbeit vertieft, dass wir die Zeit vergessen hatten. Wir sind von der einbrechenden Nacht überrascht worden. Und mit einem Mal waren wir von ungefähr zwei Zentimeter großen schwach leuchtenden Insekten umgeben. Sie sind uns bisher nicht aufgefallen, da sie scheinbar nur in der Nacht aktiv werden. Sie reagierten auf uns. Und dann kommunizierten sie untereinander. Sie interagierten miteinander und schienen ebenso wenig zu wissen, was sie mit uns anfangen sollten wie wir mit ihnen.“
„Intelligente Insekten?“ unterbrach Bogat ihn ungläubig.
„Es spricht nichts dagegen, dass auch andere Lebewesen als Wirbeltiere Intelligenz aufweisen. Auch wenn sich die Anzahl der intelligenten insektenähnlichen Wesen in Grenzen hält“, erwiderte Soto belehrend. Als Wissenschaftler war ihm das gängige Vorurteil bekannt, dass nur aufrechtgehende Zweibeiner intelligent sein konnten. Es entsprach wohl immer noch den längst überholten Gedanken der Menschen, sie seien von Gott nach seinen Vorbild erschaffen worden. „Diese Insekten waren nicht direkt intelligent. Ich glaube kaum, dass wir uns mit ihnen unterhalten könnten. Aber so wie sie sich verhielten könnten sie sich im Laufe der Evolution zu intelligenten Wesen in unserem Sinne weiterentwickeln. Vielleicht in zwei oder drei Millionen Jahren.“
Bogat verdrehte die Augen. Die Zeitangabe war eindeutig zu lange für ihn. War das wirklich ein Argument gegen eine Besiedelung? Im Laufe von Millionen Jahren konnte viel passieren. Der Planet konnte im Laufe von drei Millionen Jahren einer kosmischen Katastrophe zum Opfer fallen, dann hatte es niemandem genutzt, dass sie den Planeten nicht besiedelt hatten. Oder die Natur des Planeten konnte sich ändern. Oder andere Völker mit weniger Vorsicht konnten ihn entdecken und sich dort ansiedeln. Außerdem konnten sich diese Käfer doch sicherlich auch weiter entwickeln wenn Menschen dort wohnten. Vielleicht konnten sie von den Kolonisten sogar noch was lernen und sich schneller entwickeln.
Doch Bogat war Soldat. Es gab Befehle, die einen solchen Planeten aussortierten. Damit war die Sache für ihn erledigt. Sie konnten den nächsten untersuchenswerten Planeten anfliegen. Und somit gab er einen entsprechenden Befehl an Yoeh.
Als die Mandela
auf Warpgeschwindigkeit beschleunigte hoffte Bogat noch, dass der nächste Planet etwas Interessanteres bieten würde. Vielleicht die Überreste einer alten Zivilisation oder etwas in der Art. Damit konnte er etwas mehr anfangen als mit Pflanzen.
Müde machte Captain Bogat den letzten Knopf an seiner Uniform zu. Er hatte die vergangene Nacht nicht sonderlich gut geschlafen. Albträume hatten ihn geplagt. Albträume, in denen seine Crew nach und nach gestorben war und er nichts dagegen tun konnte. Selbst im Traum hatte er sich so hilflos gefühlt, dass es ihm fast schon körperliche Schmerzen bereitet hatte. Irgendwann hatte sein Körper dann so viel Adrenalin erzeugt, dass er davon aufgewacht war. Sein ruhiges Quartier hatte ihm zwar deutlich gemacht, dass es nur ein Traum gewesen war, doch an einen erholsamen Schlaf war danach nicht mehr zu denken. Entsprechend müde war er nun.
Auf dem Weg zum nächsten Lift wurde er über die schiffsinternen Lautsprecher auf die Brücke gerufen. Die Dringlichkeit, die aus der Stimme heraus zu hören war, durchzuckte seinen Kopf und hinterließ ein ungutes Kribbeln in seinen Nervenbahnen. Eine dunkle Vorahnung legte sich wie ein Schatten auf ihn. Bedrohlich, aber doch nicht greifbar. Vielleicht lag dieses Gefühl aber auch nur an seinem schlechten Traum und einer damit verbundenen Empfindlichkeit, die er sonst nicht hatte. Schnellen Schrittes ging er den Gang entlang. Seine Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen.
Als er die Brücke betrat wandte sich Fähnrich Yoeh direkt an ihn. „Captain. Die Sensoren haben Subraumverzerrungen am äußeren Rand des Sonnensystems empfangen.“
„Verzerrungen?“ horchte Bogat auf. „Welcher Art?“
Sie sah wieder auf ihre Daten. „Warp-Antriebe“, sagte sie schließlich aufgeregt. „Drei Schiffe sind soeben unter Warp gegangen und in das System eingeflogen.“
Bogat trat zum Kommandosessel. „Schiffstyp?“
Yoeh tippte auf ihrer Konsole herum. „Unbekannt“, sagte sie dann. In ihrer Stimme schwangen Furcht und Erregung mit. Das konnte die erhoffte Abwechslung sein, auf sie gewartet hatte. Nur wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass man im Voraus niemals wusste, ob es für einen selbst gefährlich werden konnte oder nicht. Entsprechend fing ihr Herz vor Aufregung an zu hämmern und sie bekam feuchte Hände.
Der Captain sah auf. Unbekannte Schiffe konnten nur bedeuten, dass ihnen eine Erstkontaktsituation bevorstand. Sie wären die ersten Menschen, die es mit diesen Wesen zu tun haben würden. Ein Ereignis, auf das jeder Sternenflottenoffizier in seiner Laufbahn einmal hoffte. Und das nur wenige wirklich erlebten. Denn auch wenn es den Anschein hatte, dass es im All nur so von Außerirdischen wimmelte, war das ganz und gar nicht der Fall.
Natürlich war es eine Herausforderung. Es erforderte Geschick und ein ausgeprägtes diplomatisches Gespür, einen ersten Kontakt erfolgreich durchzuführen. Doch letztlich waren sie genau dafür ausgebildet worden.
Nur, dass es gleich drei Schiffe waren, mit denen sie es zu tun bekamen, verunsicherte Bogat etwas. Drei Schiffe wurden sicherlich nicht zu Forschungszwecken entsandt. Zumindest taten Menschen so etwas nicht.
„Haben Sie uns schon entdeckt?“ wollte er wissen.
Yoeh zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich. Zumindest halten sie direkten Kurs auf uns.“
„Wann werden sie hier sein?“
„In dreißig Minuten“, sagte sie nach einem kurzen Blick auf ihre Daten.
Bogat runzelte die Stirn. Langsam nahm er im Kommandosessel Platz. Eine Erstkontaktsituation war neu für ihn. Zwar hatte er fast sein ganzes Leben im Weltraum verbracht, aber noch nie war er als erster Mensch einer fremden Rasse von Außerirdischen begegnet. Er zupfte sich ein paar Mal an der Nase, dann wandte er sich wieder an Yoeh. „Das Außenteam soll unverzüglich an Bord kommen. Keine Verzögerungen.“
Derzeit befanden sich vierundzwanzig Wissenschaftler auf dem Planeten. Bogat wollte alle seine Schützlinge an Bord wissen, wenn die Fremden eintrafen. Schließlich wusste niemand was passieren würde. Vielleicht war dieser Planet ein Heiligtum für die Fremden und sie wären dann wohl nicht sonderlich begeistert darüber, dass Menschen darauf herumliefen.
Während die Crew das Außenteam informierte und zurückholte, beobachtete Bogat die fremden Schiffe, die auf dem Computerbildschirm langsam größer wurden. Wobei größer relativ war. Die drei Schiffe waren im Vergleich zur Mandela
winzig. Gerade einmal etwas größer als die Shuttles in den Hangars. Das Dach der Schiffe war rund und bis zum glatten Rumpf hinuntergebogen. Sie sahen aus wie in der Mitte halbierte Zylinder. Wobei das vordere Ende abgeflacht war. Auf der Hülle der Schiffe gab es keinerlei Strukturen oder Muster. Diese Schiffe waren absolut schlicht gehalten. Keine Meisterleistung beim Design und damit nicht schön anzuschauen, aber absolut ausreichend für die Reisen durchs All. Und wenn nicht beabsichtigt wurde, damit durch Atmosphären zu fliegen, dann spielte das Design auch keine Rolle. Im All gab es keinen Luftwiderstand. Auf die Aerodynamik war damit beim Bau von Schiffen nicht zu achten.
„Rufen Sie die Schiffe“, befahl Bogat schließlich. Es wurde Zeit, dass er die Initiative ergriff und den Fremden zeigte, dass von der Mandela
keine Gefahr ausging.
Als die Kommunikationskanäle offen waren stand Captain Bogat auf. Zwar war es nur eine Audionachricht, doch war er sich sehr wohl bewusst, dass im Stehen gesprochene Worte besser wirkten. „Mein Name ist Ramón Bogat. Captain des Föderationsraumschiffes Mandela
. Wir sind in friedlicher Absicht hier und freuen uns darauf mit Ihnen in Kontakt treten zu können.“
Der Kommunikationsoffizier hinter ihm führte ein paar Schaltungen durch, horchte die Kanäle ab, schüttelte dann aber ergebnislos den Kopf.
„Probieren Sie es weiter. Auf allen Kanälen und in allen uns bekannten Sprachen“, befahl Bogat. Er erinnerte sich an seine Zeit auf der Akademie. Bereits damals war darauf hingewiesen worden, dass Erstkontakte äußerst heikel sein konnten, weil natürlich zum einen die unterschiedlichen Sprachen ein großes Hindernis darstellten, zum anderen aber auch völlig andere Kulturen andere Gesten hatten. So konnte nicht einmal die Verständigung mit Händen und Körpersprache vorgenommen werden, da man nicht wusste, ob der Gegenüber die Gesten überhaupt verstand. Oder ob man ihn im schlimmsten Fall nicht noch beleidigte.
Die fremden Schiffe kamen immer näher. Sie machten keine Anstalten die Geschwindigkeit zu drosseln oder anzuhalten. Fast so, als nähmen sie das Sternenflottenschiff gar nicht wahr.
„Haben sie ihre Schilde aktiviert?“ erkundigte sich Bogat. Das ganze erschien ihm ungewöhnlich, auch wenn ihm bekannt war, dass Erstkontakte meist etwas ungewöhnlich verliefen.
„Die Sensoren können nicht derartiges entdecken“, gab Yoeh zurück und schob sich eine Strähne dunklen Haares zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. Sie war ganz offensichtlich nervös.
Bogat nickte. „Vermutlich ist diese Art der Annäherung bei deren Volk normal. Oder sie versuchen noch unsere Nachricht in ihre Sprache zu übersetzten“, sagte er aufmunternd. Auf keinen Fall wollte er, dass seine Crew sich von ihrer Nervosität ablenken ließ. Und er selbst war überzeugt von seinen Worten. Ein Volk, das intelligent genug für die interstellare Raumfahrt war, musste auch ein gewisses Maß an Moral haben. Schließlich flogen die meisten Völker doch wegen der Forschung ins All und nicht, um dort Kriege zu führen.
Plötzlich schrie Yoeh auf und noch ehe sie etwas sagen konnte schlug etwas wie ein Hammerschlag gegen das Schiff. Der Boden kippte unter ihnen weg und sie stürzten scheinbar ins Bodenlose. Die Brückenoffiziere wurden von ihren Stühlen geschleudert und schlugen hart auf dem Boden auf oder krachten gegen ihre Konsolen. Dabei brachen Knochen und scharfkantiges Metall zerrschnitt mühelos Haut.
Das Ächzen von Stahl echote unvorstellbar laut durch die Korridore des Schiffes, vermischte sich mit den Aufschreien von verletzten Crewmitgliedern. Dazwischen war das Zischen und Fauchen zerborstener Leitungen zu hören. Die Wucht, die auf das Schiff einwirkte war so groß, dass es für die Materialien nur noch den Weg des Verbiegens und Brechens gab.
So schnell er konnte rappelte sich Captain Bogat wieder auf. „Bericht“, rief er durch das Chaos der Brücke. Die Alarmsirenen heulten, das Licht war ausgefallen und die Notbeleuchtung hüllte alles in eine gespenstische Dämmerung. Während er im Kommandosessel wieder Platz nahm schweifte sein Blick über die Brücke. Überall rappelten sich gestürzte Crew-Mitglieder wieder auf. Einige bluteten, andere hielten sich schmerzende Körperteile. Nur der Kommunikationsoffizier blieb liegen. Der Blick seiner gebrochenen Augen gab deutlich zu verstehen, dass er nie wieder aufstehen würde.
Doch dafür hatten sie jetzt keine Zeit. Es galt das Schiff und die Crew zu retten.
„Fähnrich“, rief Bogat Yoeh wieder zur Ordnung. Sein Ruf erinnerte sie wieder an ihre Aufgabe. Der Schreck und die Angst hatten sie geradezu gelähmt gehabt. Blitzschnell rief sie nun die Daten ab und sah ihn dann mit aschfahlem Gesicht an. „Wir haben die Backbordgondel verloren“, sagte sie mit zitternder Stimme. Die linke Warpgondel trieb einige Meter vom Schiff entfernt und die Distanz wurde immer größer. Funken sprühten aus der abgebrochenen Verbindung, die wie eine niedergebrannte Fackel aus dem Rumpf der Mandela
ragte. Ein deutliches Zeichen für die schwere Beschädigung. Das Schiff hatte keinen Warp-Antrieb mehr. Sie konnten nicht mehr fliehen und saßen fest. Eingekreist von feindlichen Schiffen. „Dazu Hüllenbrüche auf dem ganzen Schiff. Die Navigation, Waffen, Kommunikation, alles ausgefallen“, berichtete Yoeh weiter und ihre Finger zitterten, als sie die Daten abrief.
Bogat war sofort klar, dass es keinen Ausweg mehr gab. Der Gegner hatte sie getroffen, ohne dass die Schilde aktiviert gewesen waren. Doch ohne die energetischen Schutzschilde war die Schiffshülle für die modernen Waffen kein großer Widerstand. Sie wurde von ihnen fast mühelos zerschnitten. Ohne Schilde reichte ein einziger, gut platzierter Treffer, um ein Schiff vollständig zu zerstören. So gesehen hatten sie noch Glück gehabt. Doch würde das ihre Leben nur um wenige Sekunden verlängern. Denn sie saßen auf dem Präsentierteller und konnten, ohne Widerstand leisten zu können, vollends zerstört werden. Ohne Waffen oder Warpantrieb gab es keine Chance zu kämpfen oder wegzulaufen.
„Alle Mann in die Rettungskapseln“, befahl Bogat laut. „Wir verlassen das Schiff und evakuieren.“
So schnell wie möglich, aber ohne panische Hektik strömte die Crew zu den Rettungskapseln, in der Hoffnung, doch noch mit heiler Haut davon zu kommen. Dieses Verfahren war so oft geübt worden, dass nun, mitten im Chaos, wieder die Routine griff und es einigermaßen ruhig ablief. Doch die Angst und die Ungewissheit waren in allen Gesichtern zu erkennen. Was wurde aus ihnen, wenn sie mit ihren winzigen Rettungskapseln im All trieben? Wer würde kommen um sie zu retten? Oder würde der Feind sie dann nach und nach abschießen? Trotzdem hielt es niemanden mehr auf dem Schiff. Denn allen war bewusst, dass die Überlebenschancen hier noch geringer waren. Nur Yoeh blieb an ihrem Platz sitzen und studierte weiter die wenigen Daten, die sie noch abrufen konnte.
Bogat trat hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte unter der Berührung ein wenig zusammen, konzentrierte sich aber weiter.
„Es wird Zeit zu gehen. Wir müssen die Rettungskapseln noch erreichen“, sagte der Captain leise aber bestimmt.
„Das wird nicht mehr reichen“, erwiderte Yoeh unpassend ruhig. Sie sah ihn an und ihre Augen hatten den wissenden Ausdruck, das Ende direkt vor sich zu haben. Und sie schien das akzeptiert zu haben, denn sie strahlte mit einem Mal eine Ruhe aus, die sie vorher nicht hatte. „Die drei Schiffe formieren sich zu einem neuen Angriff“, berichtete sie.
Bogat ließ seine Hand weiter auf ihrer Schulter ruhen. Er wollte ihr in diesen letzten Momenten beistehen. Niemand sollte jetzt alleine sein. Er selbst hatte auch keine Angst, nur das Gefühl, dass es nicht richtig war. Nicht seinetwegen, sondern wegen der Crew und im Moment besonders wegen Yoeh. Sie war noch so jung, gerade erst von der Akademie gekommen und hätte noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt. Dies war ihre erste Mission und sie hatte doch noch gar nichts von den Wundern des Alls gesehen. Das war nicht gerecht. Eine grausame Laune des Schicksals, die er nicht verstehen konnte. Gegen das er aber auch nichts machen konnte.
Langsam hob er seinen Kopf und sah auf den Bildschirm. Die drei kleinen Schiffe, die eine solche gewaltige Feuerkraft besaßen, kamen in Angriffsformation erneut auf das Schiff zu. Ein letztes Mal.
Das Ende der Zukunft
Teil 1
Ein Sturm zieht auf
EINS
Seit etwas mehr als einhundert Jahren existierte die Vereinigte Föderation der Planeten bereits. Seit im Jahre 2161 mutige Visionäre den Schritt gewagt hatten, die freien Völker in diesem Teil der Galaxie zu einem Völkerbund zusammenzuschweißen. Den Gründern von einst musste bewusst gewesen sein, dass sie nur gemeinsam stark genug sein konnten, um den Gefahren des Weltraums entgegenzutreten. Um fremden Eroberern und Einflüssen anderer Mächte standzuhalten und nicht selbst erobert zu werden. Bereits damals war erkannt worden, dass die Entwicklung und der Fortschritt in der Vielfalt der verschiedenen Völker lagen. Und dass diese Vielfalt einander nur noch stärker machte. Dass die Unterschiede nicht trennten, sondern einander ergänzten und ungeahnte Möglichkeiten zuließen. So wurde mit viel Verhandlungsgeschick und einigen Unterschriften der Grundstein für eine bis dahin beispiellose Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Rassen des Universums gelegt. Der Beginn einer Erfolgsgeschichte, der sich mit der Zeit neue Völker anschlossen. Ein Bündnis, das immer weiter wuchs und den Mitgliedsvölkern nicht nur Sicherheit bot, sondern auch Handel, Wachstum und Wohlstand. Ein Aspekt, der von Anfang an im Mittelpunkt dieses Bündnisses stand, deren Erfolg aber die Gründungsväter sicherlich überrascht hätte. Hatten doch zu Beginn die Skeptiker dem Projekt nur eine kurze Lebensdauer attestiert. Zu unterschiedlich schienen die Interessen der einzelnen Völker, zu unüberbrückbar die Unterschiede.
Wie weitere hundert Jahre zuvor die Vereinigung der einzelnen Nationalstaaten der Erde. Dies war für die Menschheit der erste wichtige Schritt gewesen hin zum Sprung zu den Sternen. Nach den Schrecken des Dritten Weltkrieges, den umfangreichen Zerstörungen und den vielen Toten saß der Schock tief in den Menschen. Die Erde war zu weiten Teilen verstrahlt, die großen Städte zerstört oder zumindest stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Eine Zukunft für die Menschheit schien fast unmöglich zu sein. Die Menschen lebten von dem, was sie noch finden konnten, hausten in provisorischen Unterkünften und lebten von einem Tag in den nächsten. Weiter vorauszuschauen hatte niemand gewagt.
Da die gesamte Erde von diesen katastrophalen Ereignissen betroffen gewesen war und Staaten im bisherigen Sinn nicht mehr existierten, gab es für die Menschen auch keine Hilfe. Jeder nahm sich was er kriegen konnte. In einigen Gegenden hatten marodierende Banden die Herrschaft übernommen und die Menschen waren deren Willkür ausgeliefert gewesen. Die Welt schien damals langsam im Chaos zu versinken, die Menschheit am Ende ihrer kulturellen und geistigen Entwicklung zu sein.
Aber es hatte auch positives gegeben. So hatten sich Menschen in neu errichteten Städten gesammelt, neue soziale Kontakte aufgebaut und neue Wege zu leben probiert. Es war die Zeit der Experimente, welche Staatsform und welche Sozialform die am geeignetsten wäre.
Und als zehn Jahre nach dem großen Krieg die Phönix, das erste Raumschiff der Erde, das schneller als Lichtgeschwindigkeit fliegen konnte, den Planten für einen kurzen Flug verlassen hatte, da änderte sich alles. Ein zufällig das Sonnensystem kreuzendes Schiff der Vulkanier hatte diesen Flug beobachtet. Für die Vulkanier war das der Beweis, dass die Menschheit bereit war für den ersten Kontakt mit Außerirdischen.
Zum Glück für beide Seiten waren sich Vulkanier und Menschen sehr ähnlich. Äußerlich vom aufrechten, humanoiden Körperbau bis hin zu vielen Details, wie die Anzahl der Finger, Wahrnehmung mit denselben Sinnen oder das Atmen von Sauerstoff. Einzig die spitzen Ohren und die steil ansteigenden Augenbrauen unterschieden die beiden Spezies äußerlich voneinander. Und das grüne Blut der Vulkanier sorgte für eine mattere Erscheinung ihrer Haut.
Auch vom Denken her und der Weltanschauung waren sich Menschen und Vulkanier ähnlich. Die Grundprinzipien ihrer Moralvorstellungen waren nahezu deckungsgleich. Eine wichtige Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen. Und selbst die Tatsache, dass die Vulkanier anscheinend keine Gefühle hatten, schien den guten Beziehungen keinen Abbruch zu tun. Es war, als wären Vulkanier und Menschen vom Kosmos für eine zukünftige Zusammenarbeit geradezu eingeplant worden.
Die Ankunft der Außerirdischen hatte alles geändert. Die Vulkanier halfen den Menschen die Strahlenschäden des Atomkrieges zu beseitigen, Hunger, Krankheiten und Terror zu bekämpfen und der Menschheit eine neue Perspektive zu geben. Die Erkenntnis, nicht allein im Universum zu sein, sowie die Tatsache nur knapp der eigenen Vernichtung entgangen zu sein, trieb die Menschen zusammen. Es wurden keine einzelnen Staaten mehr gegründet. Stattdessen wurde eine irdische Regierung eingesetzt, die das Wohl des ganzen Planeten im Sinn hatte. Toleranz und Offenheit bestimmte das neue Bild der Erde. Und im Laufe der Zeit schien es so, als habe endlich das Paradies Einzug gehalten. Denn Hunger und Armut waren überwunden und die Menschheit bereit den nächsten Schritt zu tun. Den Griff zu den Sternen.
Unter der Führung der Menschheit hatten sich die bis dahin untereinander zerstrittenen Völker des Universums zu einer Einheit zusammengeschlossen. Allen voran die Andorianer, Tellariten, Vulkanier und Menschen. So bildete die Vereinigte Föderation der Planeten nun eine Macht im Universum, die den konkurrierenden Völkern an den Grenzen ein Unentschieden und Friedensverträge abgerungen hatte. Denn feindliche Völker, die nicht zur Föderation hinzugehören wollten oder diese gar als Bedrohung sahen gab es reichlich. Klingonen, Romulaner, Tholianer und die mysteriösen Xindi grenzten an das Föderationsgebiet und sahen in dem Völkerbund eine Gefahr für sich selbst. Und jede Versicherung, dass dem nicht so sei, stieß bei diesen Regierungen nur auf taube Ohren und Unglauben. Geboren aus den jeweils eigenen Bemühungen, die Reiche durch Eroberungen zu vergrößern. Dass die Föderation das nicht so machen sollte, war für sie einfach unvorstellbar.
Doch die Föderation war in erster Linie ein Friedensverbund. Es gab keine aggressive Ausbreitung, keine Eroberungsfeldzüge. Neue Mitglieder waren gern gesehen, doch niemand wurde dazu gezwungen, sich dem Bündnis anzuschließen. Stattdessen gab es strenge Richtlinien zur Aufnahme, die jedes Volk erfüllen musste, das einen Aufnahmeantrag stellte.
Das Rückgrat dieser Föderation war die Sternenflotte mit ihren Raumschiffen. Natürlich gab es auch private Frachtschiffe, Forschungseinrichtungen und Passagiertransporter. Doch die Sternenflotte war der staatliche Garant für Sicherheit. Die Raumschiffe und Raumstationen sicherten die Grenzen, erforschten neue Territorien und Planeten und gaben Diplomaten die Möglichkeit überall dort zu erscheinen, wo sie gebraucht wurden. In erster Linie aber war die Sternenflotte zu Forschungszwecken gegründet worden. Mit ihr sollten die Wunder des Alls erkundet und dokumentiert werden. So verfügte jedes Schiff über Forschungseinrichtungen verschiedenster Größen. Es gab sogar eine ganze Flotte von reinen Forschungsschiffen, die ständig den Weltraum durchstreiften, um das Verständnis von Raum, Zeit, Materie und der Entstehung des Alls und des Lebens weiterzubringen. Dem gegenüber gab es kein einziges reines Kriegsschiff. Auf einen solchen Schifftyp hatte man bewusst verzichtet, um den friedlichen Charakter der Föderation deutlich zu unterstreichen.
Die Mehrheit der Sternenflottenoffiziere gehörte noch immer der menschlichen Spezies an. Was wohl auch daran lag, dass die Flotte einst auf der Erde gegründet worden war und dort auch ihren Hauptsitz hatte. Doch inzwischen gab es immer mehr fremde Völker, die in der Flotte vertreten waren. Und so vermischten sich, angetrieben durch die Sternenflotte, die Kulturen allmählich und die einst nur durch einen Vertrag miteinander verbundenen Spezies wuchsen zu einer wirklichen Einheit zusammen. Nicht nur der Handel und das Militär wuchsen immer weiter zusammen, auch auf der persönlichen Ebene ging dies vonstatten. Es gab etliche speziesübergreifende Freundschaften verschiedenster Intensität und auch interplanetare Beziehungen waren nichts Ungewöhnliches mehr. Einzig beim Nachwuchs solcher Beziehungen gab es noch immer einige Komplikationen. So vertrug sich nicht jedes daraus entstehende DNA-Paar, was den Kinderwunsch mancher Paare unmöglich machte. Doch auch hier taten sich ständig neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf, die diese Probleme nach und nach aus der Welt schafften.
Die Offiziere der Sternenflotte waren die Speerspitze der Föderation. Sie mussten eine lange Ausbildung durchlaufen, die nicht nur die Technik der Schiffe umfasste, sondern vor allem auch Moral und Ethik. Denn die Offiziere waren im Normalfall die ersten Personen, die einen ersten Kontakt zu neuen Völkern aufnahmen. Dabei mussten sie vorurteilsfrei und tolerant sein. Keine Spezies durfte aufgrund irgendeiner Eigenheit verunglimpft oder herabgesetzt werden. Jegliche Gesetze und Verhaltensregeln anderer Völker waren zu akzeptieren und zu tolerieren. Zusätzlich musste die Oberste Direktive auf jeden Fall eingehalten werden. Diese verbot jegliche Einmischung in die kulturelle und technische Entwicklung eines Planeten, dessen Kulturen noch nicht selbstständig zu den Sternen reisen konnten. Selbst die Kontaktaufnahme zu solchen Spezies war verboten. So sollte zum einen eine zu frühe Einmischung verhindert werden, bei der die Identität des Volkes verloren gehen würde. Zum anderen sollte eine zu schnelle Entwicklung einer Spezies vermieden werden. Denn wenn die Technik sich schneller entwickelte als der Verstand und die Ethik, dann konnte das fatale Folgen haben. Ein so kontaminiertes Volk konnte sich dann schnell selbst vernichten und im schlimmsten Fall noch weitere Völker mit sich reißen. So etwas musste unter allen Umständen vermieden werden. Selbst wenn es bedeutete, dass einzelne Personen oder gar ein ganzes Raumschiff geopfert werden mussten. Doch so weit war es bisher zum Glück noch nie gekommen.
So träumte jeder Kadett davon, einmal an einem Erstkontakt beteiligt zu sein. Einer der ersten zu sein, die einem bis dahin völlig unbekannten Volk gegenüberstanden. Denn das war es, was die Sternenflotte als wichtigste Aufgabe ansah. Dorthin zu gehen, wo noch niemand zuvor gewesen war, um fremde Planeten und neue Kulturen zu erforschen. Um die Wunder des Alls zu sehen. Und um das Verständnis für das Leben an sich zu erweitern.
Durch die Gänge des Hauptquartiers der Sternenflotte schritt ein kleiner, leicht untersetzter Mann in Richtung der Aufzüge. Seine Haare waren bereits weit zurückgegangen und ließen nur einen schmalen Haarkranz um einen sonst kahlen Kopf zurück. Seine Gesichtszüge hatten einen asiatischen Einschlag und seine Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen. Das machte den Eindruck, als ob er stetig über alles erhaben lächeln würde, erhaben über alle Probleme des Lebens. Seine Uniform wies ihn als Admiral aus.
Während er lief wechselte sein Blick zwischen dem Flur vor ihm und einem Datenpad in seiner Hand hin und her. So konnte er die Informationen lesen und gleichzeitig vermeiden, mit anderen Personen auf dem Gang zusammenzustoßen.
Im obersten Stockwerk des Gebäudes verließ er den Lift wieder und trat an eine Bürotür. ADMIRAL NOUGHI stand dort auf der Infotafel neben dem Türrahmen. Er öffnete die Türe und trat ein. Sein Büro war geräumig, aber nur spärlich eingerichtet. Es gab keine Familienbilder auf seinem Schreibtisch, nichts Persönliches schmückte den Raum aus oder gab irgendeinen Hinweis auf den hier Arbeitenden. Die Wände waren weiß und kahl. Einzig das große Panoramafenster hinter ihm bot einen grandiosen Ausblick über die Bucht von San Francisco und die Golden Gate Bridge, an deren Ende das Gelände der Sternenflotte lag. Die Sonnenstrahlen brachen sich tausendfach glitzernd auf den kleinen Wellen, die das Wasser in der Bucht kräuselten. Das Ufer erstrahlte in sattem Grün und die Bäume wiegten sich im leichten Wind.
Bei diesem Ausblick war es beinahe egal, dass das Büro so kärglich eingerichtet war. Aber eben nur beinahe, denn der Admiral hatte seinen Schreibtisch so aufgestellt, dass er dem herrlichen Ausblick den Rücken zuwandte. Aber vielleicht war das auch nur eine Vorsichtsmaßnahme, um bei der Arbeit nicht ständig von so einer Augenweide abgelenkt zu werden.
Er warf das Pad auf den Schreibtisch, stellte sich kurz mit in die Hüften gestemmten Armen an das Fenster und gönnte sich einige Augenblicke Pause. Dann atmete er tief ein, setzte sich an seinen Schreibtisch und aktivierte den Bildschirm, der dort stand. Der Terminkalender erinnerte ihn sofort an seinen nächsten Termin. Und auch gleich an den darauffolgenden. Überhaupt war sein Kalender mit Terminen so voll, dass er den restlichen Tag kaum noch eine Verschnaufpause haben würde.
Schnell aktualisierte er die vorbereiteten Unterlagen für die nächsten Termine mit den neuen Informationen, die er beim gerade zu Ende gegangenen Meeting erhalten hatte. Der immer schneller werdende Wissensfluss war inzwischen kaum noch zu bewältigen. Es gehörte schon ein hohes Maß an Disziplin und Organisationstalent dazu, um hier noch den Überblick zu behalten. An manchen Tagen wünschte er sich ins All zurück. Zurück auf ein Raumschiff und die scheinbar unbekümmerte Freiheit zwischen den Sternen. Obwohl er die Arbeit eines Captains nicht schmälern wollte, so erschien es ihm inzwischen doch einfacher ein Schiff zu kommandieren, als mit Terminen zu jonglieren.
Trotzdem wollte er nicht ernsthaft wieder Captain sein. Nicht, weil es ein Schritt zurück gewesen wäre, sondern weil er sich inzwischen daran gewöhnt hatte, fest an einem Ort zu leben. Er genoss den alltäglichen Trott. Und trotz aller Routine gab es auch hier ständig neues. Langweilig wurde es nie. Aber zu wissen, jeden Morgen hinaus gehen zu können, die Sonne oder den Regen auf der Haut zu spüren, die verschiedenen Düfte der Luft riechen zu können, das alleine war für ihn schon Grund genug nicht wieder ins All zu wollen. Auf einem Raumschiff gab es nur die sterile, gefilterte Luft, die einfach nach nichts roch. Das natürliche Aroma darin fehlte. Nein, ins All zurück wollte er nicht. Er hatte seine Abenteuerlust ausgelebt als er jünger gewesen war. Nun genoss er die Vorzüge des Lebens auf einem Planeten.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Überrascht bemerkte er, dass er einige Minuten abwesend gewesen sein musste, denn er hatte noch nicht alle Unterlagen aktualisiert. Das würde er nachher nachholen müssen, obwohl er dafür eigentlich keine Zeit hatte. Sich innerlich zur Ordnung mahnend schloss er die Datei an der er gearbeitet hatte und rief den Besucher dann herein.
Die Tür öffnete sich und ein Mann indianischer Abstammung trat herein. Er war von durchschnittlicher Größe und Statur. Seine markanten Gesichtszüge bekamen durch seine bronzebraune Hautfarbe eine fast schon edle Ausstrahlung. Er war vertrauenserweckend, strahlte aber trotzdem eine natürliche Autorität aus, die bei seinen Untergebenen stets das gute Gefühl auslösten, einen fähigen Vorgesetzten zu haben. Die braunen Augen wirkten wachsam und sahen den Admiral freundlich an. Auch sein Mund deutete ein leichtes Lächeln an. Seine einst dunklen Haare, die ihm bis über die Schultern reichten und die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte, waren zum größten Teil ergraut. Allerdings in einem Ton, den Noughi noch nie bei anderen Personen gesehen hatte. Die Haare glänzten im Licht der Zimmerbeleuchtung silbergrau. Und natürliches Sonnenlicht verstärkte diesen Effekt sogar noch. Noughi wusste anhand der Unterlagen natürlich bereits alles über diesen Mann. Er war ein Nachfahre der Navajo-Indianer und bereits seit acht Jahren Captain. Es war ein kein ungewöhnlicher Werdegang, den der sechsundfünfzigjährige zurückgelegt hatte.
Der Captain trat näher und reichte Admiral Noughi die Hand. Er hatte einen festen Händedruck, wie Noughi feststellte. „Admiral“, grüßte er.
„Captain Sanawey, willkommen“, erwiderte Noughi. Er war beeindruckt, welche positive Ausstrahlung der Captain hatte. Das hatte er aus der Personalakte nicht lesen können. Und persönlich hatte er ihn bisher nicht kennen gelernt.
Die Akte hatte aber schon viel über den Captain enthalten. So wusste Noughi, dass sein Gegenüber als äußerst zuverlässig galt. Seine Crew mochte und respektierte ihn. Die Beurteilungen seiner Vorgesetzten über ihn waren immer überdurchschnittlich gut. So war es nicht verwunderlich, dass er auf der Liste möglicher zukünftiger Admiräle stand. Auch wenn der Captain noch nie ein Anzeichen gegeben hatte, daran interessiert zu sein. Auch war der Akte zu entnehmen, dass Sanawey nicht verheiratet war und es auch nie gewesen war. Eine Tatsache, die er mit den meisten Sternenflottenkapitänen teilte. Zwar gab es keine Vorschrift, wonach ein Captain nicht heiraten durfte. Trotzdem gab es nur eine Handvoll, die tatsächlich verheiratet waren. Doch das hatte mehr praktische Gründe, die sich nicht allein auf die Kapitäne bezog. Auch mehr als die Hälfte der Offiziere war nicht verheiratet. Eine Beziehung auf einem Raumschiff konnte sehr schwierig werden, besonders wenn ein Partner der Vorgesetzte des anderen war. Und bei einem Captain musste das zwangsläufig so sein. Dann galt es nicht nur den Anschein von Bevorzugung zu vermeiden. Viel schlimmer war, dass man nicht überängstlich und vorsichtig sein durfte, wenn man den Partner auf eine risikoreiche Mission schicken musste. Es war schon schlimm genug, wenn man bei einer Mission den Tod eines Besatzungsmitgliedes verantworten musste. Aber wenn der Partner dann ums Leben kam, war das eine ganz andere Sache, mit der man fertig werden musste.
Und bei Beziehungen unter Offizieren, die so unterschiedlichen Abteilungen angehörten, dass es keine Überschneidungen gab, bestand immer die Gefahr verschiedenen Schiffen zugeteilt zu werden. Das war dann ähnlich wie eine Ehe mit einem Zivilisten. Dann musste die Ehe immer wieder über längere Zeit eine Fernbeziehung bleiben. Eine Fernbeziehung über Lichtjahre hinweg. Wochen oder Monate konnten vergehen, bis man sich wieder sah. Keine idealen Voraussetzungen für eine dauerhafte Beziehung.
Wer tatsächlich den Schritt in eine dauerhafte Beziehung wagte, der setzte alles in Bewegung gemeinsam auf ein Schiff versetzt zu werden. Oder aber bemühte sich um eine Aufgabe auf der Erde oder zumindest im irdischen Sonnensystem. Was meist auch machbar war, denn auch hier hatte die Sternenflotte viele Aufgaben zu erledigen. Und die jungen Akademieabgänger drängten ohnehin alle ins All, so dass die Posten auf der Erde meist von älteren Rückkehrern besetzt wurden. Älteren Rückkehrern wie Admiral Noughi.
Sanawey hielt es wie die größere Mehrheit der Captains und war mehr mit seinem Schiff verheiratet. Er war Captain der USS Republic
, einem Schiff der Constellation-Klasse, der am häufigsten gebaute Schiffstyp dieser Zeit. Vor sechs Wochen war die Republic
von einer knapp einjährigen Mission zurückgekehrt. Seitdem genoss die Crew ihren verdienten Landurlaub. Das Schiff dagegen lag im Dock und wurde systematisch durchgeprüft. Jedes System wurde getestet, jedes Teil auf Schäden untersucht. Es wurde buchstäblich jede Schraube untersucht. Eine Sicherheitsvorkehrung, um die Gefahren von Fehlfunktionen und Schäden auf ein Minimum zurückzufahren. Zwar prüfte auch das Ingenieursteam an Bord regelmäßig die Systeme, doch die Möglichkeiten in einem Raumdock waren umfassender. Zudem wurden kleinere Reparaturen durchgeführt. Viel gab es aber nicht zu tun. Das Schiff war in einem guten Zustand. Aber natürlich erhielt der Schiffscomputer noch das neuste Update der Softwareentwickler.
Wie nach jeder Mission gab es auch Wechsel beim Personal. Einige Personen verließen das Schiff aus den verschiedensten Gründen. Manche hatten sich an Bord nicht wohl gefühlt und um Versetzung gebeten, andere erklommen auf der Karriereleiter die nächste Stufe und übernahmen entsprechende Posten auf anderen Schiffen. Es gab private Gründe, krankheitsbedingte Ausfälle und Offiziere, die ihren wohlverdienten Ruhestand antraten. Die Mehrheit der etwas mehr als vierhundert Crewmitglieder blieb jedoch auch für die nächste Mission an Bord. Worüber Sanawey sehr froh war. Er hatte eine eingespielte Mannschaft und die Stimmung an Bord war gut. Dies wollte er nicht durch eine hohe Fluktuation gefährdet sehen. Daher war er nun gespannt, was der Admiral ihm zur Personalsituation würde sagen können.
Nachdem sie Platz genommen hatten wurde Noughi sofort dienstlich. Sein enger Terminplan ließ keine Zeit für Smalltalk übrig. „Sie haben die Unterlagen zu den neuen Crewmitgliedern erhalten?“ erkundigte er sich.
Sanawey bestätigte das. Gestern war ihm die Liste mitsamt den Personaldaten zugegangen. Die Änderungen betrafen vor allem das Labor und den Maschinenraum. Dort würde es wohl einige Zeit brauchen, bis die Teams wieder eingespielt waren. Seine Führungsmannschaft aber blieb fast vollständig erhalten. Einzig Lieutenant Commander Fredrikson, der in der Rangliste an dritter Stelle gestanden hatte, verließ aus Altersgründen das Schiff. Eine Tatsache, die aber schon lange bekannt war. Und Sanawey konnte sich noch gut an die Abschiedsfeier erinnern. Sie war lange und feuchtfröhlich gewesen.
„Ich habe noch keine Rückmeldung dazu von Ihnen erhalten“, erinnerte ihn Noughi mit neutralem Tonfall daran, obwohl er seinen Unmut darüber nicht ganz verbergen konnte. Der Admiral hätte diesen Punkt gerne abgehakt.
„Aufgrund anderer Termine konnte ich die Liste erst vor wenigen Minuten abschließend beurteilen. Sie werden noch heute eine Rückmeldung dazu erhalten“, erklärte Sanawey ruhig. Innerlich schüttelte er allerdings den Kopf. Die Liste war zu umfangreich, um sie in so kurzer Zeit abschließend beurteilen zu können. Und zu wichtig als dass er sie nur überfliegen könnte. „Mir ist jedoch aufgefallen, dass für Lieutenant Commander Fredrikson kein Ersatz aufgeführt war“, wusste er schon zu berichten.
Noughi nickte. „Darüber wollte ich mit Ihnen persönlich sprechen. Wir haben einen, wie soll ich sagen, Problemfall“, sagte Noughi langsam. „Ein gewisser Drake Reed.“ Er gab dem Captain ein Datenpad, auf dem ein Gesicht und ein paar Eckdaten abgebildet waren. Das Gesicht gehörte einem jungen, gut aussehenden Mann, der laut den Angaben Anfang dreißig war. Sanawey meinte, den Namen auch schon mal irgendwo gehört zu haben, konnte ihn aber auf die Schnelle nirgendwo zuordnen.
„Drake Reed ist bei seinem derzeitigen Captain in Ungnade gefallen. Genauer gesagt bei jedem seiner bisherigen Vorgesetzten. Ihm fehlt es an Disziplin und er nimmt es nicht immer so genau mit den Vorschriften. Außerdem kommt er bei Frauen sehr gut an, was er auch ausgiebig nutzt. Das macht es nach einer gewissen Zeit an Bord eines Schiffes nicht einfacher“, erklärte Noughi und bemühte sich um einen neutralen Tonfall, der seine persönliche Meinung zu diesem Mann nicht verraten sollte.
Sanawey runzelte die Stirn während der Admiral ihm das erzählte. Er befürchtete schon zu wissen, worauf Noughi hinaus wollte. Und er war nicht sonderlich begeistert.
„Trotz allem hat er es bis zum Lieutenant Commander geschafft“, fuhr Noughi unbeirrt fort. „Er hat ein Disziplinarverfahren über sich ergehen lassen müssen und weiß, dass er eine allerletzte Chance bekommt, sich noch zu bewähren. Ich möchte ihn Ihrem Schiff zuweisen. Sie sind meine letzte Hoffnung, diesem Mann noch Manieren und Disziplin beizubringen.“
„Das wäre Aufgabe seiner Eltern gewesen“, brummte Sanawey missmutig. „Darf ich offen sprechen, Sir?“
„Ich bitte darum“, sagte Noughi und lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Stuhl zurück.
„Ich bin nicht gerade begeistert davon“, sagte Sanawey ruhig aber betont. „Einen Querulanten an Bord kann ich nicht gebrauchen. Der Weggang Fredriksons, einem erfahrenen Mann, ist auch so schon schwer zu verkraften. Ihn durch einen jungen Aufschneider zu ersetzen hilft uns nicht weiter.“
Noughi sah ihn verständnisvoll an. „Das kann ich durchaus verstehen. Aber wir müssen ihn irgendwo unterbringen. Und auf Ihrem Schiff ist dieser Posten nun mal frei. Sie werden sich damit arrangieren müssen.“ Sein Tonfall machte deutlich, dass, bei allem Verständnis, die Entscheidung gefallen war und es nichts mehr zu diskutieren gab. Etwas milder fügte er noch hinzu: „Immerhin ist Mr. Reed gewarnt. Wenn es diesmal nicht klappt, dann war es das für ihn in der Sternenflotte. Das sollte ihn etwas einsichtiger machen.“
Der Captain wirkte nicht besonders überzeugt. Normalerweise hatte ein Captain ein gewisses Mitspracherecht, wenn es um die Zusammensetzung der Crew ging. Doch das letzte Wort hatte immer die Admiralität. Und hier hatte man entschieden, ohne den betroffenen Captain zuvor anzuhören. So blieb Sanawey nun nichts anderes übrig als das zu akzeptieren. Die Sternenflotte war eine militärische Einrichtung mit einer eindeutigen Kommandostruktur. Befehl war Befehl, daran gab es nichts zu deuten. Sanawey musste sich damit notgedrungen arrangieren.
„Nachdem das geklärt ist, kommen wir zu Ihrem nächsten Auftrag“, lenkte Noughi das Gespräch weiter. Er tippte auf der Tastatur seines Computers herum und rief die entsprechenden Daten auf. „Es handelt sich dieses Mal um einen relativ kurzen Auftrag. Die USS Mandela
hat uns einige Wochen vor ihrem Verschwinden einen Planeten gemeldet, der nach den ersten Untersuchungen für eine Kolonisierung in Frage kommen würde. Sie werden nun ein Wissenschaftlerteam auf den Planeten bringen und bei den Untersuchungen unterstützen.“
Sanaweys Gesichtsausdruck blieb unverändert, auch wenn ihn dieser Missionsauftrag nicht gerade in einen Freudentaumel versetzte. Es gab wohl kaum etwas langweiligeres, als Babysitter für ein paar Wissenschaftler zu spielen. Und eine solche Untersuchung konnte sich über Wochen hinziehen. Er hätte viel lieber mitgeholfen nach der USS Mandela
zu suchen. Der Kontakt zu dem Schiff war vor zwei Monaten abgebrochen, ohne dass es einen Notruf gegeben hatte. Auch hatte Captain Bogat beim letzten Kontakt keine technischen Probleme erwähnt. Es gab überhaupt keinen Anhaltspunkt was passiert sein konnte. Bisher war die Suche auch völlig ergebnislos verlaufen. Man hatte noch nicht einmal Trümmer gefunden, weder im All noch auf Planeten innerhalb der Reichweite des Schiffes. Das Ganze war äußerst mysteriös.
„Der Planet soll allen Tests unterzogen werden. Von Luftuntersuchungen bis zu Bodenproben“, fuhr Noughi fort, als ob er verhindern wollte, dass der Captain auf andere Gedanken kam und womöglich widersprach. Was natürlich keinerlei Einfluss auf die Entscheidung gehabt hätte. „Jede Region des Planeten muss untersucht werden. Wenn es dort einst eine Kolonie geben soll, muss selbst jeder Krankheitserreger vorab bekannt sein.“
„Wie sehen die Prognosen für die Einsatzdauer aus?“ stellte Sanawey die Frage, deren Antwort er schon fürchtete. Solche Missionen zogen sich normalerweise länger hin.
„Unser Wissenschaftlerteam geht von einer Untersuchungsdauer von sechs Monaten vor Ort aus“, gab Noughi an. „Weitere achtzehn Monate werden dann die Nacharbeiten in den Laboren der Erde in Anspruch nehmen. Das heißt, wir werden in knapp zwei Jahren wissen, ob sich die ganzen Bemühungen gelohnt haben. Ob der Planet wirklich besiedelt werden kann.“
Sanawey wirkte alles andere als glücklich. Ein halbes Jahr an ein und demselben Ort. Das war eine halbe Ewigkeit. Zumindest für jemanden wie ihn, der sich nur zwischen den Sternen wohl fühlte. Er musste ständig weiter, konnte sich nie lange irgendwo aufhalten. So war die Mission auf jeden Fall eine Herausforderung an seine Geduld.
„Sie werden in zwei Tagen aufbrechen“, fuhr der Admiral fort, nachdem Sanawey nichts weiter erwiderte. „Unterwegs werden Sie auf Sternenbasis 478 noch einige Wissenschaftler aufnehmen, die sich derzeit nicht auf der Erde aufhalten und sich dann dort einfinden werden. Die genauen Anweisungen erhalten Sie in einem Kommuniqué, das Ihnen vor einigen Minuten bereits zugegangen ist.“
Sanawey nickte und sah verstohlen auf die Uhr, die an der Wand hing. Seit er den Raum betreten hatte war exakt eine halbe Stunde vergangen. Die Zeit, die laut Einladung diese Besprechung auch dauern sollte. Der Admiral schien sich auch daran halten zu wollen und warf den Captain beinahe hinaus. Denn als Sanawey nicht unmittelbar etwas dazu sagte, erhob sich Noughi, streckte dem Captain die Hand entgegen und wünschte ihm alles Gute. „Wir sehen uns in einem halben Jahr wieder“, verabschiedete er sich.
„Admiral“, salutierte Sanawey knapp, dann wandte er sich um und verließ den Raum. Die verbleibenden zwei Tage bis zum Start der Republic
hatte er noch allerlei zu tun.
Die erste Erinnerung, die Karja hatte, war eine der wenigen schönen Erinnerungen an ihre Kindheit. Es war ein Wintertag auf Elari Prime gewesen, der Kolonie, auf der Karja groß geworden war. Und einer der seltenen Tage, an denen es geschneit hatte. Vermutlich war ihr der Tag daher in Erinnerung geblieben. Denn Schnee war auf diesem Planeten eine absolute Seltenheit, die nur alle paar Jahre einmal vorkam und meist nach einem Tag auch schon wieder verschwunden war.
Sie musste fünf Jahre alt gewesen sein und tobte mit ihrer Mutter ausgelassen durch das weiße Schneetreiben und die dünne Schneeschicht, die sich auf dem Boden gebildet hatte. Und wie alle anderen Bewohner der Kolonie freute sie sich unbändig über das seltsame und nasse Weiß. An diesem Tag war für wenige Stunden der harte Alltag der Kolonisten vergessen.
Die Kolonie lag am Rande des Föderationsgebietes, weit ab von den anderen Mitgliedswelten. Hierher verirrten sich nur selten Schiffe und die Kolonisten waren meist auf sich alleine gestellt. So wurde das Leben von harter Arbeit, Entbehrungen und Strapazen bestimmt. Es war das genaue Gegenteil zum Leben auf den Zentralwelten. Natürlich gab es auch Maschinen, die die Arbeit unterstützten. Niemand musste mit einem Spaten ein Feld umgraben. Trotzdem war es mühsame Arbeit, dem kargen Boden das Nötige zum Leben abzuringen. Und nicht selten kam es vor, dass ein Unfall einen der Kolonisten schwer verletzte oder gar tötete. Auch Krankheiten, die anderenorts längst besiegt waren, fanden in den von Entbehrungen gezeichneten Menschen ideale Nährböden und brachen immer wieder aus.
Es war kein Planet, der sonderlich gut geeignet war für menschliches Leben. Es war zumeist trocken und die Böden nährstoffarm. Es reichte gerade so zum Überleben. Trotzdem gab es Menschen, die hier leben wollten. Und die Motivationen dazu waren grundverschieden. Manche wollten vermeintlich frei und unabhängig sein. Nur um dann festzustellen, dass diese Freiheit ihren Preis hatte und mit Arbeit und Verzicht verbunden war. Andere kamen aus religiösen Überzeugungen, weil sie das verweichlichte Leben auf den Heimatwelten ablehnten und sich wieder körperlicher Arbeit hingeben wollten, um Geist und Seele zu reinigen. Und es gab auch Personen, die hier ankamen um unterzutauchen und zu verschwinden. So gab es auch allerlei zwielichtige Gestalten in der Kolonie, die sich vor dem Arm des Gesetzes versteckten, der hier draußen nicht allzu stark war. Diese Personen machten das Leben der Kolonisten nicht gerade einfacher.
Von all dem hatte Karja bereits in diesem Alter gewusst. Niemals durfte sie alleine durch die Straßen der Siedlung laufen. Es musste immer ein bekannter Erwachsener dabei sein. Zu groß war die Gefahr, dass den kleinen Kindern etwas zustoßen könnte. Es war zum Glück nicht schwer einen Erwachsenen zu finden, der auf die Kinder aufpassen konnte. Die Arbeitslosigkeit war hoch und so gab es immer jemanden, der Zeit hatte.
Ihren Vater kannte Karja nicht. Und ihre Mutter hatte nie ein Wort über ihn verloren. Sie wusste noch nicht einmal, dass sie einen hatte. Mit der Einfachheit eines Kindes dachte sie, dass wohl nicht jeder Mensch einen Vater hatte. Sie hatte ihre Mutter, das war das Wichtigste für sie und das Einzige, das wirklich zählte. Und sie hatte die anderen Mitglieder des Stammes, die hier lebten. Sie wusste zwar damals nicht genau, wie diese Menschen alle zusammen gehörten, aber sie wusste, diesen Personen konnte sie vertrauen. Sie gehörte zu ihnen.
Die Kolonie wurde überwiegend von Nachfahren nordamerikanischer Ureinwohner besiedelt, die der Heimat ihrer Vorfahren den Rücken gekehrt hatten. Nachdem die Lebensweise auf der Erde zwischen allen Kulturen sich angeglichen hatte, gab es überall auf dem Planeten Gruppen, die hofften in der Ferne alte Werte und Traditionen erhalten zu können und den Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft zu bewältigen. Auf der Erde sahen sie hierzu keine Chancen mehr. Denn der Segen einer zusammengewachsenen Welt war gleichzeitig auch ihr Fluch. Regionale Eigenheiten waren immer mehr in Vergessenheit geraten, manche unwiederbringlich verloren. Über den durchaus lobenswerten und gerechten Versuch der gesamten Menschheit Wohlstand und Fortschritt zu bringen und die Sterne zu erobern, waren viele kulturelle Eigenheiten auf der Strecke geblieben. Bräuche und Traditionen waren verloren gegangen und durch neue ersetzt worden. Eine Entwicklung, die nicht alle akzeptieren wollten.
Auf Elari Prime lebten zehn verschiedene Stämme, unter anderem eine große Gruppe von Sioux, zu denen auch Karja und ihre Mutter Janet gehörten. Karja lernte die stolze Geschichte ihrer Vorfahren kennen, aber auch das Leid und Elend, das die weißen Eroberer gebracht hatten. Sie lernte, wie sich die Mitglieder der First Nation ihre Rechte nach und nach zurückerkämpft hatten und schließlich endlich die Anerkennung erhielten, die ihnen zustand und ein gleichberechtigtes Leben neben den Weißen ermöglichte. Wie dann einige Gruppen die Erde verlassen hatten, um hier ein neues Leben zu beginnen. Nicht, um hier wieder zu leben wie vor Jahrhunderten, sondern um den Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne neu zu erfinden.
Wie es ihre Mutter hierher verschlagen hatte, das hatte Karja allerdings nicht erfahren. Janet hielt sich sehr bedeckt, was das anging. Und für die kleine Karja war das auch keine sonderlich wichtige Frage. Für sie war es normal, dass sie hier lebten, zwischen all den anderen Stammesmitgliedern. Ob ihre Mutter mit der Auswanderungswelle kam oder aber erst später dazu gestoßen war, das war ohne jede Bedeutung. Zumindest damals.
Ihre einzigen direkten Verwandten, die sie kannte, waren ihre Mutter Janet sowie deren Schwester Cloe. Und während Karja langsam immer größer wurde, entfernte sie sich immer mehr von ihrer Mutter. Janet verließ die Kolonie immer öfter für einige Tage und wirkte seltsam abwesend, wenn sie dann mal wieder zuhause war. So wurde Karjas Tante Cloe immer mehr zu ihrer Bezugsperson. Sie kümmerte sich um Karja, als wäre es ihre eigene Tochter. Die Frage, warum sich Janet so seltsam verhielt, konnte aber auch sie nicht beantworten.
Ihre Tante war es denn auch, die ihr zum ersten Mal einige Informationen über ihren Vater geben konnte. Als Karja eines Tages, wie zu der Zeit fast jeden Tag, bei ihrer Tante war, nahm sie allen Mut zusammen und stellte Cloe die Frage, die sie seit Jahren quälte.
„Weißt du etwas über meinen Vater?“ fragte sie mit brüchiger Stimme und fürchtete sich fast vor der Antwort. Denn was wäre, wenn sie etwas erfuhr, das sie nicht hören wollte? Doch nun war die Frage gestellt, es gab kein zurück mehr.
Cloe zog kritisch die Augenbrauen zusammen und sah ihre Nichte mit seltsamem Blick an. „Willst du das wirklich wissen?“ Sie klang nicht sehr begeistert und schien nicht viel von der Idee zu halten.
Karja schluckte ängstlich. Das klang nicht gut. Vielleicht wäre es besser, wenn sie die ganze Sache einfach vergessen würde. Dann aber nickte sie tapfer. Wer wusste schon, ob sie sich je wieder trauen würde diese Frage zu stellen.
„Dein Vater“, begann Cloe langsam und die Verachtung in ihrer Stimme war selbst für die kleine Karja nicht zu überhören. Sie holte erst noch einmal tief Luft. „Dein Vater war Offizier der Sternenflotte. Irgendein Lieutenant. Als er deine Mutter kennen gelernt hatte, war er gerade auf Landurlaub auf der Erde. Und aus irgendeinem Grund war er ein halbes Jahr auf der Erde, ich weiß aber nicht mehr warum. Für einen Sternenflottenoffizier ist das eine lange Zeit. Und wie alle Offiziere auf Landurlaub hatte natürlich auch er sich ein Mädchen für diese Zeit gesucht. Nur für diese Zeit, kein Offizier würde sich länger binden. In jedem Hafen ein anderes Mädchen. Aber deine Mutter hat immer gesagt, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie wollte einfach nicht verstehen wie sich die jungen Offiziere verhielten.“ Cloe schüttelte den Kopf bei den Erinnerungen. „Das zwischen deiner Mutter und deinem Vater ging auch die ganze Zeit während seines Aufenthaltes. Und wenige Wochen, bevor er wieder aufbrechen musste, ist Janet schwanger geworden mit dir. Sie hat schwer mit ihrem Schicksal gehadert. Sie hatten einen jungen Offizier an ihrer Seite, der meistens für Monate oder gar Jahre weg sein würde. Wie hätten sie da gemeinsam ein Kind erziehen sollen, wenn er Lichtjahre weit weg wäre? Doch dein Vater hatte es sich einfach gemacht und ihr die Entscheidung abgenommen. Er verschwand einfach und kehrte nie wieder zurück. Wie ein feiger Hund hatte er sich aus dem Staub gemacht. Vermutlich wollte er sich nicht durch eine Familie binden lassen, die vielleicht seiner Karriere als Offizier im Weg gestanden wäre“, stieß Cloe wütend hervor. Sie hatte sich in Rage geredet und musste sich nun wieder zügeln.
Mit tränenverschleierten Augen sah Karja ihre Tante an. Zwar hatte sie in ihrem kindlichen Alter nicht alles verstanden, aber eines hatte sie genau verstanden: Ihr Vater hatte sie nicht gewollt. Und das nun ausgesprochen zu hören war schrecklich.
Als Karja vierzehn Jahre alt war stritt sie sich wieder einmal heftig mit ihrer Mutter. Doch diesmal war es schlimmer als je zuvor. Fast so, als sollte es zum finalen Streit zwischen ihnen werden.
„Dich interessiert doch gar nicht, was ich mache. Du denkst nur an dich“, brüllte Karja sie an und ihre braunen Augen funkelten böse. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. Sie war kein kleines Kind mehr, was ihr auch anzusehen war. Sie entwickelte sich zu einer wahren Schönheit. Aber sie hatte das Temperament ihrer Tante und neigte immer wieder zu Wutausbrüchen. „Du nimmst doch seit Jahren nicht mehr an meinem Leben teil. Du kannst mir noch nicht einmal sagen, wo du ständig hingehst.“
„Karja, das verstehst du nicht“, erwiderte Janet völlig ruhig und wirkte dabei leicht abwesend, so als stände sie unter dem Einfluss von Drogen. Doch Karja wusste, ihre Mutter nahm keine Drogen. Das hatte der Arzt sogar bestätigt, zu dem sie ihre Mutter mitgeschleift hatte. Es hatte auch keine anderen Anzeichen für irgendetwas Abnormales gegeben. Möglicherweise hätten sie im Medical Center auf der Erde noch mehr Untersuchungen machen können, doch die Erde war weit weg und Janet weigerte sich standhaft, dorthin zurückzukehren. Als ob sie dunkle Erinnerungen damit verbinden würde.
„Nein, ich kann das nicht verstehen. Denn du versuchst nicht einmal es mir zu erklären. Und ich will es auch gar nicht mehr verstehen. Vermutlich hast du irgendwo einen Mann kennen gelernt und ich bin dir nur ein Klotz am Bein. Also lässt du mich hier einfach zurück, weil du denkst bei unserem Stamm bin ich gut aufgehoben.“ Karja war so laut geworden, dass die Leute auf der Straße sie hören konnten. Doch das interessierte sie nicht. Sie musste ihrem Zorn Luft verschaffen, sonst platzte sie noch.
„Nein, das ist nicht wahr“, kam die gesäuselte Antwort.
„Ich glaube dir kein Wort“, schrie Karja so laut sie konnte. „Wenn du gehen willst, dann geh. Und komm nie wieder zurück.“
Noch bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte verließ Karja fluchtartig den Raum und schlug, so laut sie konnte, die Tür hinter sich zu. Sie fühlte sich so hilflos, so allein. Der ganze Zorn, der sich über die letzten Jahre in ihr aufgebaut hatte, entlud sich nun gegen ihre Mutter, die sie offenbar nicht wollte und wahrscheinlich nie gewollt hatte. Was hatte sie nur verbrochen, um so von ihrer Mutter verstoßen zu werden? Erst ihr Vater, der sie im Stich gelassen hatte und nun ihre Mutter. Und wie so oft in letzter Zeit wünschte sie sich, nie geboren zu sein.
Doch war Karja keine Person, die sich verkriechen würde, um in Selbstmitleid zu versinken. Sie verwandelte ihre Bitterkeit in Zorn und schleuderte diesen jedem entgegen, der ihr zur falschen Zeit über den Weg lief. Diese Tatsache brachte ihr bald den Ruf ein, nur mit Vorsicht genießbar zu sein und dass man am besten einen Bogen um sie machte. Was sie nicht sonderlich störte. Sie hatte sich bereits daran gewöhnt, sich alleine durchs Leben kämpfen zu müssen.
Ihre Mutter war nach diesem Streit leise und ohne Abschied wieder verschwunden. Und auch nicht mehr zurückgeehrt. Karja hatte sie seitdem nie wieder gesehen.
Bereits früh entwickelte Karja ein besonderes technisches Verständnis. Sie nahm alles was sie in die Finger bekam auseinander und schien scheinbar mühelos den technischen Zusammenhang zu begreifen. Und je älter sie wurde, desto mehr kümmerte sie sich neben der Schule auch um die Technik, welche die Kolonie am Laufen hielt. Sie bastelte und tüftelte und schaffte es auch mehrfach, bereits für irreparabel gehaltene Teile wieder in Gang zu bekommen.
Ihr Talent war auch der Grund weshalb Steven Marks, der Stammesführer des Dorfes, eines Tages auf sie zukam. Er setzte sich zu ihr auf eine Bank vor ihrem Haus. Karja bastelte gerade wieder einmal an einem technischen Gerät herum, das nicht so funktionierte wie es sollte. Er sah ihr einige Zeit schweigend zu und musste wieder einmal anerkennen, wie gut sie war. Dass er so lange schwieg hatte aber wohl auf den Grund, dass er nicht wusste wie er anfangen sollte. Ein Zeichen, dass er nicht mit guten Nachrichten kam. Daher machte auch Karja keinen Anstalten mit ihm zu reden. Sie konzentrierte sich weiter auf ihre Arbeit und ignorierte ihn. So musste er schließlich den Anfang machen. „Karja. Es wird Zeit, dass du dir Gedanken über deine Zukunft machst. Was du aus deinem Leben machen möchtest, welche Wege du beschreiten willst.“ Er versuchte eine erzieherische Strenge an den Tag zu legen, zugleich aber auch sanft zu sein. Es gelang ihm nicht sonderlich gut.
Karja hielt in ihrer Tätigkeit inne und sah ihn überrascht an. Sie war inzwischen achtzehn Jahre alt und zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen. Über ihre Zukunft hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Nach dem Verschwinden ihrer Mutter war der Stamm ihr einziges Zuhause das sie kannte. Fortzugehen schien so völlig abwegig zu sein, dass sie daran noch nie gedacht hatte.
„Was soll ich denn machen?“ frage sie lahm und ließ die Schultern hängen. Auf solche Worte war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie verstärkten nur ihre Gefühle der Hilflosigkeit und des Alleinseins.
Marks sah sie an. „Ich denke, das liegt auf der Hand. Dein technisches Talent ist unglaublich. Du bist so begabt, das solltest du nutzen. Gehe zur Sternenflotte, dort wirst...“
Er kam nicht weiter, denn Karja unterbrach ihn lautstark. „Niemals“, rief sie aus und ihre Augen funkelten ihn böse an.
Ein wenig entsetzt wich Steven Marks zurück. Zwar kannte er Karja und ihr aufbrausendes Talent zur Genüge, doch die Heftigkeit ihrer Reaktion überraschte ihn. Er hatte es für eine gute Idee gehalten, stieß aber offenbar nicht auf Gegenliebe damit. „Du musst ja nicht gleich gehen“, sagte er beruhigend, da er dachte, Karjas Reaktion läge in der Befürchtung weggeschickt zu werden.
Nur war das nicht der Grund für ihren Wutausbruch. Sie dachte im Traum nicht daran zur Sternenflotte zu gehen. In ihren Augen waren dort nur Verräter und Feiglinge. So Typen wie ihr Vater. Dass sie dabei die Erzählungen, die sie über ihren Vater gehört hatte, nun auf alle Offiziere dort ausdehnte, interessierte sie nicht. Keine Macht des Universums würde sie jemals dort hinbringen können. Und das gab sie Marks auch deutlich zu verstehen. So deutlich, dass er sie nie wieder darauf ansprach.
Doch im folgenden Jahr wurde Karja mit der Schule fertig. Und in der Kolonie bekam sie keine Arbeit. Sie musste sich in das Heer der Arbeitslosen einreihen. Keine sehr erfüllende Aufgabe. So wurde Karja noch gereizter und anstrengender für die Kolonisten als ohnehin schon. Das trieb sie soweit, bis der Stammesführer ihr klar und deutlich zu verstehen gab, dass es für alle Beteiligen besser wäre, wenn sie die Kolonie für einige Zeit verlassen würde. Am besten für mehrere Jahre. Er hoffte, dass Karja dadurch gezwungen wurde, etwas aus ihrem Leben zu machen. Wenn sie sich beruhigt hatte und wieder einigermaßen umgänglich war, würde sie zurückkehren können. Doch musste sie erst den Frieden mit sich selbst machen. Ein Ortswechsel konnte das vielleicht unterstützen.
Karja dagegen empfand es eher so, dass man sie verstoßen wollte, weil man sie auch hier nicht mehr haben wollte. Ohne viel Federlesen packte sie ihre Sachen. Sie war es gewohnt nirgendwo willkommen zu sein. Ihrem Gefühl nach war das schließlich schon immer so gewesen. Und wahrscheinlich würde sich daran auch nie etwas ändern.
Ihr erster Weg führte sie auf die Erde. Warum konnte sie auch nicht sagen. Vermutlich da ihr sonst kein besseres Ziel eingefallen war. Wo hätte sie auch sonst hin sollen? Sie kannte niemanden, außer den Kolonisten. Und sie kannte sich im Universum nicht aus. So war die Erde eben das naheliegenste. Alles weitere, so hoffte sie, würde sich dort schon ergeben.
Aufgeregt und nervös stand Droga vor dem großen Plenargebäude, von dem aus die Versammlung der humanoiden Xindi das Volk regierte. Es war eine menschenähnliche Spezies, die sich nur durch eine ausgeprägtere Stirnpartie sowie einem Knochenwulst auf den Wangen von den Bewohnern der Erde unterschied. Jedoch war diese Ähnlichkeit reiner Zufall. Es gab keinerlei Verbindungen zu den Menschen und auch die DNA der beiden Völker war grundverschieden.
Das Plenargebäude war das Herzstück der Xindi-Demokratie. Hier saßen die gewählten Vertreter des Volkes und bestimmten über Wohl und Wehe der nächsten Zeit. Und wenn die Abgeordneten ihre Arbeit gut gemacht hatten, dann konnten sie auf eine Wiederwahl hoffen. Wenn nicht, dann würden in der nächsten Wahlperiode andere ihre Plätze einnehmen.
Diese Demokratie war einzigartig unter den Xindi-Spezies. Die anderen vier Xindi-Rassen, die sich neben den Humanoiden noch entwickelt hatten, besaßen jeweils eigene Regierungsformen, in der das Volk mehr oder weniger oder überhaupt nicht eingebunden war. So war Droga denn auch stolz darauf, Teil dieses Systems zu sein, das er für die beste Regierungsform überhaupt hielt.
Auf der Karriereleiter hatte er bereits einen beachtlichen Weg hinter sich. Vom jungen Ortsvorsteher einer kleinen Ansiedlung hatte er sich hochgearbeitet. Zum Regionsvorsteher und schließlich als Abgeordneter in den Senat. Es war ein langer und harter Weg gewesen, verbunden mit Rückschlägen und Misserfolgen. Sowohl von Neidern und Gegner, die sich ihm in den Weg gestellt hatten und seine Karriere verhindert wollten, wie auch im privaten Bereich. Seiner Karriere hatte er alles untergeordnet, auch seine große Liebe, die ihn vor einigen Jahren verlassen hatte. Er hatte ihr zu wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen, dessen war er sich durchaus bewusst. Und auch schon damals bewusst gewesen. Trotzdem hatte er seine Karriere vorgezogen. Von Kindesbeinen an war es ihm das große Bedürfnis gewesen, sich in den Dienst der Xindi-Kultur zu stellen. Er wollte etwas bewegen, etwas verändern. Er wollte die Kluft zwischen den einzelnen Xindi-Spezies überwinden. Diesen Wunsch hatte er, seit seine Eltern bei einem Zwischenfall mit den Reptil-Xindi ums Leben gekommen waren. Andere wären nach einem solch schockierenden Einschnitt im Leben vielleicht in Hass und Wut verfallen und hätten Rache geschworen. Nicht aber Droga. Für ihn gab es keinen Schuldigen an diesem Zwischenfall. Schuld für ihn war einzig und allein die Unwissenheit über die jeweils anderen. Die daraus entstehenden Vorurteile bestärkten das Misstrauen gegeneinander und daraus erwuchsen solche, manchmal tödliche Konflikte. Keiner dieser Zwischenfälle würde den Frieden gefährden, denn der Friede untereinander war den Xindi heilig, seit vor knapp zweihundert Jahren bei einem Bürgerkrieg der Heimatplanet Xindus zerstört worden war. Und mit ihm eine der ursprünglich sechs intelligenten Xindi-Rassen ausgestorben war. Ein Verlust, der sich niemals wiederholen durfte. Aber selbst wenn der Frieden nicht gefährdet war, den Zusammenhalt förderten solche Konflikte auch nicht.
Und genau hieran wollte Droga arbeiten. Es war wichtig, dass die Xindi sich ihre Gemeinsamkeiten wieder bewusst machten. Sie mussten zu einer Einheit werden, nur dann würden sie ihr wirkliches Potential entfalten können. Jede der fünf verbliebenen Rassen hatte ihre Eigenheiten und ihre Stärken. Wenn man diese endlich kombinieren könnte, dann konnten die Xindi zu einer wirklichen Macht im Universum werden. Dann konnten sie Einfluss nehmen und mitbestimmen. Das war Drogas Traum, für den er alles opferte. Ein Xindi-Reich vor dem die Gegner Respekt hatten und das sich nicht mehr zu verstecken brauchte, wie es bisher der Fall war. Denn die Xindi traten im Universum bisher kaum auf. Sie trieben nur mit wenigen kleinen Rassen Handel, ansonsten hielten sie sich fast schon versteckt. Der Rest des Universums wusste von der Existenz der Xindi nicht einmal. Weder Romulander, noch Klingonen, die Föderation oder die Tholian. Niemand schien zu wissen, dass es die Xindi überhaupt gab. Sollte eine Katastrophe geschehen und die Xindi auslöschen, würde niemand im Universum Notiz davon nehmen. Sie wären einfach verschwunden, ohne dass es jemand mitbekäme. Oder sich an sie erinnerte. Einfach aus der Geschichte der Galaxie gelöscht. Für Droga ein unerträglicher Gedanke.
Nun stand er also hier und musste noch die knapp hundert Stufen nach oben zum Eingang. In wenigen Minuten würde er dort seine Ernennung zum Vertreter der humanoiden Rasse im Rat der Xindi bekommen. Eine auf den ersten Blick unscheinbare Institution. Jede der fünf Xindi-Spezies hatte dort einen Vertreter. Gemeinsam wurde beraten, was alle Xindi betraf und für alle von Vorteil sein würde. Doch war der Rat bei weitem nicht so wichtig, wie das den Anschein hatte. Denn der Rat hatte nur eine beratende Funktion, an dessen Empfehlungen sich keine Regierung halten musste. Aber immerhin gab es ihn. Seit knapp zweihundert Jahren war er das einigende Bindeglied zwischen den Rassen. Nach der Vernichtung des Heimatplaneten und der sechsten Spezies hatte man erkannt, dass solch ein gemeinsames Gremium unverzichtbar war. Und zu Beginn waren die Beschlüsse für alle Spezies bindend gewesen, war doch nach der Zerstörung der Heimatwelt ein Machtvakuum entstanden und ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zusammenbruch erfolgt. Nur langsam hatten sich die Xindi von diesem Schock erholt und nur langsam war es auch wirtschaftlich wieder aufwärts gegangen. Nun aber hatte jede Rasse einen neuen, eigenen Heimatplaneten und man war nicht mehr aufeinander angewiesen. Allein aus Tradition hatte man den Rat beibehalten, seine Befugnisse aber nach und nach immer weiter beschnitten. Bis außer Empfehlungen von hier nichts mehr zu erwarten war. Jeder Xindi, der noch halbwegs bei Verstand war hätte eine Versetzung in diesen Rat als Bestrafung und als Ende der Karriere gesehen. Doch nicht so Droga. Für ihn war das ein notwendiger weiterer Schritt. Hier wollte er die ersten Brücken für ein Verständnis der Xindi untereinander bauen. Denn welcher Ort wäre dafür besser geeignet gewesen als der Rat? Hier mussten alle fünf Spezies miteinander reden und gemeinsame Empfehlungen fassen. Die erste Grundlage war damit schon vorhanden. Nun musste das nur noch viel öffentlicher gemacht werden, um so allen Xindi zu zeigen, dass es zusammen besser ging. Zwei Jahre, so lange dauerte eine Berufung in den Rat. Eine absehbare Zeit, in der er seine Zwischenziele erfüllen konnte. Dann würde er zurückkehren und sein gewonnenes Wissen weiter zum Wohle der Xindi einsetzten, um spätestens bis zum Ende seines Lebens eine starke Xindi-Union erreicht zu haben. So war der Zeitplan, den er für sich gesetzt hatte.
Mit pochendem Herzen kam er oben an den Treppen an. Und das lag nicht nur an seiner Aufregung, sondern auch daran, dass ihn die hundert Stufen außer Atem gebracht hatten. Da er seine gesamte Zeit seiner Lebensaufgabe widmete, hatte er keine Zeit für Sport. Er war zwar nicht dick, das ließ der Stress auch gar nicht zu, aber er hatte auch überhaupt keine Kondition. Wie er eben wieder feststellen musste.
Durch eine kleine Nebentür betrat er den Plenarsaal. Die Sitzung war bereits seit einigen Stunden in vollem Gange. Die Abgeordneten diskutierten über eine ganze Liste von Punkten und er hatte beschlossen nur zu seinem Anliegen anwesend zu sein. Den Rest würde er sich hinterher in komprimierter Form ansehen, um auf dem Laufenden zu bleiben, was die Politik seiner Rasse anging. Er hätte heute aber auch nicht die Ruhe gehabt, um die gesamte Sitzung verfolgen zu können.
Droga war noch relativ jung für seine bereits zurückgelegte Karriere. Er war Ende dreißig und hatte damit die meiste Zeit seines Lebens noch vor sich. Aufgrund der guten medizinischen Versorgung war es ein leichtes bis an die hundert Jahre heranzukommen. Sein Haaransatz lag zwar bereits weit auf der Schädelmitte, doch lag das nicht am Alter. Es war eine natürliche Erscheinung bei allen humanoiden Xindi. Das lag an den Knochenwölbungen seiner Stirn, die ein leichtes Wellenmuster aufwiesen. Die Wangenknochen standen wulstartig heraus und zogen sich von den Schläfen auf die Wangen herunter. Ihr Ende bildete eine Linie mit der Nasenspitze und den Ohrläppchen. Er galt unter den Frauen als ziemlich gut aussehend, auch wenn ihn so eine Aussage nicht sonderlich interessierte. Er hatte für so etwas schlicht keine Zeit. Jedoch war ihm bewusst, dass er damit auf jeden Fall mehr Sympathien für seine Sache gewinnen konnte, als wenn er hässlich und unförmig gewesen wäre.
Auch wenn Droga pünktlich zu dem ihn betreffenden Diskussionspunkt erschienen war, so musste er sich doch noch fast eine geschlagene Stunde lang gedulden. Offenbar kamen die Abgeordneten nicht ganz so schnell voran, wie sie es geplant hatten. So bemühte er sich möglichst ruhig auf seinem Stuhl zu sitzen und sich die Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Allerdings hatte er Mühe der laufenden Diskussion zu folgen. Zum einen war er nicht voll aufmerksam, zum anderen fragte er sich, wie um alles in der Welt man zu derart banalen Themen so lange reden konnte.
Aber schließlich war auch dieser Punkt erledigt und endlich wandte man sich ihm zu. Der Präsident der Kammer, ein Mann namens Soriano, klärte mit knappen Worten die Anwesenden über das nächste Thema auf. „Der Vertreterposten unserer Spezies im Rat der Xindi ist wieder mal neu zu vergeben. Und Mr. Droga hat sich freiwillig um diesen Posten beworben.“ Ein Raunen ging durch den Raum. Dass sich jemand um diesen Posten freiwillig bemühte war eine Überraschung für die Abgeordneten. So etwas war schon seit Jahrzehnten nicht mehr geschehen. Bisher hatte immer jemand bestimmt werden müssen. Meist ein politischer Querulant, den man damit aus dem Weg räumen wollte. Daher wurden Droga die unterschiedlichsten Blicke zugeworfen. Respekt und Anerkennung von einigen, von den meisten aber mitleidiges Lächeln und ungläubiges Kopfschütteln.
Soriano hob die Hände um für Ruhe zu sorgen. Rasch verstummte das Gemurmel wieder. „Da es keinen Gegenkandidaten gibt steht nur Mr. Droga zur Wahl. Gibt es Einwände gegen seine Nominierung?“ fragte er in den Raum. Doch niemand sagte etwas. Alle schienen froh zu sein, einen Dummen für den Posten gefunden zu haben und den Tagesordnungspunkt somit schnell abschließen zu können.
Der Präsident nickte zufrieden. Auch er war erleichtert über diese schnelle Entscheidung. Vor zwei Jahren, als diese Entscheidung das letzte Mal angestanden hatte, hatte es eine mehrstündige Diskussion gegeben, da jeder Kandidat mal von der einen Gruppierung im Parlament und mal von einer anderen abgelehnt worden war. Dabei spielte es doch überhaupt keine Rolle, wer den Posten bekam, dazu war er einfach zu unbedeutend.
Feierlich wandte er sich an Droga. Zu feierlich für solch eine Position. Es war schon hart an der Grenze zum Hohn. „Mr. Droga. Damit sind Sie zum neuen Vertreter unserer Rasse im Xindi-Rat ernannt worden. Herzlichen Glückwunsch. Ihre neue Aufgabe beginnt in drei Wochen und endet in fünf Jahren.“ Dann wandte er sich wieder an die Abgeordneten und ging ohne Unterbrechung zum nächsten Tagesordnungspunkt über.
Drogas anfängliches Strahlen war erstarrt und er glaubte sich verhört zu haben. Fünf Jahre? Das war nicht richtig. Zwei Jahre betrug die Zeit im Rat. So hatte er es auch geplant gehabt. Panik und Wut wollte in ihm aufsteigen, doch behielt er sich im Griff. Nein, er musste sich verhört haben. Oder Präsident Soriano hatte sich versprochen. Ja, das war die logischste Erklärung, beruhigte er sich langsam wieder. Natürlich hatte er zwei Jahre sagen wollen und nur versehentlich fünf gesagt. Bei den vielen Terminen, die er als Parlamentspräsident im Kopf hatte, war das kein Wunder.
Ihm war wieder etwas leichter ums Herz. Dann stand er auf. Es gab noch so viel zu erledigen, bevor er abflog. Der Rat befand sich auf einem neutralen Planeten, der keiner der fünf Xindi-Rassen gehörte. Sein gesamtes Leben würde sich für die nächsten zwei Jahre dort abspielen. Da gab es einiges zu organisieren. Er sah sich nochmal im Saal um, doch niemand beachtete ihn mehr. Daher verließ er wortlos den Raum, um sich um die Vorbereitungen kümmern zu können.
Mit großen Augen verließ Karja die Transporterstation im Herzen von San Francisco, mit deren Hilfe sie vom Flugplatz hierher gebeamt worden war. Ehrfürchtig blieb sie stehen und ließ ihren Blick der Häuserfassade entlang nach oben schweifen. Die Gebäude schienen sich in endlosen Höhen zu verlieren, so als wollten sie mit ihren Spitzen die Wolken berühren. Und es war nicht nur ein Gebäude, sondern gleich so viele. Rings um sie herum erhoben sich solche Giganten in den Himmel. Auf ihren Glas- und Stahloberflächen spiegelte sich das Sonnenlicht hundertfach gebrochen und erhellte die Straßenschlucht, als würde die Sonne direkt hierher scheinen.
Vor einer knappen Stunde war sie am Flugplatz angekommen, der etwas außerhalb der Stadt lag. Schon beim steilen Sinkflug aus der Umlaufbahn der Erde hatte sie einen Blick auf die Stadt werfen können. Und war sprachlos gewesen. Noch nie hatte sie eine solch große Stadt gesehen. Oder so große Häuser. So etwas gab es auf Elari Prime nicht, der Kolonie in der sie bisher gelebt hatte. Die Siedlungen der Kolonie waren eher primitiv im Vergleich zu dem hier, obwohl sie das bisher nie so empfunden hatte. In dieser Stadt mussten Millionen leben. Eine pulsierende Stadt voller Leben. Karjas Herzschlag hatte sich beschleunigt. Hier wäre man garantiert nie alleine. Man musste nur auf die Straße gehen und schon war man von Menschen umgeben. So stellte sie sich das Paradies vor.
Am liebsten hätte sie sich sofort nach der Landung ins Getümmel der Stadt gestürzt. Doch die Gepäckausgabe hatte sich verzögert. Ungeduldig wie ein kleines Kind hatte sie ständig auf die Uhr geschaut. Die Zeit schien gar nicht vergehen zu wollen. Als ob man sie absichtlich von dieser pulsierenden Stadt fernhalten wollte. Als endlich das Gepäck kam hatte sie ihre schwere Reisetasche gepackt und sich so schwungvoll über die Schulter geworden, dass sie dabei beinahe umgefallen wäre.
Karja war nicht besonders stark. Sie war eine zierliche junge Frau von neunzehn Jahren. Ihr rötlicher Taint mit einem leichten Bronzestich verriet ihre Herkunft als Ureinwohnerin Amerikas. Sie hatte zarte Gesichtszüge, bei denen nur ihre etwas ausgeprägten Wangenknochen hervorstießen. Doch passten sie wunderbar zum gesamten Erscheinungsbild ihres Gesichtes. Ihre mandelförmigen Augen, die schmale Nase und ihre verführerisch geschwungenen Lippen machten eine wahre Schönheit aus ihr. Umrahmt wurde das Ganze von ihren seidig glänzenden schwarzen Haaren, die ihr offen über den Rücken fielen. Mit ihrer engen Jeans und der figurbetonenden Bluse war sie für andere nun ebenso ein Blickfang wie für sie die Häuser rings herum.
Langsamen Schrittes ging sie die Straße entlang. Ihr Blick ging nun nicht mehr nur nach oben, obwohl die hohen Gebäude sie noch immer faszinierten. Sie sah nun auch die kleinen und großen Geschäfte, die sich zur Straße hin öffneten. Und die vielen Cafés und Restaurants, die hier im Freien ihre Tische aufgestellt hatten. Dadurch, dass die Menschen keine Autos mehr benutzten um sich fortzubewegen, war die einstige Straße zu einem breiten Fußgängerbereich umgebaut worden. Baumalleen säumten die Wege in deren Schatten Bänke zum Verweilen einluden. Blumenbeete in den verschiedensten Formen durchzogen die breite Straße und gaben einem trotz der Hochhäuser ein befreiendes Gefühl.
Karja hätte niemals gedacht, dass eine Stadt so schön sein kann. In der Kolonie, in der sie aufgewachsen war, gab es zwar auch große Bauten, aber groß hieß dort eben maximal fünf Stockwerke. Und die Anordnung der Straßen und Plätze war anders. Dort hatte man nie das Gefühl der majestätischen Erhabenheit, wie man es hier bei jedem Schritt spürte. Hier schien alles noch schöner zu sein. Jedes Gebäude, jeder Stein der Bodenplatten, jeder Baum. Als ob Engel das alles erschaffen hätten. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass das hier neu für sie war, während sie zuhause alles kannte und damit groß geworden war. Das einzige, das ihr hier missfiel waren die vielen Sternenflottenuniformen, die in den Straßen zu sehen waren. Das weckte Erinnerungen an die Erzählungen ihrer Tante über Karjas Vater, den die junge Frau nie kennengelernt hatte.
Sie konnte hinterher nicht mehr sagen, wie lange sie so durch die Stadt gelaufen war. Sie merkte nur, wie ihr Gang immer schiefer wurde und die Schulter schmerzte. Ihre schwere Reisetasche machte ihr zu schaffen. In ihr trug sie alles mit sich, was sie besaß. Es war nicht viel, doch um es länger zu tragen war es einfach zu schwer.
Vor lauter Freude über die Stadt hatte sie beinahe vergessen, was sie sich während des Fluges überlegt hatte. Anfangs war sie ohne weiteres Ziel in Richtung Erde aufgebrochen. Doch unterwegs hatte sie sich vorgenommen, nach ihrer Mutter zu suchen. Die letzten Worte, die sie gewechselt hatten, waren im Streit gefallen. Und auch wenn Karja ihr noch nicht verziehen hatte, so wollte sie dennoch nach ihr suchen. Schließlich war sie ihre Mutter. Und vielleicht war sie in den letzten Jahren ja etwas einsichtiger geworden. Und erst dann konnte sie über ihre weitere Zukunft nachdenken. Wurzeln schlagen wollte Karja in dieser Stadt ursprünglich nicht. Obwohl das jetzt vielleicht doch eine Option werden konnte. Die Stadt war einfach zu überwältigend und fesselnd. Doch zuerst musste sie etwas über Mutter in Erfahrung bringen.
Die Behörden würden in ihren Datenbanken sicherlich etwas über ihre Mutter gespeichert haben. Denn auch wenn es Milliarden von Menschen gab, die verteilt auf Hunderten von Lichtjahren lebten, es konnte doch niemand einfach verloren gehen. Irgendwer musste etwas wissen. Und im zentralen Register der Stadt würde man ihr sicher weiter helfen können. In diesen vernetzten Zeiten würde sie von dort aus auf alle Melderegister Zugriff haben.
Das musste aber noch bis morgen warten. Zuerst brauchte sie ein Quartier für die nächsten Tage. Die Beine taten ihr bereits weh und die Anstrengungen der Reise forderten ihren Tribut. Müde machte sie sich auf, eine Unterkunft zu suchen.
Mit eiligen Schritten kam Sanawey um die Ecke gebogen, die zum Landungssteg der Republic
führte. Er hatte sich etwas verspätet und Lieutenant Wendy Brooks sah ihm bereits erwartungsvoll entgegen. Sie sagte nichts weiter, doch ihr tadelnder Blick drückte ihre Verärgerung mehr als deutlich aus. Sie war die Chefingenieurin der Republic
und sollte den Captain auf seinem ersten Rundgang nach der Wartung begleiten. Es hatte einige Systemupdates gegeben, über die der Captain unterrichtet werden musst. Dass sie bereits seit zehn Minuten hier stand und warten musste hatte ihrer Laune einen Dämpfer verpasst.
„Bitte entschuldige die Verspätung“, sagte Sanawey aufrichtig. Bis vor wenigen Augenblicke war er noch in ein Gespräch mit Admiral Noughi verwickelt gewesen, der ihn auf dem Gang abgefangen hatte. Und die Admiräle schienen sich auch nicht darum zu scheren, wenn ihr Opfer, das sie sich gekrallt hatten, eigentlich einen anderen Termin hatte. Aber wehe, man brachte deren Zeitplan durcheinander. Dann machten sie einem die Hölle heiß.
Brooks schüttelte nur energisch ihren rötlich schimmernden Lockenschopf und wollte nicht weiter darüber reden. Und der Captain kannte sie gut genug, um zu wissen, dass er das Thema besser nicht weiter verfolgen sollte. Die beiden kannten sich bereits, seit Wendy Brooks vor achtzehn Jahren die Sternenflottenakademie erfolgreich absolviert hatte und auf sein Schiff versetzt worden war. Er selbst war damals noch stellvertretender Captain gewesen und hatte den Elan und die Einsatzbereitschaft der jungen Ingenieurin bewundert. Ihre kreative Art zu denken hatte neue Impulse im Maschinenraum gesetzt. Sanawey hatte sich ihrer angenommen und ihr geholfen ihre Karriere weiter zu verfolgen. Als er dann sein eigenes Kommando bekommen hatte, hatte er sie mitgenommen und zur Chefingenieurin befördert. Nur bei ihr fühlte er das Schiff in sicheren Händen. In all den Jahren hatte sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die kaum noch erschüttert werden konnte.
Sie öffnete den Durchgang und gemeinsam betraten sie das Schiff. Das helle Weiß der Gänge empfing sie und gab ihnen das Gefühl wieder zuhause zu sein. Und wie nach jedem Aufenthalt auf der Erde musste Sanawey feststellen, dass ihm dieses Schiff inzwischen mehr zur Heimat geworden war als die Erde.
Das Schiff lag an der Andockvorrichtung innerhalb der orbitalen Raumstation, die um die Erde kreiste. Die Station sah von außen aus wie ein überdimensionaler Pilz, der sich in den Weltraum verirrt hatte. Die Form hatte jedoch einen ganz praktischen Grund. Im Stamm der Station befanden sich die technischen Einrichtungen sowie Quartiere für Crew und Gäste. Ebenso fanden sich hier die Frachträume für Waren, die auf ihrem weiteren Weg erst einmal zwischengelagert werden mussten. Im Hut des Pilzes befanden sich die Andockvorrichtungen für die Raumschiffe. Damit musste kein Raumschiff mehr von außen andocken, sondern konnte im Schutz der Station Waren umschlagen und Passagiere aufnehmen oder von Bord gehen lassen. Die Station war inzwischen zum Drehkreuz für fast alle interstellaren Flüge geworden. Nur wenige Raumschiffe waren noch in der Lage auf einem Planeten zu landen. Daher wurden solche Stationen immer wichtiger, wo hingegen planetare Flugplätze immer weiter an Bedeutung verloren.
In der orbitalen Erdstation fanden bis zu zehn große Raumschiffe Platz und mehrere Gleiter. Derzeit waren aber außer der Republic
nur noch zwei kleinere Raumschiffe angedockt. Die Republic
selbst war auch erst vor vier Tagen vom Raumdock zur Station überführt worden. Die Wartung und Inspektion der Schiffe wurde weiterhin in den Docks vorgenommen. Dort waren die technischen Voraussetzungen für größere Reparaturen besser gegeben als hier.
Zusammen mit seiner Chefingenieurin ging Sanawey die neuen Systeme durch. Zu Beginn war er auch noch höchst aufmerksam, doch als Wendy immer tiefer in die technischen Details ging, verlor er mehr und mehr das Verständnis dafür. Sein Wissen über die Technik war zwar tiefer, als das manch anderer Führungsoffiziere, doch einem Techniker war auch er weit unterlegen. Schließlich entschied er genug Geduld bewiesen zu haben und unterbrach sie. „Stopp. Stopp, ich glaube es reicht.“ Er lächelte sie beschwichtigend an. „Du hast mich schon vor einer halben Stunde abgehängt.“
Sie sah ihn schief an. „Erst? Du machst Fortschritte“, sagte sie keck.
Sanawey lachte. „Wenn du das sagst. Aber im Ernst. Ich denke, ich habe verstanden, wie die neuen Systeme funktionieren. Warum sie so funktionieren ist auch eher deine Aufgabe. Ich muss schließlich nicht alles wissen.“
„Nicht, wenn du nicht auf meinen Job scharf bist.“ Sie lächelte ebenfalls. Wenn sie über die Technik der Republic
reden konnte war sie in ihrem Element. Dabei vergaß sie gerne, dass sie ihre Zuhörer damit oft überforderte.
Langsam erhob sich Sanawey und streckte sich erst einmal. „Und nun will ich mir die Brücke ansehen“, sagte er dann. Für ihn war dort das Zentrum des Schiffes und seiner Welt. Für Wendy mochte das der Maschinenraum sein, für ihn war es die Kommandobrücke. Sanawey verglich die beiden Bereiche gern mit den Gehirn und dem Herz des Schiffes. Der Maschinenraum war das pulsierende Herz. Von hier aus wurden die Systeme des Schiffes mit der nötigen Energie versorgt. Und die Kommandobrücke war die alles steuernde Zentrale. Von hier kamen die Befehle und die Entscheidungen.
Wendy erhob sich ebenfalls. „Na schön, dann lass uns auf die Brücke gehen. Wenn es dir dort besser gefällt als in meinem Maschinenraum“, zog sie ihn auf.
Sanawey schnitt eine Grimasse in ihre Richtung, sagte jedoch nichts weiter dazu. Gemeinsam gingen sie zum Lift, um auf die Kommandobrücke zu fahren. Diese lag auf der Oberseite der Untertassensektion, auf einem leicht erhöhtem Aufbau. In den Konstruktionsplänen des Schiffes war die Brücke offiziell als Deck 1 ausgewiesen. Aber im Gegensatz zu allen anderen Decks, die neben den Lifttüren immer die Decknummer angegeben hatten, fehlte diese auf der Brücke. Es wäre auch niemand ernsthaft auf die Idee gekommen von Deck 1 zu sprechen. Für jedermann war dieses Deck einfach die Brücke.
Die Fahrt im Turbolift war nur kurz, dann glitten die beiden Türschotten auseinander und gaben den Blick auf die leere Brücke frei. Ohne Besatzung wirkte der Raum so ruhig. Wo normalerweise hektische Betriebsamkeit herrschte surrten nur einige wenige technische Geräte leise und gleichmäßig vor sich hin.
Die Brücke war kreisrund und in zwei Bereiche unterteilt. Wer den Lift verließ stand auf dem Oberdeck, das im Halbkreis um den hinteren Bereich der Brücke verlief und an den Enden des Halbkreises nach vorne hin abfiel. Dort erreichte der Boden dann das zwei Stufen tiefere Niveau des Unterdecks, das in der Mitte der Brücke lag und sich nach vorne zum Bildschirm hin ausbreitete. Dort stand, genau in der Mitte der Brücke, der Kommandosessel, der Platz des Captains. Von hier aus hatte er das Geschehen um ihn herum im Blickfeld. Und der Platz gab ihm uneingeschränkte Sicht auf den großen Hauptbildschirm, der an der Vorderseite der Brücke angebracht war. Der gesamte Aufbau war in Flugrichtung ausgerichtet. Diese Ausrichtung wäre aufgrund der künstlichen Schwerkraft und den Trägheitsdämpfern, die jegliche Bewegung des Schiffes ausglichen, gar nicht nötig gewesen. Trotzdem hielten die Ingenieure diese grundlegende Konstruktion bei. Es war einfach ein zu wichtiger psychologischer Faktor.
Vom Lift aus führten, wenn man in zwei Schritten das Oberdeck überquert hatte, zwei kleine Stufen hinab auf das Unterdeck. Diese Stufen waren nur im Bereich der beiden Aufzüge angebracht, die im Winkel von vierzig Grad links und rechts hinter dem Kommandosessel von der Brücke führten. Zwischen diesen kleinen Treppenaufgängen trennten hüfthohe Geländer in grauer Farbe die beiden Decks voneinander. Damit sollte ein Sturz durch einen Fehltritt vermieden werden.
Auf dem Oberdeck waren an der Wand entlang Bedienungselemente angebracht, die verschiedenen Bereiche des Schiffes kontrollierten und steuerten. Von hier aus konnten alle Funktionen des Schiffes benutzt und überwacht werden. Die Bedienungseinheiten waren unterteilt und dienten verschiedenen Aufgaben. Zwischen den beiden Aufzügen waren die Kommunikationsstation und eine Konsole für wissenschaftliche Zwecke. Links hinter dem Kommandosessel schloss sich an den Lift die technische Abteilung an. Von hier aus konnten die wichtigsten Vorgänge im Maschinenraum beaufsichtigt werden. Dies war Wendys Platz, wenn sie sich auf der Kommandobrücke aufhielt. Und Sanawey wusste, solange sie in einer Krisensituation hier sitzen blieb stand es nicht allzu schlecht um das Schiff. Erst wenn sie aufstand, um in den Maschinenraum zu eilen, dann waren sie wirklich in Gefahr.
Daneben war die taktische Einheit untergebracht, der Platz des Sicherheitsoffiziers. Hier liefen die Daten über die internen Sicherheitsberichte zusammen, die Informationen der internen Sensoren, wenn beispielsweise ein Feuer ausbrach oder eine Waffe im Schiffsinneren abgefeuert wurde. Außerdem befand sich hier die Waffenkontrolle, über die in einem Gefecht Phaser und Photonentorpedos abgeschossen wurden.
Auf der gegenüberliegenden Seite, rechts hinter dem Kommandosessel, befanden sich zwei weitere wissenschaftliche Stationen. An der neben dem zweiten Lift saß der Wissenschaftsoffizier, ein Vulkanier namens Sohral. Einer der wenigen Außerirdischen an Bord. Und neben ihm hatte meist die Stellvertreterin des Captains Platz genommen. Daher war die Konsole auch etwas modifiziert worden. Hier liefen nun verschiedene Informationen aus allen Bereichen des Schiffes zusammen, grob zusammengefasst. So hatte die hier sitzende Person stets einen Überblick über alle Vorkommnisse.
Vor dem Kommandosessel waren, in Flugrichtung ausgerichtet, rechts die Navigations- und Steuerkonsole sowie links die operative Station, meist nur Ops genannt. Dort liefen Sensorendaten, die ständig aus dem näheren und weiterem Umfeld des Schiffes eingingen, zusammen. Hier lagen auch die Schutzschildsteuerung sowie die Copilotenfunktion.
Jeder auf der Brücke hatte damit seine Aufgabe. Und von jedem wurde hundertprozentiger Einsatz gefordert. Die kleinste Unaufmerksamkeit konnte in den lebensfeindlichen Weiten des Alls den Tod einzelner oder gar aller bedeuten. Natürlich gab es noch Sicherheitssysteme, die in der Regel eine Katastrophe verhindern sollten, jedoch war das kein Grund nachlässig zu werden. Aber Sanawey wusste, dass er eine eingespielte Crew hatte, in der jeder sein Leben für den anderen einsetzten würde. Und in der er sich auf jeden einzelnen verlassen konnte. Einzig den neuen Mann an der Ops, Lieutenant Commander Drake Reed, kannte er nicht. Und aufgrund der Vermerke in dessen Personalakte wusste er auch nicht, wie er den Mann einschätzen sollte. Das konnte zu einem Unsicherheitsfaktor werden. Doch wollte er sich davon jetzt bestimmt nicht verrückt machen lassen. Letztlich musste er sich selbst ein Bild machen und dann die Lage bewerten.
Langsam betrat Sanawey die Brücke, fast so als habe er Angst, allein durch seine Anwesenheit die Ruhe, die hier herrschte, zu zerstören. Er wollte diesen Zustand so lange wie möglich erhalten, da es eine ungewöhnliche Atmosphäre für die Brücke war. Wendy folgte ihm mit ein paar Schritten Abstand. Sie wollte den Captain jetzt nicht stören und ihm diesen Moment gönnen.
Für Sanawey war es wie das Gefühl nach Hause zurückzukommen. Zwar war er nur sechs Wochen nicht hier gewesen, doch jetzt, da er zurück war, kam ihm diese Zeit wie eine Ewigkeit vor. Gemächlich ging er das Oberdeck entlang, sah auf die frisch geputzten Konsolen und die wenigen derzeit arbeitenden Systeme. Seine Wanderung führte ihn einmal um die Brücke herum aufs Unterdeck, wo er vor dem Kommandosessel stehen blieb. Für einen Moment wollte er sich schon setzen, doch dann entschied er sich anders. Noch war nicht die Zeit dafür. Das würde er sich für den Start aufheben. Er sah auf und blickte zu Wendy, die noch immer auf dem Oberdeck vor dem Lift stand. Er wollte ihr sagen, wie gut es war wieder hier zu sein, doch an ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie dasselbe empfand. Daher ging er dann doch nicht weiter darauf ein, sondern sagte nur: „Hier auf der Brücke hat sich nicht viel geändert.“ Im Grunde sah die Brücke fast so aus wie immer. Aber eben nur fast.
„Hier wurde auch nichts weiter geändert. Bis auf den Boden“, wies sie ihn darauf hin.
Sanawey senkte den Blick. Ein dunkelblauer Bodenbelag war neu aufgebracht worden, der den alten, einstmals weißen Boden verdeckte. Ein praktischer und auch optisch gelungener Austausch, denn der neue Belag war sicherlich weniger anfällig oder zumindest würde man ihm nicht gleich jeden Fleck und jede Alterserscheinung ansehen. Und er passte gut zu den weißen Wänden und den hellen Konsolen. Auch wirkte die Brücke nun nicht mehr so grell wie früher und war trotzdem weit davon entfernt düster zu werden. Eine durchaus positive Veränderung. Was er durch eine entsprechende Äußerung auch kundtat.
„Da musst du dich bei den Designern der Sternenflotte bedanken. Die haben sich das ausgedacht“, winkte Brooks ab. „Ich bin nur für das technische zuständig. Von Ästhetik verstehe ich nichts.“
Sanawey sah sie nur an, schüttelte leicht den Kopf, sagte aber nichts dazu. Er wusste genau, wenn es um die Technik und die Schiffssysteme ging, dann war Wendy sehr wohl auf Form und Aussehen bedacht. Ein technisches Gerät, das zwar funktionierte, aber nach nichts aussah, war für sie nur schwer zu ertragen. Vor allem, wenn es auch noch für jeden sichtbar verbaut worden war.
„In zwei Tagen wird es hier mit der Ruhe vorbei sein“, sagte er schließlich leise und mehr zu sich selbst. Dann wandte er sich mit einem Ruck von dem Bild der leeren Brücke ab. „Es gibt noch viel vorzubereiten vor dem Start“, sagte er zu Wendy, während er den Lift betrat. „Wir sollten uns darum kümmern. Die Zeit fehlt uns sonst am Ende noch.“
Wendy Brooks nickte zustimmend und folgte Sanawey in den Aufzug. Die Türe schloss sich lautlos und ließ der Kommandobrücke noch ein wenig Zeit der Ruhe.
Müde und erschöpft verließ Karja das Gebäude der Meldebehörde im Herzen von San Francisco. Langsam trat sie die beiden Stufen zur Straße hinunter. Der leichte Wind strich ihr angenehm kühlend über die vor Anstrengung geröteten Wangen. Beinahe den ganzen Tag hatte sie hier zugebracht. Sie hatte den öffentlich zugänglichen Computer nach dem letzten bekannten Aufenthaltsort ihrer Mutter befragt. Das Ergebnis war aber eher ernüchternd gewesen. Ihre Mutter Janet war noch immer als Bewohnerin von Elari Prime registriert. Sie hatte diese Angaben auch nach verlassen der Kolonie nie aktualisieren lassen. Und sich auch sonst nirgends angemeldet, sonst wären die neuen Daten hierher gemeldet worden. Für Karja war das jedoch kein Grund gewesen aufzugeben. Sie hatte schriftliche Anfragen an andere Meldestellen gestellt, hatte mit verschiedenen Sachbearbeitern gesprochen und auf Antworten gewartet. Sie war sämtliche Melderegister durchgegangen, die sie hatte finden können. Selbst die Sterbefallmeldungen war sie durchgegangen, allerdings mit einem etwas mulmigen Gefühl dabei. Aber immer mit dem gleichen Ergebnis. Ihre Mutter war nirgends verzeichnet. Es war, als existiere sie nicht.
Mit hängenden Schultern ging sie durch die Straßen. Sie wusste nicht recht, was sie nun tun sollte. Bisher es war ihr Ziel gewesen ihre Mutter zu finden. Weiter hatte sie nie gedacht. Nun musste sie sich allmählich eingestehen, dass sie Janet vielleicht nie finden würde. Und sie musste sich Gedanken über die nächsten Schritte machen und über ihre Zukunft. Mit einem Mal fühlte sie sich schrecklich alleine und verloren. Zwar war ihr sehr wohl bewusst, dass ihre Mutter ihr kaum hätte helfen können. Sie hatte ihr noch nie helfen können. Doch der Gedanke, sie nicht mehr zu finden, entmutigte sie dennoch.
Die Sonne stand bereits tief am Horizont und die Gebäude warfen lange Schatten auf die Straßen. Karja musste die Augen zusammenkneifen, als sie um eine Straßenecke bog und die Sonne ihr direkt ins Gesicht schien. Sie hielt auf ein kleines Straßencafé zu, vor dem Stühle und Tische im Freien aufgestellt waren. Sie war von der ganztägigen Suche und der damit verbundenen Bildschirmarbeit so angestrengt, dass sie jetzt erst einmal einen starken Kaffee brauchte, um ihre Lebensgeister wieder zu wecken. Sie war eine solch langwierige Arbeit am Computer einfach nicht gewohnt. Die Arbeiten, die sie in der Kolonie erledigt hatte, waren alle handwerklicher Art gewesen.
Sie nahm Platz und bestellte bei der flink herbeigeeilten Bedienung einen Kaffee. Nachdem sie wenig später einen ersten Schluck genommen hatte lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, schloss ihre Augen und wandte ihr Gesicht direkt der Sonne zu. Die letzten wärmenden Strahlen des Tages taten einfach gut und halfen ihr dabei zu entspannen. Wenigstens für einige Minuten wollte sie nicht mehr über ihre Probleme nachdenken und einfach abschalten.
„Ist hier noch frei?“ sprach sie plötzlich eine tiefe männliche Stimme an. Karja zuckte ein wenig zusammen und riss die Augen auf. Sie blinzelte in die Sonne. Vor ihr stand ein älterer Mann. Er war bestimmt schon Mitte sechzig. Seine Haare waren bereits weiß und lichteten sich ein wenig. Ein weißer Vollbart bedeckte seine Wangen und das Kinn. Wässrig blaue Augen blinzelten ihr entgegen. Er war ein wenig korpulent und trug einen schicken Anzug. In der Hand hielt er eine Aktentasche.
Karja sah sich um. Einige Tische weiter saß ein Pärchen und unterhielt sich leise. Ansonsten war niemand anwesend und folglich alle Tische leer.
„Ja, sicher“, sagte Karja irritiert. Wieso wollte er sich unbedingt zu ihr setzen?
Er nahm Platz, bestellte sich einen Kaffee und sah sie dann schweigend an. Karja blieb skeptisch. Was wollte der Mann von ihr? Wollte er sie belästigen? Oder ihr etwas verkaufen? Die ganze Entspannung, die sie noch vor wenigen Augenblicken gespürt hatte, war verschwunden.
„Ein schöner Tag“, sagte er schließlich, nachdem er einen kräftigen Schluck seines Kaffees getrunken hatte.
„Ja“, nickte Karja langsam. Auf eine Unterhaltung hatte sie nun wirklich keine Lust.
„Sind Sie neu in der Stadt?“ erkundigte er sich freundlich und schien ihre ablehnende Haltung überhaupt nicht zu bemerken.
„Ja“, sagte sie wieder nur. Vielleicht würde er ja nach ein paar kurzen Antworten ihrerseits aufgeben.
Er nahm einen weiteren Schluck. „Eine schöne Stadt, nicht wahr? So pulsierend und lebendig.“ Seine tiefe Stimme hatte etwas fröhliches, das normalerweise auch ansteckend wirkte. Aber nicht heute bei ihr.
Diesmal nickte sie nur und versuchte dann ihn einfach zu ignorieren.
Tatsächlich schwieg er auch einige Minuten, dann fuhr er aber mit seiner recht einseitigen Unterhaltung fort. „Mich hat es damals hierher verschlagen, als ich mich bei der Sternenflotte beworben hatte. Damals war ich noch jung und von der Stadt äußerst beeindruckt gewesen. Ich kam aus einem Dorf im mittleren Westen. Eine Stadt wie San Francisco hatte ich vorher noch nie gesehen. Und auch danach nie wieder. Die Stadt hat mich so sehr in ihren Bann gezogen, dass ich schließlich bei der Sternenflotte meinen Abschied genommen hatte. Ich habe mich dann selbstständig gemacht und lebe seither hier. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Sind Sie auch hier um sich bei der Sternenflotte zu bewerben?“
Genervt sah Karja ihn an. Sie überlegte, was wohl die beste Antwort auf diese Frage wäre. Ein Nein hätte sicher weitere Fragen auf ihre Zukunft zur Folge. Also gab sich wieder ein schlichtes Ja von sich. Warum sie überhaupt mit ihm sprach wusste sie selbst nicht.
Er schien das für eine gute Entscheidung zu halten, denn er lächelte. „Es gibt kaum eine besser Möglichkeit um seine eigenen Horizont zu erweitern“, sagte er anerkennend. „Ihre Eltern müssen stolz auf Sie sein.“
Dieser Satz ließ Karja endgültig ihre Geduld verlieren. „Das weiß ich nicht“, gab sie unwirsch zurück. „Ich kann sie nicht fragen. Ich habe meine Mutter seit Jahren nicht mehr gesehen. Und werde sie vielleicht auch nie wieder sehen.“ Sie ließ hörbar den Atem entweichen und versuchte sich wieder zu beherrschen. Der Mann konnte schließlich nichts dafür. Obwohl er eigentlich selbst schuld war, wenn ihr Zorn ihn traf. Warum hatte er sie auch ansprechen müssen? Sie hatte ihn nicht darum gebeten.
„Das tut mir leid.“ Es klang aufrichtig und teilnahmsvoll. Dann schwieg er taktvoll.
Die Sonne hatte mittlerweile den Horizont erreicht und würde in wenigen Minuten dahinter verschwunden sein. Trotzdem war es noch angenehm warm.
„Was ist mit Ihrem Vater?“ fragte der Mann schließlich.
Karja war von der Frage etwas überrumpelt. Denn für sie existierte ihr Vater nicht. „Was soll mit ihm sein?“ stellte sie verwirrt eine Gegenfrage.
„Sie sagten, Sie kennen Ihre Eltern nicht, haben dann aber nur Ihre Mutter erwähnt“, erklärte er ihr.
Es wurde Zeit weiterzugehen, beschloss sie für sich, beantwortete seine Frage aber dennoch mit patzigem Ton. „Ich kenne meinen Vater nicht und weiß auch nicht wo er ist.“
„Warum suchen Sie ihn dann nicht?“ Seine Augen blickten unschuldig drein.
Karja sah ihn verständnislos an. Wieso mischte der Mann sich in ihre Angelegenheit ein? Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob er vielleicht ihr Vater war. Doch das war nicht möglich. Dieser Mann war ein Weißer.
„Sie finden Ihre Mutter nicht, sagten Sie. Daraus schließe ich, dass Sie Ihren Vater nie gesucht haben“, half er ihr auf die Sprünge.
Ohne eine Antwort parat zu haben setzte sie zu einer heftigen Reaktion an, brach dann aber ab. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Suche nach ihrem Vater war für sie noch nie eine Option gewesen. Zu groß war ihr Hass auf ihn. Und dass dieser Fremde ihr das nun vorschlug war geradezu anmaßend.
Der Mann sah wie zufällig auf seine Uhr und bevor Karja noch eine passende Erwiderung einfiel sagte er: „Schon so spät? Ich muss weiter.“ Damit stand er auf und nahm seine Tasche. „Es war nett sich mit Ihnen zu unterhalten. Ich wünsche Ihnen alles Gute und noch einen angenehmen Aufenthalt in dieser herrlichen Stadt.“ Er lächelte, deutete eine leichte Verbeugung an und ging dann. Da er die Richtung einschlug, der sie den Rücken zukehrte, war er sofort aus ihrem Blickfeld verschwunden. Noch immer völlig verwirrt starrte sie auf den Stuhl, auf dem der Fremde bis eben noch gesessen hatte. Das war mit Sicherheit die seltsamste Begegnung ihres Lebens gewesen. So etwas Verrücktes war ihr noch nie untergekommen. Sie wandte sich um, um ihn nachzusehen. Doch hinter ihr lag nur die leere Straße. Von dem Mann war weit und breit nichts zu sehen. Hatte sie die ganze Begegnung etwa nur geträumt? Doch die noch halbvolle Tasse des Mannes, die noch auf dem Tisch stand, zeigte ihr deutlich, dass es kein Traum gewesen war.
Wie in Trance griff sie zu ihrer eigenen Tasse und trank den letzten Schluck. Dann stand sie auf und ging in die andere Richtung davon. Während sie die Straße entlang ging versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Sie musste sich nun überlegen wie es weitergehen sollte. Ihre Mutter zu finden war nicht so einfach wie sie gedacht hatte. Offenbar war die lückenlose Überwachung von einzelnen Personen innerhalb der Föderation doch nicht so gut wie sie es in ihrer Kindheit öfters von kritischen Erwachsenen gehört hatte. Und sie musste sich eingestehen, dass sie alle Möglichkeiten der Suche ausgeschöpft hatte. Zumindest alle, die ihr zur Verfügung standen. Nun galt es sich neue Ziele zu suchen. Und dabei hatte der Fremde ihr vorher einen Gedanken in den Kopf gesetzt, der dort jetzt sein Unwesen trieb. Sollte sie tatsächlich ihren Vater suchen? Sie hasste ihn und wünschte ihm die rigelianische Rüsselpest an den Hals. Gab es da irgendeinen Grund, warum sie ihn suchen sollte? Gut, wenn sie ihn fand konnte sie ihm einmal richtig die Meinung sagen. Dann könnte sie das Entsetzen in seinen Augen sehen, wenn er erkannte, dass sie ihn gefunden und entlarvt hatte. Wenn er sich seine Schuld eingestehen musste. Und mit diesem Schuldgefühl konnte sie ihn dann zurücklassen.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihr der Gedanke. Vermutlich würde sie es genauso machen. Zuerst aber musste sie noch zwei Antworten zum Verbleib ihrer Mutter abwarten. Die Anfragen hatten leider nicht kurzfristig beauskunftet werden können.
Vor dem Hotel, in dem sie Quartier bezogen hatte, blieb sie kurz zögernd stehen. Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten. Eigentlich hatte sie noch ein wenig das Nachtleben San Franciscos erkunden wollen. Doch war sie nun zu erschöpft. Der Tag war anstrengender gewesen als sie erwartet hatte. Daher betrat sie das Hotel und beschloss zeitig zu Bett zu gehen. Vielleicht konnte sie morgen die Stadt noch erkunden.
Mit einem Kribbeln auf der Haut materialisierte sich Drake Reed im Transporterraum des Raumschiffes Republic
. Vor ihm nahmen die Konturen des Raumes Form an. Die helle Wand ihm gegenüber reflektierte das Schimmern des Transporterstrahles. Vor dieser Wand stach deutlich die Bedienungskonsole hervor, hinter der der Transportertechniker stand und den Beamvorgang überwachte. Direkt vor der Plattform, auf der sich Reeds Moleküle wieder zusammensetzten, stand aufrecht eine dunkelhaarige Frau, deren Rangabzeichen auf der Uniform sie als Commander auswies. Ihre langen Haare, die sie zu einem Zopf zusammengeflochten hatte, hingen ihr über die Schultern den Rücken hinunter. Zusammen mit ihrer strammen Haltung wirkte sie dadurch etwas streng. Die unbeweglichen Gesichtszüge trugen ihr übriges dazu bei. Einzig ihre grünen Augen passten nicht so recht zu ihrem Erscheinungsbild und irritierten gewöhnlich ihre Gegenüber. Unter ihren Untergebenen galt sie als wenig emotional. Hinter vorgehaltener Hand wurde auch schon mal scherzhaft spekuliert, dass sie vulkanische Vorfahren haben musste. Sie hatte hohe Anforderungen an die Crew, wurde aber trotzdem als fair und gerecht angesehen.
Das Kribbeln auf Reeds Haut verflog sofort, als der Materialisierungsvorgang abgeschlossen war. Mit zwei schnellen Schritten war er von der Transporterplattform herunter und salutierte vor der Frau.
„Lieutenant Commander Drake Reed meldet sich zum Dienst“, sagte er militärisch zackig.
„Willkommen an Bord“, erwiderte sie. Ihre Stimme hatte einen leicht rauchigen Unterton, der unter anderen Umständen als erotisch hätte bezeichnet werden können. „Ich bin Commander Sylvia Jackson“, stelle sie sich dann vor.
„Freut mich Sie kennen zu lernen“, lächelte er breit. Seine blauen Augen strahlten sie an. Reed hatte dunkle Haare, die kurz geschnitten und modisch frisiert waren. Seine Gesichtszüge waren trotz seines noch relativ jungen Alters bereits markant männlich. Insgesamt sah er geradezu verboten gut aus. Seine Wirkung auf das andere Geschlecht war damit entsprechend. Allein mit seinem Lächeln schaffte er es, dass ihm die Frauenwelt zu Füßen lag. Und er war sich dessen Wirkung auch absolut bewusst. Gezielt setzte er seien Charme ein, um seine Ziele zu erreichen. Nämlich die schönsten Frauen zu verführen. Was ihm nicht nur Freunde eingebracht hatte.
Sie erwiderte kurz aus reiner Höflichkeit das Lächeln, wurde dann aber sofort wieder ernst. „Ihre persönlichen Besitztümer wurden bereits in Ihr Quartier gebracht. Dort werden Sie auch Ihren Dienstplan finden. In einer Stunde werden Sie den Captain treffen. Um vierzehn Uhr ist ein Meeting der Führungscrew angesetzt“, informierte sie ihn.
Reed nickte. Insgeheim war ihm gar nicht wohl zumute. Der Ton, der hier herrschte, überraschte ihn etwas. Und gefiel ihm auch nicht. Er war sich sehr wohl im Klaren darüber, dass das hier seine letzte Chance innerhalb der Sternenflotte sein würde. Und dass seine neuen Vorgesetzten über alles, was in der Vergangenheit vorgefallen war, informiert waren. Somit war ihm bewusst gewesen, dass man ihn nicht mit offenen Armen empfangen würde. Aber die kurze Angebundenheit, mit der ihm Commander Jackson entgegenkam schien mehr Ablehnung zu beinhalten als er erwartet hatte. Daher sagte er auch nichts weiter, als sie ihn zu seinem Quartier begleitete.
Seine Unterkunft war relativ geräumig. Er hatte zwei Räume zur Verfügung sowie ein Bad. Das war mehr, als es die meisten Crewmitglieder hatten. Da er zur Führungscrew gehörte stand ihm mehr Platz zur Verfügung. Gewöhnliche Besatzungsmitglieder waren in Doppelquartieren untergebracht. Reed war froh über diesen Status, den er sich erarbeitet hatte. Mit Grauen dachte er an die Zeit zurück, als er sich das Quartier noch mit einem Crew-Kollegen teilen musste. Irgendwie hatte er immer Pech gehabt mit seinen Zimmerkollegen. Entweder schnarchten sie jede Nacht oder sie waren absolut unordentlich. Während einer dreimonatigen Mission hatte er gar einen Kollegen im Zimmer, der unter Dauerblähungen litt. Doch anstatt sich vom Arzt deshalb behandeln zu lassen ignorierte er das Problem einfach. Die Luft im Raum war vor allem gegen Morgen ekelerregend. Aber selbst eine Unterredung mit seinem Vorgesetzten, die Reed veranlasst hatte, prallte einfach an an dem Mann ab. Und da Reed es nicht mehr hatte aushalten können, hatte er die meisten Nächte der Mission in den Quartieren junger Frauen verbracht. Zwar hatte ihm auch das Ärger eingebracht, denn schließlich hatten alle seine Übernachtungsgastgeberinnen ebenfalls Doppelquartiere. Doch war dieser Ärger immer noch erträglicher als die Alternative.
Damals hatte er beschlossen möglichst schnell Karriere zu machen. Und er hatte es trotz der Reibereien, die er immer wieder verursachte, geschafft.
Nun stand er hier. Sein Quartier war natürlich noch nicht eingerichtet. Seine Besitztümer standen verpackt im Raum verteilt. Es war zwar nicht viel, aber trotzdem würde er ein paar Stunden brauchen um alles auszuräumen. Er war sich nur nicht sicher, ob er das wirklich tun sollte. Wer wusste den schon, wie lange er wirklich auf diesem Schiff bleiben würde, ob er seine Chance nutzen konnte. Denn warum sollte es hier besser funktionieren als auf den letzten Schiffen?
Sein Blick schweifte durch den Raum. Das Quartier lag auf Deck 3 der Untertassensektion, direkt am äußersten Rand. Dadurch hatte er große Fenster, die den Blick nach draußen auf die Sterne zuließen. Direkt vor dem Fenster stand ein Sofa, das zur Ausstattung des Raumes gehört. Ein kleiner Tisch rundete das Bild ab. Gegenüber den Fenstern war ein Wandschrank eingebaut, der bis zur Türe reichte. Links von der Tür war ein Computerterminal angebracht sowie der zimmereigene Replikator. Rechts ging es am Schrank vorbei durch eine Tür in den zweiten Raum. Dieser war kleiner und fungierte als Schlafzimmer. Ein Bett und ein weiterer Schrank gehörten zur Standardausstattung.
Nicht besonders viel Platz, doch es reichte. Und zur Freizeitgestaltung gab es an Bord auch noch das Freizeitdeck. So konnte man viel Zeit außerhalb des Quartiers verbringen.
Da er wenig Lust zum Auspacken und Einräumen verspürte setzte er sich auf das Sofa, legte die Beine hoch und sah über die Lehne zum Fenster hinaus. Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Das Schiff befand sich innerhalb der Raumstation, der Blick auf die Erde war somit versperrt. So sah Reed nur auf eine stahlgraue Wand, die nicht besonders aufregend war. Doch die eintönige Aussicht lenkte ihn wenigstens nicht von seinen Gedanken ab und so hing er diesen nach. Er stellte sich vor, wie es hier an Bord wohl werden würde.
So blieb er sitzen bis der Computer ihn an den Termin mit dem Captain erinnerte. Erst dann erhob er sich langsam, um sich auf den Weg zu machen. Es waren noch fünf Minuten und er hatte es nicht weit. Er musste nur mit dem Lift nach oben. Somit hatte er noch Zeit. Trotzdem trieb ihn die innere Unruhe vorwärts. Auf keinen Fall wollte er gleich an seinem ersten Tag zu spät beim Captain erscheinen, so rebellisch er sich sonst auch gerne gab. Aber er war sich sehr wohl bewusst, dass seine letzte Chance sich zu bewähren, schon von vorn herein zum Scheitern verurteilt wäre, wenn er es sich gleich mit dem Captain verscherzen würde.
Ein Deck höher verließ er den Lift wieder. Deck 2 lag in der Mitte der Untertassensektion und leicht erhöht. Daher war diese Ebene des Schiffes zwangsläufig kleiner, als die darunter folgenden. So gab es hier drei Besprechungsräume, Toiletten für die dringenden Bedürfnisse der Brückencrew und den Bereitschaftsraum des Captains. Dorthin konnte er sich zurückziehen, wenn er vertrauliche Gespräche mit Crewmitgliedern oder per Subraumverbindung führen musste. Außerdem konnte er hier in Ruhe arbeiten, wenn seine Anwesenheit auf der Brücke nicht erforderlich war.
Zwei der drei Besprechungsräume lagen ringförmig am äußeren Rand des Decks entlang der Außenwand. Somit hatte man von dort aus einen schönen Blick über die Hülle des Schiffes hinweg ins All. Wobei dafür in den Meetings meist keine Zeit war. Einer dieser beiden Besprechungsräume war für die Führungscrew reserviert und für den Rest des Schiffes nicht nutzbar. Der dritte Raum dieser Art war kreisrund und lag in der Mitte des Decks und damit folglich ohne Fenster. Neben den beiden großen Räumen an der Außenhülle lag der kleine Raum des Captains.
Unentschlossen blieb Reed am Lift stehen. Er war zwei Minuten zu früh hier, wollte den Captain aber nicht schon jetzt belästigen. Also musste er die Zeit irgendwie totschlagen. Nicht, dass es dafür hier viele Möglichkeiten gegeben hätte. Der Gang vor ihm war weiß und nicht anders, als die Gänge auf anderen Ebenen. Der einzige Unterschied war, dass hier weniger Personal unterwegs war. Hier wurde es nur dann für kurze Zeit voll, wenn eine Besprechung angesetzt war und die Beteiligten dorthin strömten oder zurückkamen. So gab es für Reed nichts anderes zu tun, als Löcher in die Luft zu starren. Und als die Zeit endlich verstrichen war, hatte er das Gefühl, die Luft müsse nun aussehen, wie ein Schweizer Löcherkäse.
Als er in den Sensorenbereich der Tür trat hörte er sofort ein kräftiges Herein. Daraufhin glitt die Tür mit einem leisen Schleifgeräusch zur Seite. Captain Sanawey saß hinter seinem Schreibtisch und schaltete gerade den Bildschirm ab. Er hatte sich eben noch schnell die Daten über sein neuestes Crewmitglied angeschaut. Nur musste Reed das ja nicht direkt wissen, auch wenn er sich das sicherlich denken konnte.
Sanawey erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. Dann reichte er Reed freundlich die Hand. „Herzlichen Willkommen an Bord, Mr. Reed“, sagte er und klang dabei absolut ehrlich.
Drake Reed war etwas überrascht. Zum einen von Sanaweys Erscheinung. Sanawey strahlte eine ungeheure Autorität aus ohne dabei überheblich oder arrogant zu wirken. Im Gegenteil, er machte einen sympathischen Eindruck. Auch wirkte er trainiert und sportlich. Aber das erstaunlichste waren seine Haare. Sie glänzten silbergrau und waren lang. Lange Haare bei einem Captain waren doch eher außergewöhnlich, wenn es sich bei dem Captain nicht gerade um eine Frau handelte. Eine Tatsache, die Reeds Achtung vor Sanawey steigen ließ. Nicht, weil er lange Haare bei Männern toll fand, eigentlich war das Gegenteil der Fall, auch wenn dem Indianer das tatsächlich gut stand. Nein, es war einfach die Tatsache, dass er das durchzog, auch wenn das bei den Admirälen sicher nicht gerne gesehen war. Somit war auch er in gewissem Masse ein Rebell, der sich nicht alles vorschreiben ließ. Und damit würde er Reed sicher ein wenig besser verstehen können. Das war zumindest Reeds Hoffnung.
„Vielen Dank“, sagte Reed artig. „Es ist mir eine Ehre hier sein zu dürfen.“
Lächelnd bot Sanawey Reed einen Platz am Tisch in der Ecke an. Hier stand ein kleiner Tisch, der für ungezwungene persönliche Gespräche diente, an dem man sich schräg gegenüber sitzen konnte. So war nicht der Schreibtisch als Machtsymbol dazwischen, der in manchem Gespräch sicherlich sinnvoll war, in andern aber auch den Gesprächsfluss bremsen konnte.
Nachdem sie Platz genommen hatten begann Sanawey die Unterhaltung. „Aus Ihren Unterlagen geht hervor, dass Sie bereits auf mehreren Schiffen gedient haben. Eine stolze Auswahl für eine so relativ kurze Zeit. Die offiziellen Versionen dazu kenne ich. Das ist ausführlich in Ihrer Personalakte vermerkt.“ Er machte eine kurze Pause um die Worte wirken zu lassen. Was sie auch taten. Reed hatte das Gefühl, die Temperatur im Raum würde stetig fallen. Das fing ja gut an. Der Captain wies ihn gleich auf seine Verfehlungen hin. Offenbar hatte er nicht das geringste Interesse daran, ihm eine weitere Chance zu geben.
„Ich will Ihnen aber auch gleich sagen, dass ich meine Beurteilung nicht aufgrund irgendwelcher Unterlagen machen werde“, fuhr Sanawey zu Reeds Erleichterung fort. „Für mich zählen nur die Leistungen, die Sie ab heute erbringen werden. Nur das kann ich einschätzen.“
„Vielen Dank“, brachte Reed hervor, da er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Wenn das stimmte, was Sanawey eben gesagt hatte, dann hatte er eine echte Chance.
Aber Sanawey hob abwehrend die rechte Hand. „Nehmen Sie das nicht zu leicht, Mr. Reed. Sie sind in der Rangfolge an Bord an dritter Stelle, nach Commander Jackson und mir. Sie tragen damit eine hohe Verantwortung. Und aufgrund Ihrer Verfehlungen in der Vergangenheit stehen Sie auf jeden Fall mehr unter Beobachtung als es bei jemand anderem der Fall gewesen wäre. Nicht nur von mir, sondern auch dem Rest der Crew.“
Reed schluckte und nickte, machte aber trotzdem einen entschlossenen Gesichtsausdruck. Sanaweys Worte waren ja keine Ablehnung von vornherein. Vielleicht würde es nun mit seiner Karriere etwas langsamer vorangehen, aber das war auch gar nicht schlimm. Für sein Alter hatte er schon viel erreicht. Und nicht jeder konnte mit dreißig schon Captain sein, wie James T. Kirk. Vielleicht war es ganz gut, wenn er mal etwas langsamer machen konnte und die Chance hatte in eine Rolle hineinzuwachsen. „Das ist mir bewusst, Captain“, sagte Reed schließlich. „Ich werde auch alles dafür tun, diese Chance zu nutzen. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“ Er war selbst etwas überrascht von seinen Worten. Eigentlich hatte er sich auf keinen Fall so unterordnen wollen. Aber Sanaweys Erscheinen war so beeindruckend, dass ihm das einfach so herausgerutscht war.
Über die Lippen des Captains huschte ein Lächeln. „Freut mich das zu hören.“ Ob er den Worten auch Glauben schenkte war ihm nicht anzusehen.
Sie unterhielten sich noch einige Minuten über die täglichen Abläufe auf dem Schiff, über Dienstpläne und das Personal. Es waren nur kurze und oberflächliche Informationen, die Sanawey auf diesem Wege weitergeben konnte. Alles Weitere würde Reed von Commander Jackson erhalten. Sie würde ihn auch in seine Aufgaben einweisen. Damit war dieses erste Gespräch auch relativ schnell vorüber. In den nächsten Monaten würden sie mehr miteinander zu tun haben und dann würde sich auch erst herausstellen, ob Reed seinen Worten auch Taten folgen lassen konnte. Sanawey war sich dessen nicht sicher. Reed machte zwar einen netten Eindruck, zumindest war er besser, als man das aufgrund der Unterlagen hätte erwarten können. Doch seine vergangen Taten blieben Sanawey einfach im Hinterkopf hängen. Das konnte er nicht verdrängen, so gerne er das für die absolut objektive Betrachtung auch getan hätte.
ZWEI
Drake Reed lief durch die Gänge des Schiffes. Sein Ziel war die Krankenstation. Captain Sanawey hatte ihn darauf hingewiesen, dass er noch zur medizinischen Untersuchung müsse. Zwar mussten alle Mitglieder der Sternenflotte regelmäßig zu solchen Untersuchungen, doch stand bei einem Wechsel des Schiffes ein zusätzlicher Check an. Reed hasste dieses Prozedere. Es war ihm nur lästig. Was sollte dabei auch schon herauskommen? Er war jung, gesund und strotzte nur so vor Energie. In jeder Hinsicht. Die andauernden Untersuchungen waren in seinen Augen völlig überflüssig. Sie dienten nur der Schikane der Crewmitglieder. Aber Vorschrift war nun mal Vorschrift. So blieb ihm nichts weiter als sich zu fügen.
Eigentlich fürchtete er dabei mehr die Begegnung mit der Bordärztin der Republic
als die Untersuchung selbst. Elizabeth Williams war eine seiner alten Eroberungen. Er hatte sich sofort an sie erinnert, als er ihren Namen auf der Crewliste gesehen hatte. Das war erst vor wenigen Tagen gewesen. Natürlich erinnerte er sich nicht mehr an jede seiner Frauen. Vor allem die One-Night-Stands waren teilweise auch nicht erinnerungswürdig. Doch Elizabeth war mehr gewesen. Sie waren acht Monate zusammen gewesen. Für Reeds Verhältnisse fast schon eine Ewigkeit. Sie war am ehesten dem nahegekommen, was er unter einer perfekten Beziehung verstanden hatte. Letztlich hatte er sich dann aber doch eingeengt und gebunden gefühlt. Ein Gefühl das er gar nicht mochte. Daher hatte er die Beziehung abrupt beendet und sie damit ziemlich vor den Kopf gestoßen. Es war zu hässlichen Szenen zwischen ihnen gekommen und er hatte Elizabeth danach nicht mehr gesehen.
Als er gesehen hatte, dass er mit ihr auf einem Schiff dienen würde, war das fast schlimmer gewesen als jede disziplinarische Maßnahme, die er schon über sich ergehen lassen musste. Bisher war er keiner seiner alten Flammen mehr begegnet. Er wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte und befürchtete schon das Schlimmste. Wenn Elizabeth noch immer wütend auf ihn war, wovon er ausgehen musste, dann konnte sie sicher dafür sorgen, dass er mehr als nur Schwierigkeiten bekam. Denn auf welche Seite sich der Captain in einem Streitfall schlagen würde war klar. Schließlich war sie die Ärztin, er dagegen nur der Querulant, der immer wieder versetzt wurde, weil er sich nirgendwo unterordnen konnte. Um eine solche Szene mit ihr auf dem Schiff zu vermeiden hatte er sich dann direkt bei ihr gemeldet. Er wollte das Verhältnis zwischen ihnen vorab klären und eine Art Waffenstillstand aushandeln. Denn da sie beide zur Führungscrew gehörten würden sie zwangsläufig miteinander zu tun haben, das ließ sich gar nicht vermeiden.
Sie hatten sich dann vor zwei Tagen in San Francisco getroffen. Ein wenig befangen waren sie aufeinander zugegangen. Auch die Begrüßung war etwas steif ausgefallen. Nur ein einfaches Hallo, mehr war nicht drin gewesen. Was auch nicht verwunderlich war, wenn er daran dachte, dass die letzten Worte, die sie gewechselt hatten, geschrien waren. Erst nach und nach hatten sie sich beide etwas entspannt. Sie waren an der Golden Gate Bucht entlang geschlendert und hatten die kalifornische Sonne genossen. Sie hatten ein wenig darüber geredet, was sie seit damals gemacht hatten. Und viel darüber spekuliert, was sie auf der kommenden Mission erleben würden. Sie hatten sogar ihren übereinstimmenden Humor wieder entdeckt und viel gelacht. Über ihre gemeinsame Vergangenheit hatten sie nicht gesprochen. Und am Ende waren sie beide der Meinung gewesen, nun auch an Bord miteinander auskommen zu können. Immerhin waren sie fast zehn Jahre älter als damals, was den professionelleren Umgang miteinander etwas einfacher machte. Trotzdem würde es wohl noch einige Zeit brauchen, bis sie wieder völlig unbefangen miteinander umgehen konnten. Und zu Beginn würde wohl jedes Zusammentreffen wie ein Neuanfang sein.
Elizabeth Williams erwartete ihn bereits. Sie wies ihn an, auf einer Liege Platz zu nehmen. „Jetzt bist du in meiner Hand“, versuchte sie zu scherzen, doch es klang etwas verkrampft.
Drake grinste. „Keine falschen Versprechungen.“
Sie sah ihn schief an und bereute die Vorlage, die sie ihm gegeben hatte. Aber sie sagte nichts. Stattdessen nahm sie ihre Instrumente und fing an Reed zu untersuchen. Schweigend verrichtete sie ihre Arbeit. Auch Reed sagte nichts. Seine sonst üblichen Sprüche unterließ er. Es war, als müssten sie sich wieder neu abtasten, trotz des Übereinverständnisses beim letzten Treffen.
Während der Untersuchung beobachtete Drake seine ehemalige Freundin verstohlen. Sie hatte sich seit damals kaum verändert, auch wenn beinahe zehn Jahre vergangen waren. Sie war so alt wie er, also Anfang dreißig. Sie hatte glatte blonde Haare, die ihr bis knapp auf die Schultern reichten. In ihrem schmalen Gesicht leuchteten zwei humorvolle blaue Augen. Ihre äußerst ansprechende Figur, an die Drake sich noch gut erinnern konnte, kam unter der Uniform nicht zur Geltung.
Dr. Williams zeigte keinerlei Regung, als sie die gesammelten Daten schließlich analysierte. Vor ihr auf dem Bildschirm liefen die Datenkolonnen ab. Wer wie Reed relativ wenig von Medizin verstand, für den waren diese Daten absolut sinnlos. Für die Ärztin ergab sich daraus jedoch ein klares Bild.
Reed trat hinter sie. Er war ein wenig größer als sie und konnte ihr damit leicht über die Schulter schauen. Williams‘ Nackenhaare stellten sich auf und sie verkrampfte sich leicht. Für ihren Geschmack stand er ein wenig zu dicht hinter ihr. Sie befürchtete schon, er würde sie gleich berühren. Doch hatte er genug Anstand um das zu unterlassen.
„Kerngesund, wie immer“, sagte er selbstbewusst.
„Ja“, nickte sie langsam. „Beinahe.“
Er machte einen Schritt zurück, was sie erleichtert zur Kenntnis nahm. „Beinahe?“ wiederholte er ungläubig.
Elizabeth wandte sich zu ihm um. „Du hast erhöhte Leberwerte.“ Sie sah ihn aus ihren blauen Augen belustigt an. „War eine wilde Party, oder?“
Statt eine Antwort zu geben lächelte Drake nur vielsagend.
„Du lässt noch immer keine Gelegenheit zu Feiern aus“, stellte sie kopfschüttelnd fest.
„Wenn ich schon einmal auf der Erde bin, muss ich das ja nutzen. Und so wild wie du denkst war die kleine Feier auch nicht“, gab er unschuldig zurück. Sein treuherziger Blick berührte eine Seite in ihr, die sie für überwunden gehalten hatte. Allerdings waren die Empfindungen dieses Mal mehr freundschaftlicher Art.
Er wollte sich gerade abwenden, als ihm ein neuer Gedanke kam. „Reichen diese Mängel für eine Krankmeldung? Sagen wir eine Woche?“
„Du willst gleich zu Beginn hier an Bord eine Krankmeldung abgeben?“ Sie sah in ungläubig an.
Drake zuckte mit den Schultern. „Ich bin erst vor vier Tagen von meiner letzten Mission zurückgekehrt. Ich hatte also keinen richtigen Urlaub. Da ist es nur fair, wenn ich mir auf die Weise noch ein paar Tage heraushole.“
Elizabeth schüttelte den Kopf. So etwas konnte nur Drake einfallen. Und das auch noch als fair zu bezeichnen war wirklich dreist und typisch für ihn. Dass er sich mit einem solchen Start nicht gerade beliebt machen würde schien ihm nicht einmal etwas auszumachen. Auch das war typisch für ihn. Kein Wunder war er immer wieder negativ aufgefallen.
„Tut mir leid, aber nicht mit mir“, sagte sie knapp und wandte sich wieder dem Computer zu.
„Es war einen Versuch wert“, sagte er scheinbar resigniert. Er kam wieder näher an sie heran. „Ich dachte, ich könnte dich überreden, in dem ich..“
„Vergiss es, Drake“, unterbrach sie ihn scharf. „Diese Zeiten sind vorbei.“
Reed schwieg eine Zeitlang, dann meinte er: „Ich verstehe. Entschuldige.“ Ein wenig verlegen trat er von einem Bein aufs andere. Ein seltsames Gefühl der Unsicherheit beschlich ihn, ein Gefühl, das er so nicht kannte. Sie hatte ihm auch noch immer den Rücken zugekehrt und machte keine Anstalten, sich ihm zuwenden zu wollen. Sie ignorierte ihn geradezu.
„Wenn sonst nichts mehr wäre, dann gehe ich jetzt. Wir sehen uns später“, sagte er dann und verließ eilig den Raum.
Elizabeth sah ihm nach. Trotz allem was damals passiert war empfand sie noch immer etwas für Drake. Keine Liebe mehr, mehr das Gefühl von Freundschaft. Zumindest hoffte sie, dass es nur ein solches Gefühl war. Auf keinen Fall wollte sie sich nochmals mit ihm einlassen, das hatte sie sich fest vorgenommen.
Als er sie damals hatte fallen lassen, war sie mehr als nur wütend auf ihn gewesen. Sie hatte ihn gehasst und hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Damals hatte sie sich mit dem Gedanken getröstet, ihn nie wieder sehen zu müssen. Doch mit der Zeit hatte sich allmählich ihr innerer Hass gelegt und sie dachte etwas anders über diese Zeit. Sicher, Drake war ein Schwein gewesen, ein egoistischer Vollidiot, aber vielleicht lag es gar nicht alleine an ihm. Damals hatten ihn alle Frauen angehimmelt. Und taten es noch immer. Das musste ihm ja zu Kopf gestiegen sein. Und sie kannte Drake kaum und wusste nichts über seine Vergangenheit. Er redete auch nicht gerne darüber. Sie respektierte das. Aber vielleicht gab es in dieser Zeit etwas, das dazu geführt hatte, dass er so wurde. Sicher, das wäre keine Entschuldigung für sein Verhalten, aber vielleicht eine Erklärung.
Als sie erfuhr, dass er auf die Republic
versetzt wurde, hatte sie der Sache mit gemischten Gefühlen entgegen gesehen. Einerseits war da ihre gemeinsame Vergangenheit, die sich nicht mehr ändern ließ. Aber andererseits freute sie sich auch ein wenig darauf ihn wiederzusehen. Sie hatte die seltsame Erwartung, dass es wieder wie früher sein konnte, nur auf freundschaftlicher Basis, obwohl ihrem Verstand sehr wohl bewusst war, dass das gar nicht sein konnte. Aber als sich Drake dann bei ihr gemeldet hatte, schien sich das doch irgendwie zu bestätigen. Zwar lief das Treffen zu Beginn eher schleppend an und es war auch nicht ganz so einfach gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte, doch war es ein hoffnungsvoller Anfang für einen Neubeginn zwischen ihnen. Drake wirkte auch anders. Er war noch immer angeberisch und strahlte ein extremes Selbstbewusstsein aus, aber sie hatte den Eindruck bekommen, dass auch bei ihm so manche Erfahrung ihre Spuren hinterlassen hatte. Er war nicht mehr ganz so arrogant, machte allerhand Scherze und Elizabeth empfand den Tag als einen der schönsten seit langer Zeit. Sie war nicht mehr verliebt in ihn, aber sie wusste nun, dass ein besonderes Verhältnis zwischen ihnen bestand. Vielleicht war das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Zwei Tage nach seiner Nominierung erhielt Droga die entsprechenden Urkunden zugestellt. Ein Bote brachte sie in sein Büro, das mitten in der Stadt lag. Mit einer krakeligen Unterschrift quittierte er den Empfang, dann war er wieder alleine. Die beiden Mitarbeiter, die bis gestern hier noch für ihn gearbeitet hatten, hatte er inzwischen entlassen. Es war ruhig geworden, zumindest was den Lärmpegel betraf. Er selbst hatte alle Hände voll zu tun. Und er fragte sich inzwischen, ob es nicht vielleicht ein wenig verfrüht gewesen war, die beiden jetzt schon zu kündigen. So blieb leider einiges unbearbeitet liegen, da er einfach nicht genug Zeit für alles hatte. Auch den Dokumenten widmete er nur einen flüchtigen Blick und warf sie dann auf einen der Schreibtische. Gerade als er sich wieder anderen Dingen zuwenden wollte, stutzte er. Aus dem Augenwinkel heraus hatte er auf den Verträgen etwas entdeckt, das ihm seltsam erschien. Er ging zurück zum Schreibtisch und hob die Papiere auf. Mit schnellen Blicken überflog er die Zeilen, konnte aber nichts entdecken, was seinen Argwohn bestätigt hätte. Er war sich aber sicher, vorher etwas gesehen zu haben. Eine innere Unruhe erfasste ihn, die er nicht erklären konnte. Daher nahm er am Schreibtisch Platz und las die Unterlagen Wort für Wort aufmerksam durch. Eigentlich hatte er anders zu tun, doch er wusste, er würde keine Ruhe finden, bis er sicher war, ob an den Dokumenten etwas falsch war oder nicht. Er brauchte auch nicht lange. Die erste Seite hatte er fast bis zum Ende gelesen und da stand es. Seine Dienstzeit als Ratsmitglied sollte fünf Jahre betragen. Also hatte Sorano sich im Parlament doch nicht versprochen. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Sie hatten seine Freiwilligkeit und sein Engagement ausgenutzt. Fünf Jahre. Das war mehr als das doppelte der sonst üblichen Zeit. Hätte er gleich im Parlament dagegen aufbegehrt, wäre es leichter gewesen daran noch etwas ändern zu können. Nun war es fast zu spät. Er schallte sich einen Narren, wie er vor zwei Tagen noch geglaubt hatte, Sorano habe sich einfach versprochen. Er hatte sich das selbst eingeredet, obwohl er im ersten Moment schon gewusst hatte, dass dem nicht so war. Aber so leicht würde er sich nicht geschlagen geben. Er würde kämpfen bis das korrigiert war.
Wütend warf er die Dokumente auf den Tisch. Dann fuhr er mit dem Stuhl herum vor das Computerterminal. Mit flinken Fingern rief er das Kommunikationstool auf und rief dann im Büro des Parlamentspräsidenten an. Es dauerte einige Augenblicke, dann meldete sich eine Frauenstimme und säuselte, er sei im Vorzimmer herausgekommen. Ihr Name war Lirana und sie wollte wissen, ob sie etwas für ihn tun könnte.
„Ich bin Ratsmitglied Droga und will umgehend den Präsidenten sprechen“, forderte er mit mühsam unterdrückter Wut. Er wollte seinen Zorn nicht an ihr auslassen. Sie konnte schließlich nichts dafür.
„Ah, Mr. Droga.“ Ihre Stimme ließ eindeutig ein Erkennen vernehmen, obwohl er sich sicher war, nie zuvor mit dieser Frau gesprochen zu haben. „Es tut mir leid, aber Mr. Sorano befindet sich in einer Besprechung und darf nicht gestört werden“, beschied sie ihm mit einem aufgesetzt freundlichem Lächeln.
„Und wie lange wird diese Besprechung andauern?“ Er spürte wie seine Wut weiter wuchs. Sorano hatte ihm das alles eingebrockt, also sollte er sich umgehend Zeit für ihn nehmen, um die Sache zu klären, verdammt nochmal.
„Das kann ich nicht genau sagen, aber ich vermute, dass er heute nicht mehr zu sprechen sein wird“, antwortete sie.
„Was ist mit seinen Vertretern?“ hakte er nach. So leicht wollte er sich nicht abwimmeln lassen.
„Sind ebenfalls alle auf dieser Besprechung und stehen heute ebenfalls nicht mehr zur Verfügung.“ Sie blieb zwar höflich, aber ihre Stimme bekam allmählich einen frostigen Unterton.
„Alle fünf?“ fragte er ungläubig. Wozu hatte dieser Mann Vertreter, wenn alle auf derselben Besprechung waren und niemand erreicht werden konnte.
„Ja, alle fünf“, bestätigte sie knapp.
Das war lächerlich. Droga wusste was hier gespielt wurde. Sorano und seine Vertrauten um ihn herum waren sich sehr wohl bewusst darüber, dass sie Droga übers Ohr gehauen und seinen Ehrgeiz ausgenutzt hatten. Und nun wagte es keiner von ihnen zu dieser Tat zu stehen und ihm gegenüber zu treten. Sie versteckten sich vor ihm. Aber noch waren es knapp zwei Wochen bis er den Planeten verlassen würde. So lange konnten sie sich nicht versteckten. Und bis dahin würde er auf keinen Fall aufgeben. Wenn er lange genug durchhielt und immer weiter bohrte, vielleicht würden sie ihm dann zuhören. Und wenn es nur aus dem Grund war, dass sie dann darauf hofften ihre Ruhe vor ihm zu haben.
„Dann sagen Sie Mr. Sorano, dass ich ihn angerufen habe und dass er sich bei mir melden soll“, sagte er ruppig.
„Das werde ich“, versprach sie unleidig, aber Droga glaubte ihr kein Wort.
Ohne noch etwas zu sagen unterbrach er die Verbindung. Das war nicht gerade höflich, dessen war er sich bewusst, aber jedes weitere Wort hätte ihn nur noch mehr auf die Palme gebracht und er wusste nicht, wie lange er sich noch beherrschen konnte. Mit der flachen Hand schlug er donnernd auf den Schreibtisch. Nein, das würde er sich auf keinen Fall gefallen lassen. Jetzt sollten sie ihn mal kennenlernen.
Zusammen mit Elizabeth Williams betrat Drake Reed den Besprechungsraum der Republic
. Er hatte die Ärztin im Lift angetroffen, als er zugestiegen war. Und da sie das gleiche Ziel hatten, gingen sie zusammen weiter. Reed hatte gehofft, von ihr schon vorab zu erfahren, was wohl die kommende Mission der Republic
sein würde. Dann hätte er sich schon darauf einstellen können und seine Reaktion auf die Worte des Captains vorbereiten können. Das hätte den schönen Eindruck erweckt, ihn könne nichts aus der Ruhe bringen. Doch zu seiner Enttäuschung wusste Elizabeth auch nicht, was ihnen bevorstand. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich noch weiter in Geduld zu üben.
Als sie den Besprechungsraum betraten waren alle weiteren Führungsoffiziere bereits anwesend. Reed sah sich unbekannten Gesichtern gegenüber. Unter ihnen erblickte er aber auch Captain Sanawey und Commander Jackson. Die anderen vier Anwesenden kannte er noch nicht.
Am auffälligsten war ein etwas mehr als zwei Meter großes Wesen mit grünlicher Haut, die sich wie reptilisches Leder über sein Gesicht spannte. Im Halsbereich warf sie Falten, wie bei einem Leguan. Sein Gesicht ähnelte allerdings mehr dem eines Chamäleons. Selbst die Augen, die links und rechts an seinem Kopf saßen, konnte es unabhängig voneinander bewegen. Es war faszinierend ihm zuzuschauen. Oder ihr? Eine Geschlechterzuordnung war so nicht zu erkennen. Reed hoffte nur, dass das Wesen sich sein Essen nicht auch wie ein Chamäleon mit einer flinken langen Zunge fangen würde. Und dann womöglich noch handgroße lebende Insekten. Allein der Gedanke war wenig Appetit anregen. Die Frage, ob das Wesen aber vielleicht auch seine Farbe wechseln konnte wie ein Chamäleon amüsierte Drake dagegen und er musste sich beherrschen um nicht zu grinsen. Vorgestellt wurde ihm das Wesen als Lieutenant Remog, Steuermann des Schiffes. Und als Mister. Damit war die Frage nach dem Geschlecht auch schon beantwortet. Die Antworten auf die anderen Fragen würde er wohl erst im Laufe der Zeit beantwortet bekommen. Als Drake ihm die Hand zur Begrüßung reichte, merkte er, dass Remog nur zwei sich gegenüberliegende Krallenfinger besaß und einen kleineren verkümmerten Dritten. Offenbar ein Überbleibsel der Evolution seines Volkes.
Als nächstes begrüßte ihn ein roter Lockenschopf, der sich als Chefingenieurin Wendy Brooks vorstellte. Eine durchaus attraktive Frau, wie Reed feststellte, allerdings runde zehn Jahre älter als er. Also keine Versuchung für ihn. Sie machte aber einen netten und quirligen Eindruck.
Sicherheitschef Lieutenant George Real war ungefähr so groß wie Reed, allerdings wesentlich durchtrainierter und an den Schultern breiter. Er sah aus, als könne er einen Mann hochheben und ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, aufs Kreuz legen. Neben ihm kam Drake sich ziemlich unsportlich vor, obwohl er das ganz bestimmt nicht war. Immerhin besuchte er regelmäßig die Fitnesseinrichtungen an Bord der Schiffe, auf denen er bisher gedient hatte. Bisher war er auch sehr stolz gewesen auf seinen Körper, doch wenn er Real so sah, dann wusste er, dass er noch einiges an Arbeit vor sich hatte. George Real besaß ein kantiges Gesicht, aber freundliche Züge wenn er lächelte. Dass er auch anders konnte, das dachte Reed sich schon. Das musste er schließlich auch, als Sicherheitschef. Seine Augen und seine strahlend weißen Zähne bildeten einen auffallenden Kontrast zu seiner tiefschwarzen Haut. Den markanten Kopf bedeckten sehr kurz geschnittene dunkle Haare. Sein Händedruck war fest, aber nicht zu stark. Er wusste offenbar seine Kräfte zu kontrollieren.
Die letzte Person war eine große, schlanke Frau mit längeren lockigen Haaren, die in einem interessanten Kastanienbraun glänzten. Sie hatte ein geradezu zierliches Wesen, fast schon zerbrechlich und ihre Bewegungen waren anmutig und grazil. Ihre Haut hatte einen leichten Grünstich, der aber gut zu ihrem Wesen passte. Und ihre Augen leuchteten in einem Silberton, wie ihn Reed noch nie gesehen hatte. Überhaupt hatte er noch nie eine Person vom Planten Mizar kennen gelernt. Dieses Volk galt als sehr verschlossen und zurückhaltend. Nur wenige Mizari verließen für die Karriere ihren Heimatplaneten. Selbst zum Handeln waren sie selten auf anderen Planeten anzutreffen. Wer mit ihnen Handel treiben wollte, musste sich zu ihnen begeben.
„Lieutenant Nerre, Kommunikationsoffizierin“, stellte sie sich vor. Ihre Stimme klang lieblich und verlockend. Reed musste an die alten Sagen von Sirenen denken, Frauenwesen mit so verführerischen Stimmen, dass sie Seefahrern den Kopf verdrehen konnten und sie vom Kurs abbrachten, um sie dann an Klippen zerschellen zu lassen. Nerre hätte ein solches Wesen sein können. Der Blick in ihre Augen konnte einen fesseln.
„Nachdem Sie sich nun miteinander bekannt gemacht haben, bitte ich Sie Platz zu nehmen“, sagte Sanawey laut und übernahm wieder das Ruder. Er selbst setzte sich an das Kopfende des langen Tisches.
Der Besprechungsraum lag ein Deck unterhalb der Brücke. Da auch dieses Deck noch etwas über das Niveau der Untertassensektion hinausreichte und relativ klein war, hatten auch diese Räume Fenster nach draußen. Der Raum war mehr lang als breit und der Krümmung des ganzen Decks angepasst. Über die komplette Raumlänge zog sich ein dunkler Tisch, an dem zu beiden Seiten leicht jeweils zehn Personen Platz fanden, an dessen Stirnenden aber gerademal eine Person passte. Der Platz des ranghöchsten Offiziers, in der Regel der des Captains. Hinter diesem Stuhl war ein Bildschirm an der Wand angebracht, so dass während einer Besprechung auch Grafiken angezeigt werden konnten oder Gespräche mit anderen Abteilungen oder anderen Schiffen geführt werden konnten. Normalerweise wurde dieser Raum nur von der Führungscrew genutzt. Den einzelnen Abteilungen standen andere Räume zur Verfügung. Zudem fanden hier auch diplomatische Empfänge und Treffen mit Vertretern anderer Spezies statt, doch das war auf der Republic
bisher nur selten der Fall gewesen.
Rechts neben Sanawey, und damit mit dem Rücken zum Fenster, nahm Sylvia Jackson Platz, die Stellvertreterin des Captain. Neben ihr saß Wendy Brooks und daran schloss sich Nerre an. Reed selbst saß links von Sanawey und damit Jackson gegenüber. Neben ihn setzte sich Elizabeth, dann kamen Real und Remog. Alle wandten den Blick dem Captain zu.
Sanawey fing damit an, von seiner Unterredung mit Admiral Noughi zu berichten. Er überbrachte dessen Lob und Anerkennung für die Leistungen während der letzten Mission. Doch als er bekannt gab, welche Aufgaben die Republic
als nächstes zugeteilt bekommen hatte, stieß er auf wenig Begeisterung. Niemand verspürte das Bedürfnis, monatelang Babysitter für ein paar Wissenschaftler zu spielen. Und Wendy Brooks machte aus ihrer Ablehnung keinen Hehl.
„Captain, muss das wirklich sein? Wann können wir mal wieder den Weltraum erforschen? Unbekannten Weltraum, neue Systeme, neue Wunder?“ sprach sie aus, was alle dachten.
„Dies ist ein Forschungsauftrag“, hielt Sanawey ihr entgegen. „Wir werden Vandros IV erforschen.“ Sein Gesichtsausdruck verriet dabei eine spitzbübische Freude daran, Wendy ein wenig aufziehen zu können.
Sie verdrehte die Augen. „Das ist nicht das was ich meine. Diese Detailerforschung überlasse ich gerne anderen. Unser Auftrag sollte darin bestehen einen Planeten zu entdecken, meinetwegen ein paar Tage zu erforschen und dann weiterzufliegen.“ Sie hob hilflos die Arme. „Wenn es wenigstens ein Planet mit einer intelligenten Spezies wäre. Und mit technischen Raffinessen. Aber so ist das nur ein Felsbrocken im All mit ein paar Blumen drauf.“
„Aber ein ziemlich großer Felsbrocken“, lächelte Sanawey freudlos. Er wurde wieder ernst. „Das sind unsere Befehle und die werden wir ausführen. Auf dem Weg nach Vandros IV werden wir noch zwei Abstecher machen. Als erstes werden wir auf Andoria unseren Wissenschaftsoffizier abholen. Mr. Sohral hält sich im Moment dort auf und folgt damit einer Einladung der andorianischen Universität. Und natürlich darf unser Vulkanier auf einer Forschungsmission wie dieser nicht fehlen.“ Dem Captain gelang es nicht ganz ein verschlagenes Lächeln zu unterdrücken. Offenbar freute er sich darüber, dem Wissenschaftlerteam den ruhigen und logischen Vulkanier aufs Auge zu drücken. Er wollte sehen, wie die meist sehr von sich überzeugten Wissenschaftler reagierten, wenn Sohral ihre Forschungsergebnisse auseinander nahm, weil sie ihm nicht detailliert genug waren. Mit seiner vulkanischen Ruhe und der typischen Detailversessenheit seines Volkes, selbst die hundertste Nachkommastelle noch für wichtig zu erachten, konnte er einen Menschen leicht und unabsichtlich in den Wahnsinn treiben. „Zuletzt werden wir auf Sternenbasis 478 noch zwei Crewmitglieder aufnehmen“, fuhr er fort. „Und dann werden wir die nächsten sechs Monate auf Vandros IV verbringen.“ Ein sadistisches Lächeln begleitete diese Worte und war an die Chefingenieurin gerichtet.
„Das verspricht ja super spannend zu werden“, brummte Wendy missmutig.
Sanawey ignorierte ihren Einwand. Stattdessen wandte er sich an Sicherheitschef Real. „Bereiten Sie ein paar Quartiere für unsere Gäste vor. Und sie sollen freien Zugang zu den Laboren bekommen.“
„Ja, Captain“, bestätigte Real langsam nickend. Dass seine Sicherheitsoffiziere ab und zu auch den Betreuungsservice für Gäste stellen mussten war er bereits gewohnt. Er mochte es trotzdem nicht.
„Außerdem wird jeder Landgang der Wissenschaftler von einem Sicherheitsteam begleitet“, fuhr Sanawey fort. „Zumindest in den ersten Wochen. Der Planet ist zwar als ungefährlich eingestuft worden, aber noch wissen wir zu wenig um wirklich sicher zu sein.“
„Es wird rund um die Uhr ein Team zur Verfügung stehen“, versprach Real.
„Es könnte dort ja bösartige Pflanzen geben“, brummte Wendy leise, aber doch so laut, dass jeder es verstand.
Sanawey nickte Real dankend zu, dann legte er seine gefalteten Hände vor sich auf den Tisch und sah in die Runde. In seinen Augen blitze etwas auf. „Da die meisten Abteilungen während dieser Mission relativ wenig zu tun haben werden, hab ich einige Schulungen und Trainings angesetzt.“
Ein leises Stöhnen erhob sich am Tisch und Augenpaare wurden gerollt. Niemand war begeistert über eine solche Aussicht. Zwar erkannten die Anwesenden den Zweck dieser Maßnahmen und sahen durchaus auch den Sinn darin. Doch nur weil man etwas für sinnvoll erachtete, musste man nicht gleich begeistert sein. Und ein jeder hier wusste, dass auch die jeweiligen Mitarbeiter wenig Lust auf solche Schulungen verspürten. Eigentlich erstaunlich, wie wenig solche Fortbildungen im Vorfeld gemocht wurden, obwohl die Teilnehmer hinterher meist angaben etwas für die tägliche Arbeit gelernt zu haben.
„Es wird ein breites Spektrum an Schulungen geben. Das wird sich in einem allgemeinen Teil vom Verhalten bei Erstkontakten bis hin zur Stressbewältigung am Arbeitsplatz erstrecken. Das Ganze soll zur Auffrischung dienen, da bei den meisten Crewmitgliedern die Akademie schon einige Jahre zurückliegt“, fuhr Sanawey unbeeindruckt von der Reaktion seiner Offiziere fort. Schließlich hatte er damit bereits gerechnet. Und wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er selbst auf Einladungen zu Seminaren im Hauptquartier ähnlich reagierte. Nur erlöste ihn das ebenso wenig, wie es seine Crew erlösen würde. „Und dann wird es abteilungsindividuelle Fortbildungen geben, speziell auf einzelne Fachgebiete angewandt. Es gibt zum Beispiel ein neues Bauteil im Replikator. Diese Komponente ist bisher nur wenigen Ingenieuren im Maschinenraum im Detail bekannt. Ich möchte diese Art von Einzelwissen abbauen. Im Krisenfall muss jeder für den anderen einspringen können.“
„Das funktioniert schon ganz gut“, gab Wendy Brooks mürrisch zurück. Die Forderung des Captains fasste sie als Kritik an ihren Leuten auf, die sie so nicht stehen lassen konnte. Ihr Team harmonisierte perfekt.
„Dann muss es eben noch besser werden.“ Sein Tonfall machte deutlich, dass es darüber keine Diskussionen mehr gab. Seine Entscheidung war gefallen. Natürlich war auch ihm bewusst, dass sich über den inhaltlichen Sinn mancher der anstehenden Schulungen streiten ließe. Trotzdem würde er hier nicht einlenken. Denn auf keinen Fall wollte er, dass sich einige Crewmitglieder während der nächsten Monate langweilten. So waren wenigstens alle beschäftigt, auch solche, die von den Aufgaben der Mission nicht direkt betroffen waren. Da war der Effekt der Maßnahmen dann auch nicht das Wichtigste.
Wendy schluckte ihre Erwiderung hinunter und nickte nur knapp. Ihr war klar, dass sie bereits genug gesagt hatte. Und auf keinen Fall wollte sie die Autorität des Captains untergraben. Das war auch nie ihre Absicht gewesen.
Ein kurzer Blick in die Runde zeigte Sanawey, dass zu dem Thema niemand mehr etwas sagen wollte. Daher ließ er es darauf beruhen. Er gab noch ein paar organisatorische Punkte an seine Offiziere weiter, dann beendete er das Meeting. Die Anwesenden erhoben sich und verließen zielstrebig den Raum. Es gab für jeden einzelnen noch viel zu tun, bevor sie aufbrachen.
Zusammen mit Elizabeth verließ Reed den Raum wieder. Als sie alleine im Turbolift standen und von den anderen nicht mehr gehört werden konnten, wandte sich Drake seiner Kollegin zu. „Vom Regen in die Traufe“, brummte er missfällig.
„Wie bitte?“ Elizabeth sah ihn verwirrt an. Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte.
„Die Mission.“ Bei dem Gedanken daran verdrehte er die Augen. „Die letzte Mission der Columbia, meinem vorigem Schiff, war der Eskortdienst für Frachter in der Nähe der romulanischen Grenze. Vier lange Monate. Du kannst dir nichts Langweiligeres vorstellen. In der ganzen Zeit ist nichts passiert. Nichts. Kein Romulaner hat sich blicken lassen, niemand wollte etwas von den Frachtern wissen.“
Die Ärztin sah ihn ungläubig an. „Sei doch froh. Wer weiß ob du heute hier stehen würdest, wenn die Romulaner euch angegriffen hätten.“ Sie konnte nicht glaube, dass er sich allen Ernstes so etwas gewünscht hatte. Niemand würde sich so etwas wünschen.
„Dann wäre es wenigstens nicht mehr so langweilig gewesen“, erwiderte er achselzuckend. „Ich habe das nur überstanden, weil ich gedacht habe, die nächste Mission kann nur besser werden. Und jetzt das.“ Er deutete Richtung Konferenzraum. „Das klingt ja noch schlimmer. Babysitter für ein paar Wissenschaftler spielen. Wir werden alle umkommen vor Langeweile.“ Er bemühte sich um eine besondere Theatralik in der Stimme, was ihm ganz gut gelang.
Elizabeth musste lächeln. „So schlimm wird es schon nicht werden. Wir werden die Gelegenheit zu forschen haben. Und darum geht es doch. Ich weiß nicht, was alle daran so schlimm finden.“ Sie sah ihn mit großen Augen an.
„Für dich mag das ja auch nicht schlimm sein. Schließlich wirst du etwas zu tun haben und jede Menge neuer Krankheiten, Bakterien und so Zeug untersuchen können“, hielt er ihr entgegen. „Aber die wenigsten hier an Bord sind Forscher.“
Ihr war bewusst, dass er nicht ganz Unrecht hatte. Doch ganz so schwarzsehen wollte sie die Mission trotzdem nicht. Niemand würde sich übermäßig langweilen, dafür würde der Captain schon sorgen. Und eine ruhige Mission war Kampf, Zerstörung und Tod auf jeden Fall vorzuziehen.
Der Lift hielt und die Tür öffnete sich. Der leere Gang lag direkt vor ihnen. Elizabeth machte einen Schritt nach vorn, blieb dann aber in der Tür nochmal stehen. „Du kannst eigentlich froh sein, kein Forscher zu sein. Denn während ich Krankheiten, Bakterien und so Zeug untersuchen muss, wirst du auf dem Planeten Urlaub machen können. Und wer weiß, vielleicht gibt es auf dem Planeten ein paar lauschige Plätze für ungestörte Stunden mit netten Damen.“ Sie zwinkerte ihm vielsagend zu, hoffte aber zeitgleich, dass er es nicht als Angebot verstand.
Der Schalk blitzte in seinen Augen auf. Ein leicht anzügliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Genug Zeit ein solches Plätzchen zu suchen habe ich ja dann. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, welche Schönheiten es an Bord gibt.“ Der Gedanke schien ihm zu gefallen, denn in seinen Augen spiegelte sich seine zurückgekehrte Zuversicht.
Die Ärztin schüttelte mit gespielter Empörung den Kopf. Drake hatte sich eindeutig nicht geändert. Innerlich amüsierte sie sich über seine Gedankengänge. Aber wenigstens war er jetzt wieder hoffnungsfroher. „Du hast ja noch einige Tage Zeit, bis wir den Planeten erreichen“, sagte sie und trat einen Schritt nach hinten, hinaus aus dem Lift. „Bis dahin wirst du sicher noch einen Großteil der Crew kennen lernen.“
„Du könntest mir auch deine medizinischen Daten der Crew zeigen. Da sind sicher auch Bilder dabei“, rief er ihr noch zu, dann schlossen sich die Lifttüren.
Langsam drehte Elizabeth sich um. Noch immer umspielte ein Lächeln ihre Lippen, was ihr einen irritierten Blick bescherte, als sie um eine Gangbiegung kam und beinahe mit einer anderen Frau zusammengestoßen wäre. Die Ärztin räusperte sich und murmelte eine Entschuldigung. Sie war viel zu gedankenverloren gewesen, um die Frau rechtzeitig sehen zu können. Als sie weiter ging blickte sie nochmals kurz zurück. Die Frau war hübsch gewesen. Laut Rangabzeichen an ihrer Uniform ein Lieutenant. Und mit ihren langen blonden Haaren genau Drakes Fall. Es würde sie nicht wundern, wenn dieser Lieutenant sich auf ihn einlassen würde. Vielleicht sollte Elizabeth die weiblichen Crew-Mitglieder vor Drake warnen. Nur um sicher zu gehen, dass niemand ihre Erfahrungen würde teilen müssen.
Sanawey spürte das Kribbeln, das sich in seinem Bauch ausbreitete, als er die Brücke betrat. Ein gutes Gefühl. Ein Gefühl des Aufbruchs und der Erwartungen. Ein Gefühl, dass nun alles wieder so werden würde, wie es sein sollte. Heute war der Tag. Es ging wieder los. Die Republic
startete zu ihrer neuen Mission. Und auch wenn diese von den meisten Crewmitgliedern als langweilig und lästig angesehen wurde, so war es für Sanawey nur wichtig, dass es wieder losging. Er war wieder auf seinem Schiff und unterwegs zwischen den Sternen. Nur hier fühlte er sich wirklich wohl. Es war das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, das ihm gefiel. Unterwegs in einer Blase des Lebens durch die tödliche Stille des Alls. Umgeben von einer meist harmonischen und gut funktionierenden Crew.
Natürlich war ihm bewusst, dass er nicht wirklich unabhängig war. Er hatte seine Befehle, an die er sich halten musste und war zudem für seine Vorgesetzten nahezu jederzeit erreichbar. Nachrichten, die über den Subraum geschickt wurden, waren schneller als das Licht und bewegten sich weit im oberen Warp 9 Bereich und waren damit schneller als jedes Schiff. Zwar konnte die Republic
für kurze Zeit Warp 9 erreichen (die brandneue USS Excelsior
kam gar auf Warp 9,5), doch waren das nur Notfallgeschwindigkeiten. Eine solche Geschwindigkeit beanspruchte die Antriebssysteme und die Energiereserven zu sehr, als dass man sie für einen Dauerbetrieb nutzen konnte. Für Nachrichten galt das jedoch nicht. Einmal verschickt setzten sie ihren Weg immer mit der gleichen Geschwindigkeit fort. So erreichte ihn jede Meldung seiner Vorgesetzten, meist nur mit geringer Verzögerung, im äußersten Fall auch mal mit zwei oder drei Tagen Verzögerung. Manchmal dachte er neidvoll an die Kapitäne früherer Segelschiffe. Diese waren wahrhaft frei gewesen. Einmal auf hoher See waren sie wochen- und monatelang nahezu unerreichbar gewesen. Dafür hatten diese mit anderen Problemen zu kämpfen und sicherlich ein wesentlich härteres Leben geführt. Da war es schon besser, wie es war.
Er nahm im Kommandosessel Platz. Das erste Mal bei dieser Mission. Sein Blick schweifte einmal über die gesamte Brücke. Es war alles zum Aufbruch bereit, alle Führungsoffiziere anwesend. Einzig der Platz des Wissenschaftsoffizier Sohral war noch leer. Diesen würden sie, zusammen mit einem weiteren Wissenschaftler, auf Andoria abholen.
In den Gesichtern der Offiziere konnte er dieselbe Freude über den Aufbruch erkennen, wie er sie selbst empfand. Zumindest in fast allen. In dem Chamäleongesicht des Steuermannes Remog konnte er keinerlei Gefühlsregungen feststellen. Das konnte er noch nie und er kannte das Reptilwesen nun auch schon seit beinahe drei Jahren. Trotzdem wusste er so gut wie nichts über dieses Wesen. Außer, dass er wohl der einzige seiner Art war. Niemand kannte sein Volk. Laut Unterlagen der Sternenflotte stamme er aus dem Delta-Quadranten, knapp siebzigtausend Lichtjahre entfernt. So weit entfernt, dass noch kein Schiff der Föderation dort war. Denn selbst bei Höchstgeschwindigkeit würde eine Reise dorthin mindestens achtzig Jahre dauern. Ein völlig utopischer Gedanke. Remogs Welt war, nach dessen eigener Aussage, von würfelförmigen Raumschiffen angegriffen worden. Er hatte mit einem kleinen Raumschiff entkommen können. Wie er dann in den Alpha-Quadranten gekommen war konnte er nicht sagen. Sein Raumschiff, in dem er von der Sternenflotte schließlich aufgegriffen worden war, war eindeutig zu klein für einen so langen Flug. Daher ging man davon aus, dass er durch eine Raumanomalie in den Alpha-Quadranten gelangt war. Zuerst waren die Verantwortlichen skeptisch gewesen. Es gab niemanden, der Remogs Angaben hätte bestätigen können. Genauso gut hätte er ein Spion sein können. Daher hatte man ihn ein knappes Jahr festgehalten. Erst dann waren die Admiräle und Wissenschaftler von seiner Geschichte überzeugt gewesen und hatte ihn frei gelassen. Da Remog selbst nicht wusste, wohin er hätte gehen sollen, hatte er sich bei der Sternenflotte beworben. So war er schließlich nach erfolgreicher Ausbildung auf der Republic
gelandet. Da er jedoch nicht viel redete und auch keinen Kontakt zur Mannschaft suchte, war nicht viel über ihn bekannt. Allgemein wurde gemunkelt, dass er wohl nur zur Sternenflotte gegangen sei, in der Hoffnung dabei einen Weg nach Hause zu finden.
„Mr. Reed, haben wir die Starterlaubnis?“ Sanawey wollte nicht noch länger warten, bis er die Weiten des Alls wieder um sich spürte.
„Kam eben rein“, antwortete der junge Lieutenant sofort.
Sanawey nickte zufrieden. Es konnte losgehen. „Mr. Remog. Andockklammern lösen und dann bringen Sie uns raus.“
„Aye, Aye, Sir“, brummte das Reptilwesen und Krallenfinger bewegten sich über die Steuerkonsole.
Die Versorgungsleitungen und Verbindungsschächte zur Raumstation wurden abgekuppelt, die gewaltigen Klammern, die das Schiff in Position gehalten hatten, öffneten sich und gaben die Republic
frei. Mit Hilfe der Manövriertriebwerke wurde das Schiff innerhalb der großen Raumstation langsam gewendet. Obwohl genug Platz vorhanden war, blieb es doch ein kniffliges Manöver. Denn nur eine leichte Abweichung hätte gereicht, um mit den Wänden der Station zu kollidieren. Das wäre eine Katastrophe für das Raumschiff und die Station gewesen. Nicht, dass die Gefahr bestanden hätte, dass Raumschiff und Raumstation dadurch zerstört worden wären, aber der Schaden wäre doch enorm gewesen.
Schließlich war das Wendemanöver abgeschlossen und das Schiff steuerte auf die großen Tore zu, die aus der Raumstation hinaus führten. Hier ging es nicht ganz so knapp zu. Die Tore waren bereits für größere Schiffe ausgelegt. So befand sich die Republic
nur wenige Augenblicke später im freien All und konnte Fahrt aufnehmen.
„Setzen Sie einen Kurs nach Andoria. Warp 5“, befahl Sanawey und lehnte sich entspannt im Kommandosessel zurück. Für den Flug würden sie einige Stunden benötigen. Dabei gab es für ihn kaum etwas zu tun und er konnte den Flug in aller Ruhe genießen. Was er auch ausgiebig tat. Während des gesamten Fluges blieb er auf der Brücke. Er wollte jeden Augenblick genießen, den Flug mit jeder Faser seines Körpers spüren. Fast hätte man den Eindruck gewinnen können, er wäre noch nie im All gewesen.
So war er bei der Ankunft auf Andoria noch immer auf der Brücke. Sie traten in die Umlaufbahn von Andoria-Prime ein und nahmen kurz darauf den bereits wartenden Vulkanier auf. Sanawey und Jackson waren persönlich im Transporterraum anwesend, um ihren Wissenschaftsoffizier in Empfang zu nehmen. Mit seiner üblichen würdevollen Haltung materialisierte er auf der Transporterplattform. Er hatte nur leichtes Gepäck dabei, denn der spartanische Vulkanier benötigte ohnehin nicht viel. Sohral sah aus wie der typische Vertreter seines Volkes. Er hatte ebenmäßige, stets neutrale Gesichtszüge, die keinerlei Emotionen verrieten. Seine Haare waren dunkel, beinahe schwarz und an der Stirn in einer perfekten horizontalen Linie geschnitten. Auch um seine spitz zulaufenden Ohren waren die Haare so geschnitten, dass die Ohren zu sehen waren. Offenbar waren die Vulkanier stolz auf ihre Ohren, obwohl sie behaupteten völlig emotionslos zu sein. Überhaupt war das die auffälligste Charaktereigenschaft dieses Volkes. Sie hatten es über viele Generationen hinweg perfektioniert ihre Gefühle zu kontrollieren und in den hintersten Winkel ihrer Selbst zu verbannen, so dass sie den Eindruck vermittelten, gar keine Gefühle zu haben. Ihr Handeln wurde alleine von der Logik bestimmt. So gab es auf Vulkan seit vielen Jahrhunderten keine Taten mehr, die ihre Grundlage in Hass, Neid, Eifersucht oder Gier gehabt hätten. Die Befreiung von jeglichen Emotionen hatte ihren Geist so sehr diszipliniert, dass ein Vulkanier in der Lage war, mehrere komplexe Denkvorgänge zeitgleich durchzuführen. Schon die kleinsten Vulkanier mussten das erlernen. Ihre strukturierten logischen Denkprozesse ermöglichten es ihnen scheinbar unbegrenzt Wissen aufzunehmen und jederzeit parat zu haben. Sie waren wie wandelnde Sachbücher zu den unterschiedlichsten Themen. Das war mit ein Grund, weshalb die Vulkanier in jedem Bereich der Wissenschaften mit die besten Experten hervorgebracht hatten. Die deutliche Mehrheit der Vulkanier entschied sich bei ihrer Berufswahl denn auch für eine wissenschaftliche Laufbahn. Daher gab es auch nur wenige Vertreter dieses Volkes in der Sternenflotte. Sanawey war daher froh darüber trotzdem einen Vulkanier als Wissenschaftsoffizier an seiner Seite zu haben. Und Sohral hatte seine Fähigkeiten schon weit mehr als einmal unter Beweis gestellt. Auch wenn seine ruhige, logische und manchmal auch sehr stoische Art einen hin und wieder in den Wahnsinn treiben konnte.
„Willkommen an Bord, Mr. Sohral“, begrüßte Sanawey seinen Offizier. Die Hand reichte er ihm dabei nicht, da er wusste, dass der Vulkanier körperliche Berührungen vermied. Und den traditionellen Vulkaniergruß, bei dem man mit der Hand ein V formte, indem Mittel- und Ringfinger so auseinandergespreizt wurden, dass ein V-förmiger Zwischenraum verblieb, konnte Sanawey nicht. Daher begnügte er sich mit einem höflichen Gruß, den Sohral mit einem knappen Kopfnicken erwiderte.
„Hatten Sie einen schönen Urlaub?“ erkundigte sich Sanawey, während der Vulkanier die beiden Stufen der Transporterplattform herunter kam und sie dann gemeinsam den Raum verließen. Zwar war dem Captain bewusst, dass Vulkanier nicht viel von Small Talk hielten – es war einfach nicht logisch, sich über Belanglosigkeiten auszutauschen – doch sollte er sich gleich daran gewöhnen wieder unter Menschen zu sein, die solch unlogische Dinge nun mal taten.
„Er verlief wie geplant“, erklärte Sohral unbewegt. Wie üblich war er nach einem etwas längeren Aufenthalt unter seinesgleichen besonders steif und logisch.
Sanawey nickte. Das war dann wohl das vulkanische Äquivalent zu „Ja, der Urlaub war einfach super und absolut erholsam“. Wie mochte es dann klingen, wenn ein Vulkanier sagen wollte, der Urlaub sei schlecht gewesen? „Wenn der Urlaub so toll war, dann können Sie sich ja wieder mit Schwung und Elan Ihren Aufgaben widmen.“ Sanawey blieb dabei ernst und hatte jegliche Emotionen aus der Stimme genommen. Er wollte den Vulkanier ein wenig auf den Arm nehmen, auch wenn solche Versuche meist zum Scheitern verurteilt waren.
Statt sofort zu antworten zog Sohral erst einmal die rechte Augenbraue nach oben. Immerhin hätte man aus der Bemerkung auch heraushören können, dass er in letzter Zeit nicht mehr mit vollem Einsatz seiner Arbeit nachgekommen wäre. Da das Interpretieren von Aussagen aber einen emotionalen Bezug hatte, bewertete Sohral nur die tatsächlichen Worte. Auf die Weise ließ er sich zum Glück auch nicht durch eine in einem Gefühlsausbruch falsch betonte Äußerung beleidigen. „Urlaub hat keinerlei Einfluss auf meine Leistungsfähigkeit“, gab er schließlich an.
Sanawey grinste. Bei der Disziplin, die Sohral an den Tag legte, war ihm bewusst, dass außer einer ernsthaften Krankheit nichts seine Leistungsfähigkeit beeinflussen konnte. „Dann darf ich Sie in zwei Stunden auf der Brücke erwarten?“
„Ich werde pünktlich sein“, versicherte der Vulkanier, woran auch niemand gezweifelt hätte.
Der Captain entließ Sohral, damit dieser erst einmal sein Quartier aufsuchen konnte. Zwar musste er sich nicht erst einrichten – er gehörte schließlich schon länger zur Crew – aber er war wie alle anderen sechs Wochen nicht an Bord gewesen. Da musste man wenigstens mal nach dem Rechten sehen. Sohral wäre zwar auch direkt auf die Brücke gekommen, aber Sanawey bestand auf wenigstens zwei Stunden.
Nachdem der Vulkanier in Richtung seines Quartiers gegangen war, wandte Sanawey sich lächelnd an Jackson. „Es ist einfach schön, wenn die Familie wieder zusammen ist.“
Sie nickte nur bestätigend. Sie wusste zwar was Sanawey meinte und freute sich auch auf die kommende Zusammenarbeit mit den Kollegen. Als Familie hätte sie es aber nicht bezeichnet. Dazu war sie zum einen nicht emotional genug, um eine solche Bindung aufzubauen. Zum anderen waren die Bindungen in ihrer Familie auch nicht sonderlich eng. Ein echtes Familiengefühl, wie es das anderswo gab, kannte sie nicht. Sie blieb lieber etwas auf Distanz. Und damit war ihr Verhältnis zu den Crewmitgliedern doch wieder ähnlich wie bei ihrer Familie.
Sanawey gab an die Brücke den Befehl zum Weiterflug. Er wollte sich hier nicht länger aufhalten als unbedingt nötig. Das nächste Ziel der Republic
war Sternenbasis 478. Dort würden sie noch einige Wissenschaftler und zwei Crewmitglieder aufnehmen, bevor die eigentliche Mission beginnen konnte.
Mit der flachen Hand schlug Wendy Brooks wütend auf das Gehäuse der Konsole vor ihr. Das verdammte System funktionierte mal wieder nicht. Dabei hatte sie es erst vor dem Abflug getestet. Da hatte es noch einwandfrei funktioniert. Und das war schließlich erst wenige Tage her. Die Qualität der Technik war auch nicht das, was sie mal war. Kein Wunder, wenn man alles immer kleiner machen musste und dabei immer mehr Software hineinpackte.
Sie sah auf und blickte sich im Maschinenraum um. Außer ihr waren noch drei weitere Ingenieure anwesend, die aber konzentriert an ihren Themen arbeiteten und ihren kleinen Wutausbruch nicht wahrgenommen hatten. Worüber sie auch froh war, denn eigentlich wollte sie als Führungskraft ein gutes Vorbild sein. Auch wenn ihr das nicht immer leicht fiel.
Der Maschinenraum war kein Raum im eigentlichen Sinne. Es war mehr eine große Halle, die beinahe das ganze Deck umfasste, abgeteilt durch Glaswände, technische Konsolen und dicke Wände, die voll waren mit Technik und Systemsteuerung. Die Höhe der einzelnen Decks des Maschinenraumes, insgesamt waren es drei, variierten, je nachdem welche Technik in den Zwischenraum zwischen Decke des einen Decks und Boden des nächsten Decks untergebracht werden musste. So verteilten sich die drei Stockwerke über eine Höhe, die normalerweise vier Decks umfasste. Das gab dem Maschinenraum zwar eine etwas unsymmetrische Aufteilung, aber darauf kam es hier auch nicht an. Wichtig war die Funktionalität und Erreichbarkeit aller Komponenten.
In der Mitte des Maschinenraumes stand aufrecht das Herz des Schiffs, der Warpkern. Es war eine runde säulenartige Konstruktion, die über vier Standardstockwerke reichte und einen Durchmesser von knapp drei Metern hatte. In ihr wurde kontrolliert Materie und Antimaterie miteinander verschmolzen und so die Energie für das ganze Schiff erzeugt. Und da der Warpantrieb mit Abstand die meiste Energie benötigte, wurde die Konstruktion nur Warpkern genannt. Der offizielle Name Materie-Antimaterie-Reaktor klang ziemlich nüchtern und war für den sprachlichen Umgang einfach zu lang. Der Warpkern stand frei im Raum. Alle drei Decks, durch die er hindurchbrach, liefen im Abstand von zwei Metern kreisrund um die Säule herum. So konnte man, wenn man vor dem Warpkern stand und nach oben sah, bis hinauf zur obersten Decke des Maschinenraumes sehen. Elf Meter hoch. Die Raumhöhe war genau auf die Größe des Warpkerns angepasst. Auf halber Höhe der Säule führte ein Steg von einem höheren Deck zu einer Luke an der Säule. Dahinter lag die Haltevorrichtung für die Dilithiumkristalle, über die der Zusammenfluss von Materie und Antimaterie gesteuert wurde. Ohne diese Kristalle würden die beiden gegensätzlichen Elemente unter einer gewaltigen Explosion zusammentreffen und vom Schiff nichts mehr übrig lassen. Denn die instabile Antimaterie reagierte mit jeder Form von Materie und war nur durch ein Kraftfeld überhaupt zu lagern. Einzig die Kristalle hielten der Antimaterie stand, allerdings auch nicht vollständig. Sie reagierten zwar nicht, ließen aber Antimaterie in geringen Mengen hindurch. Mit verschieden dicken Kristallschichten ließ sich damit die Reaktionsmenge kontrollieren und damit die Energieerzeugung.
Die wichtigsten Systeme lagen auf dem untersten Deck des Maschinenraumes. Hier war auch der Haupteingang. Von diesem führte ein breiter und zwei Stockwerke hoher Gang direkt auf den Warpkern zu. Zur linken an diesem Gang lag ein optisch abgetrennter Raum, der als Büro der Chefingenieurin diente. Allerdings war Brooks dort selten anzutreffen. Sie war keine, die anderen Anweisungen gab und selbst nur koordinierend die Fäden in der Hand hielt. Eine solche Arbeitsweise lag ihr nicht. Das Koordinieren ihrer Ingenieurscrew lief nebenher. Sie übernahm auch selbst Aufgaben und arbeitete direkt mit. Für ihr Verständnis konnte sie nur so die Aufwände für die anfallenden Arbeiten abschätzen und selbst auch fit genug bleiben, um im Notfall überall eingreifen zu können und nicht nur theoretisch Bescheid zu wissen. Außerdem gehörte es für sie einfach dazu, die Fragen ihrer Mitarbeiter auch beantworten zu können. Das gehörte schließlich zu einer guten Führungskraft.
Das System, an dem sie im Moment arbeitete, war kein überlebenswichtiges, aber trotzdem ein Ärgernis, wenn es nicht funktionierte. Es musste also umgehend repariert werden. Auf der Republic
, ihrem Verantwortungsbereich, musste jedes System mindestens hundertprozentig funktionieren, wenn nicht gar darüber hinaus.
Sie sah, wie zwei Ingenieure miteinander diskutierend den Maschinenraum durch einen Nebeneingang betraten. Der eine war ein großer, junger Mann mit dunklen Haaren und einem sympathisch markanten Gesicht. Der andere war etwas kleiner und stämmiger und war im besten Mannesalter, wie es so schön hieß. Und beide waren fähige Ingenieure, wie eigentlich alle, die unter ihr arbeiteten.
„Palmer, Finelli“, rief sie die beiden. Diese unterbrachen ihre Diskussion und sahen auf. Als sie ihre Vorgesetzte erkannten kamen sie eiligen Schrittes näher.
„Commander“, nickte Finelli ihr grüßend zu. Er war der ältere der beiden.
„Hallo“, sagte Palmer flapsig. Was Brooks aber nicht störte. Sie pflegte keinen allzu formellen Umgang mit ihren Kollegen, sondern hatte ein eher freundschaftliches Verhältnis zu ihnen.
Wendy Brooks deutete auf die Bildschirmanzeige hinter ihr. „Das Traktorstrahlsystem arbeitet nicht mehr.“ Verärgert schüttelte sie ihren Kopf, so dass ihr rötlich schimmernder Lockenkopf in Bewegung geriet.
„Unmöglich. Das System hat erst vor drei Tagen die technische Endabnahme bekommen“, erwiderte Finelli überrascht. Und wenn Brooks ihn nicht besser gekannt hätte, dann hätte sie aufgrund dieser Aussage den Gedanken bekommen können, Finelli würde Frauen in Sachen Technik nichts zutrauen.
„Darf ich mal?“ sagte Palmer und trat neben seine Chefin an die Bedienungselemente. Brooks trat einen Schritt zur Seite und sah zu, wie er fachkundig die entsprechenden Daten aufrief und daraus seine Schlüsse zog. Und seinem Gesichtsausdruck nach kam er zu demselben Schluss wie sie. „Scheiße“, murmelte er schließlich.
„Haben Sie mir etwa nicht geglaubt?“ fragte sie ihn spitz.
„Doch, natürlich“, verteidigte er sich schnell und wirkte für einen kurzen Moment verunsichert. „Ich wollte es nur mit eigenen Augen sehen, um es besser verstehen zu können.“
Sie nickte nachsichtig. Natürlich hatte sie ihm auch nicht ernsthaft unterstellt, er glaube ihr nicht. Und dass er es selbst sehen wollte konnte sie durchaus nachvollziehen. Auch sie sah sich ein Problem lieber erst einmal selbst an, bevor sie etwas dazu sagen konnte. Trotzdem hatte sie jetzt ein wenig Freude daran, das Privileg der Vorgesetzten ausleben zu dürfen und ihn ein wenig aufzuziehen. „Jetzt haben Sie es gesehen. Was für eine Lösung schlagen Sie nun vor?“
Palmers Augen wurden etwas größer. Sie wusste, dass sie ihn erwischt hatte. Denn es war nahezu unmöglich, dass er anhand dieser Daten den Fehler schon gefunden hatte. Auch wenn er eben so selbstbewusst geklungen hatte. Nach einem kurzen Moment des Zögerns gestand er schließlich auch ein, so schnell keine Lösung gefunden zu haben. Auch wenn er das Problem nun gesehen hatte.
Lächelnd legte Brooks ihm eine Hand auf die Schulter. „Schon gut. Ich bin ja beruhigt, dass Sie keine Lösung haben. Denn sonst müsste ich mir Gedanken um meine Qualifikation machen.“ Sie trat hinter ihm vorbei während er noch auf den Bildschirm starrte, in der Hoffnung dass ihn eine geniale Idee ansprang.
„Wir müssen das ganze System nochmal checken“, entschied sie und ihr Blick wanderte dabei zwischen Palmer und Finelli hin und her. „Eine Ebene Eins Diagnose. Und wir behalten dabei jeden Wert im Auge. Wir werden den Fehler schon finden.“
Die beiden nickten zustimmend, wobei Finelli nicht ganz so viel Elan an den Tag legte, wie sein Kollege. Denn eigentlich hatte er bereits eine andere Aufgabe, an der er zu knabbern hatte. Eine weitere, zusätzliche Aufgabe bedeutete nur, dass er am Ende weniger Freizeit hatte.
„Mr. Finelli, Sie überwachen die Sensorendaten von hier aus.“ Brooks deutete auf den Bildschirm, vor dem sie eben noch gestanden hatte. „Palmer, Sie schnappen sich einen Tricorder und einen Phasenentkoppler und kommen mit mir.“ Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des Aufgangs zur nächsten Ebene.
Der junge Mann nickte, machte dann am Bildschirm für Finelli Platz und holte die angeforderten Instrumente aus einer in der Wand versenkbaren Schublade. Dann folgte er seiner Chefin zum kleinen, rauminternen Lift, der die Decks des Maschinenraums miteinander verband. Mit diesem fuhren sie zur Zwischenebene hinauf. Oben angekommen wandte sich Brocks an eine nahe Konsole. Noch bevor sie etwas zu ihm sagen konnte erriet er ihre Gedanken. „Ich überwache den Energiefluss in den Emittern von Jeffriesröhre 12 aus“, sagte er ganz selbstverständlich.
Die Chefingenieurin nickte anerkennend. Genau aus diesem Grund mochte sie den jungen Mann. Er war kreativ und legte ein hohes Engagement an den Tag. Zudem schien ihm das Verständnis für Technik geradezu in die Wiege gelegt worden zu sein, denn er verstand jedes System innerhalb kürzester Zeit. Und er beschwerte sich nie, wenn er eine Zusatzaufgabe auferlegt bekam. Zusätzlich zu seiner Regeltätigkeit im Transporterraum. Denn dort war er eigentlich eingesetzt. Wendy Brooks machte sich manchmal schon Gedanken deswegen. Palmer verbrachte ihrer Meinung nach ein wenig zuviel Zeit im Maschinenraum. In seinem Alter, er war knapp über zwanzig, sollte er ihrer Meinung nach ein wenig mehr Zeit mit Freunden und vor allem Frauen verbringen. In diesem Alter war das schließlich wichtiger. Und dieses Alter ging einfach zu schnell vorbei, als dass man die Zeit vergeuden könnte. Doch machte es den Eindruck, als würde Palmer keinerlei Interesse am anderen Geschlecht zeigen. Auch nicht am gleichen. Vielleicht war er ein Spätzünder.
„Okay, dann werde ich mal in Position gehen“, sagte er und hielt dabei die Instrumente in seiner Hand hoch. Dann wandte er sich um und ging zu der, einige Schritte entfernten Einstiegsluke der Röhre. Über diese Röhren, die durch das ganze Schiff liefen, war ein Zugriff auf alle technischen Systeme und Komponenten möglich. Dies war vor allem zu Wartungs- und Reparaturzwecken absolut notwendig. Nicht auszudenken, was wäre, wenn ein kaputtes Bauteil repariert werden musste, an das man nicht heran kam, ohne das halbe Schiff auseinander nehmen zu müssen. In einer Krisensituation konnte die schnelle Zugänglichkeit über Leben und Tod entscheiden.
Die Röhren selbst waren so schmal, das man nur auf allen vieren krabbelnd hindurch konnte. Allzu dick durfte man als Ingenieur auf einem Raumschiff aber nicht sein.
Wendy sah ihm nach. Die Art, wie er ging zeugte von seinem gesunden Selbstvertrauen. Er war groß, schlank und ihm war anzusehen, dass er regelmäßig aber nicht übertrieben Sport machte. Sein bartloses, ebenmäßiges Gesicht wirkte zwar männlich, ließ aber auch Einfühlungsvermögen und eine romantische Ader erkennen. Dazu besaß er Humor, war intelligent und charmant. Und seine blauen Augen waren der Traum einer jeden Frau. Daher war es umso unverständlicher, dass er in keiner Beziehung war. Wenn sie zwanzig Jahre jünger gewesen wäre, dann hätte sie sicher alles dafür getan, ihn zu verführen.
Mit einem kurzen Kopfschütteln wischte sie diesen Gedanken beiseite. Er war ihr Kollege, ihr Untergebener, und noch dazu viel zu jung. Wieso beschäftigte sich ihr Kopf nur mit so etwas? Sie hatte hier eine Aufgabe, auf die sie sich zu konzentrieren hatte. Schließlich hörte sie ihn rufen, er sei in Position und bereit. Brooks bestätigte das kurz, dann gab sie über die Sprechanlage Finelli die Anweisung, das Diagnoseprogramm zu starten und schrittweise durchlaufen zu lassen. Es wäre doch gelacht, wenn sie den Fehler nicht finden würden.
DREI
Unwillkürlich ging Sanaweys Hand erneut an den Kragen seiner Uniform und nestelte daran herum. Das blöde Stück Stoff wollte heute so gar nicht wie er wollte. Er fühlte sich im Moment einfach unwohl und das lag eindeutig an der Uniform. Nur das ganze Herumgezupfe machte die Sache nicht besser.
„Du siehst gut aus“, raunte Wendy ihm zu, die neben ihm stand und sich offensichtlich über ihn amüsierte.
Er drehte den Kopf in ihre Richtung und wollte etwas erwidern. Doch fiel ihm nichts Passendes ein, daher verzog er nur kurz die Mundwinkel, dann gab er dem Transportertechniker das Zeichen, die Besucher an Bord zu beamen.
Sie hatten sich im Transporterraum versammelt, um die Gruppe von Wissenschaftlern zu empfangen, die sie hier auf Sternenbasis 478 an Bord nehmen sollten. Die beiden noch fehlenden Crewmitglieder würden erst in einigen Stunden folgen. Ihr Schiff war hier noch nicht angekommen.
Außer ihm und Wendy Brooks waren noch Commander Jackson und der Wissenschaftsoffizier Sohral anwesend. In dieser Reihenfolge standen sie nun vor der Plattform und sahen zu, wie sich vor ihnen fünf Energiesäulen aufbauten, in denen langsam die Formen von Menschen Gestalt annahmen. Bereits nach wenigen Sekunden brach der Energiestrahl wieder ab und gab die Personen frei.
Sanawey ließ einen schnellen Blick über seine Gäste schweifen. Dabei wurde ihm eines sofort klar. Es handelte sich bei allen um ganz besondere Typen. Es waren die typischen, verschroben wirkenden Gestalten, die man sich als Wissenschaftler so vorstellte, vor allem, wenn sie die Besten ihres Faches waren. Und wenn sie nur halb so exzentrisch waren, wie er sie sich vorstellte, dann würde die Mission auf keinen Fall langweilig werden.
Er hieß sie an Bord willkommen und stellte dann seine Offiziere vor. Anschließend kamen die Wissenschaftler von der Plattform und schüttelten den Offizieren die Hände. Dabei blieben sie zwar freundlich, aber doch reserviert. Die meisten Wissenschaftler hatten noch immer Vorbehalte gegen das Militär und betrachteten eine Zusammenarbeit eher kritisch. Zu oft waren in der Vergangenheit Forschungsergebnisse für militärische Zwecke verwendet worden. Die Vorbehalte geisterten noch in den meisten Köpfen herum, auch wenn die Sternenflotte einen eindeutigen Forschungsauftrag hatte.
Als letztes trat ein älterer Mann um die siebzig die Stufen herunter und baute sich vor Sanawey auf. Er war gut beleibt und schob einen großen Bauch vor sich her, über den sich ein buntes Hemd spannte. Völlig untypisch für einen Doktor oder Professor. Seine Haare waren bereits zu weit mehr als der Hälfte ergraut und standen ihm zerzaust in alle Richtungen vom Kopf ab. Das füllige Gesicht wies, außer um die Augen herum, kaum Falten auf. Und die Augen strahlten eine Lebensfreude aus, wie Sanawey es bisher bei kaum einem Menschen gesehen hatte.
„Captain, es ist mir eine Freude hier zu sein“, erklärte er mit einem wohltuenden Bariton. „Vielen Dank auch dafür, dass Sie uns zu unserem Ziel bringen und uns dort unterstützen werden.“
Angenehm überrascht nahm Sanawey diese Worte entgegen. Bisher hatte sich noch kein Wissenschaftler bei ihm bedankt. Für die anderen war es scheinbar selbstverständlich, dass ihnen die Republic
samt Crew zur Verfügung stand. „Sehr gerne, Mister…“ entgegnete er freundlich, wusste aber noch nicht einmal den Namen des Mannes.
„Wie unhöflich von mir“, sagte der Wissenschaftler und verdrehte über sich selbst die Augen. „Tut mir leid. Mein Name ist Van Meerdink. Maarten Van Meerdink.“
„Willkommen an Bord, Mr. Van Meerdink“, wiederholte Sanawey seinen Gruß und schüttelte dem Mann die dargereichte Hand. Wobei seine Hand beinahe in der Van Meerdinks versank, solche Pranken hatte der Wissenschaftler.
„Ich bin mir sicher, es wird eine spannende Zeit werden“, sagte Van Meerdink fröhlich, dann wandte er sich an Jackson und Brooks und begrüßte diese ebenso freundlich. Jackson behielt die ihr eigene Zurückhaltung bei, während Brooks mit dem Mann ein wenig scherzte und lachte.
„Sie wissen was man im Mittelalter über Frauen mit roten Haaren gesagt hat?“ wollte er von der Chefingenieurin mit ihrem rötlich schimmernden Lockenkopf wissen.
Wendy hatte sich allerdings noch nie groß für Geschichte interessiert und musste die Frage verneinen. Sie war aber auf die Antwort gespannt.
„Es hat geheißen…“, sagte er fast schon flüsternd. „… sie wären Hexen, die nachts auf ihren Besen durch die Luft fliegen würden.“
Wendy musste lachen, „Zaubern kann ich nicht, aber im Maschinenraum habe ich noch ein paar Teile, damit könnte man bestimmt einen fliegenden Besen basteln.“ Sie zwinkerte ihm vergnügt zu, worauf auf er lachen musste, nachdem er von ihrer Schlagfertigkeit erst einmal überrascht gewesen war.
„Das würde ich gerne sehen, wie Sie auf dieser Konstruktion reiten“, lachte er.
„Dann geben Sie mir zwei Tage Zeit“, erwiderte sie nicht ganz ernst gemeint.
„Ich nehme Sie beim Wort“, zwinkert er. „Aber um nochmal auf Ihre Haarfarbe zurück zu kommen. Wissen Sie was man im 20. Jahrhundert Frauen mit roten Haaren nachgesagt hatte?“ Die Art und Weise, wie er lächelte ließ Wendy schon erahnen, in welche Richtung das hier ging. Doch machte es genug Spaß um weiter mitzuspielen.
„Sagen Sie es mir“, forderte sie ihn auf.
„Es hat geheißen, sie wären Hexen.“ Er zögerte kurz und fügte dann noch hinzu: „Im Bett.“
Im ersten Moment war Wendy etwas überrascht. Dieser ältere Mann kannte sie nicht, wie konnte er dann so mit ihr reden? Er konnte doch gar nicht wissen, wie das bei ihr ankam. Zu seinem Glück war er bei ihr aber an die Richtige geraden. Sie konnte er mit solchen Sprüchen nicht aus der Fassung bringen. Sie lächelte schelmisch. „Das galt nicht nur damals“, erwiderte sie vielsagend.
Van Meerdink lachte laut auf und das Lachen füllte den Raum. Er hob den Zeigefinger und deutete damit auf Wendy. „Mrs. Brooks, Sie gefallen mir.“ Er schüttelte noch immer lachend den Kopf, ob ihrer Schlagfertigkeit und wandte sich nochmal Sanawey zu. „Captain, wenn alle ihre Crewmitglieder so reizend sind wie diese beiden Damen hier, dann werden wir viel Spaß zusammen haben“, zwinkerte er ihm fröhlich zu, bevor er auch noch Sohral begrüßte und ihm versicherte, sich auf die kommende Zusammenarbeit zu freuen.
Bevor Van Meerdink aber noch mehr reden konnte übernahm Sanawey wieder das Wort und wandte sich an alle Wissenschaftler. „Commander Jackson wird Sie nun zu Ihren Quartieren bringen. Dort finden Sie in den Computerdateien weitere Informationen zum geplanten Ablauf der Reise und zu Ihren Ansprechpartnern. Mr. Sohral übernimmt die Koordination der verschiedenen wissenschaftlichen Aufgaben. In vier Tagen werden wir Vandros IV erreichen. Zuvor werden wir uns nochmal alle zusammensetzen, um Ihre Forschungspläne zu beraten. Anhand dieser Gespräche werden wir dann eine Roadmap für die nächsten Monate abfassen, an der wir uns bei der Erforschung orientieren werden.“ Er sah in die Runde, bekam aber nur vereinzeltes Nicken als Reaktion. Daher ging er davon aus, dass sein Vorschlag angenommen wurde und entließ die Wissenschaftler in die Obhut von Sylvia Jackson. Diese führte die Gäste aus dem Raum zu deren jeweiligen Unterkünften. Nachdem die Türe sich hinter ihnen geschlossen hatte, atmete Sanawey hörbar auf. Die Erleichterung darin über die eingetretene Stille war deutlich herauszuhören.
„Na, so schlimm war das jetzt auch wieder nicht“, sagte Wendy tadelnd. „Es verspricht auf jeden Fall abwechslungsreich zu werden.“ Sie grinste ihn schief an.
Sanawey schüttelte nur leicht den Kopf. „Ich weiß nicht, was anstrengender ist. Die distanzierte Art der anderen Wissenschaftler oder Van Meerdinks sprühende Lebensfreude.“
„Er hat einen gewissen Charme“, gestand Wendy ein. „Und seine gute Laune ist ansteckend. Wenn er so weiter macht, dann wird sich das sicher auf die Crew übertragen. Was nur gut sein kann, wenn man bedenkt, wie die meisten hier an Bord die kommende Mission betrachten.“
Sanawey hob abwehrend die Hände, wie um sich zu ergeben. „Ja, Dr. Brooks“, scherzte er in Anerkennung ihrer psychologischen Analyse der Situation. Und noch immer nicht ganz ernst gemeint fügte er hinzu: „Ich hoffe nur, Van Meerdink ist auf seinem Fachgebiet genauso gut wie als Lebenskünstler.“
„Professor Van Meerdink ist der führende Experte auf dem Gebiet der Hydrogeologie fremder Planeten“, wusste Sohral zu berichten. Mit dem Wissen um solche Fakten konnte der Vulkanier an einer Unterhaltung teilnehmen. Einfach nur herumzualbern und Scherze zu machen, lag nicht in der Natur seines Volkes. „Er hat bereits 23 Auszeichnungen erhalten, darunter den Nobelpreis in Physik, die Daystrom-Medaillie, den Surakpreis der vulkanischen Wissenschaftsakademie, die…“
„Schon gut“, unterbrach Sanawey ihn. „Ich habe es verstanden.“ Er warf Wendy einen vielsagenden Blick zu, so dass diese grinsen musste. Der Captain schätzte den Vulkanier zwar, ja, mochte ihn sogar, trotzdem konnte seine logische Art manchmal ziemlich anstrengend sein. „Kommen Sie“, wandte er sich an beide. „Wir werden auf der Brücke erwartet.“
Mit gepackter Reisetasche stand Karja an der Rezeption des Hotels und checkte aus. Sie gab ihren Chip, der ihr Zugang zu ihrem Zimmer gewährt hatte, an die freundlich lächelnde Dame zurück. Dann wandte sie sich um und verließ zügigen Schrittes das Hotel. Ihr Ziel war die nächste Transporterstation, von der aus sie sich zum Flugplatz beamen wollte. Sie hatte eine Passage auf einem Raumschiff gebucht, das sie zu Sternenbasis 478 bringen würde. Eine Raumstation am Rande des Föderationsgebietes. Und weit ab des ihr bekannten Universums. Aber das war im Prinzip alles außerhalb ihrer Heimatkolonie. Sie konnte nur hoffen, dass alles nach Plan verlief. Sonst würde sie womöglich einige Wochen dort fest sitzen. So weit draußen kam nicht regelmäßig ein Raumschiff vorbei, mit dem Zivilisten reisen durften.
Karja hatte noch zwei Tage mit sich gehadert, nachdem ihr der fremde Mann den Gedanken in den Kopf gesetzt hatte, nach ihrem Vater zu suchen. Sie wollte auf jeden Fall zuerst noch alle Möglichkeiten ihre Mutter zu finden ausschöpfen. Denn nachdem sie nochmal eine Nacht darüber geschlafen hatte, war der Gedanke, ihren Vater zu suchen, doch etwas befremdlich gewesen. Sie hatte sich dann noch zwei Tage in der Stadt herumgetrieben und sich die Gefängnisinsel Alcatraz sowie die Mission Dolores, das älteste Bauwerk der Stadt angesehen. Und sie hatte es dann doch noch in einen Club geschafft, um dort bis in die frühen Morgenstunden durchzutanzen.
Schließlich waren aber die Antworten auf die beiden noch offen gebliebenen Suchanfragen gekommen. Wieder mit negativem Ergebnis. Ihre Mutter blieb unauffindbar. Schweren Herzens hatte sie dann bei der Sternenflotte angefragt, um Informationen über ihren Vater zu erhalten. Erstaunlicherweise war es, im Vergleich zu den Nachforschungen nach ihrer Mutter, einfach gewesen und auch schnell gegangen. Von ihrer Tante kannte sie den Namen ihres Vaters. Damit konnte die Sternenflotte leicht herausfinden, um wen es sich handelte. Natürlich hatte sie nicht allzu viele Informationen erhalten. Schließlich konnte sie sich nicht als seine Tochter ausweisen, somit war sie eine außenstehende Fremde, der keine flotteninternen Daten überlassen wurde. Einzig die Kontaktdaten zum Übermitteln einer Nachricht hatte sie erhalten. Was ihr natürlich nicht reichte. Sie wollte ihm nicht einfach eine Nachricht schicken, sie wollte ihm gegenüber treten. Aber mit Hilfe ihres Aussehens und ihres Charmes hatte sie dann doch noch seinen Rang und den derzeitigen Aufenthaltsort erfahren. Seine nächste Mission würde ihn zur Sternenbasis 478 bringen. Schon in zwei Tagen. Es war ein knappes Zeitfenster, da sie selbst erst in zwei Tagen dort sein würde. Aber es musste einfach klappen, denn sonst hätte sie seine Spur wieder verloren.
Auf dem Flugplatz angekommen, musste sie sich erst einmal durchfragen. Der Airport war so groß, dass man sich ohne weiteres verlaufen konnte. Von hier aus starteten Schiffe zu allen Zielen der Erde, aber auch zu vielen anderen Föderationsplaneten. Zwar wurde der meiste interstellare Flugverkehr inzwischen über die orbitale Raumstation abgewickelt, doch auch dort musste man zuerst hingelangen. Und für gewöhnliche Reisende bedeutete das noch immer einen Flug in einem Shuttle. Somit hatte der Flughafen nur wenig von seiner Bedeutung verloren. Entsprechend groß war der Andrang an Reisenden. Überwiegend waren es Menschen, die von hier starteten oder ankamen. Es gab aber auch Vertreter unzähliger anderer Rassen, die aus den verschiedensten Gründen durch diese Hallen eilten. Das alles gab ein ziemliches Durcheinander. Bei der Ankunft war es ihr wesentlich leichter gefallen. Da hatte sie nur zur Gepäckausgabe und zum Ausgang gemusst. Nun musste sie ihre Reisetasche aufgeben, und zwar am richtigen Schalter, sonst flog ihre Tasche woanders hin als sie. Und dann musste sie den richtigen Check-In finden.
Als sie durch die Hallen lief kam sie sich vor wie in einer kleinen, in sich geschlossenen Stadt. Zwischen den ganzen Schaltern gab es Läden, Souvenirstände und Restaurants. Und das alles auf einer Fläche, die größer war als die Stadt, in der Karja aufgewachsen war.
Wie sie herausfinden musste startete ihr Flug auch nicht direkt von hier. Ein kleines Schiff brachte die Passagiere zur neuen Raumstation, die auf einer Umlaufbahn um die Erde kreiste. Ein großes, pilzförmiges Gebilde, das mehr als dreitausend Personen Platz bot. Im Hut des Pilzes befanden sich die Andockmöglichkeiten für die Raumschiffe. So konnten hier die immer größer werdenden Raumschiffe, die zu groß für einen Landevorgang waren, ihre Passagiere und die Fracht aufnehmen. Die Raumstation war erst seit wenigen Monaten in Betrieb, doch war sie bereits jetzt Dreh- und Angelpunkt im interstellaren Flugverkehr.
An Bord des Raumschiffes, das sie zur weit entfernten Raumstation bringen sollte, wurde Karja ein kleines Quartier zugewiesen. Nicht besonders groß. Es passten gerade einmal ein Bett hinein sowie der eingebaute Wandschrank. Auch gab es keine Fenster. Doch für die nur zwei Tage dauernde Reise würde es reichen. Sie war ohnehin nicht besonders anspruchsvoll. Auch als Kind hatte sie kaum mehr Platz für sich zur Verfügung gehabt. Ihr Zimmer war eigentlich nur zum Schlafen da gewesen. Das Leben tagsüber hatte sich in der Küche oder draußen abgespielt.
Die zwei Tage verliefen völlig ereignislos. Das Schiff machte noch Zwischenstopps bei drei weiteren Planeten. Einige Passagiere verließen das Schiff, andere kamen an Bord. Die Verbindungen, die durch solche Schiffsrouten geschaffen wurden, war oft die einzige Möglichkeit für die Bewohner kleinerer Kolonien, den Kontakt zum restlichen Universum zu halten.
Karja bekam von den Zwischenstopps nichts mit. Weder durften die Weiterreisenden das Schiff in dieser Zeit verlassen, dazu war der Aufenthalt einfach zu kurz, noch gab es in den Passagierbereichen Fenster, die eine Sicht auf die jeweiligen Planeten zugelassen hätten. So gab es keinen Unterschied zwischen den Flugstunden und den Stopps. Die meiste Zeit verbrachte Karja in ihrem kleinen Quartier. Sie las viel und holte ein wenig Schlaf nach, den sie in den letzten Tagen in San Francisco nicht in ausreichendem Umfang genießen konnte. Doch je näher sie ihrem Ziel kam, desto aufgewühlter wurde sie. Zwar hatte sie sich fest vorgenommen, sich auf keinen Fall verrückt zu machen. Doch das war leichter gesagt als getan. Allein Wut und Zorn hatte sie sich als Empfindungen zugestanden. Nun aber mischte sich noch eine andere Stimmung mit ein. Sie wurde aufgeregt. Keine freudige Aufregung, mehr ein Gefühl, das ihre Aktivitäten in Frage stellte. War es richtig, ihren unbekannten Vater auf die Art zu konfrontieren? Sicher, verdient hatte er es, aber hätte sie die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen sollen? Machte das Ganze überhaupt einen Sinn? Sie kannte sich selbst aber zu gut, um zu wissen, dass sie niemals zufrieden gewesen wäre, wenn sie den Flug nicht gewagt hätte. Sie musste das einfach tun, schon um ihrer selbst willen. Erst wenn sie seinen Gesichtsausdruck gesehen und ihm alles an den Kopf geworfen hatte, würde sie dieses Kapitel ihres Lebens abschließen können.
Die Ankunft bei Sternenbasis 478 wurde Karja zwei Stunden vor der Ankunft nochmals mitgeteilt. Aufgrund des Flugplanes war es ihr aber schon bekannt gewesen. Sie hatte dem Termin entgegengefiebert und hätte eigentlich gar keine Erinnerung benötigt. So stand sie bereits fünfzehn Minuten vor der Ankunft mit ihrem Gepäck am Zugang zum Transporterraum und wartete. Das Schiff würde an der Raumstation nicht andocken. Die Passagiere mussten an Bord gebeamt werden.
Als die Raumstation endlich in Reichweite kam, erschienen noch zwei weitere Passagiere, eine Frau und ein Mann, die hier ebenfalls von Bord gehen wollten. Beide trugen die roten Uniformen der Sternenflotte und hatten nur leichtes Gepäck dabei. Karja beachtete sie nicht weiter und betrat als erste die Transporterplattform. Wenige Sekunden später stand sie im Transporterraum der Raumstation. Das Licht schien hier heller zu sein. Wenigstens kam es Karja so vor, als erstrahlte der Raum in einem helleren Weiß, als es auf dem Raumschiff der Fall gewesen war. Und alles war großzügiger angelegt. Zwar war die Station bei weitem nicht so groß wie die irdische Raumstation, aber es gab in jedem Fall mehr Platz als auf einem Raumschiff.
Die beiden Sternenflottenoffiziere, die sich hinter Karja materialisiert hatten, verließen sofort den Raum, um mit dem Kommandanten der Station zu sprechen. Danach würden sie sich zu ihrem neuen Einsatzgebiet begeben.
Für Karja bestand die einzige Aufgabe hier darin, herauszufinden ob das Schiff ihres Vaters bereits angekommen war. Ansonsten würde sie noch warten müssen. Um die gewünschte Information zu bekommen, ging sie zur Anzeigetafel, die sich direkt nebenan im Aufenthaltsraum für Reisende befand. Hier standen Tische und Stühle, an denen man sich stärken konnte. Der Replikator war direkt daneben. Damit konnten Speisen und Getränke aller Art bestellt und auch erzeugt werden. Der integrierte Computer fügte anhand der abgespeicherten Muster Molekül für Molekül zusammen bis es das gewünschte Ergebnis ergab. Dieser Vorgang dauerte nur wenige Sekunden. Damit ließen sich selbst die kompliziertesten Essen zubereiten. Geschmacklich kaum von selbst gekochtem zu unterscheiden, obwohl einige Menschen das vehement bestritten.
Außerdem standen hier noch bequeme Sessel und Sofas, zu verschieden großen Gruppen zusammengestellt. So konnten Reisende bequem auf ihren Anschlussflug warten. Denn eine Raumbasis selbst war für Zivilisten selten ein Reiseziel. Normalerweise diente sie nur als Umsteigemöglichkeit. Sternenbasis 478 allerdings lag so weit abseits, dass sich hierher nur wenige Gäste verirrten, selbst zum Umsteigen nicht. Und wenn doch mal jemand kam, stand meist ein mehrtägiger Aufenthalt an, da der Flugverkehr hier nicht sonderlich hoch war und nicht viele Schiffe vorbeikamen.
So war der Raum leer, als Karja eintrat. Sie ging direkt auf den Bildschirm mit dem aktuellen Flugplan zu. Insgesamt waren nur drei Schiffe darauf verzeichnet. Das, mit dem sie angekommen war. Es flog weiter nach Orion. Ein weiteres Schiff, das hier in zwei Wochen ankommen würde. Und das Schiff ihres Vaters. Hier war allerdings ein Hinweis angebracht, dass das Schiff für Passagiere gesperrt wäre. Karja musste sich also etwas einfallen lassen. Und zwar schnell, denn das Schiff würde in dreißig Minuten starten. Sie hatte es gerade noch erwischt. Da wollte sie es auf keinen Fall einfach abfliegen sehen.
Während sie noch darüber nachdachte, wie sie dort an Bord kommen sollte, kamen die beiden Sternenflottenoffiziere zurück und gingen schnellen Schrittes in Richtung Transporterraum. Ohne sich das genauer überlegt zu haben folgte sie ihnen. Im Transporterraum würde ihr schon etwas einfallen. Sie betrat den Raum in dem Moment, in dem die beiden Offiziere ihre Aufstellung zum Beamen einnahmen. Der Blick der Frau – sie hatte asiatische Gesichtszüge – streifte Karja kurz, beachtete die junge Indianerin dann aber nicht mehr weiter. Stattdessen gab sie den Befehl zum Beamen. Der Mann an der Konsole betätigte daraufhin ein paar Regler. Mit einer schnellen Bewegung trat Karja auf die Transporterplattform. Sie verstand genug von der Transportertechnik um zu wissen, dass sie in diesem Moment noch in den Energiestrahl treten konnte, um ebenfalls noch erfasst zu werden, ohne dass eine Gefahr bestand. Für den Abbruch des Vorganges war es aber bereits zu spät. Der Computer analysierte die Datenmuster der drei im Erfassungsfeld stehenden Personen, zerlegte sie in die einzelnen Moleküle und schickte die Daten an den Bestimmungsort. Karja hatte es geschafft.
Die Republic
hatte eine Parkposition vor der Raumbasis 478 eingenommen. Ein weißer heller Fleck in der Dunkelheit des Alls. Die Raumstation selbst war in stahlgrau gehalten und hob sich damit nicht sonderlich vom All ab. Allein die Positionslichter sendeten ihr Licht weithin hinaus in die dunkle Stille.
Vor einigen Minuten war ein zweites Schiff eingetroffen, das fast so schwarz war wie das All. Es war klein und kompakt gebaut. Insgesamt fanden auf dem Schiff knapp zweihundert Personen Platz, zusammengepfercht in engen Quartieren. Es war kein Luxus mit solchen Schiffen zu reisen, doch man kam sicher und meist pünktlich an. Und an Bord war es in der Regel sauber und die Verpflegung in Ordnung. Auf Luxus konnte man für die Zeit der Reise gut verzichten.
Und gerade eben hatte der Commander der Station Captain Sanawey darüber in Kenntnis gesetzt, dass seine zwei noch fehlenden Crewmitglieder mit dem anderen Schiff angekommen seien und nun bereit wären, an Bord der Republic
zu beamen. Damit wäre die Crew nun endlich komplett und sie konnten ihre Mission beginnen.
Bereits vor fünf Stunden war die Republic
hier angekommen, hatte die letzten Vorräte sowie einige Wissenschaftler an Bord genommen und dann auf die zwei noch fehlenden Crewmitglieder gewartet. Diese waren bisher auf Deep Space Three
stationiert gewesen. Zu weit entfernt, um mit der Republic
mal eben vorbeizufliegen und sie abzuholen. Deep Space Three
lag knapp drei Wochen entfernt, bei Maximum Warp. Daher hatten die beiden einen Flug hierher nehmen müssen.
Als Sanawey den Lift betrat, der ihn zum Transporterraum bringen würde, wartete Sylvia Jackson bereits auf ihn. „Dann sind wir ja bald vollständig“, begrüßte sie ihn. „Ich kann es kaum erwarten endlich mit unserer Mission beginnen zu können.“
Dem Captain war die Ironie in ihrer Stimme nicht entgangen. „Es freut mich, dass Sie einen solchen Enthusiasmus an den Tag legen und an dieser zuerst so ungeliebte Aufgabe doch noch Gefallen finden.“ Er sah sie ohne eine Miene zu verziehen an. Nur das Blitzen in seinen Augen verriet ihn. Was Jackson nicht entging. Man sagte ihr nicht umsonst nach, dass sie einen geübten Blick für Kleinigkeiten hatte.
„Natürlich freue ich mich auf die Mission. Denn je früher wir beginnen können, desto schneller ist es vorbei“, sagte sie und blieb ebenso ernst wie er.
Sanawey sah sie an. Er musste nicht einmal zu ihr hinunter schauen, sie war kaum kleiner als er. In dem Moment öffneten sich die Lifttüren vor ihnen. Bevor sie hinaustraten fing Sanawey breit an zu grinsen. „Wenn Sie sich da mal nicht täuschen.“ Dann ging er voran in Richtung Transporterraum.
Es waren nur wenige Schritte vom Lift zum Transporterraum. In Notfall musste der Raum schnell erreichbar sein, um einem gefährdetem Außenteam zu helfen oder auch um das Schiff evakuieren zu können. Daher war bei der Konstruktion auf kurze Wege geachtet worden. So standen die beiden wenige Augenblicke später vor der etwas erhöhten Transporterplattform. Jackson neigte sich zu Sanawey. „Was meinen Sie damit?“ raunte sie ihm zu. „Wissen Sie etwa schon etwas über eine Verlängerung der Mission?“ Ihr schien bei dem Gedanken nicht sonderlich wohl zu sein.
Der Captain blinzelte ihr nur kurz verschwörerisch lächelnd zu, wandte sich dann an den Transportertechniker und gab den Befehl zum Beamen.
Vor Sanawey und Jackson schimmerten die Energiefelder zweier Transporterstrahlen auf. Innerhalb von wenigen Sekunden nahmen die gebeamten Personen Konturen an. Erstaunt mussten die beiden Offiziere erkennen, dass sich in einem Strahl zwei Personen befanden. Ein nicht ganz normaler Beamvorgang, der normalerweise so nur dann durchgeführt wurde, wenn es nicht anders ging. Meist waren die zu beamenden Personen dann in Gefahr und konnten keine reguläre Aufstellung annehmen. Aber dieses Mal hatte keine Gefahr bestanden, es gab keinen Grund für eine solche Aktion.
Als der Energiestrahl die Personen freiließ stieß die Frau, die eine Sternenflottenuniform trug, eine zweite, deutlich jüngere Frau in Zivil unsanft zur Seite. Sofort war der Mann, der im zweiten Transporterstrahl gewesen war, zur Stelle und griff unsanft nach der Zivilistin. Diese verzog das Gesicht vor Schmerzen, gab jedoch keinen Laut von sich.
In der uniformierten Frau erkannte Sanawey Dr. Kasatsu, Williams‘ neue Stellvertreterin auf der Krankenstation. Und der Mann musste das noch fehlende Mitglied der Sicherheitsabteilung sein.
Sanaweys Blick ging schnell über sie hinweg, hinüber zu der dritten Person. Sie war eine junge, etwa zwanzig jährige Frau mit rotbrauner Haut. Sie hatte unübersehbar amerikanische Ureinwohner als Vorfahren. Ihre Haare waren dunkel und glatt und hingen lange bis zum Rücken hinunter. Ihre Gesichtszüge waren weich und ihre Figur perfekt. Sie trug zivile Kleidung, die ihre Figur noch mehr betonte. Sie war die absolute Schönheit in Person. Allerdings hatte sie einen finsteren Gesichtsausdruck und zornig funkelnde Augen.
Sanawey erkannte, dass von dieser Frau keine Gefahr ausging. Sie hatte keinerlei Waffen dabei und machte auch sonst keinen gefährlichen Eindruck. Er fragte sich nur, warum sie an Bord gekommen war. Mit einem kurzen Nicken gab er dem Sicherheitsoffizier zu verstehen, dass er die Frau loslassen konnte.
Sie zog mit einer stolzen Bewegung den Arm wieder zu sich und hatte nur einen kurzen, verächtlichen Blick für den Mann übrig, der sie so schmerzhaft gepackt hatte. Langsam kam sie die Stufen der Transporterfläche herab und ging direkt auf Sanawey zu. Sie sah ihn einige Sekunden an und musterte ihn. Ihr Blick hatte die Kälte eines Eisberges und Sanawey lief es eisig den Rücken hinunter. Dann sagte sie mit einer Stimme, die schärfer und härter klang als Stahl: „Hallo, Vater.“
Sanaweys Augen weiteten sich vor Erstaunen. Er starrte sie verwirrt an. Und brachte kein Wort heraus. Wieso nannte diese Person, die er nicht kannte und noch nie gesehen hatte, ihn Vater? Er hatte doch gar keine Kinder. Sie musste ihn mit jemandem verwechseln, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Oder doch? Sanawey wusste nicht mehr was er denken sollte. Seine Gedanken rasten - oder dachte er gar nichts mehr? Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts mehr, nur noch, dass diese Frau, dieses Mädchen, ihn Vater genannt hatte. Schließlich schluckte er hart und wiederholte, noch immer höchst erstaunt, nur ein Wort. „Vater?“
Der Wind blies in kräftigen Böen und schob schwere schwarze Wolken vor sich her, aus denen immer wieder kurze aber starke Regenschauer niedergingen. Die Wolken waren so dicht, dass es gar nicht richtig hell wurde. Der Tag bestand aus einem eigenartigen Zwielicht, das kaum heller war als während der morgendlichen Dämmerung. Überall brannten Lichter, die sich aber in den Regenschauern bereits nach wenigen Metern wieder verloren. Es war das absolut passende Wetter für diesen Tag, fand Droga. Er stand in der Nähe des Raumschiffes, das ihn zu seinem neuen Arbeitsplatz bringen sollte. Der Rat der Xindi befand sich auf einem neutralen Planeten und allein für den Flug dorthin würde er fünf Tage benötigen.
Während der letzten zwei Wochen hatte Droga versucht, die Unklarheiten um seine Amtszeit zu klären. Doch egal an wen er sich gewandt hatte, überall hatte er nur verschlossene Türen vorgefunden und ausweichende Halbwahrheiten zu hören bekommen. Alle waren sie ihm aus dem Weg gegangen, um sich nicht vor ihm rechtfertigen zu müssen. Es war zum aus der Haut fahren gewesen. Sein Zorn hatte sich dadurch noch mehr gesteigert. Auf Sorano, der ihn hatte auflaufen lassen und wahrscheinlich heimlich über Drogas Dummheit lachte. Auf dessen Mitstreiter, die dem Präsidenten dabei geholfen hatten. Und auf sich selbst, weil er in seiner Überheblichkeit geglaubt hatte, die Xindi einen zu können, sie in ein neues, besseres Zeitalter führen zu können. Und auch noch geglaubt hatte, dass ihm dafür alle dankbar sein würden und ihn unterstützten. Doch nun war er von seiner eigenen Spezies hintergangen worden. Nicht einmal hier herrschte Einigkeit. Jeder spielte seine Spiele und suchte seine eigenen Vorteile. Wenn sich die Möglichkeit ergab einen Konkurrenten loszuwerden, dann wurde das eiskalt ausgenutzt. Und Droga hatte ihnen diese Gelegenheit auf einem Silbertablett präsentiert und sie hatten dieses Geschenk natürlich dankbar angenommen.
Er würde den Posten als Ratsvertreter der humanoiden Rasse erst einmal antreten. Aber das letzte Wort war in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Er würde so lange Botschaften in die Heimat senden, bis er gewonnen hatte und die Amtszeit auf zwei Jahre kürzen konnte. Denn an seinem Ziel, die Xindi zu einen, hielt er nach wie vor fest. Zwar hatte er sich in den letzten Tagen auch mal nach dem Sinn und der Wahrscheinlichkeit eines Erfolges gefragt und sein Handeln in Frage gestellt, doch waren diese Zweifel nun wieder verflogen. So ein Rückschlag konnte ihn nicht von seinem Kurs abbringen. Er würde weiterhin alles dafür tun um sein Ziel zu erreichen. Und sollte es am Ende nicht von Erfolg gekrönt sein, dann hatte er es wenigstens versucht.
Mit einem letzten Blick nach oben zum dunklen und wolkenverhangenen Himmel stieg er in das Raumschiff. Es war nicht besonders schön, denn es war innen nur notdürftig ausgebaut. Überall war der matte, graue Stahl zu sehen, aus dem das Schiff hauptsächlich bestand. Es hatte auch nur soweit eine Innenverkleidung, dass sich niemand an irgendwelchen Kanten verletzten konnte. Das Schiff war ein einfaches Transportmittel, hauptsächlich für den Warentransport bestimmt. Niemand verschwendete an ein solches Schiff unnötig Ressourcen. Es erfüllte seinen Zweck, auf mehr kam es nicht an. Und die Quartiere für die Passagiere waren ganz annehmlich eingerichtet worden, so dass er die Zeit der Reise gut würde überstehen können.
Während dieser fünf Tage kam er auch endlich dazu, sich mit seinem bevorstehenden Job zu beschäftigen. Das hatte er die letzten Tage nicht geschafft. Er war viel zu sehr mit den Bemühungen einen Verantwortlichen zu erreichen beschäftigt gewesen. Jetzt musste er in kürzester Zeit alles nachholen.
Bei seiner Ankunft würde ihn sein zukünftiger Assistent erwarten. Dieser Mann war bereits seit Jahren Mitarbeiter der jeweiligen Ratsvertreter und kannte sich bestens mit den Gegebenheiten vor Ort aus. Sowohl mit den praktischen Dingen des Alltag, als auch mit der politischen Verworrenheit des Rates. Und er hatte Droga bereits einiges an Infomaterial über die Vertreter der anderen vier Rassen und deren Gesinnungen zugesandt. Auch der Kurs, den die jeweiligen Rassen während der letzten Entscheidungen eingeschlagen hatten, war mit enthalten. Das meiste war Droga vertraut, immerhin beschäftigte er sich bereits während seiner gesamten beruflichen Laufbahn mit diesem Thema. Die Details, wie es zu machen Entscheidungen gekommen war, dass hatte er aber oft nicht in Erfahrung bringen können. Einiges davon fand sich nun in diesen Dateien wieder. Und so war er die fünf Tage voll auf damit beschäftigt alles aufmerksam durchzulesen, ja geradezu zu verschlingen. Als er ankam fühlte er sich bestens vorbereitet und der Meinung, hier tatsächlich etwas bewegen zu können.
Am Flugplatz holte ihn sein Assistent ab. Dafür, dass er schon so lange seinen Dienst tat, war er noch relativ jung. Und schüchtern. Er wagte es kaum Droga anzusprechen. Während der Fahrt zum Botschaftergebäude der Humanoiden fing er keine Unterhaltung von sich aus an, sondern antwortete nur knapp auf an ihn gerichtete Fragen. Schließlich gab auch Droga den Versuch einer Unterhaltung auf. Stattdessen blickte er durch das Fenster des Gleiters hinaus. Es war ein hässlicher Planet. Er war heiß und trocken und staubig. Der Himmel schimmerte immer in einem blassen rot, das sich bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang blutrot verfärbte. Eine Farbe, die ihn aggressiv machte. Der Gedanke, diesen Himmel die nächsten Jahre täglich sehen zu müssen, ließ ihn beinahe verzweifeln. Er bevorzugte einen Himmel in Blautönen. Aber nun blieb ihm nichts anderes übrig, als sich damit zu arrangieren.
Die Atmosphäre des Planeten drückte auf sein Gemüt und lies seinen Optimismus sinken. Seine Befürchtung, dass die Arbeit genauso heiß und trocken werden würde, wie die Luft dieses Planeten, sollte sich in den nächsten Monaten bestätigen. Das Ringen um Entscheidungen mit den anderen vier Xindi-Rassen war zäher als er erwartet hatte. In den ersten Monaten konnte er lange nicht so viele Projekte durchsetzten, wie er geplant hatte. Und zu Beginn hatte er das Gefühl, dass ihm einfach nur deswegen widersprochen wurde, weil er der Neue im Rat war. Es war frustrierend für ihn. Seine Überzeugungen für eine bessere Xindi-Zukunft geriet mehr als einmal gefährlich ins Wanken, doch fing er sich immer wieder und kämpfte weiter. Und in all diesen Monaten gelang es ihm nicht, einen Verantwortlichen in der Heimatwelt zu erreichen, mit dem er über seine Zukunft im Rat hätte sprechen können. Je länger die Zeit voran schritt, desto mehr befürchtete er, die vollen fünf Jahre hier verbringen zu müssen, falls nicht noch ein Wunder geschah.
Mit rasenden Gedanken saß Sanawey in seinem Bereitschaftsraum. Er hatte die Ellenbogen auf den Tisch vor sich gestützt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. So starrte er nun schon seit Minuten auf die dunkle Tischplatte, in der Hoffnung, endlich einen klaren Gedanken fassen zu können. Doch gelang das überhaupt nicht. Die Eröffnung dieser jungen Frau vorher im Transporterraum hatte ihn völlig überrascht. Niemals hatte er mit so etwas gerechnet. Das gab es normalerweise nur in schlechten Groschenromanen oder in irgendwelchen schmierigen Seifenopern. Und nun war es ihm passiert. Es kam ihm vor wie ein schlechter Scherz, als ob ihm jemand einen Streich spielen wollte. Aber in ihren Augen hatte er einen absoluten Ernst gesehen. Und einen so abgrundtiefen Hass, der jede Idee auf einen Streich sofort hinweg fegte. Nein, das war kein Traum und keine Einbildung. Es war die Realität, und diese Frau glaubte, er sie ihr Vater. Ein so absurder und abwegiger Gedanke, dass er sich fragte, wie sie auf die Idee gekommen war. Natürlich hatte er in seinem Leben die eine oder andere Beziehung geführt, aber niemals mit dem Ergebnis eines Kindes. Nur, warum sollte sich jemand als seine Tochter ausgeben wollen?
Nach der Eröffnung, sie sei seine Tochter, hatte sie weiter auf ihn eingeredet. Sie hatte ihn beschimpft und ihm Vorwürfe gemacht. Doch bei ihm war davon nichts mehr angekommen. Er wusste nicht mehr, was sie alles gesagt hatte, so sehr hatte ihn die Aussicht getroffen, Vater eines erwachsenen Kindes zu sein. Commander Jackson hatte ihn schließlich errettet, indem sie der jungen Frau Einhalt geboten hatte und sie dann von zwei Sicherheitsoffizieren hatte abführen lassen. Diese mussten auch feste zupacken, als sie die Indianerin fortgebracht hatten. Sie hatte sich in ihrem Zorn heftig zur Wehr gesetzt.
Das alles war inzwischen eine halbe Stunde her und seitdem saß er hier, unfähig irgendeine Entscheidung zu treffen. Es war, als wäre er in seinen Grundtiefen erschüttert worden und nun nicht mehr Herr über sich selbst. Wie betäubt war er dann Jackson in seinen Bereitschaftsraum gefolgt. Aus Sorge um ihn, hatte sie dann Wendy Brooks, seine langjährige Vertraute, und Dr. Williams gerufen. Jackson selbst war nicht der emotionale Typ, der sich mitfühlend um andere kümmern konnte. Sie konnte den Captain zwar gut verstehen und vielleicht auch ein wenig sein Gefühlschaos nachvollziehen, so gut das eben jemand konnte, der so etwas noch nie erlebt hatte. Aber sie hätte das niemals zeigen können. Sie hatte nicht umsonst den Ruf ein Eisberg zu sein. Und sie fühlte sich im Moment nicht besonders wohl mit dieser Stimmung im Raum. Damit konnte sie nicht umgehen. Daher hielt sie sich etwas im Hintergrund, während Wendy dicht neben Sanawey stand, um ihn ihren Beistand spüren zu lassen. Und auch Williams war direkt an den Schreibtisch herangetreten. Aber beide schwiegen. Was hätten sie auch groß sagen sollen?
„Ich habe der jungen Frau erst einmal ein Quartier zugewiesen“, sagte Jackson schließlich, einfach nur um irgendwas zu sagen. Außerdem freute es den Captain sicherlich zu hören, dass sie nicht in einer der Arrestzellen saß. Nur für den Fall, dass sie wirklich seine Tochter war. „Zudem sind zwei Sicherheitsoffiziere vor der Tür postiert. Sie wird das Quartier nicht verlassen, bis Sie es erlauben.“
Der Captain hob langsam den Kopf und nickte abwesend. „Danke, Commander.“ Es war nur ein leises Murmeln und klang wie ein Ritual, das man aus Gewohnheit sprach, ohne groß darüber nachzudenken.
Jackson räusperte sich, als ob sie nach einer Ausrede suchen würde, den Raum zu verlassen. „Ich werde mit Sternenbasis 478 unseren Abflug vorbereiten“, sagte sie dann, wartete die kurze Bestätigung des Captains ab und begab sich anschließend zur Brücke.
Die gewohnten Abläufe, das vertraute Geräusch der sich öffnenden und schließenden Tür, schienen Sanawey wieder ein wenig in die Gegenwart zurückzuholen. Denn er richtete sich auf und sah die Ärztin direkt an. „Doktor, gibt es eine zuverlässige Methode, mit der man einwandfrei feststellen kann, wer sie ist?“ fragte Sanawey und seine Stimme klang, als ob er keine andere Antwort als ja dulden würde.
„Ja, die gibt es“, bestätigte Williams zu seiner Erleichterung. „Mittels eines DNA-Vergleiches kann ich sagen, ob sie mit Ihnen verwandt ist und wenn ja, in welcher Beziehung. Ich brauche dazu nur ein wenig des genetischen Codes. Sie muss dazu in die Krankenstation kommen, dann könnte ich es feststellen.“
„Tun Sie es.“ Seine Stimme gewann die Souveränität wieder zurück. Ihm war klar, er durfte sich nicht hängen lassen. Er war der Captain, er hatte schon weitaus schlimmeres überstanden. Und nur hier zu sitzen und zu grübeln brachte ihn keinen Schritt weiter. Er musste etwas tun und der erste Schritt war, die Identität dieser Fremden zu klären.
„Ich mache mich gleich an die Arbeit.“ Williams wandte sich um und verließ eiligen Schrittes den Raum. Sie würde keine Zeit verlieren. Denn derzeit gab es auf der Krankenstation nicht viel zu tun. Außerdem war Elizabeth von Natur aus furchtbar neugierig. Und diese Neugier trieb sie um. Sie wollte zu gerne wissen, wer diese Frau war und was hier gespielt wurde. Sie würde keine Ruhe geben, bis sie es herausgefunden hatte.
Wendy blieb beim Captain zurück. Sie wartete, bis sich die Türe hinter Williams geschlossen hatte. Dann sah sie ihren Mentor und Freund wieder an. Er hatte sich zwar wieder etwas gefangen und wirkte auch zuversichtlicher als noch vor wenigen Minuten, doch nahm ihn das Ganze ziemlich mit. Wendy war lange genug mit ihm befreundet, um das zu wissen.
„Könnte diese Frau deine Tochter sein?“ fragte sie schließlich direkt. Sie kannte Sanawey seit knapp zwanzig Jahren, hätte jedoch nicht sicher sagen können, ob er in dieser Zeit einmal eine Beziehung gehabt hätte. Eigentlich war er, wie fast jeder Captain, mit seinem Schiff verheiratet. Der Dienst forderte so viel Zeit, dass da kaum etwas für Liebe übrig blieb. Wer sich für eine Karriere in der Sternenflotte entschied, entschied sich damit meist auch gegen eine Familie. Wendy hätte die Fremde so auf ungefähr zwanzig Jahre geschätzt. Das Mädchen konnte also geboren worden sein, bevor Wendy Sanawey kennen gelernt hatte. Allerdings war der Captain nach seinen eigenen Erzählungen nie ein großer Casanova gewesen.
Sanawey sah sie an. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich darüber auch schon das Hirn zermarterte. Seine Stirn runzelte sich. Er faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch und seufzte. „Ich weiß es nicht. Solange ich ihr Alter nicht kenne ist das schwer zu sagen. Es ist sicher nicht unmöglich.“ Er verzog das Gesicht. „Klingt wahrscheinlich seltsam. So als wäre ich in jener Zeit durch sämtliche Betten gesprungen.“
Wendy lächelte ein wenig. „Klingt wirklich so. Nur gut, dass ich dich besser kenne und du mir von den Zeiten vor unserer ersten Begegnung auch schon viel erzählt hast.“ Sie sah ihn nachdenklich an. In Gedanken kramte sie in zwanzig Jahre alten Erinnerungen. „Wir haben uns auf der Rivana-Mission zum ersten Mal getroffen. Und du bist erst wenige Tage vor dem Start zum Commander befördert worden.“
Sanawey nickte. „Das ist richtig.“
„Das muss ungefähr die Zeit der Geburt dieser Frau gewesen sein“, schlussfolgerte Wendy weiter. Sie brauchte noch einen weiteren Moment, dann weiteten sich ihre Augen und sie sah Sanawey groß an. „Janet. Du hast mir einmal etwas von einer Janet erzählt.“
Der Name weckte schmerzhafte Erinnerungen in ihm. Er musste einen Moment wegschauen. Wie könnte er diesen Namen vergessen. Wie könnte er diese Frau vergessen. Er war zwar nicht lange mit ihr zusammen gewesen, was er bedauerte, aber es war die beste Zeit seines Lebens gewesen. Einzig die Entscheidungsschwierigkeiten, die ihn zu der Zeit gequält hatten, trübten die Erinnerungen ein wenig. Immerhin hatte er damals eine weitreichende Entscheidung zu treffen, die sein Leben und auch ihres für immer beeinflussen sollte. Er hatte zwischen ihr und einer Karriere bei der Sternenflotte entscheiden müssen. Zu dem Zeitpunkt hatte er es bereits zum Lieutenant gebracht und die Beförderung zum Commander war schon so gut wie entschieden. Als Lieutenant hätte er sicher noch die Gelegenheit zur Gründung einer Familie gehabt. Aber schon als Commander hätte er nicht mehr genug Zeit für eine Familie gefunden. Zumindest nicht so viel, wie er es gerne gehabt hätte. Am Ende hatte das Schicksal ihm die Entscheidung abgenommen. Doch hatte das den unangenehmen Beigeschmack, die Entscheidung nicht selbst in der Hand gehabt zu haben.
„Ja, das war zu dieser Zeit“, sagte er langsam und sein Blick ging weit hinaus ins Leere. Seine Gedanken hingen noch immer in jener Zeit fest. „Vor genau zwanzig Jahren. Das wäre möglich.“ Es schien so, als müsse er sich selbst erst von dem Gedanken überzeugen. Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Wendy atmete kurz und heftig aus. Also doch. „Dann ist sie deine Tochter?“ sagte sie und es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage.
Sanawey kehrte ins Hier und Jetzt zurück. „Es könnte sein“, schränkte er halbherzig ein. „Allerdings war Janet nie schwanger geworden. Erklären kann ich mir das nicht.“
„Also wie das mit den Kindern funktioniert kann ich dir schon erklären“, grinste sie schief, fragte sich aber gleich, ob das angebracht gewesen war.
Aber über Sanaweys Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. „Danke, aber das ist mir durchaus bekannt.“ Sein Lächeln verblasste wieder. „Von der Zeit her könnte es passen. Aber es ergibt keinen Sinn. Hier muss eine Verwechslung vorliegen.“
Wendy sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Wenn du das sagst. Aber wäre es so schlimm, wenn sie wirklich deine Tochter wäre?“
„Ja, ich glaube schon“, erwiderte Sanawey gedehnt. Er sah sie an und wusste nicht, wie er ihr seine Gedanken erklären konnte. Konnte sie das überhaupt verstehen? Eine Mutter wusste schließlich immer, ob ein Kind von ihr war oder nicht. Für einen Mann konnten da immer Zweifel bestehen. Und in so einer Situation... „Ich müsste mir den Vorwurf machen, als Vater versagt zu haben. Denn ich wäre nie für sie da gewesen. Ich kann nicht nachvollziehen, wie es sein muss, ohne Vater aufzuwachsen. Aber ich stelle es mir furchtbar vor.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich könnte das auch nie wieder gut machen. Ich wäre auch in Zukunft kein guter Vater.“
„Wer sagt denn so was?“ empörte sich Wendy. Sie konnte das nicht glauben. Er war für sie immer so etwas wie eine Vaterfigur gewesen. Naja, mehr ein Freund, aber auch ein bisschen wie ein Vater. Und er wäre ein guter Vater gewesen, dessen war sie sich sicher.
„Ich sage das.“ Er schien das wirklich zu glauben.
„Na dann.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als ob seine eigene Einschätzung nichts wert wäre. „Niemand ist perfekt. Und niemand wird als Vater geboren. Jeder muss da erst hineinwachsen.“
„Sicher, das weiß ich auch“, gab er unwirscher zurück als er beabsichtigt hatte. „Aber die meisten Väter erleben die Geburt und das Aufwachsen ihrer Kinder mit. Und haben davor noch neun Monate Zeit sich darauf einzustellen. Darauf kann man sich einstellen. Aber zu mir kommt eine junge Dame und sagt ich sei ihr Vater. Und wenn das stimmt, dann wird sie ihren Hass auf mich abladen, den sie ja völlig zurecht trägt. Ich war ja nie für sie da. Wie soll ich da ein guter Vater sein? Ich weiß nicht einmal etwas über diese Person. Ich kenne noch nicht einmal ihren Namen.“
Brooks schwieg. Natürlich hatte sie als Außenstehende leicht reden. Sie sah alles etwas distanzierter als Sanawey das im Moment konnte. Sie konnte nicht nachvollziehen, was nun in ihm vor sich ging. Aber vielleicht war das ja auch gerade die Unterstützung, die sie ihm bieten konnte. Sie konnte etwas sehen und Dinge erkennen, die er gerade nicht sah. Auch wenn es noch so offensichtlich war. Und als gute Freundin musste sie ihn dann darauf hinweisen, auch wenn ihm das im Moment vielleicht nicht gefiel.
„Dann musst du sie eben besser kennen lernen“, schlug sie vor. Das mochte vielleicht etwas banal klingen, war aber doch die einzige Möglichkeit, die er hatte.
„Natürlich muss ich das.“ Frustriert atmete Sanawey ein paar Mal hörbar ein. Zuerst einmal musste er sich beruhigen, sonst würde er nie einen klaren Gedanken fassen können. Er wusste auch nicht, worüber er sich mehr aufregte. Über diese Frau, die ihn so vor den Kopf gestoßen hatte. Oder aber über sich, weil ihn das so sehr aus der Fassung brachte. Verdammt, er war doch kein Jugendlicher mehr, der nun kopflos durch die Gegend rannte. Er hatte Lebenserfahrung, er hatte die meiste Zeit seines Lebens im Weltraum zugebracht, mit Untergebenen, die sich manchmal wie Kinder verhalten hatten. Immer hatte er damit umgehen können und eine Lösung gefunden. Er würde doch hier nicht an seine Grenzen stoßen. Oder etwa doch? „Aber das sagst du so einfach“, sagte er schließlich. „Ich muss von heute auf morgen mit einer erwachsenen Tochter klar kommen, die mich anscheinend hasst und das wahrscheinlich schon ihr Leben lang. Wie soll ich da dagegen ankommen? Hab ich da überhaupt eine Chance?“
Wendy sah ihn an, wusste aber auch keine Antworten auf seine Fragen. Letztlich würde die Zeit zeigen müssen, was sich aus all dem hier entwickelte. Sanft legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Ich kann dir da leider auch nicht weiterhelfen. Ich war auch noch nie in einer solchen Situation. Aber ich gebe dir einen Tipp, Sanawey: Versuche nicht den perfekten Vater zu spielen. Sei einfach nur du selbst. Alles Weitere wird sich dann ergeben.“
Sanawey atmete tief durch. Ihre Hand auf der Schulter tat gut und zeigte ihm, dass Wendy hinter ihm stehen würde. Ein gutes Gefühl. Und ein wichtiges. Sollte diese Frau wirklich seine Tochter sein, dann musste er sich damit arrangieren. Es gab keinen anderen Weg.
Vorsichtig trat Dr. Williams in den Sensorenbereich der Quartierstür von Sanaweys angeblicher Tochter. Sie war neugierig auf diese Frau, immerhin hatte sie bisher nur von ihr gehört. Sie war nicht dabei gewesen, als sie an Bord gekommen war. Aber was sie gehört hatte, weckte ihre Neugier. Sie war als eine außergewöhnliche Schönheit beschrieben worden. Die beiden Sicherheitsoffiziere, die sie zu ihrem Quartier gebracht hatten, mussten das natürlich sofort weitererzählen und so machten die wildesten Gerüchte die Runde. Und ihre Schönheit wuchs mit jeder weiteren Erzählung. Ebenso wie ihr Auftritt im Transporterraum. Demnach musste sie ein Teufel in Engelsgestalt sein. Es würde auf jeden Fall interessant werden, da war sich Elizabeth sicher.
„Wer ist da?“ hörte sie eine frostige Stimme aus dem Quartier. Aber immerhin meldete sie sich überhaupt
„Elizabeth Williams. Ich bin die Bordärztin. Ich muss noch einige medizinische Tests mit Ihnen durchführen“, erklärte die Ärztin und hoffte, damit nicht allzu abschreckend zu klingen. Niemand ging gerne zu Untersuchungen, unter diesen Umständen erst recht nicht.
Die Tür öffnete sich mit einem leisen, schleifenden Geräusch und die junge Frau stand direkt vor Williams. Ihr bronzener Teint bildete zusammen mit den dunklen Haaren und den mandelfarbenen Augen ein perfektes Gesamtbild, das durch die volle Lippen und die schmale Nase noch abgerundet wurde. Ihre Figur schien dem Traum eines männlichen Bildhauers entsprungen zu sein, der seine Phantasie einer wohl proportionierten Frau hier ausgelebt hatte. Hinzu kamen noch die makellose Haut und das straffe Gewebe einer Zwanzigjährigen, das dem Ganzen dann noch den letzten Schliff gab. Die Gerüchte waren also durchaus wahr, musste Williams ein wenig neidisch feststellen. Diese Frau war die absolute Schönheit in Person. Als Model hätte sie sicherlich sämtliche Laufstege der bekannten Welten erobern können. Und wohl auch jedes Männerherz, wenn sie das gewollt hätte. Nur ihr finsterer Gesichtsausdruck passte so gar nicht ins Bild.
Sie stand direkt im Türrahmen und damit so dicht vor der Ärztin, dass diese unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück machte, um die normale Distanz zwischen zwei Menschen wieder herzustellen. Zudem sorgten auch die wütend blitzenden Augen dafür, dass man dieser Frau derzeit nicht zu nahe treten wollte.
„Ihr Captain glaubt nicht, dass ich seine Tochter bin“, sagte sie mit einer schneidend kalten Stimme, die Williams einen Schauer über den Rücken jagte. Da lag so viel Hass und Zorn darin, wie die Ärztin es noch nie in einer Stimme gehört hatte. Ein Hass, der sich über viele Jahre hinweg aufgebaut haben musste. Was an sich schon erstaunlich war, wenn man ihr Alter bedachte.
Elizabeth sah die junge Frau an und fragte sich, wie man so viel Wut in sich vereinen konnte, was da noch weiter vorgefallen war, von dem sie nichts wusste. Ein solcher Hass konnte nicht nur alleine wegen ihrem Vater entstehen. Das war für die Ärztin unvorstellbar. Es war fast so, als wäre die junge Frau ihr ganzes junges Leben lang immer nur angefeindet worden. Als wäre die Sache mit ihrem Vater nur die Spitze des Eisberges. Als ob sie ihr Leben lang gegen die schlimmsten Widerstände und Vorurteile hätte kämpfen müssen. Aber wie war das möglich, bei ihrer Schönheit? Müsste es eigentlich nicht eher so sein, dass eine solche Schönheit von den meisten auf Händen getragen wurde? Dass alle Welt sich um so eine Person kümmerte und sei es auch nur, um sich in ihrem Glanz zu sonnen und selbst einen Vorteil daraus ziehen zu können? Zumindest meinte sie, das bisher immer von Models gehört zu haben.
„Ich soll das mittels einer DNA-Analyse bestätigen, ja“, beantwortete die Ärztin dann die Frage. „Es ist wohl nicht sonderlich erstaunlich, dass der Captain da Gewissheit haben will.“
Sie schnaubte abfällig. „Ja, ich habe damit gerechnet, dass er sich nicht mehr daran erinnert, ein Kind in die Welt gesetzt zu haben. Oder besser, dass er sich nicht mehr daran erinnern will. Aber soll mir recht sein. Dann hat er es schwarz auf weiß vor sich. Dann gibt es keine Ausreden mehr.“
Dr. Williams nickte nur. Diese Feindseligkeit schockierte sie. Wie konnte man seine eigenen Eltern nur so hassen? Vor allem wenn man sie gar nicht kannte. Aber vielleicht kannte diese Frau Sanawey ja bereits und hatte wirklich allen Grund für diesen Hass. Wer außer dem Captain wusste schon, was damals passiert war. Vielleicht stimmten die Anschuldigungen ja, die sie gegen ihn vorbrachte. Williams konnte sich das bei Sanawey zwar nicht vorstellen, aber niemand konnte in einen anderen Menschen hineinschauen. Und es hatten sich schon ganz andere von ihren Partnern oder Freunden jahrzehntelang täuschen lassen. Aber selbst wenn sie recht hatte, sie schien nicht einmal daran zu denken, dass sie mit ihrem Hass ihrem Gegenübern keine Chance gab, sich zu beweisen. Sie überfuhr ihr Opfer geradezu. Und sie hatte sich so auf den Captain eingeschossen, dass dieser keine Möglichkeit hatte, ihr zu beweisen dass er nicht so war wie sie dachte. Ja, er hatte noch nicht einmal die Chance normal mit ihr zu reden. War das richtig? Er hätte sich doch in den Jahren geändert haben können. Nur so würde sie das nie erfahren. Immerhin war er trotz allem noch ihr Vater – behauptete sie zumindest – das musste doch auch etwas zählen.
Die junge Frau verließ wortlos ihr Quartier und folgte Williams zum nächsten Lift. Die Krankenstation lag drei Decks höher. Elizabeth wollte eine Unterhaltung mit der Frau führen, auch um ein bisschen an sie heranzukommen. Doch die eisige Aura, die die junge Frau umgab, ließ die Ärztin schweigen. Was hätte sie mit der Frau auch bereden können, ohne gleich wieder auf Sanawey zu kommen und damit ihren Zorn erneut anzustacheln? Dann allerdings fiel ihr ein, dass sie noch nicht einmal ihren Namen kannte. Und das sollte doch wirklich unverfänglich sein. Also fragte sie danach.
„Karja“, kam die knappe Antwort.
Williams zögerte kurz. „Ein schöner Name“, sagte sie schließlich. „Ist das Ihr Vorname?“
„Ja.“ Karja war ganz eindeutig wenig an einer Unterhaltung interessiert. Was Williams aber nicht abhalten konnte.
„Haben Sie auch einen Nachnamen?“ hackte sie nach.
Karja holte demonstrativ tief Luft, um ihren Unwillen zu bekunden. Doch gab sie eine Antwort. „Offiziell habe ich einen Nachnamen. Aber da dieser mit meiner Mutter in Verbindung steht, benutze ich ihn nicht. Also einfach nur Karja.“
Überrascht zog die Ärztin die Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. Die junge Frau hatte also nicht nur ein Problem mit ihrem Vater sondern auch mit ihrer Mutter. Offenbar lag das Ganze ein wenig tiefer, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Vielleicht wäre es besser hier einen Psychiater hinzuzuziehen, denn vielleicht lag das Problem ja einzig und allein bei Karja. Doch wollte sie noch nicht so weit gehen und das vorschlagen. Das wäre wohl doch ein wenig zu vermessen gewesen, nachdem sie sie gerade einmal wenige Minuten kannte.
„Also wie Ihr Vater“, sagte sie schließlich und erinnerte Karja daran, dass Sanawey auch nur einen Namen führte. Vielleicht halfen solche Gemeinsamkeiten, auch wenn sie noch so klein waren.
Die junge Indianerin quittierte das nur mit einem finsteren Blick. Dazu schien ihr jedes Wort zu viel zu sein.
„Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“ Williams‘ Frage zielte darauf ab, die Unterhaltung nicht abreißen zu lassen. Natürlich würde sie die Frage mittels des DNA-Testes auch beantwortet bekommen, doch hoffte sie in einer Konversation noch ein paar mehr Auskünfte zu erhalten. Schließlich galt es möglichst viel in Erfahrung zu bringen, um die medizinischen Fakten besser deuten zu können. Und natürlich, um die persönliche Neugier zu befriedigen, auch wenn sie das niemals zugeben würde.
Karja schien zu ahnen, dass die Ärztin ohnehin eine Antwort auf die Frage bekommen würde. Und es war ja auch kein Geheimnis, daher entschloss sie sich zu antworten. „Ich bin neunzehn.“
Williams nickte. Sie hätte die junge Frau eher zwei oder drei Jahre älter geschätzt, aber es traf grob ihre Vermutung. „Ein gutes Alter“, sagte sie leise und mehr zu sich selbst.
„Wie meinen Sie das?“ wollte Karja wissen. Und immer noch hatte sie ihren kritischen Blick aufgesetzt. Als ob sie glaubte, man wolle ihr mit jeder Bemerkung schaden.
„Nun ja, man ist jung, das Leben liegt noch vor einem und man hat noch alle Freiheiten zu entscheiden, wohin es gehen soll. Man hat mehr Rechte als Pflichten“, erklärte Williams und klang dabei, als wünschte sie sich diese Zeiten zurück, dabei war sie selbst erst in der ersten Hälfte der Dreißiger.
Karja schnaubte verächtlich, schwieg aber. Sie teilte die Meinung der Ärztin nicht, hatte aber nicht vor, etwas dazu zu sagen. Williams hätte gerne nachgefragt, aber der Lift öffnete sich vor ihnen und unterbrach somit erst einmal die Unterhaltung. Sie traten ein und gaben ihr Ziel an.
Die junge Frau stand an die Wand des Aufzuges gelehnt und starrte ins Leere. Ihr Blick ging dabei Jahre zurück wie es schien. Die Erinnerungen überrollten sie. Diese Begegnung mit ihrem Vater machte ihr mehr zu schaffen, als sie sich eingestehen wollte. Und es wühlte alte Ereignisse wieder auf, die sie verdrängt geglaubt hatte.
„Vielleicht stehen einem in diesem Alter normalerweise alle Wege offen“, fing sie plötzlich an und Williams war sich nicht sicher, ob die junge Frau wirklich mit ihr redete oder einfach nur laut nachdachte. „Aber nicht mir. Nicht, wenn einem die Eltern schon jede Möglichkeit verbauen. Nicht, wenn man einfach im Stich gelassen wurde.“
Es war nur eine kurze Fahrt im Lift und so unterbrachen die sich öffnenden Türen ihr lautes Nachdenken. Etwas zu früh, ärgerte sich Williams. Vielleicht wäre das die Chance gewesen, Karjas wirkliche Beweggründe zu erfahren, den Grund für ihre unbändige Wut. Aber ganz eindeutig war diese Chance nun vorbei, denn auf dem weiteren Weg zur Krankenstation sagte Karja kein Wort mehr. Als ob ihr bewusst geworden wäre, dass sie bereits mehr gesagt hatte als sie ursprünglich wollte. Also musste Williams die Unterhaltung wieder aufnehmen. Zu groß war nun ihre Neugierde, als dass sie es einfach auf sich beruhen lassen konnte.
„Heißt das, Sie kennen auch Ihre Mutter nicht?“ Sie konnte sich das kaum vorstellen. Und wollte es auch nicht. Es musste furchtbar sein, beide Elternteile nicht zu kennen.
Es war Karja eindeutig anzusehen, dass sie mit sich selbst rang. Sie war gerade dabei, sich ein wenig zu öffnen, doch ihre jahrelangen Erfahrungen machen ihr das fast unmöglich. Ihre selbst errichtete Mauer um ihre Seele war einfach zu fest und dick, als dass sie so schnell einzureißen gewesen wäre. „Ich kenne sie“, antwortete sie schließlich knapp. „Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“
Williams presste ihre Lippen aufeinander und nickte. Trotz ihrer Stacheln und ihrer Widerborstigkeit mochte sie die junge Frau irgendwie. Und sie tat ihr leid. Wie gerne hätte sie ihr geholfen, doch kannte sie Karja bei weitem nicht gut genug, um so etwas anzubieten. Ihrer Meinung nach musste Karja zuerst mal mit sich selbst Frieden schließen, ehe sie das mit ihrem Vater oder ihrer Mutter konnte.
Sie erreichten die Krankenstation und Williams ließ Karja den Vortritt. Sie bat sie, auf einer Liege Platz zu nehmen und holte eines ihrer medizinischen Instrumente. „Ich werde Ihnen nun mit diesem Wattestäbchen eine Speichelprobe entnehmen. Das tut nicht weh und dauert nur einen Moment.“
Karja nickte nur und ließ die Prozedur gleichgültig über sich ergehen. Ihre Gedanken kreisten im Moment um ganz andere Dinge.
VIER
Commander Sylvia Jackson stand vor dem Schreibtisch des Captains in dessen Bereitschaftsraum. Das Thema, weswegen sie hier war, war ihr etwas unangenehm. Doch musste es geklärt werden. Daher machte sie es wie meist und verbarg ihre Gefühle hinter einer undurchdringlichen Fassade. So wirkte sie nach außen hin völlig gefasst und sicher. Auf die Weise hatte sie schon so manchen Gesprächspartner getäuscht und war hinterher für ihr sicheres Auftreten gelobt worden.
„Was kann ich für Sie tun, Commander?“ Sanawey sah von seinen Unterlagen auf. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab und hoben sich deutlich von seinem ungewöhnlich blassen Teint hab. Er hatte nicht viel geschlafen. Das Thema mit seiner Tochter setzte ihm mehr zu, als er zuzugeben bereit war.
Jackson mahnte sich innerlich zur Ruhe. Sie hatte von Sanawey nichts zu befürchten, dessen war sie sich natürlich bewusst. Immerhin arbeiteten sie schon einige Jahre zusammen. Daher fing sie einfach an. „Captain, ich frage mich, wie es mit unserer Mission weitergehen soll. Eigentlich hätten wir bereits gestern aufbrechen müssen. Aufgrund der Anwesenheit Ihrer Tochter wurde das verschoben. Aber wir haben unsere Befehle. Und wir haben noch keine Vorstellung davon, wie es nun weitergehen soll“, brachte sie die Situation auf den Punkt.
Nickend runzelte Sanawey die Stirn. Jackson hatte natürlich recht, wenn sie auf die Befehle verwies. Aber sie konnten die Sternenbasis jetzt wohl kaum verlassen. Sollten sie die junge Frau einfach mitnehmen? Das hatte bestimmt nicht in ihrer Absicht gelegen, als sie an Bord gekommen war. Außerdem gehörte sie nicht zur Crew und es würde in nächster Zeit keine Gelegenheit geben das Schiff wieder zu verlassen. Sie müsste dann das gesamte halbe Jahr, das diese Mission beanspruchen sollte, an Bord bleiben.
„Sanawey, ich weiß, dass das keine leichte Entscheidung ist“, sagte Jackson sanfter, als wolle sie ihn beschwören. „Aber wir müssen…“
Er hob die Hand und sie brach ab. Dann nickte er. „Lassen Sie einen Kurs nach Vandros IV setzten. Wir werden unverzüglich aufbrechen.“
„Und was ist mit der jungen Dame?“ hakte Jackson überrascht nach. Von ihr hatte der Captain jetzt nichts erwähnt.
„Sie hat sich entschieden an Bord zu kommen. Sie muss nun mit den Konsequenzen leben. Wir können keine Rücksicht nehmen auf sie oder mich.“ Er seufzte unglücklich. „Ich will sie nicht von Bord bringen lassen, denn dann würde das ihre Ablehnung mir gegenüber nur verstärken. Aber ich kann auch nicht mit ihr gehen. Daher muss sie mitkommen. Vielleicht gelingt es mir ja, zu ihr vorzudringen, wenn sie keine Gelegenheit zum Weglaufen hat.“ Er sah Jackson schief an.
Diese runzelte skeptisch die Stirn. „Das hoffe ich für Sie.“ Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Jackson hatte selbst keine Kinder. Sie war zwar Tante eines Mädchens, aber die Verhältnisse dort waren geklärt. Jacksons Schwester bildete mit ihrem Mann ein typisches Elternpaar und die Kleine wuchs gut behütet auf. Außerdem war ihre Nichte Emily gerademal vier Jahre alt. Da war die Welt meistens noch in Ordnung.
„Entweder wir verstehen uns am Ende oder sie wird mich wegen einer versuchten Entführung anklagen“, versuchte Sanawey zu scherzen. Doch fehlte ihm selbst der Humor in der Stimme. Bevor Jackson sich zum Gehen wenden konnte, fiel ihm noch etwas ein. „Da wäre noch ein Punkt, Commander. Da ich in der nächsten Zeit eher mit dieser privaten Angelegenheit beschäftigt sein werde, würde ich Sie bitten, sich um den Ablauf der Mission zu kümmern. Ich befürchte, ich werde dafür derzeit keinen klaren Kopf haben.“
Jackson nickte verständnisvoll. „Natürlich. Nehmen Sie sich die Zeit die Sie brauchen.“ Ihr kam das nicht einmal sonderlich ungelegen. Sie hätte bei dieser Mission ohnehin kaum mehr zu tun gehabt, als die Schulungsmaßnahmen zu koordinieren und überwachen. So kam sie sich nicht ganz so überflüssig vor und hatte eine Aufgabe.
„Danke“, nickte Sanawey.
Mit einer lockeren Handbewegung winkte Jackson ab. „Ich werde uns dann mal auf Kurs bringen“, sagte sie noch. Dann verließ sie den Raum um sich zurück auf die Brücke zu begeben. Sie musste nur ein Deck nach oben. Bereits wenige Augenblicke später stand sie vor dem Kommandosessel, den sie zu nutzen pflegte, wenn sie den Befehl innehatte. Ein durchaus normaler Vorgang bei der Flotte. Wer das Kommando innehatte, durfte hier auch Platz nehmen „Mr. Remog, setzten Sie Kurs auf Vandros IV. Warp 7.“
„Aye, Aye, Ma’am“, brummte das Reptilwesen und seine hornbewehrten Krallenfinger fuhren über das Touch-Screen-Display seiner Konsole und gaben den Befehl ein. Jackson wunderte sich nicht das erste Mal darüber, wie feinfühlig er das machte. Niemals hätte man diesem großen Wesen das zugetraut. Die Konsole hatte auch noch nicht einen Kratzer.
Als sie sich setzte und in die Runde sah, erkannte sie in den Gesichtern die Erleichterung über den Abflug. Zwar war niemand von dieser Mission begeistert. Aber es war immer noch besser als im Ungewissen zu tappen, ohne Vorstellung davon, wie es weiter gehen sollte.
Reed setzte die Raumstation von ihrem Aufbruch in Kenntnis. Die formelle Abmeldung war schnell erledigt und einige Minuten später befand sich die Republic
im Warptransfer und raste ihrem Ziel entgegen.
Müde schlug Rick Lescott die Augen auf. Schlaftrunken blickte er direkt in das grelle Licht, das plötzlich den Raum durchflutete. Er hatte gestern Abend schon wieder vergessen, dem Computer zu befehlen, dass er das Licht langsam hochfahren sollte. Wenn er das nicht endlich auf die Reihe bekam, würde jeder Morgen so beginnen, wie heute. Und wie die letzten Tage, seit dem Start. Das Licht blendete und brannte auf der Netzhaut. Tränen schossen ihm in die Augen und er drehte mit geschlossenen Augen seinen Kopf zur Seite. Mit dem Gesicht voraus ließ er sich wieder in sein Kissen sinken. Vielleicht konnte er so verhindern, dass der Tag beginnen würde. Sich einfach die Decke über den Kopf ziehen und der Welt da draußen die kalte Schulter zeigen. Schließlich tat die Welt nichts anderes mit ihm.
Zur Zeit bewohnte er dieses Quartier alleine, was aber nur ein vorübergehender Zustand war. Denn er hatte ein Doppelquartier, zusammen mit Milan Mirmic, einem Kollegen aus dem Maschinenraum. Nur war Milan gleich am ersten Tag der Mission im Maschinenraum vom Zwischendeck abgestützt, immerhin eine Höhe von knapp drei Metern. Dabei hatte er trotz allem noch Glück gehabt. Er hatte Verletzungen an der Wirbelsäule erlitten und seine inneren Organe etwas durcheinander geschüttelt. Aber er würde damit durchkommen. Dr. Williams hatte ihn gut versorgt und seinen Zustand stabilisiert. Er würde nicht einmal bleibende Schäden davon tragen. Nur musste er jetzt eben einige Zeit auf der Krankenstation verbringen. Und solange war Rick alleine. Wie Milan einen solchen Sturz zustande gebracht hatte wusste niemand genau. Die Ebene hatte ein Geländer, das selbst einer großen Person bis über den Bauch ging. Es war somit fast unmöglich dort hinunter zu stürzen. Doch irgendwie hatte er es trotzdem geschafft.
Der Computer meldete alle zwei Minuten die Uhrzeit, monoton und gleichgültig. Die Maschine interessierte es nicht, ob er noch müde war. Und sie hatte auch kein Gespür für seine Stimmung. Die Meldungen würden so lange weitergehen, bis man den Weckdienst ausschaltete. Per Hand. Ein Stimmenbefehl reichte in dem Fall ausnahmsweise nicht. Auf die Art sollte vermieden werden, dass jemand verschlief.
Seufzend gab Rick nach, warf die Decke beiseite und richtete sich mit verkniffenen Augen auf. Wieder stand so ein furchtbarer Tag vor ihm. Ein Tag wie jeder andere. Mit demselben monotonen Ablauf. Denselben Gesichtern, die er sah, die ihn höchstens registrierten, aber nicht wirklich wahrnahmen. Denselben Gefühlen der Einsamkeit. Ohne Chance auf ein wenig Abwechslung. Nach seinem Dienst würde er wieder in sein Quartier zurückkehren. Nur selten besuchte er die Bar oder das Freizeitdeck. Was sollte er dort auch? Er kannte ohnehin niemanden so richtig. Obwohl er bereits seit zwei Jahren an Bord war, hatte er bisher keine Freundschaften geschlossen. Er hatte auch keine Idee, wie er das anstellen sollte. Und er traute sich nicht. So wie ihn die Leute an Bord ansahen, das war ihm schon nicht geheuer. Es war, als würden sie durch ihn hindurch sehen. Als würden sie ihn gar nicht richtig bemerken. Er war ein Allerweltstyp, unscheinbar und unauffällig. Jemand, der niemandem auffiel. Und dessen Fehlen auch niemand merken würde. Selbst seine jeweiligen Zimmerkollegen schienen ihn nach einigen Tagen des Zusammenseins schon nicht mehr richtig zu registrieren.
Daher mied er die Freizeitangebote, zog sich nach Dienstschluss in sein Quartier zurück und blieb dort in sich gekehrt alleine. Meist ging er dann früh zu Bett. Was sollte er auch sonst jeden Abend machen? So ging das Tag für Tag. Monat für Monat. Manchmal fragte er sich, warum er das überhaupt noch mitmachte. Warum er aus dem Kreis nicht ausbrach. Aber er kannte die Antwort nur zu genau. Er hatte nicht den Mut sein Leben zu verändern. Er hatte Angst davor. Angst vor dem Ungewissen. Noch wusste er was er zu erwarten hatte. Seine Tage verliefen schließlich immer gleich. Aber wie würde sein Leben nach einer Veränderung aussehen? Wahrscheinlich wäre es lebenswerter, dessen war er sich schon bewusst. Aber die Angst in ihm blieb und sie beherrschte sein Denken. Sein Verstand war nicht in der Lage dieses Gefühl zu besiegen. Und so machte er jeden Tag so weiter wie bisher. Und jeder weitere Tag war wie eine weitere Last, die sich auf ihn legte und ihn immer mehr lähmte. Schwermut beherrschte inzwischen seine Gedanken und seine Seele. Es war ihm, als laufe er im Körper eines anderen durch die Welt. Als wäre er nur Zuschauer, der aber nicht selbst am Leben teilnahm.
Als er noch jünger war und die High School besucht hatte, war er seinen Mitmenschen völlig offen gegenüber gestanden. Zwar war er auch damals niemand gewesen, der auf alle Menschen zuging. Aber er hatte auch keine Berührungsängste gehabt. Und er vertraute den Personen um sich herum fast blind. Seine Familie war so miteinander umgegangen und er hatte bis dahin auch keine schlechten Erfahrungen damit gemacht. Doch einige seiner Klassenkameraden hatten sein Vertrauen und seine Naivität gnadenlos ausgenutzt. Sie hatten in ihm ein leichtes Opfer gefunden, das sie piesacken und quälen konnten. Sie hatten jede Gelegenheit genutzt, um sich auf seine Kosten einen Spaß zu erlauben und ihn als Sündenbock abzustempeln. Und er war damit immer mehr zur Witzfigur der Schule geworden. Mit der psychischen Brutalität Jugendlicher und dem fehlenden Einfühlungsvermögen in diesem Alter hatten sie ihn nach und nach immer mehr an den Rand gedrängt. Und Rick hatte überhaupt nicht gewusst, wie er damit umgehen sollte. Völlig schutzlos war er ihren Angriffen ausgeliefert gewesen. Er hatte keine Chance gehabt sich zu wehren. Gnadenlos hatten sie sein Selbstvertrauen zerstört. Was er auch getan hatte, sie hatten ihm sprichwörtlich die Hosen herunter gezogen. Zum Schluss mussten sie gar nichts mehr dazu tun. Durch den zunehmenden Verlust an Selbstvertrauen fing er an sich selbst lächerlich zu machen. Und trotzdem hatte er versucht immer noch dazu zu gehören. Er kannte doch außer seinen Klassenkameraden niemanden. Doch dadurch hatte er ihnen noch mehr Angriffsmöglichkeiten gegeben.
Ein solches Verhalten bei Berufstätigen hätte man wegen Mobbings genauer untersucht. Und letztlich hätte man Konsequenzen gezogen, um es abzustellen, und sei es nur aus dem einen Grund, dass die Produktivität des betroffenen Mitarbeiters nicht leiden sollte. Unter jugendlichen Schülern aber wurde so etwas einfach als pubertäres Gehabe abgetan. Niemand sah sich so etwas genauer an. Und niemand schien das überhaupt bemerken zu wollen. Die jungen Leute würden das schon alleine unter sich ausmachen. Das war schließlich nur eine Phase.
Wie es aber wirklich in ihm aussah, das wusste keiner. Niemand bemerkte seine inneren Qualen, seinen Schmerz, der ihn jeden Tag peinigte. Niemand erkannte, dass er immer mehr zu einem psychischen Wrack wurde. Er war völlig aufgelöst. Wäre die Seele ein Organ gewesen, es wäre mit der Zeit verkümmert und hätte seine Funktion eingestellt. Immer wieder fragte er sich, was er getan hatte, um ein solches Schicksal erleiden zu müssen. Er konnte sich nicht wehren, war dem Ganzen schutzlos ausgeliefert. Die Lebensfreude, die ihm als Kind immer vom Gesicht gestrahlt hatte, war fort. Ausgelöscht von der grausamen Realität. Seine Augen wirkten leer, wie die Augen einer Maske. Wenn sie überhaupt noch etwas ausstrahlten, dann Trauer und Niedergeschlagenheit. Man sah ihm die Unsicherheit an, mit der er sich durchs Leben bewegte. Nur noch selten lachte er. Trotzdem versuchte er weiterhin tapfer sich nichts anmerken zu lassen. Auf keinen Fall wollte er sich die Blöße geben, als Schwächling angesehen zu werden. Denn das würde seine Chancen auf Anerkennung noch weiter verringern. Er gab sich sogar noch selbst die Schuld an den Ereignissen. Vielleicht war es ja einfach nur so, dass er zu überempfindlich war. Dass er zu emotional reagierte. Vielleicht sah ja nur er sich selbst als Opfer. Wahrscheinlich litten allen Menschen so, nur er konnte damit nicht umgehen, während es alle anderen konnten. Ganz eindeutig machte er etwas falsch. Es lag nur an ihm.
Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er immer wieder in Schwermut versank. In diesen Zeiten war er kaum in der Lage, irgendetwas Vernünftiges auf die Reihe zu bekommen. Er saß dann meist einfach nur da, war mit den Gedanken weit weg und grübelte dann viel über sein Schicksal und das Leben nach. Und über ein Leben nach dem Tod. Überhaupt kreisten seine Gedanken dann meistens ums Sterben. Denn nichts wünschte er sich dann sehnlicher als zu sterben. Wobei das nicht ganz stimmte, wenn er sich das ehrlich eingestehen musste. Am meisten wünschte er sich, dass alles gut werden würde. Aber natürlich war er sich bewusst, wie lächerlich und naiv dieser Wunsch war. Denn er würde sich niemals erfüllen. Dieser Wunsch war einfach zu weltfremd. Und was war überhaupt gut? Was war ein gutes Leben? Das wusste er ja selbst nicht einmal. Er hatte selbst keine Vorstellung davon. Doch wenn diese Welt so hart war und nur die Stärksten überleben konnten, dann gehörte er eben zu denen, die aussortiert werden mussten. An einem Leben, wie es ihn hier erwartete, hatte er keine Freude und kein Interesse. Und doch wagte er es nicht, den endgültigen Schritt zu machen und aus dem Leben zu scheiden. Das kleine bisschen Hoffnung hielt ihn davon ab. Und die Angst. Die Angst davor, dass der Tod ihm nicht die Erlösung bringen würde, die er sich wünschte. Vor allem aber die Angst davor, auch das nicht richtig zu machen, wie so vieles in seinem Leben. Dann würde er in den Augen aller vollends als Versager dastehen. Nicht, dass es noch groß hätte schlimmer werden können.
So hatte er dann doch bis zum heutigen Tag durchgehalten. Allerdings mehr schlecht als Recht, und die Tage, an denen er es bedauerte noch am Leben zu sein, mehrten sich. Wie auch an diesem Morgen. Schon seit einigen Tagen quälten ihn wieder diese Gedanken. Wie ein Schatten, der sich über ihn gelegt hatte und der ihn die Sonnenseite des Lebens nicht mehr sehen ließ. Er wusste nicht einmal den Auslöser dafür. Es war einfach und plötzlich da gewesen. Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und Leere. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Außer es aushalten – oder daran zu Grunde gehen.
Noch immer saß er auf seinem Bett. Aber es fiel ihm sehr schwer, sich zu überwinden, aufzustehen. Sehr viel schwerer als sonst. Es erschien ihm alles so sinnlos. Was spielte es schon für eine Rolle, ob er zum Dienst erschien oder nicht? Wahrscheinlich würde man ihn nicht einmal vermissen, wenn er nicht käme. Es würde wahrscheinlich gar niemandem auffallen. Während er sich schließlich doch aufraffte, schweifte sein Blick zum Wandschrank, in dem sein Jagdmesser lag. Es wäre so einfach, ein beherzter Stoß ins Herz und es wäre vorbei. Aber er verdrängte den Gedanken dann doch wieder. Wenn er nur nicht so ein verdammter Feigling gewesen wäre.
Der Computer machte erneut eine Zeitangabe und Rick stellte fest, dass sein Dienst bereits vor einer halben Stunde begonnen hatte. Aber auch das spielte kaum eine Rolle. Während er sich seinen Uniformpullover überstreifte suchte er bereits nach einer Ausrede für Chefingenieurin Brooks. Doch seine Apathie hinderte ihn daran klar denken zu können, so dass ihm auch nichts einfiel. Er würde ihr wieder etwas vorstottern. Wie so oft.
Mit gerunzelter Stirn saß Elizabeth Williams an ihrem Schreibtisch und starrte die Computerdaten an. Ihr Blick ging aber an den Daten vorbei ins Leere. Sie kannte die Daten ohnehin auswendig. Und nun grübelte sie darüber nach, seit der Computer das Ergebnis ausgespuckt hatte. War sie vom Ergebnis überrascht worden? Sie war sich da selbst nicht ganz sicher. Es war, als hätte sich ihr Verstand geweigert eine klare Erwartung an die Untersuchung zu richten. So wäre vermutlich jedes Ergebnis eine Überraschung gewesen. Doch wie würde es nun weiter gehen, was waren die nächsten Schritte? Natürlich musste sie den Captain informieren. Immerhin ging es um schwere Anschuldigungen, die diese fremde junge Frau gegen ihn erhoben hatte. Mit diesem Untersuchungsergebnis war nun alles klargestellt. Es gab keine Behauptungen mehr, nur noch belegbare Fakten. Die entstandene Unsicherheit war damit beseitigt. Somit musste Sanawey nicht nur informiert werden, weil er der Captain war, sondern vielmehr, da es ihn persönlich betraf. Doch das Ergebnis konnte noch immer nicht alle Fragen beantworten. Natürlich war erst einmal die wichtigste geklärt. Doch gab es noch immer einen ungeklärten Punkt, den sie ebenfalls gerne beantwortet gehabt hätte. Sollte sie hier weitermachen, ohne Sanawey in Kenntnis zu setzten? Würde sie ihn um Erlaubnis bitten, konnte er ablehnen, dann bliebe ihre Neugier ungestillt. Allein der Gedanke war schwer zu ertragen. Wenn sie ihn stattdessen vor vollendete Tatsachen stellte, dann konnte er nichts mehr ändern. Doch hätte sie dann nicht nur ihren Vorgesetzten hintergangen, sondern ihn auch noch persönlich enttäuscht.
Natürlich war ihr sehr wohl klar, was zu tun war. Sie gab sich innerlich einen Ruck und stand auf. Es hatte keinen Sinn es noch weiter hinaus zu zögern. Sie musste es dem Captain sagen. Und eigentlich war es ja auch keine schlechte Nachricht, die sie zu überbringen hatte. Über das interne Kommunikationssystem des Schiffes nahm sie Verbindung zu Captain Sanawey auf und bat ihn auf die Krankenstation zu kommen.
Nur wenige Minuten später stand er in der Tür. Auf keinen Fall wollte er noch mehr Zeit verstreichen lassen, um das Ergebnis zu erfahren. Bedeutete es doch endlich Klarheit zu bekommen. Für ihn war dies derzeit die wichtigste Frage, würde sie doch über die weitere Entwicklung seines Lebens entscheiden. Wobei er sich immer wieder einzureden versuchte, dass es für die Zukunft nichts ändern würde, wenn die junge Frau wirklich seine Tochter wäre. Immerhin war sie erwachsen und selbstständig. Sie würde sich von ihm sicher nicht viel sagen lassen. Erzieherisch war er auf keinen Fall mehr gefordert. Und vermutlich würde sie, wenn die Angelegenheit geklärt war, zu ihrem alten Leben zurückkehren. Was sollte sie auch an Bord bleiben? Sie war keine Angehörige der Sternenflotte. Welche Aufgaben hätte sie da übernehmen sollen? Und mit Sicherheit hatte sie einen Beruf, zu dem sie zurück musste, Freunde, die auf sie warten würden. Seine Aufgabe würde darin bestehen sich ab und zu bei ihr zu melden und nach ihr zu schauen, wenn er auf der Erde war. Wie sonst sollte es sein Leben weiter beeinflussen?
„Doktor“, grüßte er und die Anspannung war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Seine verspannte Mimik sprach Bände. „Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für mich.“
„Nun, das kommt darauf an“, erwiderte Williams zögernd. Sie suchte noch nach den richtigen Worten. Doch ihr kurzes Zögern zerrte nur zusätzlich an Sanaweys Nerven. Daher sagte sie einfach, was ihr gerade in den Sinn kam. „Sie sind Vater geworden.“ Sie grinste schief ob ihrer eigenen Wortwahl und fügte einen „Herzlichen Glückwunsch“ hinzu.
Für einen kurzen Moment schloss Sanawey die Augen und stand einfach reglos da. Er hätte im Nachhinein nicht mehr sagen können, ob es ihn geschockt hatte oder ob es einfach nur die Bestätigung einer für ihn bereits feststehenden Tatsache war. Aber auch wenn er es bereits geahnt hatte, so hatte er doch keine Vorstellung davon, wie es nun weiter gehen sollte.
„Es ist ja nicht unbedingt eine schlechte Nachricht“, sagte Williams leise, da sie das Gefühl hatte, einfach irgendwas sagen zu müssen, um ihn aufzumuntern. „Es ist doch sicher ganz schön Kinder zu haben.“
Sanawey nickte müde. „Ja, sicherlich.“ Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Es war sicherlich nett von ihr, dass sie versuchte ihn aufzumuntern. Aber sie konnte wohl kaum nachvollziehen, was in ihm vorging. Niemand, der eine solche Situation nicht schon erlebt hatte, konnte das.
Wie hatte es nur soweit kommen können, fragte er sich wieder einmal. Wie war er in eine solche Situation geraten? Wo war der Fehler, wann hatte er ihn begangen? Er konnte sich selbst nicht einmal einen Vorwurf machen, da ihm kein Fehler bewusst war. Niemals hatte er eine Freundin, die schwanger geworden war. Ihm war schlicht und einfach rätselhaft, wie das passieren konnte. Und für einen kurzen Moment kam ihm sogar der Gedanke, dass man hier ein übles Spiel mit ihm trieb und ihm etwas anhängen wollte. Was natürlich jeder Grundlage entbehrte, denn wie hätte der DNA-Test manipuliert werden können? Aber anscheinend suchte das Gehirn sofort nach allen möglichen Erklärungen, wenn es mit einer Information konfrontiert wurde, die es nicht wahr haben wollte.
„Ich werde mit ihr reden müssen“, sagte Sanawey schließlich, einfach auch um Ordnung in sein Gedankenwirrarr zu bekommen. Nun galt es einen kühlen Kopf zu bewahren. Es nutzte nichts, nun völlig konfus zu werden. Zuerst einmal musste er sich mit den nächsten Schritten beschäftigen. Mit einem nach dem anderen. Dann würde sich alles weitere von selbst ergeben. Sich auszumalen, wie es weitergehen würde, machte keinen Sinn, denn zu wenig von dem Kommenden lag in seiner Hand.
„Das sollten Sie“, bestätigte Williams. „Und nur Mut“, fügte sie hinzu, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. „Sie ist im Prinzip ein nettes Mädchen. Ziemlich wütend, zugegeben. Aber trotzdem nett. Lassen Sie ihr ein wenig Zeit. Und geben Sie ihr eine Chance.“
Sanawey verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Nach unserem ersten Zusammentreffen hoffe ich eigentlich mehr, dass ich eine Chance haben werde.“ Zu deutlich war ihm noch die Begegnung bewusst, als sie verbal auf ihn losgegangen war und er so baff war, dass er nicht recht wusste, wie ihm geschah. Natürlich würde es dieses Mal anders laufen. Dieses Mal hatte er wenigstens eine ungefähre Vorstellung von dem, was auf ihn zukam. Der Überraschungseffekt auf ihrer Seite war nicht mehr vorhanden.
„Da kann ich nicht ganz wiedersprechen.“ Williams musste lächeln, auch wenn die ganze Situation alles andere als lustig war.
Auch über Sanaweys Lippen glitt ein leichtes Lächeln. Dann wurde er aber wieder ernst. „Ich weiß gar nichts über sie. Ich weiß nicht wer ihre Mutter ist, ich weiß nicht, wie sie aufgewachsen ist. Ich weiß noch nicht einmal ihren Namen.“ Er ließ seinem Frust freien Lauf.
Williams sah ihn mitfühlend an. „Wenigstens bei dem Namen kann ich helfen. Sie heißt Karja. Sie hat zwar auch einen Nachnamen, aber den wollte sie mir nicht nennen.“
„Vermutlich hätte er einen Hinweis auf ihre Mutter gegeben“, spekulierte Sanawey.
„Möglich“, nickte Williams langsam. Ihr fiel ein, dass Karja erwähnt hatte, ihr Nachname würde sie an ihre Mutter erinnern. „Und was den Rest angeht, da haben Sie wenigstens genug Gesprächsstoff, wenn Sie dies alles von ihr selbst erfahren wollen.“ Sie machte eine kurze Pause. Es gab da noch einen Punkt, zu dem sie seine Erlaubnis einholen wollte. „Sir, es gibt da noch eine Frage, die ich gerne noch klären würde. Zumindest soweit mir das möglich ist.“
Sanawey sah sie erwartungsvoll an und gab ihr mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass sie weitersprechen sollte.
„Wie Sie selbst sagten, wissen wir noch nicht wer ihre Mutter ist. Ich habe gehofft, das mittels DNA-Analyse herauszufinden. Allerdings müsste ich dazu Karjas DNA an das Medical-Center auf der Erde schicken. Dort liegen Millionen DNA-Daten, nicht nur die der Sternenflotte. Viele Staatsangestellte, Politiker, führende Wirtschaftskräfte und Wissenschaftler sind dort verzeichnet. Auch die meisten Siedler, die in den ersten Jahren einer Koloniegründung dorthin auswandern. Es gibt eine kleine Chance dort fündig zu werden. Zumindest eine knapp vierzig Prozentige. Aber das ist besser als nichts.“
Nachdenklich sah Sanawey sie an. Damit würde sich die Nachricht über seine Vaterschaft sofort auch im Hauptquartier verbreiten. Eine Geheimhaltung war damit nicht mehr möglich. Was er allerdings sowieso nicht beabsichtigt hatte. Nein, Karja war seine Tochter, dann würde er dazu stehen, auch wenn es vielleicht niemals harmonisch zwischen ihnen laufen würde. Und diese Anfrage würde vielleicht Gewissheit zur Frage nach ihrer Mutter geben. Zwar hatte er einen Verdacht, aber trotzdem passte es irgendwie nicht zusammen. Und er brauchte eine Bestätigung. „Natürlich“, nickte er schließlich. „Stellen Sie die Anfrage.“
„Danke“, nickte Williams. Nun konnte sie ihre Neugier vielleicht doch noch stillen. Obwohl das natürlich nicht ihr Hauptbeweggrund war. Zumindest würde sie das nie zugeben.
„Ich werden dann mal zu meiner Tochter gehen“, sagte Sanawey und eigentlich auch mehr zu sich selbst.
„Viel Glück“, gab Williams ihm noch mit auf dem Weg. Ob er ihre Worte noch wahrgenommen hatte konnte sie nicht sagen. Er schien bereits zu sehr in Gedanken zu sein.
Die Tür an Karjas Quartier öffnete sich, nur kurz nachdem er den Türsummer betätigt hatte. Seitwärts glitt sie zur Seite, so dass sie keinen Bogen beschreiben musste, sondern einfach in der Wand verschwand. Auf die Weise konnte Karja direkt hinter der Tür stehen und den Besucher mit der unmittelbaren Nähe für einen Moment aus der Fassung bringen. Und als sie sah, wer vor ihr stand, war ihr es auch nicht arg, dass sie so gehandelt hatte.
Captain Sanawey stand vor ihr und zuckte unwillkürlich ein wenig zurück. Ihre Feindseligkeit, die sich in ihr Gesicht gebrannt zu haben schien, traf ihn hart. Für einige Augenblicke musste er sich sammeln. So sahen sie sich erst einmal wortlos an.
„Hallo Karja“, begann Sanawey schließlich. Er war etwas unsicher, was er ihr sagen sollte. Da gab es so viel, über das sie unbedingt reden mussten. So vieles aus der Vergangenheit, das sie aufarbeiten mussten. Doch er fand auf einmal keine Worte mehr. Auf dem Weg zu ihr hatte er sich jeden Satz in Gedanken zurechtgelegt. Doch nun war alles fort. Von ihrer Ablehnung und ihrem Zorn wie hinweggefegt.
„Hallo“, kam die schlichte, kalte Antwort. Sie blickte ihn hasserfüllt an. „Sie haben es also bereits erfahren?“ stellte sie kühl fest.
„Ja“, nickte Sanawey langsam. „Dr. Williams hat es mir vor wenigen Minuten berichtet.“
„Das dachte ich mir schon. Warum sollten Sie sonst hier sein und mit mir reden wollen. Sie hatten ja seit meiner Ankunft kein Interesse an mir gezeigt. Erst jetzt, da Sie dazu gezwungen sind.“ Sie steigerte sich bereits wieder in ihre Wut hinein, wobei ihre Stimme langsam lauter wurde.
Sanawey erkannte, dass sie Recht hatte. Und er einen gewaltigen Fehler begangen hatte. Nicht den ersten, der lag schon Jahre zurück, aber einen, den er hätte vermeiden können. Natürlich hatte sie ihn mit ihrer Behauptung, seine Tochter zu sein, überrascht und auch überfordert. Doch war das absolut keine Entschuldigung dafür, dass er sie nicht weiter beachtet hatte. Zumal er das Ergebnis des DNA-Testes ja bereits zu kennen befürchtet hatte. Und nun hatte er die Bestätigung erhalten und fragte sich, warum er nicht schon vorher mit ihr geredet hatte. Dann wären sie nun einen Schritt weiter. Und selbst wenn sie nicht seine Tochter gewesen wäre hätte er sich ja um sie kümmern müssen. Denn auch dann hätte ihr Handeln einen Grund gehabt, denn es zu ergründen gegolten hätte. Und so oder so, er hätte sie ja auch nicht einfach irgendwo absetzten können, ohne sich um ihr weiteres Schicksal Gedanken zu machen.
„Darf ich reinkommen?“ fragte er schließlich und sah sie offen an.
Einen Moment schien sie mit sich zu ringen, sich tatsächlich zu fragen, ob sie das zulassen sollte. Oder ob sie ihn nicht auf dem Gang abfertigen sollte. Doch schließlich gab sie nach und trat einen Schritt zur Seite.
Langsam betrat Sanawey das Quartier. Es war ein Standardgästequartier. Zwei Räume, einer mit einem Bett, einem Schrank und genug Platz für einen Stuhl, der andere mit einem kleinen Sofa, einem dazu passenden Tisch und ebenfalls einem Schrank. Das Quartier hatte aber keine Fenster. Doch war es bei weitem ausreichend um Gästen für einige Tage eine angenehme Unterkunft zu bieten. Auch die Gästequartiere für Admiräle und Diplomaten waren nicht wesentlich größer und komfortabler.
Da Karja sich nicht für längere Zeit eingerichtet hatte, wirkte das Quartier seltsam unbewohnt. Ihre Sachen hatte sie nicht einmal aus ihrer Tasche ausgeräumt. Nirgends lagen persönliche Dinge von ihr. Kein Buch, kein Datenpad, kein Schmuck. Nicht einmal Klamotten waren zu sehen. Nur die Reisetasche, die verschlossen neben dem Bett stand.
Karja zeigte auf das Sofa und deutete Sanawey an, sich zu setzen. Der Indianer kam dieser Aufforderung nach, froh darüber, keine Möglichkeit mehr zu haben, verlegen von einem Bein auf das andere zu wippen. Sie setzte sich auf einen Stuhl und rutsche dabei noch ein wenig von dem Sofa und ihrem Vater weg. Auf keinen Fall wollte sie ihm zu nahe sein. Schweigend saßen sie sich gegenüber. Während Sanawey sich noch kurz sammelte und seine Worte genau überlegte, sah Karja ihn kalt und durchdringend an. Und selbst dieser kurze Moment des Schweigens legte sich wie eine bleierne Schwere auf ihn und schien sich zu einer Ewigkeit ziehen zu wollen.
„Karja“, begann er schließlich, da ihm nichts besseres einfiel. „Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich bin von der Situation ziemlich überrascht und…“
„Überrascht?“ unterbrach sie ihn. Zu ihrem Zorn mischte sich Hohn in ihre Stimme. „Sie sind überrascht? Darüber, dass ich Sie gefunden habe? Dachten Sie etwa, Sie würden einfach so davon kommen? Irgendwann holen einen alle Taten ein“, funkelte sie ihn böse an.
Verwirrt sah er sie an. Worauf wollte sie hinaus? Auf was spielte sie an? „Ich weiß nicht, was du meinst“, gestand er. „Ich bin überrascht darüber, dass ich eine Tochter habe. Ich weiß nicht wie…“
„Lügner“, schrie sie ihn an. „Natürlich haben Sie von mir gewusst. Sie wollten es nur vergessen.“
Sanawey sog scharf die Luft ein. Das war ein harter Vorwurf. Und ihr Tonfall fing an ihn etwas zu reizen. Trotzdem musste er sich alle Mühe geben ruhig zu bleiben. Zurück zu schreien würde die Situation nicht besser machen. „Ich versichere dir, ich wusste nichts von dir. Ich weiß nicht einmal wann das passiert sein soll und wer deine Mutter ist.“
„Das glaube ich Ihnen sogar. Dass Sie nicht wissen wer meine Mutter ist. Wie sollten Sie sich auch an all die Frauen erinnern, mit denen Sie sich vergnügt hatten“, zischte sie. „Da kann man sich nun mal nicht mehr an alle erinnern.“
Erstaunt sah Sanawey sie an. Was meinte sie mit ihrer Bemerkung? Sie kannte ihn doch gar nicht. Woher wollte sie sein Liebesleben beurteilen können? Irgendjemand musste ihr falsche Informationen gegeben haben. Es gab sonst keine Erklärung für ihr distanziertes Verhalten. Jemand hatte sie aufgehetzt. „Alle Frauen mit denen ich mich vergnügt hatte?“ wiederholte er langsam. „Insgesamt hatte ich drei Beziehungen und kann mich an jede einzelne erinnern.“
„Ich dachte Lügnern schneidet man bei Ihrem Stamm die Zunge heraus“, zischte Karja. „Aber offenbar wird dieses Ritual nicht mehr angewandt. Wie bedauerlich.“
„Deine Mutter war Janet Romain?“ sagte Sanawey und hoffte, dass sie seine Unsicherheit nicht heraushörte. Zwar konnte es aufgrund ihres Alters nicht anders sein, aber man konnte ja nie wissen.
Jetzt war es Karja, die für einen Moment ihre Fassung verlor. Damit hatte sie nicht gerechnet. Schließlich hatte sie immer geglaubt, er hätte die Erinnerungen an sie und ihre Mutter so weit verdrängt, dass er sich tatsächlich nicht mehr erinnern würde. Aber dass ihm die Erinnerung nun doch wieder kam, bestätigte doch nur seine Schuld. Mit dieser Erkenntnis verfinsterte sich ihr Blick sofort wieder. „Natürlich können Sie sich erinnern. Wie konnte ich nur glauben, Sie wüssten es nicht mehr. Sie haben uns schließlich im Stich gelassen, als Sie von der Schwangerschaft meiner Mutter erfahren hatten“, fauchte sie mit blitzenden Augen.
Sanawey blinzelte erstaunt. Das Ganze nahm allmählich immer groteskere Formen an. Woher hatte diese fremde Frau so falsche Informationen? Woher hatte sie überhaupt so viele Informationen? Nein, nicht die fremde Frau, seine Tochter, musste er sich gedanklich korrigieren. „Ich habe sie verlassen?“ wiederholte er verwirrt und schockiert.
„Haben Sie das etwa auch schon vergessen?“ spottete sie mit einem gefährlichen Unterton in ihrer Stimme.
„Hat deine Mutter dir das erzählt?“ stellte er ihr eine Gegenfrage, ohne auf ihre einzugehen.
Sie schien einen Moment zu zögern. Wollte sie ihm die Information nicht geben? Oder war sie sauer, dass er auf ihre Vorwürfe nicht eingegangen war. „Nein“, sagte sie schließlich deutlich. „Zuerst war ich noch zu klein für solche Gespräche mit meiner Mutter. Und später haben wir nicht mehr miteinander geredet. Ich habe es von meiner Tante erfahren.“
Mit einer eindeutigen Geste verdrehte Sanawey die Augen. Ausgerechnet Janets Schwester. Sie hatte Sanawey schon immer gehasst. Besser gesagt, sie hatte ihn ihrer Schwester nicht gegönnt und war immer neidisch gewesen, da sie nie Glück mit Männern gehabt hatte. Und sie konnte es nicht ertragen, ihre Schwester so glücklich zu sehen. Offenbar hatte sie diese Gefühle nie verloren, wenn sie ihrer Nichte solche Dinge erzählte. „Es stimmt nicht ganz, was du über mich weißt“, versuchte er ihr beschwichtigend zu erklären. „Ich habe deine Mutter nicht verlassen. Genaugenommen war es umgekehrt.“ Es klang irgendwie ziemlich naiv.
„Wie bitte?“ fuhr sie auf. „Sie haben nicht nur zu wenig Ehrgefühl, um Ihre Schande zuzugeben, Sie bezichtigen meine Mutter sogar einer solchen Tat?“ Für Karja war das unfassbar. Dieser Mann, der ihr Vater war, schob die Schuld auf andere. Eine schwerwiegende Schande, die ihn in ihren Augen nur noch ehrloser machte.
„Ich sage nur die Wahrheit“, erwiderte er, kam sich aber sofort etwas lächerlich vor. Das war die blödeste Antwort, die er geben konnte. Sie schien das auch so zu sehen.
„Lügner“, schrie sie nun. Es war nur gut, dass die Wände kaum Geräusche nach draußen ließen. „Sie haben meine Mutter einfach sitzenlassen. Sie haben sich nie um sie gekümmert. Sie sind einfach verschwunden. Und das...“
„Es war wirklich nicht so“, unterbrach Sanawey sie. Ihre ständigen Vorwürfe, die jeglicher Grundlage entbehrten, zehrten an seinen Nerven. Er musste sie unbedingt von diesen Lügen abbringen.
Karja spuckte vor ihm zu Boden. „Feigling.“
„Wenn du mich so sehr hasst, weshalb bist du dann an Bord gekommen?“ Sanawey merkte, wie er langsam selber wütend wurde. Und er wusste nicht einmal genau weshalb. Aber er konnte nichts dagegen unternehmen. All das kostete ihn Nerven und ließ ihn langsam wütend werden. Ihre vorwurfsvolle und zornige Art. Ihr Geschrei und ihre Verbitterung. Natürlich hatte er Verständnis dafür, aber wie sollte er mit ihr reden, wenn sie jeden Versuch, etwas zu erklären, abblockte? Wenn sie ihm nicht einmal zuhörte. Nicht versuchte seine Sicht der Dinge zu verstehen. Oder wenigstens anzuhören. Warum war sie dann hier? Und verdammt, wieso hatte Janet ihm nie davon erzählt, dass sie eine gemeinsame Tochter hatten? Wieso hatte sie das verheimlicht? Es wäre doch so einfach gewesen, sich bei ihm zu melden und ihm das zu sagen. Ein paar Worte hätten dafür ausgereicht. Mehr hätte sie mit ihm doch gar nicht reden müssen, wenn sie das nicht gewollt hätte. Nur, warum hatte sie das nie getan? Was hat es dafür für Gründe gegeben? Das war genauso rätselhaft wie ihr plötzliches Verschwinden damals.
Karja zögerte. Es war ihr etwas peinlich, ihre Beweggründe nun zugeben zu müssen „Ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas über den Aufenthaltsort meiner Mutter sagen“, gestand sie schließlich mit gepresster Stimme ein. Offenbar war es ihr Unangenehm zugeben zu müssen, dass sie nicht einmal wusste wo ihre Mutter war und nun ausgerechnet auf seine Hilfe hoffte.
Sanawey stand langsam auf und ging zwei Schritte auf und ab. Argwöhnisch sah sie ihm hinterher, als erwarte sie, er überlege sich neue Lügen. Dann blieb er wieder stehen. Er sah ihr direkt in die Augen. Erwartungsvoll blickte sie zu ihm auf und für einen Moment war ihr Zorn verschwunden. Ihm fiel auf, wie schön sie war. So schön, dass er sich fragte, wie sie seine Tochter sein konnte. „Du siehst aus wie deine Mutter“, sagte er abwesend.
Die Bemerkung schien ihr nicht zu gefallen, denn ihre Augen verengten sich und das zornige Funkeln kam wieder zurück. „Ich glaube kaum, dass Sie sich an sie erinnern können“, blaffte sie. „Und natürlich wissen Sie nicht, wo sie ist. Wie konnte ich auch nur für eine Sekunde glauben, Sie wüssten das.“
Sanawey seufzte. Er hatte eine Tochter, musste er sich immer wieder sagen, er konnte es einfach nicht glauben. Hieß es nicht, dass der Moment, in dem man sein Kind das erste Mal sah, der glücklichste Moment des Lebens sei? Zumindest normalerweise. Sein Kind war allerdings schon knapp zwanzig, zornig und hasste ihn. Er würde wohl nie ein normales Verhältnis zu ihr haben, das war ihm jetzt schon klar. Und wahrscheinlich würde er sie auch nie wieder sehen, wenn sie erst einmal wieder von Bord gegangen war. Wie würde er in Zukunft damit leben können? Mit dem Wissen, eine Tochter zu haben, aber niemals an ihren Leben teilhaben zu können. Der Gedanke war befremdender als er noch vor wenigen Tagen gedacht hätte. Ein Gedanke, der ihn äußerst traurig stimmte und einen Schmerz in ihm hinterließ wie er ihn noch nie gespürt hatte.
„Nein, ich weiß nicht, wo sie sich aufhält“, gab er zu. „Aber ich werde alles mir möglich tun, um es herauszufinden.“ Und wenn er es schaffen sollte sie aufzuspüren, dann würde er ihr einige Fragen stellen müssen. Und nicht aufgeben, bis er die Antworten darauf hatte.
Karja stand auf und machte einen schnellen Schritt zur Tür. Diese öffnete sich und die junge Frau blieb daneben stehen und sah ihn auffordernd an. Deutlicher konnte man jemanden nicht hinauswerfen. „Bemühen Sie sich nicht“, sagte sie noch eisig. „Ich werde das schon alleine schaffen. Und jetzt verschwinden Sie.“
„Karja, wir sollten…“ begann Sanawey noch, aber mit einer knappen Geste brachte sie ihn zum Schweigen. Schließlich sah er ein, dass er hier jetzt nichts mehr erreichen konnte. Mit gerunzelter Stirn und einem flauen Gefühl im Magen verließ er das Quartier. Er konnte sich noch nicht einmal mehr zu ihr umdrehen, so enttäuscht war er von diesem Treffen.
In der Dunkelheit eines spärlich eingerichteten Quartiers brannte eine einzelne Kerze auf einem niedrigen Tisch. Sie wirkte zwar hell inmitten der dunklen Umgebung, doch ihr Licht reichte kaum bis an die Wände des Raumes. Ihr äußerst seltenes Flackern ließ die Schatten an der Wand tanzen. Doch zumeist brannte sie ruhig und gleichmäßig. Sie war das Produkt einer Jahrtausende alten, immer weiter perfektionierten Fertigung, mit dem Ziel, eine vollkommene Kerze zu erschaffen. Mit einem vollkommenen und ruhigen Licht, dessen ruhiges Feuer sich auf den Betrachter übertragen sollte. Dennoch war sie zur Beleuchtung ungeeignet. Da das aber auch nicht ihr Zweck war, spielte das keine Rolle.
Vor der Kerze saß aufrecht ein Mann mit geschlossenen Augen und entspannten Gesichtszügen. Er saß im Schneidersitz und hatte seinen Rücken in perfekter, gerader Linie. Die Hände lagen in seinem Schoß, die Fingerspitzen sanft aneinander gelegt.
Der Mann meditierte. Und das bereits seit einer Stunde. So lange saß er schon hier, ohne auch nur die kleinste Bewegung getan zu haben. Kein Muskel hatte sich bewegt, noch nicht einmal eine Zuckung im Gesicht. Wer ihn länger beobachtet hätte, musste zu dem Schluss kommen, es mit einer Puppe zu tun zu haben. Aber genau das gehörte zur Meditation, bei der es darum ging, die Disziplin zu schärfen und das innere Gleichgewicht zu erhalten. Zudem diente es dazu, die eigenen Gefühle zu analysieren und wieder der Kontrolle der Logik zu unterwerfen. Es erforderte eine Ausdauer, die Menschen nur äußerst selten aufbringen konnten. Sohral hatte sie jedoch seit klein auf erlernt. Es gehörte zu der Ausbildung eines jeden Vulkaniers. Bereits von klein auf wurden die Vulkanier in der Kontrolle der Emotionen und der Aufrechterhaltung der Disziplin gelehrt. Es erforderte jahrelanges Training, bis die legendäre Ruhe der Vulkanier erlernt war. Und doch schaffte es jeder Vulkanier. Denn in der Ruhe und der Logik, lag die Kraft, schneller reagieren zu können, mehr zu leisten und damit stetig besser zu werden. Ein disziplinierter Geist war in der Lage mehrere Dinge auf einmal erledigen zu können. Oder sich mehr Wissen anzueignen. Und das verschaffte einen Vorteil gegenüber anderen. Es gab kein anderes Volk in der bekannten Galaxis, das einen strukturierteren Geist hatte als die Vulkanier. Sie konnten jede Situation mit der Präzision eines Computers analysieren. Ihre Entscheidungen basierten auf logischen Grundlagen und wurden nicht von Gefühlen geleitet. Hass oder Wut waren ihnen fremd, ebenso wie Eifersucht oder Neid. Auch Habgier oder all die anderen negativen Emotionen konnten sie nicht dazu bringen, etwas Falsches oder moralisch Verwerfliches zu tun. Allerdings fehlte ihnen auch die Vorstellung von Liebe oder Freude. Das war der Preis, den sie für ihre Disziplin zahlen mussten. Denn die Kontrolle der Emotionen war allumfassend. Es war nicht möglich sich einzelne Gefühle herauszusuchen, die man nicht mehr empfinden wollte. Das funktionierte nicht. Entweder man entsagte allen Gefühlen oder keinen.
Die Vulkanier empfanden das jedoch nicht als Nachteil. Denn auch so ein positives Gefühl wie die Liebe beeinträchtigte die Entscheidungsfähigkeit. Es hieß bei den Menschen nicht umsonst, dass Liebe blind machte. Das Gefühl konnte wie ein Rausch sein. In ihrem Einfluss tat man Dinge, die ein nüchterner Geist niemals machen würde. Zudem konnte auch aus Liebe etwas Schlechtes entstehen. Aus Liebe konnte Eifersucht erwachsen. Aus Eifersucht womöglich eine Ablehnung anderen gegenüber, die Ausgrenzung von Mitmenschen und im schlimmsten Fall sogar Wut und Hass. Für die Vulkanier gab es daher keine guten und schlechten Gefühle. In ihren Augen gefährdete jedes Gefühl die Disziplin des Geistes, den inneren Frieden und damit die geistige und körperliche Gesundheit. Allein die Logik konnte eine innere Ruhe bringen, wie es Menschen oder andere Völker nur selten erfahren konnten.
Auch Sohral hatte als Kind die Disziplin erlernt. Und schätzen gelernt. Sie brachte Ordnung in ein Chaos, das in jedem empfindungsfähigen Lebewesen herrschte. Und durch die Logik und Disziplin, war er in der Lage, mehr zu sein als nur ein Lebewesen, das von seinen Gefühlen und Instinkten getrieben wurde, vergleichbar mit einem Tier, das auch nur seinen inneren Trieben folgte.
Natürlich verbot die Logik es, andere Lebensformen als weniger wertvoll zu betrachten oder gar Tieren gleich zu setzten, nur weil sie ihre Gefühle auslebten. Denn das wäre eine Form von Hochmut und Arroganz gewesen. Ebenfalls gefühlsbasierte Regungen, deren sie nicht fähig waren. Nein, sie sahen andere Spezies, wie etwa die Menschen, einfach als noch nicht so weit entwickelt an. Diese Spezies waren wie Kinder und noch auf dem Weg in ihrer Entwicklung. Sie waren vielleicht noch etwas primitiv und naiv, aber deswegen nicht weniger wert.
Für Sohral war die tägliche Meditation besonders wichtig. Da er hier an Bord nur unter emotionalen Lebewesen lebte, von zwei weiteren Vulkaniern abgesehen, musste er seine Disziplin besonders gut im Griff haben. Zum einen, weil das von ihm erwartet wurde. Zum anderen aber auch, weil er täglich einem Ansturm fremder Gefühle ausgesetzt war, die es so auf seinem Heimatplaneten nicht gab. Dort war er unter seinesgleichen gewesen. Ein fruchtbarer Austausch zwischen logischen und geistig klaren Wesen. Aber hier an Bord, da wurde gelacht, geliebt, geweint, getobt. Er wurde mit Trauer und Schmerz konfrontiert und mit Freude und Ausgelassenheit. All das Chaos, das Gefühle hinterließen, gab es hier an Bord und begegnete ihm überall. Es konnte dabei durchaus sein, dass ein Gegenüber im einen Moment noch hocherfreut, im nächsten aber schon wieder betrübt, zornig oder verzweifelt war. Und die zusätzlich noch mangelnde Disziplin der anderen war anstrengend und ermüdend. Es brauchte einen starken Geist, um all das an sich abprallen zu lassen und nur die tatsächliche Quintessenz der Aussagen und Taten der Personen herauszufiltern. Die Meditation half ihm dabei. Sie stellte die innere Ruhe wieder her und löschte jegliche Emotionen, die eventuell doch an ihm haften geblieben waren. Zudem war die dabei entstehende Ruhe fast so erholsam wie Schlaf. Von diesem brauchte er dann weniger, was ihm wiederum mehr Zeit ließ, seiner Arbeit und seinen Aufgaben nachzugehen. Das war logisch, im Gegensatz zu Müßiggang und sinnlos vergeudeter Freizeit.
Langsam schlug er die Augen auf. Er war aus seiner meditativen Abwesenheit zurückgekehrt. Die innere Ausgeglichenheit war wieder erneuert. Er war bereit sich erneut den Herausforderungen mit den Kollegen zu stellen. „Licht“, befahl er dem Computer, der sofort die Beleuchtung des Quartieres aktivierte. Bevor er aufstand beugte er sich noch leicht nach vorne und blies sanft die Kerze aus.
Mit leuchtenden Augen stand Sanawey vor dem Kommandosessel und sah bewundernd auf den Bildschirm. Wie der Rest der Brückencrew es auch tat. Dort drehte sich ein Planet, der es von seiner Schönheit beinahe mit der Erde aufnehmen konnte. Auch er strahlte wie ein Edelstein in der Dunkelheit des Alls. Die Farbe schien aber irgendwie zwischen blau und grün zu verschwimmen. Weiße Flecken, wie Puderzucker aufgestreut, zogen ihre Bahnen um ihn. Ein Ort des Lebens im sonst so lebensfeindlichen Weltraum.
Je näher sie dem Planeten kamen, desto mehr Details wurden sichtbar. So verlor er nach und nach den blauen Anteil im Farbbild. Diesen schien er mehr der Atmosphäre zu verdanken als großen Wassermassen. Denn die Planetenoberfläche bestand fast nur aus Land, gleichmäßig verteilt über den gesamten Planeten und durchzogen von vielen Wasserlinien und Seen. Ozeane schien es hier nicht zu geben. Auch waren keine größeren Gebirge zu erkennen, keine aufgefalteten Landmassen. Dafür aber eine nahezu deckend grüne Färbung des Landes. Nicht ein Winkel Land schien davon frei zu sein. Überall hatte das Leben Fuß gefasst. Pflanzliches Leben, wie die ersten Erkundungen der USS Mandela ergeben hatten. Der Planet hatte eine reiche Vegetation, vor allem bestehend aus weiten Graslandschaften und dichten Wäldern. Da der Planet eine senkrechte Achse im Verhältnis zur Sonne hatte, gab es keine Jahreszeiten. Die Temperaturen in den einzelnen Regionen schwankten kaum und somit hatte das Leben die Gelegenheit erhalten sich ohne große Herausforderungen entwickeln zu können. Das Wassersystem aus Flüssen und Seen trug sein Übriges dazu bei, denn es hatte sich nahezu perfekt um den Planeten gelegt. Es gab keinen Winkel, der nicht erreicht wurde, sei es durch einen Fluss oder durch Regen. So stand zur Versorgung genug Wasser zur Verfügung, um den gesamten Planeten begrünen zu können. Trotzdem hatte sich nur pflanzliches Leben entwickelt, wie die ersten Testergebnisse belegt hatten. Die Temperaturen waren auf dem gesamten Planeten so hoch, dass es keine Eisbildung an den Polen geben konnte. Das gesamte Wasser des Planeten stand dem Kreislauf zur Verfügung.
Wenn sie nahe genug herangekommen waren, würden sie in eine Umlaufbahn einschwenken, die sie so um den Planeten trug, dass sie mit der Zeit jede Seite zu sehen bekommen würden.
Während die Crew noch immer gebannt den Planeten ansah und nur hin und wieder einen Blick auf die Instrumente warf, hatte Sohral sich bereits wieder voll und ganz seinem Terminal zugewandt. Er führte mit den Fernsensoren die ersten Analysen durch und betrachtete den Planeten rein aus wissenschaftlicher Neugier. Das Staunen und die Bewunderung, die seine menschlichen Kollegen erfasste, waren ihm absolut fremd. Das waren Gefühle, die sein Volk erfolgreich kontrollierte und verbannte. Der Meinung seines Volkes nach lenkten solche Gefühle nur ab und schmälerten die Effizienz und die Leistungsfähigkeit. Allein die Logik konnte den Verstand eines Individuums zur vollen Entfaltung bringen. Und Sohral konnte dies anhand seiner eigenen Beobachtungen nur bestätigen. Die anderen Völker, allen voran die Menschen, verbrauchten viel zu viel Energie und Zeit um sich mit ihren Gefühlen und deren Folgen auseinander zu setzten. Zeit, die sie für Wesentlicheres hätten verwenden können. Es war erstaunlich, dass sie ihr technisches Verständnis soweit hatten bringen können, um zu den Sternen zu reisen. Dass sie nicht vorher in den Verstrickungen ihrer Gefühle untergegangen waren.
Sohral merkte, wie sich Schritte näherten und jemand neben ihn trat. Und in der Art und Weise, wie diese Person sich bewegte, erkannte er darin den Captain. Er ließ sich jedoch nicht davon beirren und führte seine begonnene Analyse erst zu Ende bevor er aufsah und dem Captain zu verstehen gab, dass er nun bereit war ihm zuzuhören.
„Mr. Sohral, wir haben noch genug Zeit zu forschen. Genießen Sie den Augenblick. Wir haben einen wunderschönen Planeten erreicht, der einen Moments des Innehaltens würdig ist“, sagte Sanawey direkt heraus.
Sohral zog seine rechte Augenbraue nach oben. Die Argumente des Captains waren unlogisch und fadenscheinig. Sie waren menschlich. Etwas, dass er nach dem langen Umgang mit Menschen bereits kannte. An das er sich jedoch niemals würde gewöhnen können. „Es ist ein Planet der Klasse M, in der Lage, Leben wie es uns bekannt ist, zu tragen“, erwiderte Sohral sachlich. „Im Verhältnis zu der Anzahl unbewohnbarer Planeten mag dies eine Ausnahme sein, es gibt jedoch allein im Gebiet der Föderation 1458 weitere Planeten der Klasse M. Dieser hier bietet nach den ersten Analysen keine Besonderheit, die ihn von anderen, vergleichbaren Planeten abheben würde. Und was die Zeit des Erforschens angeht: Um wirklich alles zu erforschen reicht die Zeit ohnehin nicht. Wir haben also nichts davon zu vergeuden.“ Er machte eine kurze Pause, fuhr aber fort, bevor Sanawey etwas sagen konnte. „Im Übrigen ist wunderschön verschieden definierbar. Für mich hat er zu wenig rot in seinem Erscheinungsbild.“
Sanawey musste lächeln. Es war eine typische Antwort Sohrals. Sachlich und präzise hatte er die Situation analysiert. Ohne jede Spur eines Gefühls. Nichts anderes hatte er vom Vulkanier erwartet. Und eigentlich hatte er ihn mit der Aufforderung zum Genießen ohnehin nur ein wenig foppen wollen.
Dass Sohral eine rote Färbung eines Planeten ansprechender fand lag daran, dass Vulkan, der Heimatplanet seiner Spezies, ein heißer und trockener Ort war. Es gab auf dem ganzen Planeten nur wenig Wasser, das zumeist auch nur unter der Oberfläche zu finden war. So war auch die Vegetation nur spärlich und karg. Das Ganze gab dem Planeten aus dem All betrachtet einen rötlich-beigen Schimmer, gezeichnet von der meist aus Wüsten bestehenden Oberfläche, die vom großen und grell leuchtenden Zentralgestirn zusätzlich noch rötlich angestrahlt wurde.
„Na schön, Mr. Sohral. Was haben Ihre ersten Analysen denn ergeben?“ wollte Sanawey wissen und wurde wieder ernst. Denn natürlich hatte Sohral Recht. Sie waren nicht zum Vergnügen hier, sondern hatten einen Auftrag auszuführen.
„Der Planet ist etwas kleiner als die Erde und dreht sich innerhalb von 22 Stunden einmal um sich selbst. Die Planetenkruste weist keine tektonischen Bewegungen auf. Zwar können die Sensoren im Planetenkern Temperaturen von bis zu 3.000 Grad Celsius messen, was auf ein flüssiges Planeteninneres schließen lässt, der Mantel ist davon aber nicht betroffen. Die innere Aktivität des Planeten ist nicht so hoch wie es bei vergleichbaren Planeten der Fall ist. Während der Erdmantel bis zu 410 Kilometer dick ist, hat der Mantel dieses Planeten eine Dicke bis zu 1.000 Kilometern. Ein Unterschied zwischen Mantel und Kruste ist nicht auszumachen.
Das Fehlen tektonischer Aktivität erklärt die Planetenoberfläche. Ohne das Kollidieren von Landmassen kann sich das Gelände nicht auffalten. Folglich können keine Berge oder Gebirge entstehen. Auch größere Ozeane entstehen in der Regel durch die Verschiebung von Landmassen. Trotz allem hat sich, wie wir sehen können, ein Klimasystem entwickelt, das Leben ermöglicht und hervorgebracht hat.
Die Klimazonen reichen von tropisch am Äquator bis zu gemäßigt an den Polen. Jahreszeiten gibt es aufgrund der senkrechten Planetenachse nicht. Und wie die Mandela
bereits in ihrem Bericht gemeldet hat, gibt es keine größeren tierischen Lebensformen.“
„Vielen Dank“, nickte Sanawey, nachdem Sohral nicht mehr weitersprach. „Die Aufgaben für die nächsten Wochen sind ja bereits festgelegt. Bitte weisen Sie die Wissenschaftler entsprechend ein und stimmen sich mit ihnen ab“, sagte er noch zum Wissenschaftsoffizier, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwandte, um noch ein wenig den Anblick des Planeten zu genießen. Dieser füllte inzwischen den ganzen Bildschirm aus. In wenigen Augenblicken würden sie in eine Umlaufbahn einschwenken, die sie voraussichtlich auch erst in einem halben Jahr wieder verlassen würden.
So vergingen noch ein paar Minuten schweigend, bis Reed meldete, dass sie sich im Orbit um den Planeten befanden. Die eigentliche Forschungsmission hatte nun begonnen.
Der Türsummer gab Sanawey das Zeichen, dass jemand vor seinem Quartier stand und zu ihm hereinkommen wollte. Eigentlich war ihm nicht besonders nach einem Besucher. Er lag auf der Couch, die Beine hochgelegt und war ganz in Gedanken versunken. Das Gespräch mit seiner Tochter nagte an ihm. Seit gestern, seit er mit ihr gesprochen hatte, hatte sie jeden weiteren Versuch seinerseits mit ihr zu reden abgeblockt. Sie schien sich nicht weiter mit ihm befassen zu wollen. War sie zufrieden mit dem Zustand? Mit der Kluft die zwischen ihnen herrschte? Es gab noch so vieles zwischen ihnen, das geklärt werden musste. Doch schien sie das überhaupt nicht zu kümmern. War es etwa von Anfang an ihr Ziel gewesen, ihm einfach nur ein paar Vorwürfe zu machen und gar nicht die Aussöhnung zu suchen? Aber das war ein so abwegiger und kindischer Gedanke, dass er ihn gleich wieder beiseiteschob. Wäre sie vier oder fünf Jahre jünger, dann würde sie vielleicht durch solche Motivationen angetrieben werden. Aber sie war neunzehn. Da war man doch einfach schon erwachsen genug, um nicht aus solch niederen Beweggründen zu handeln.
Das Hoch des Vormittages, das er beim Anflug an Vandros IV verspürt hatte, war bereits wieder verflogen. Es hatte auch nicht sonderlich lange angehalten. Allerdings hatte er seine Probleme beim Anblick des Planeten tatsächlich für einen Moment vergessen können. Er hatte das Hochgefühl erlebt, für das er zur Sternenflotte gekommen war. Einen neuen Planeten soweit vorzubereiten, dass menschliches Leben darauf möglich war. Und damit den Weg frei zu machen, um der Menschheit einen weiteren Schritt zur dauerhaften Besiedelung des Alls zu ermöglichen.
Letztlich aber hatten sich seine aktuellen, persönlichen Probleme wieder in den Vordergrund gedrängt und das gute Gefühl verdrängt. Normalerweise war Sanawey nicht der Typ, der in Selbstmitleid versank oder bei Problemen resignierte. Aber selten hatte ihn ein Problem auch so sehr persönlich getroffen wie dieses. Wenn es um eigene Kinder ging schien alles gleich eine stärkere Intensität zu bekommen.
Der Türsummer meldete sich erneut und machte Sanawey bewusst, dass die Person vor der Türe nicht so leicht aufgeben würde. Seufzend setzte er sich auf. Vielleicht sollte er doch einmal nachsehen, wer da draußen vor dem Quartier stand. Wer weiß, vielleicht war es ja endlich Karja, die sich entschlossen hatte, doch noch mit ihm zu reden.
Er stand auf und ging zur Tür. Da er niemanden erwartete, wollte er nicht von der Couch aus den Befehl zum Tür öffnen geben. Nicht, dass er irgendetwas hätte befürchten müssen. Er wollte einfach nur alleine sein und einen möglichen unerwünschten Besucher direkt an der Tür abfangen und wieder wegschicken können. War der Besucher erst einmal im Quartier, würde das nur schwieriger werden.
Als sich die Türe öffnete stand Wendy Brooks davor. Sie lächelte ihn tapfer an, obwohl sie auf den ersten Blick schon erkannte wie es ihm ging. Sie kannten sich lange genug um so etwas sofort zu erkennen. „Darf ich hereinkommen?“ wollte sie wissen und schien ein Nein nicht akzeptieren zu wollen.
Sanawey trat einen Schritt zur Seite und machte ihr damit den Weg frei. Sie betrat das Quartier und nachdem er ihr etwas zu trinken angeboten hatte setzten sie sich. Wendy sah ihren Freund und Vorgesetzten dabei genau an. „Wie geht es dir?“ wollte sie wissen.
Sanawey sah sie schief an. „Naja, mir ging’s schon mal besser.“ Er atmete tief ein und überlegte, wie er ihr erklären konnte was er empfand. „Es ist so frustrierend. Und dabei weiß ich nicht einmal, was schlimmer ist. Die Situation mit Karja oder meine Reaktion darauf. Ich kann damit kaum umgehen. Dabei habe ich in meinen Leben schon eindeutig kritischere Momente erlebt. Aber das greift mich auf einer Ebene an, auf der ich damit nicht zurechtkomme. Das ist das Schlimme daran.“
Mitfühlend legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Natürlich trifft dich das mehr. Sie ist deine Tochter. Das ist etwas ganz persönliches. Das kannst du nicht mit irgendwelchen kritischen Situationen im All vergleichen.“ Sein Vergleich war etwas haarsträubend in ihren Augen. Manchmal stimmte es einfach doch, dass Männer anders dachten als Frauen.
„Ja“, nickte er zögernd. „Du hast recht, natürlich. Ich weiß nur nicht, wie ich dir sonst beschreiben soll, wie hilflos ich mich fühle.“ Wie um seine Worte unterstreichen zu wollen schüttelte er langsam den Kopf. „Ich meine, warum ist sie eigentlich hier?“ kam es plötzlich aus ihm heraus. „Ging es ihr darum, ihren Vater kennen zu lernen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie gibt mir keine Chance normal mit ihr zu reden. Sie blockt alles ab und fällt stattdessen wie ein Wolf über mich her, um mich zu zerfleischen. War nur das der Grund für ihr auftauchen?“ Für Sanawey war das unfassbar. Er lebte selbst so sehr mit der Ethik der Sternenflotte, dass für ihn ein Handeln aus so niedrigen Beweggründen wie der Rache und der Genugtuung einfach unvorstellbar war. Natürlich war ihm klar, dass es viele Menschen gab, deren ganzes Tun nur auf solchen Gefühlen basierte. Aber doch nicht sein eigen Fleisch und Blut.
„Dass sie wütend ist, kannst du ihr aber nicht verübeln. Aus ihrer Sicht warst du nie für sie da. Du hast sie im Stich gelassen.“
„Aber so war es doch gar nicht“, gab Sanawey lahm zurück. War es wirklich nicht so gewesen? Hätte er hartnäckiger an einem Kontaktversuch zu Janet festhalten sollen, nachdem sie ihn verlassen hatte und alle seine Versuche sie zu sehen boykottiert hatte? Hatte er zu schnell aufgegeben? Aber wie hätte er damals ahnen können, dass sie schwanger gewesen war? Nur konnte er das Karja nicht erklären. Sie hörte ihm nicht zu. Und sie würde es bestimmt auch nicht glauben. Nicht glauben wollen. Und nicht hören wollen. „Ich weiß, dass sie mich hasst. Und sie hat wohl auch allen Grund dazu. Aus ihrer Sicht. Aber sie kam hierher. Dann muss sie mir doch wenigstens eine Chance geben.“ Der Frust saß tief in seiner Stimme und drängte nun heraus.
Sanft drückte sie seine Schulter. „Das wird schon noch. Aber du brauchst jetzt viel Geduld. Und ja, sie kam hierher um dich zu sehen. Vielleicht nur, um dir Vorwürfe zu machen. Aber sie kam. Das heißt, sie ist auch ein wenig interessiert an dir. Das ist auch eine Chance. Zeige ihr, dass sie deine Tochter ist und du deine Vaterrolle wenigstens ab jetzt ernst nehmen willst. Dann wird sie dir auch zuhören. Aber du wirst Nerven so dick wie Warpgondeln brauchen.“
Sanawey lächelte ein wenig. „Dann ist ja gut, dass die Mission keine besonderen Herausforderungen an uns stellt. So kann ich mich auf diese Aufgabe konzentrieren. Wenigstens wird mir
dann bei dieser Mission nicht langweilig“, spielte er auf die Workshops und Seminare an, die er zur Beschäftigung angesetzt hatte. Er würde diese Beschäftigungsmaßnahme nicht mehr brauchen.
Sie lachte ebenfalls. Und es tat gut, auch ein wenig über die Probleme Lachen zu können. Das machte sie etwas kleiner und weniger dramatisch.
„Ist es denn ein schlimmer Gedanke eine Tochter zu haben?“ wollte Wendy nach einigen Momenten des Schweigens wissen.
Die Frage kam für Sanawey etwas überraschend und er brauchte einen Moment, um sich die Frage selbst beantworten zu können. „Nein, eigentlich nicht“, sagte er nachdenklich. „Seit vielen Jahren habe ich mir keine Gedanken mehr um Kinder gemacht. Der Zug schien für mich abgefahren zu sein. Jetzt doch ein Kind zu haben ist seltsam. Wenn wir ein gutes Verhältnis hätten wäre es sogar ein richtig gutes Gefühl.“ Er machte eine Pause und versuchte die widersprüchlichen Gefühle, die in ihm tobten, zu ergründen. „Aber es gibt da noch etwas, das mich irgendwie auch traurig dabei stimmt. Ich habe ein Kind, an dessen Leben ich nicht hatte teilnehmen können. Ich habe nicht gesehen, wie sie aufgewachsen ist, wie sie sich entwickelt hat. Ich habe nicht gesehen wie sie geboren wurde, wie sie das erste Mal gelächelt und wie sie laufen gelernt hatte. Ich habe sie nie trösten können, wenn sie sich wehgetan hatte. Ich habe nie Späße mit ihr machen können oder sie zum Lachen gebracht. Ich war nicht dabei, wenn sie gute oder schlechte Noten von der Schule mit nach Hause gebracht hatte. Ich habe nichts mitbekommen. Ich habe zwanzig Jahre ihres Lebens verpasst. Die zwanzig Jahre, in denen Eltern noch am Leben der Kinder teilnehmen können. Jetzt ist sie erwachsen, jetzt wird sie ohnehin ihre eigenen Wege gehen. Ich habe etwas verpasst, das ich niemals mehr nachholen kann. Ein Leben, wie es hätte sein können. Es so direkt vor Augen geführt zu bekommen ist auch nicht gerade leicht zu verkraften. Und wenn wir unsere Differenzen nicht beilegen können, werde ich niemals an ihrem Leben teilhaben können. Dann gibt es im Universum eine Nachkommin von mir, der ich weiter entfernt stehe als den Leuten auf meinen Schiff.“
Wendy musste schlucken. Ihr wurde immer deutlicher bewusst, dass sie überhaupt nicht nachvollziehen konnte, welcher Sturm in Sanawey tobte. Und dass sie ihm nicht viel helfen konnte. Außer für ihn da zu sein und ein offenes Ohr für ihn zu haben.
Ihre Hand lag noch immer auf seiner Schulter und sie war nahe an ihn herangerutscht. So saßen sie schweigend beisammen und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich räusperte sich Wendy. „Ich drücke dir von ganzem Herzen die Daumen, dass du dich mit Karja aussöhnen kannst. Aber sollte das nicht klappen, dann lass dich davon nicht zu sehr unterkriegen. Dein Leben hängt nicht davon ab. Dann hast du dein Bestes gegeben. Und wenn sie nicht bereit ist, das einzusehen, liegt es nicht in deiner Macht. Du kannst nicht mehr tun, als ihr die Hand zu reichen. Wenn sie sie ausschlägt, dann hast du es wenigstens versucht.“ Sie war sich nicht ganz sicher, ob Sanawey das hören wollte, aber sie selbst war von ihren Worten überzeugt.
Er legte seine Hand auf ihre und sah sie liebevoll an. Wendy war knapp sechzehn Jahre jünger als er. Und bisher war sie dem am nächsten gekommen, was man eine Familie nennen konnte. Und er war ihr überaus dankbar für ihre Unterstützung. „Danke“, sagte er einfach und es drückte alles aus, was er empfand. Und sie verstand es.
Rick Lescott saß an seiner Konsole im Maschinenraum und starrte die Zahlenblöcke an, die vor ihm über einen kleinen Bildschirm rasten. Eigentlich sollte er die Dilithiummesswerte im Auge behalten, da sie in den letzten Tagen einige Fluktuationen aufwiesen. Aber gedanklich war er ganz wo anders. Es war eine zu eintönige Arbeit. Überhaupt war die ganze Arbeit im Maschinenraum eintönig und monoton. Natürlich gab es immer wieder etwas anderes zu tun. Neues. Aber im Grunde war es immer dasselbe. Das Schiff musste am Laufen gehalten, Schäden repariert und neue Modifikationen getestet werden, um die Effizienz der Maschinen zu erhöhen. Jeden Tag das gleiche. Tag für Tag. Und nach Dienstende ging es gerade so weiter. Er ging in sein Quartier, war dort alleine, da sein Zimmerkollege sich um eine andere Schicht bemüht hatte und nun Dienst hatte, wenn Ricks Schicht zu Ende war. Vermutlich hatte Milan Mirmic das gemacht, um so wenig Zeit wie möglich mit ihm verbringen zu müssen. Es lag sicherlich nur an ihm. Zudem lag er zur Zeit ohnehin auf der Krankenstation, so dass Rick das Quartier einige Tage für sich ganz alleine hatte. Dann verbrachte er den Abend wieder alleine. Wie jeden Tag. Und dann ging er früh zu Bett. Wie jeden Tag. Tag für Tag. Ohne eine Chance aus dem unerbittlichen Rhythmus zu fliehen. Es würde ewig so weiter gehen. Bis zu seinem letzten Atemzug. Nie würde sich etwas ändern, außer, dass er älter wurde und die Zeit wie in einem Stundenglas verrann. Was machte das alles für einen Sinn? War das das Leben? War das wirklich schon alles? Wo war das Göttliche in der Schöpfung, wenn es letztlich egal war, ob jemand lebte oder starb? Wenn die Menschen nicht mehr waren als Ameisen, die emsig ihren Pflichten nachkamen und letztlich doch nur zertreten wurden? Konnte man nicht mehr vom Leben erwarten? Wenn das wirklich schon alles war, dann verstand er das ganze Theater darum nicht. Sollte doch irgendeine feindliche Rasse die Menschheit vernichten. Es spielte keine Rolle. Viel würden die Menschen ohnehin nicht versäumen, außer stupider Eintönigkeit und einem langsamen Sterben, bis man irgendwann den Löffel abgab. Wieso tat sich irgendjemand dieses Leben eigentlich an? Wieso tat er sich das eigentlich an? Wieso machte er das mit? Wieso beendete er das nicht einfach? Gab es jemanden, den das kümmerte?
Nein
, schrie er in seinen Gedanken. Nein, nicht schon wieder
. Er wollte nicht ständig den gleichen Gedanken nachhängen, die ihn so fertig machten. Es war immer dasselbe. Immer, wenn er allein war, und das war er praktisch andauernd, kehrten diese Gedanken zurück. Und jedes Mal fühlte er sich hinterher elender. Aber er konnte sich auch nicht dagegen wehren. Diese Denkweise war ihm inzwischen viel zu vertraut geworden. Sein Gehirn dachte automatisch so und schob diese Gedanken immer nach vorne. Er war einfach viel zu oft allein. Er konnte gar nicht mehr anders. In der Gegenwart von anderen Menschen fühlte er sich unwohl und unsicher. Er hatte auch keine Ahnung, was er mit Anderen hätte reden sollen. Und es wusste auch niemand, was man mit ihm reden konnte. So war er in diesem Kreis gefangen. Das Alleinsein hielt er nicht mehr aus, aber die Gesellschaft ebenso wenig. Er war innerlich so zerrissen, vermutlich gab es keine Rettung mehr für ihn.
Mühsam schaffte er es, diese düsteren Gedanken beiseite zu schieben. Er wollte an etwas anderes denken, an etwas Schönes. Etwas, das ihm Mut machte. Aber dabei fiel ihm nur Karja ein. Sie hatte es ihm angetan, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Sie war so unglaublich schön und wunderbar, viel zu schön, als das sie ein normaler Mensch hätte sein können. Sie musste ein Engel sein. Ein Engel, der herabgestiegen war, um ihm zu helfen, um ihn zu erretten. Sie würde es sicher schaffen, seinem Leben wieder einen Sinn zu geben. Alleine mit einer Umarmung oder auch nur einer kurzen Berührung würde sie ihm schon helfen können. War es ein Zufall, dass sie nur drei Jahre jünger war als er? Nur wenige an Bord waren in diesem Alter. Und das sie ausgerechnet jetzt an Bord gekommen war. Wo er noch gerettet werden konnte. Als ob die Götter Gnade mit ihm hätten. Aber er wusste, dass das ein mehr als lächerlicher Wunsch war. Sie war so unerreichbar für ihn, wie es im Mittelalter der Mond für die Menschen gewesen war. Sie kannte ihn ja noch nicht einmal. Wahrscheinlich hatte sie ihn noch nicht einmal wahrgenommen. Wie sollte sie auch, wenn er entweder im Dienst oder in seinem Quartier war. Er hätte sie schon ansprechen müssen. Doch dazu fehlte ihm der Mut. Es grenzte zudem auch an Übermut, wenn er glaubte, eine Frau wie Karja beeindrucken zu können. Dazu war er einfach zu wenig wert. Er war ein Nichts, ein Niemand. Außer ein paar Träumereien gab es da für ihn keine Hoffnung. Und er würde zusehen müssen, wie sie sich in jemand anderes verliebte. Und das sicher schon bald. Eine Frau wie sie war nicht lange allein. Für ihn blieb dann nur die Rolle des Zuschauers, der im Schmerz unterging. Niemals würde sich eine Frau wie Karja für ihn interessieren. Genaugenommen würde sich auch keine andere Frau jemals für ihn interessieren. Und wenn es doch anders wäre, wüsste er ja nicht einmal, was er dann machen sollte. Es war hoffnungslos.
So überkamen ihn doch wieder seine Melancholie und die Düsternis. Es war immer das gleiche. Ohne Aussicht auf Änderung.
Karja hatte es satt immer nur in ihrem Quartier zu sitzen. Natürlich wollte sie ihrem Vater aus dem Weg gehen und ihn nicht sehen. Schließlich hatte sich an ihren Gefühlen nichts geändert. Aber musste sie sich deswegen gleich einschließen und verschanzen? Sollte doch er ihr aus dem Weg gehen. Und falls er das nicht tat, würde er eben etwas zu hören bekommen. Nein, sie würde sich nicht weiter vor ihm verstecken. Zumal sie nicht einmal wusste, wie lange sie hier bleiben musste. Die Republic
würde wegen ihr nicht umdrehen können, soviel hatte man ihr schon gesagt. Und den Kurs eines anderen Schiffes, das Richtung Erde flog, würden sie nicht kreuzen. Wenn es also ganz schlimm lief, dann musste sie bis zum Ende der Mission auf diesem Schiff bleiben. Und das konnte Monate dauern, wie sie erfahren hatte. Unter diesen Umständen konnte sie auf keinen Fall in ihrem Quartier sitzen bleiben.
Daher hatte sie beschlossen die Bar aufzusuchen. Etwas zu trinken und sich unters Volk zu mischen war genau das richtige. Auch wenn die meisten Barbesucher zwangsläufig Sternenflottenoffiziere waren. Nur ließ sich der Kontakt zu diesen Leuten ja nicht verhindern. Und manche schienen ja ganz nett zu sein, so wie die Ärztin, musste sie widerwillig eingestehen. Und außerdem gab es ja auch noch die Wissenschaftler und deren Assistenten.
Sie betrat die Bar und ihr Blick schweifte erst einmal durch den Raum. Es waren nur sehr wenige Personen anwesend. Und natürlich alles Sternenflottenmitglieder. Allein der Anblick der roten Uniformen reichte ihr schon wieder und sie fragte sich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war hierher zu kommen. Aber dann gab sie sich einen Ruck und ging zu einem Tisch am Fenster. Auf dem Weg dorthin fiel ihr auf, dass sie die Blicke der Anwesenden förmlich anzog. Und das lag nicht alleine an ihrem Aussehen. Obwohl die Figur betonenden Klamotten, die sie trug, sicherlich dazu beitrugen. Aber im gesamten Schiff hatte sich herumgesprochen, dass sie die Tochter des Captains war. Das gab inzwischen allerlei Gesprächsstoff und die Gerüchteküche brodelte. Und da Karja bisher kaum zu sehen gewesen war, waren alle nur umso neugieriger auf sie.
Als sie den Spießrutenlauf endlich hinter sich hatte und am Tisch saß, beschloss sie, erst wieder zu gehen, wenn auch alle anderen weg waren. Das war ihr doch etwas unangenehm gewesen. Denn irgendwo in ihrem Hinterkopf sagte ihr eine Stimme, dass aus Sicht der Crewmitglieder sie die Böse in diesem Spiel war. Die Leute dienten zum Teil schon länger unter Sanawey und hatten nur gute Erfahrungen gemacht. Dass der Captain etwas so schlimmes tun konnte, wie Karja ihm vorwarf, war für die meisten schlicht undenkbar.
Um die Blicke der anderen ignorieren zu können sah Karja zum Fenster hinaus ins All und verlor sich gedanklich zwischen den Sternen.
„Was kann ich Ihnen bringen?“ fragte plötzlich eine Stimme neben ihr.
Karja fuhr so heftig zusammen, dass sie beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie hatte das Gefühl, erst blass zu werden und dann purpurrot vor Scham. Das war vielleicht peinlich. Sie sah auf und ihr Blick fiel in ein freundlich lächelndes, blaues Gesicht. Schneeweiße Haare bedeckten den Kopf und zwei blaue Antennen ragten daraus hervor, die sich ihr freundlich entgegenbogen. Karja wusste sofort, dass ein Andorianer vor ihr stand. Nur hatte sie noch nie einen mit eigenen Augen gesehen. Seine Kleidung wies ihn als Barkeeper aus und offenbar wollte er ihre Bestellung aufnehmen. Doch war sie so erschrocken, dass sie nicht mit bekommen hatte, was er gesagt hatte.
„Nun?“ fragte er freundlich und ignorierte ihren Schreck einfach.
„Ein… einen saurianischen Brandy“, sagte Karja und bemühte sich einen einigermaßen souveränen Eindruck zu machen.
Der Andorianer nickte und ging zur Theke zurück.
Karja sah ihm nach und kam sich absolut lächerlich vor. Sie wusste, dass sie ihn ziemlich dumm angestarrt hatte. Es war so peinlich, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. Und die Blicke der anderen waren wieder auf sie gerichtet.
Kurz darauf kam der Andorianer mit einem bernsteinfarbenen Getränk zurück und stellte es vor sie hin. „Bitte schön“, nickte er noch immer freundlich.
„Danke.“ Karja versuchte möglichst selbstbewusst zu wirken, um den vorigen Eindruck wieder wett zu machen. Obwohl das bei dem Mann wohl nicht wichtig war. Und der Rest der Crew hatte ohnehin eine eigene Meinung zu ihr. Da kam es auf solche Kleinigkeiten nicht an.
Sie trank einen Schluck und musste enttäuscht feststellen, dass der Drink keinen echten Alkohol enthielt, nur Alkoholersatz. Vom Geschmack her war das zwar inzwischen kaum noch zu unterscheiden, aber die berauschende Wirkung blieb aus. Aber war das nicht der eigentliche Zweck des Genusses von Alkohol? Unzufrieden stellte sie das Glas auf den Tisch und sah wieder gedankenverloren zum Fenster hinaus. Der Anblick der dahinziehenden Sterne hatte eine beruhigende Wirkung und war absolut faszinierend für sie. Sie wurde es nicht satt hinauszusehen und konnte Stunden auf diese Weise verbringen. So bekam sie auch nicht mit, was sich sonst so tat im Raum. Es interessierte sie auch nicht.
Daher bekam sie wieder nicht mit, wie jemand neben sie trat und sie ansprach. Erneut fuhr sie erschrocken herum und hätte dabei fast ihren Drink vom Tisch gestoßen. Mit großen Augen schnappte sie nach Luft und ihr Brustkorb hob und senkte sich dabei hektisch. „Ach, Sie sind’s“, brachte sie mühsam hervor, obwohl sie den Mann nur vom Sehen her kannte. Es musste Drake Reed sein, wenn sie sich nicht täuschte.
„Ja, ich bin’s.“ Er sah sie besorgt an, doch sein Blick hing mehr an ihrem Ausschnitt, unter dem sich noch immer ihre Brust hob und senkte. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Karja nickte und beruhigte sich langsam wieder. „Ja. Alles in Ordnung. Ich bin heute wohl nur etwas schreckhaft.“ Und wohl auch etwas redselig, dachte sie noch bei sich. Wie konnte sie nur so unbeschwert mit einem Sternenflottenoffizier reden?
„Das habe ich bemerkt“, meinte Reed leise und mehr zu sich selbst. Und er schien ihre Offenheit als Aufforderung zu verstehen, denn er zog sich einen Stuhl heran. „Darf ich mich setzen?“ fragte er noch, um dann ohne Antwort einfach neben ihr Platz zu nehmen.
Karja nahm das zur Kenntnis, wusste aber nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Normalerweise würde sie so etwas nicht dulden. Aber sie konnte einfach nichts sagen. Offenbar saß ihr der Schreck noch zu sehr in den Gliedern.
„Saurianischer Brandy“, stellte er fest und zeigte auf Karjas Getränk.
Diese nickte nur. Sie musste sich unbedingt mehr zurücknehmen.
„Eine vorzügliche Wahl“, lächelte er sie charmant an.
Karja erwiderte das Lächeln zögernd. Sie kannte ihn nicht und wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Das hieß, sie wusste es schon. Er war ein Sternenflottenoffizier und damit sicherlich genau wie ihr Vater. Aber andererseits sah Reed richtig gut aus, wie sie sich eingestehen musste. Er sah geradezu verboten gut aus.
„Was halten Sie von unserem Schiff?“ wollte er wissen und schien dabei ehrlich an ihrer Meinung interessiert zu sein.
„Es ist schön“, kam die zögerliche Antwort. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Auf keinen Fall wollte sie zu euphorisch klingen, obwohl ihr das Schiff außerordentlich gut gefiel. Die Technik war überwältigend. So etwas kannte sie aus ihrem bisherigen Leben noch nicht. Es musste einen Heidenspaß machen, sich mit dieser Technik beschäftigen zu können. Ein Traum, der wohl nie wahr werden würde, wenn sie nicht zur Sternenflotte ging. Und das stand für sie nach wie vor außer Frage.
„Schön?“ wiederholte er ungläubig. „Es ist fantastisch. Das schönste Schiff der ganzen Flotte. Ach was, des ganzen Quadranten. Sie würden nirgendwo ein schöneres finden.“ Er legte dabei eine so übertriebene Stimmung an den Tag, dass Karja unwillkürlich lachen musste.
„Wissen Sie, dass Sie noch viel schöner sind, als alle anderen erzählen?“ sagte Reed und bei diesen Worten sah er ihr tief in die Augen.
„Danke“, erwiderte Karja schlicht, aber nicht unhöflich.
„Doch, wirklich. Sie sind so schön wie… wie… nun, es gibt einfach keinen Vergleich. Sie sind schöner als alles andere. Selbst Engel würden neben Ihnen verblassen.“
Karja wusste nicht, was sie sagen sollte. So etwas hörte sie zwar nicht zum ersten Mal, aber sie wurde trotzdem jedes Mal verlegen. Sie konnte mit Komplimenten einfach nicht umgehen. Das hatte sie noch nie können. Vermutlich einfach deswegen, da sie sich immer überall hatte durchkämpfen müssen und die wenigsten Komplimente, die sie dabei erhalten hatte, ehrlich gemeint waren. Sie wollte rasch das Thema wechseln, doch ihr fiel nichts ein.
Und Drake war wieder schneller. „Ihr Freund hat wirklich großes Glück…“
„Ich habe keinen Freund“, unterbrach sie ihn und fragte sich allmählich, wohin das führen sollte.
„Wirklich?“ Drake heuchelte erst Bedauern, dann strahlte er. „Aber umso besser. Dann habe ich ja noch Chancen“, sagte er im Scherz.
Karjas Blick verengte sich ein wenig. „Wenn Sie meinen“, gab sie knapp zurück.
Reed lächelte charmant. „Das sollte ein Witz sein. Entschuldigen Sie, der war wohl nicht so gut“, erklärte er verlegen.
Sie sah ihn an und wusste nicht, was sie davon halten sollte. „Nein, wirklich nicht“, sagte sie dann.
„Wissen Sie, ich bin selber neu an Bord hier“, erklärte er etwas leiser, so als sei ihm das unangenehm. „Ich kenne noch nicht so viele Personen. Ich dachte, ich muss witzig sein, um jemanden wie Sie ansprechen zu können. Und gezwungen witzig sein, das funktioniert eben nicht. Bitte verzeihen Sie mir das.“ Er sah sie treuherzig an, ein Blick, der die Frauen normalerweise zum Schmelzen brachte.
Karja dagegen stieß Reeds Verhalten mehr ab. Ihr Blick wurde kälter und sie sah ihn fest an. Reed war genau das, was sie von Sternenflottenoffizieren erwartet hätte. Ein Casanova, ein Schürzenjäger. Genau wie ihr Vater.
Da Karja nichts erwiderte, musste Reed sich schnell etwas neues überlegen. Auf die sanfte Tour sprang Karja wohl nicht an. Vielleicht wollte sei einfach direkter aufgefordert werden. „Wollen wir aufs Aussichtsdeck gehen?“ fragte er und rutschte dabei vertraulich näher.
Karjas Zorn wuchs. Am liebsten hätte sie mit ihrer Faust geantwortet. Nur der Gedanke, dass sie das womöglich in eine Arrestzelle bringen könnte, wo ihr Vater sie dann sehen würde, hielt sie noch davon ab. Denn diese Demütigung wollte sie auf keinen Fall erleben. „Nein. Vielen Dank“, brachte sie noch mühsam hervor.
Reed schien überhaupt keine Grenze zu kennen. Denn er gab nicht auf. Er beugte sich noch ein wenig zu ihr uns sagte: „Das Aussichtsdeck bietet einen weit besseren Blick auf die Sterne als es hier möglich ist.“ Da sie die Sterne beobachtet hatte, hielt er das für ein gutes Argument.
Das war Karja denn doch zu viel. Sie stieß ihn so schwungvoll weg, dass er mitsamt seinem Stuhl nach hinten kippte und unsanft auf dem Boden aufschlug. Karja war inzwischen aufgesprungen und sah ihn mit blitzenden Augen an. „Wagen Sie das ja nicht noch einmal, sonst werden Sie den Tag bereuen, an dem Sie geboren wurden“, drohte sie ihm außer sich vor Wut. Ihr Kinn bebte vor Zorn und sie schien sich zu überlegen, ob sie noch etwas sagen sollte. Dann aber wandte sie sich abrupt um und verließ mit langen Schritten die Bar.
Völlig überrascht lag Reed am Boden. So eine Reaktion hatte er noch nie erlebt. Normalerweise war sein Erfolg bei Frauen doch überwältigend. Was war denn dieses Mal schief gegangen? Langsam rappelte er sich auf. Erst jetzt bemerkte er, dass die Personen an den Nachbartischen sich ihm zugewandt und alles beobachtet hatten. Möglichst betont ruhig stellte er den Stuhl wieder hin, sah in die Runde und verließ dann die Bar. Die nächsten Tage würde er sich hier nicht mehr blicken lassen. Der ganze Zwischenfall war ihm etwas zu peinlich. Auch wenn er sich das auf keinen Fall anmerken lassen wollte.
Hektisch wurden die letzten Speisen zum Buffettisch getragen und dort dekorativ aufgestellt. Nichts durfte schief gehen, alles musste perfekt sein. Die Crewmitglieder, die hier halfen waren zwar alle keine ausgebildeten Köche oder professionelle Bedienungen, doch sie hatten genaue Anweisungen erhalten, welche Speisen wie aufzustellen waren. Und die Zubereitung erledigte ohnehin der Replikator, den Wendy Brooks noch mit ein paar Daten eines Fünfsternekochs der Erde gefüttert hatte, der extra für dieses Ereignis ein Menü zusammengestellt hatte. Findige Programmierer hatten dieses Menü dann in einen Programmcode umgewandelt, so dass der Replikator nun mit Hilfe von Atomen und Molekülen alles so zusammenstellen konnte, als sei es frisch zubereitet. Auf Techniklaien machte dieser Effekt immer den Eindruck, als könne der Replikator aus purer Luft die verschiedensten Dinge erschaffen. Dahinter steckte allerdings eine äußerst aufwendige und komplizierte Technik. Und es wurde eine nicht geringe Menge an Energie benötigt. Denn natürlich wurden alle Erzeugnisse des Replikators nicht aus Luft erschaffen, sondern aus umgewandelter Energie. Und das war nur möglich, weil die Materie-Antimaterie-Reaktion des Warpkernes so viel Energie erzeugte, dass auch für andere Systeme als nur den Antrieb noch genug Energie übrig blieb. Das war eine Entwicklung der neueren Zeit. Noch bis vor wenigen Jahren war weder die Technik noch die Energieversorgung soweit, dass die alleinige Versorgung der Crew über Replikatoren erfolgen konnte. Bis dahin musste in einer großen Küche auf dem Schiff die Zubereitung der Speisen erfolgen. Die Zubereitung der Essen für über vierhundert Personen war allerdings keine Kleinigkeit gewesen. Denn aufgrund des Schichtbetriebes mussten zu jeder Zeit sowohl warme als auch kalte Speisen vorgehalten werden. Die dazu benötigten Räumlichkeiten waren nicht gerade gering gewesen, wenn man den Platz mitrechnete, der für die Lagerung der Lebensmittel gebraucht wurde. Außerdem war die Auswahl an Essen natürlich beschränkt gewesen. Es konnte schließlich nicht jeden Tag individuell für jeden gekocht werden. Da war die Essenszubereitung durch den Replikator schon etwas anders. Auch die Republic
verfügte noch über eine solche Küche. Allerdings nur noch für Notfälle. Im Normalfall war sie abgeschlossen und versiegelt, so dass niemand dort sein Unwesen treiben konnte.
Die Messe, von der Crew liebevoll Speisesaal genannt, in dem der Empfang für die Wissenschaftler stattfand, lag direkt neben der alten Küche auf Deck 12. Hier waren vier Replikatoren aufgestellt worden, an denen sich die Crew das Essen holen konnte. Etliche Tische boten genug Platz, so dass ohne großes Gedränge bequem gegessen werden konnte. Auch die Führungscrew kam zum Essen hierher. Zwar waren die Quartiere der Offiziere mit eigenen Replikatoren ausgestattet, doch Captain Sanawey hatte sie aufgefordert, wie alle anderen Crewmitglieder in den Speisesaal zu gehen. Zum einen sollten sie dadurch zeigen, dass sie ein Teil der Mannschaft waren und nicht auf irgendeine Weise besser als der Rest. Zum anderen hatte der Captain stets betont, das gemeinsame Essen sei eines der ältesten und wichtigsten Rituale der Menschheit. Es förderte den Zusammenhalt einer Gruppe und diente dem Informationsaustausch, vor allem im privaten Bereich. Daher hatte die Führungscrew das auch ohne Widerspruch angenommen. So gelang es der Republic
-Crew tatsächlich eine Einheit zu bilden, die auch die Führungscrew beinhaltete. Das war längst keine Selbstverständlichkeit und nicht auf allen Schiffen so.
Der Raum lag im Inneren des Schiffes, somit gab es keine Fenster, die einen Blick ins All zugelassen hätte. Trotzdem wirkte der Raum ansprechend. Er war mit hellen, warmen Farben gestrichen, der Boden hatte eine Parkettstruktur und die Beleuchtung erzeugte ein sonnenähnliches Licht, das angenehm weich wirkte und nicht in den Augen brannte. Inzwischen schmückten auch Gemälde die Wände, die sich harmonisch ins Gesamtbild einfügten. Gemälde, die speziell für diesen Raum gefertigt worden waren. Wendy Brooks hatte vor einigen Jahren herausgefunden, dass es Crewmitglieder gab, die in ihrer Freizeit malten und die durchaus auch Talent hatten. Da waren Künstler dabei, die sicherlich auch die eine oder andere Galerie bereichert hätten, wenn sich sie sich dafür entschieden hätten, die Malerei zu ihrem Beruf zu machen. Diese hatten auch nicht lange überzeugt werden müssen, etwas Passendes für den Speiseraum zu gestalten. So hingen diese Bilder nun schon seit einigen Jahren. Die Zusammensetzung der Mannschaft hatte sich seitdem durch Wechsel einzelner Personen immer wieder leicht geändert und längst waren nicht mehr alle der damaligen Künstler an Bord. Ihre Bilder aber hingen noch immer im Speisesaal, so als ob ein Teil von ihnen noch immer hier wäre.
Als Sylvia Jackson den Raum betrat wurde gerade die letzte Platte am Buffet zurecht gerückt. Die Vorbereitungen waren damit abgeschlossen, in wenigen Minuten würden die Gäste erscheinen. Es waren alle Wissenschaftler eingeladen sowie deren Assistenten, die Mitarbeiter der Labore und wissenschaftlicher Abteilungen der Republic
und die Führungscrew. Insgesamt wurden knapp einhundert Personen erwartet. Jackson hatte die Vorbereitung organisiert, da der Captain sie aufgrund seiner anderweitigen Verpflichtungen darum gebeten hatte. Nun sah sie zur ihrer Zufriedenheit, dass alles bereit stand. Sie hatten eine Bedienung aus der Bar hierher abgezogen und weitere vier Freiwillige gefunden, die hier die Gäste beim ersten Empfang mit Getränken bedienen würden. Mit dem Buffet hatten sie danach die Problematik der Bedienung elegant gelöst.
Ihr Blick wanderte über die herrlich duftenden Gerichte, deren Aroma sich bereits im Raum verbreitete und ein sofortiges Hungergefühl auslöste. Es gab Gerichte von den verschiedensten Planeten der Föderation. Da gab es Filets vom Rind und vom Schwein, vom rigelianischen Wasservogel und vom denubolanischen Dat’nour, einer Art Schwein mit Flossen. Es gab vegetarische Gerichte von Drelon 3 und Vulkan. Dazu aufwendig zubereitete Beilagen aus mehr als einem Dutzend Föderationswelten. Es gab Warmes und Kaltes, Suppen und Trockenes zum Knabbern. Es gab eine Unzahl an Soßen und Würzmitteln. Außerdem ein eigenes Salatbuffet mit Salaten, die Jackson noch nie vorher gesehen hatte. Da war viel Grün dabei, es leuchtete aber auch in rot und gelb, selbst einige blaue Salatsorten waren dabei. Besonders fiel aber der pink gefärbte Salat auf. Jackson war sich noch nicht sicher, ob sie davon probieren würde, obwohl es eine natürliche Färbung war.
Die Tische bogen sich fast unter dem Gewicht. Und trotzdem würde es nicht für alle reichen. Die Helfer würden sicher einige Male zum Replikator laufen müssen, um die Bestände wieder aufzufüllen. Und gegen später musste dann auch noch das Dessert aufgefahren werden. Aus dem Essensplan wusste Jackson, dass das nicht wesentlich weniger sein würde. Ihr graute jetzt schon vor dem Blick auf die Waage morgen früh.
Als sie hörte, wie sich die große Eingangstüre öffnete wandte sie sich um. Ihre Kollegen Reed, Williams, Brooks und Nerre betraten eben den Raum. Jackson fiel dabei wieder einmal auf, dass Reed sich wie der Hahn im Korb fühlen konnte, zwischen den ganzen Damen.
„Hallo Commander“, grüßte Brooks sie. „Das riecht ja schon herrlich hier.“ Der Essensgeruch schlug ihnen förmlich in Gesicht, als sie den Raum betraten.
„Das kann man wohl sagen“, nickte Jackson. „Mir knurrt jetzt schon der Magen.“
„Hoffentlich dauern die Reden zu Beginn nicht so lange“, lachte Reed. Er sprach damit aus, was alle dachten.
Jackson bedachte ihn nur mit einem kurzen Blick und musterte dann alle wohlwollend. „Wie ich sehe, haben Sie sich alle in Schale geworfen.“ Sie hatten alle ihre Galauniformen für besondere Anlässe angezogen. Das war zwar kein direkter Befehl gewesen, aber die Etikette schrieb das nun einmal vor. Und es hatte sich wohl auch jeder daran erinnert, auch wenn niemand die Galauniform mochte. Sie war etwas steif und vom Schnitt her unbequem. Wer immer das Design entworfen hatte, er oder sie hatte nicht an die Offiziere gedacht, die das tragen mussten. Oder er hatte noch eine Rechnung mit ihnen offen gehabt.
Nur kurz nach den vieren traf Sohral ein. Er hatte die meisten Wissenschaftler mit ihren Assistenten im Gefolge. So füllte sich der Raum binnen Minuten. Und jeder stellte erst einmal fest, wie gut es hier roch. Es wurden einige sehnsüchtige Blicke in Richtung des Buffets geworfen, doch gebot es die Etikette zu warten bis alle anwesend waren. Erst dann durfte der Gastgeber das Buffet freigeben.
Als Jackson der Meinung war, dass nun alle eingeladenen Gäste auch anwesend waren, gab sie den Bedienungen mit einem leichten Nicken das Zeichen, nun die Sektgläser zu verteilen. Flink machten sie sich auf und eilten mit den vollen Tabletts zwischen den Anwesenden hindurch. Der Sekt in den Gläsern enthielt echten Alkohol. Eine absolute Ausnahme, denn eigentlich war Alkohol an Bord nicht erlaubt. Und der Replikator stellte auch keinen her, das war aufgrund der einprogrammierten Sicherheitsprotokolle gewährleistet. So behielt es Jackson auch für sich, woher sie diese Mengen echten Sektes hatte.
Als die Gläser verteilt waren, klopfte Jackson vorsichtig an ihres, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Grüppchen, die sich bereits zu ersten Gesprächen gebildet hatten, verstummten und wandten sich Jackson zu.
„Ladies and Gentlemen, in Vertretung für Captain Sanawey, der heute leider nicht hier sein kann, heiße ich Sie nochmals an Bord willkommen. Es ist uns eine Ehre, so viele der klügsten Köpfe der Föderation hier zu haben. Und aufgrund des bereits aufgestellten Essens und dessen verlockendem Duftes, will ich Sie alle auch gar nicht mit einer langen Rede auf die Folter spannen. Stoßen wir also an auf eine erfolgreiche Mission und eine gute Zusammenarbeit.“ Damit hob sie ihr Glas.
Die Gäste applaudierten kurz und schienen alle erleichtert über die Kürze der Ansprache zu sein. Sie prosteten einander zu, dann hob sich langsam wieder der Lärmpegel im Raum. Während sich die ersten dem Essen zuwandten und Geschirr klapperte, standen andere wieder beieinander und diskutierten miteinander. Das ging solange, bis auch sie sahen, dass die Schlange am Buffet kürzer geworden war. Nach und nach verteilten sich die Personen an die Tische und es wurde gegessen. Aber auch dabei gingen vereinzelt die wissenschaftlichen Diskussionen weiter. Dies war das erste Zusammentreffen aller an der Mission beteiligten Wissenschaftler. Daher wurde die Gelegenheit genutzt, um schon einmal erste Erkenntnisse aus den Berichten der Mandela zu diskutieren. Aber auch, um bereits einige Fachbereiche abzustecken und mögliche Konkurrenten in die Schranken zu weisen. Natürlich wurde aber auch über Privates gesprochen. So konnte man sich besser kennen lernen, was besonders unter den Assistenten der Wissenschaftler genutzt wurde. Die meisten von ihnen waren Studenten, die hier ihr Praxissemester absolvierten. Sie waren nicht nur an den wissenschaftlichen Untersuchungen interessiert. Für sie war das hier auch eine Kontaktbörse. Die Gelegenheit neue Bekanntschaften zu machen, Freundschaften zu knüpfen oder auch mehr. So bildeten sich auch sehr schnell eindeutige Gruppen. Die Wissenschaftler gleicher oder angrenzender Fachgebiete diskutierten über die Mission und ihre Erwartungen zusammen mit ein paar Forschern der Republic
. Die Studenten dagegen waren sehr schnell unter sich und hier wurde vor allem über Herkunft und Zukunftserwartungen gesprochen, über Studienerfahrungen und sehr viel über Privates. Und damit blieben einige fest angestellte Assistenten und die Offiziere der Republic
übrig. Sie bildeten untereinander Gruppen oder gesellten sich, wie Commander Jackson und George Real, zu den Diskussionen der Wissenschaftler, auch wenn sie kaum etwas davon verstanden.
So verging die Zeit. Als Elizabeth Williams sich aus der Diskussion mit ein paar Virologen und Biologen ausklinkte, um sich noch einen Sekt zu holen, stieß sie auf Wendy Brooks, die offenbar den gleichen Gedanken hatte.
„Ist Ihre Diskussion auch so ermüdend?“ fragte die Chefingenieurin.
„Kann ich nicht sagen. Ich kann schon seit einigen Minuten geistig nicht mehr folgen“, erwiderte Williams schief grinsend. „Bei mir ist es eher der Alkohol, der mich müde macht. Eigentlich sollte ich aufhören, aber es gibt so selten Gelegenheiten, echten Sekt zu trinken.“
Wendy grinste zurück. „Das ist wohl wahr. Das muss man ausnutzten.“
Sie unterhielten sich noch ein wenig im Stehen, dann aber setzten sie sich an einen Tisch. Natürlich wieder mit einem Glas Sekt. Dort quatschten sie weiter über alle möglichen Themen. Auch Van Meerdink schien irgendwann nicht mehr viel von den Diskussionen zu halten. Er klinkte sich aus seiner Gruppe aus und kam zu Elizabeth Williams und Wendy Brooks herüber.
„Hallo meine hübschen Damen“, lachte er und ließ seinen massigen Körper auf einen Stuhl fallen. „Sie sitzen hier so alleine.“
„Aber nun sind Sie ja zum Glück hier“, erwiderte Brooks gut gelaunt. Sie hatte mittlerweile eindeutig etwas zu viel von dem Sekt getrunken. Durch das gute Essen wirkte der Alkohol zwar nicht ganz so stark, aber sie war trotzdem leicht angetrunken.
„Ich kann zwei so hübsche Damen ja nicht alleine lassen.“ Er zwinkerte ihnen zu. „Ich wollte Sie aber auf keinen Fall unterbrechen. Worüber haben Sie sich unterhalten?“
Williams sah Brooks an. Auch sie war bereits gut gelaunt. „Wir hatten uns gerade das du angeboten. Ist das nicht erstaunlich? Wir arbeiten jetzt seit fünf Jahren zusammen, aber wir haben immer noch Sie zueinander gesagt.“
„Das ist ja auch kein Wunder“, gab Wendy zurück. „Du bist ja auch noch so jung, da konnte ich dir doch kein du anbieten. Du hättest ja den Respekt vor mir verloren.“
„Pah“, verdrehte Williams in gespielter Empörung die Augen. „Jetzt tut sie wieder so, als wäre sie schon so alt.“
„Ich bin immerhin zehn Jahre älter als du.“
„Aus meiner Sicht seid ihr beide noch junge Hüpfer“, mischte sich von Meerdink ein. Immerhin hatte er die siebzig schon überschritten.
„Wir sind alle noch jung“, sagte Brooks entschieden und hob ihr Glas. „Darauf sollten wir anstoßen. So jung kommen wir nicht mehr zusammen.“
Ihre Gläser klirrten und zogen ein paar irritierte Blicke auf sich. Doch störte sie das nicht.
„Wenn wir schon beim du sind, mein Name ist Maarten“, bot der Wissenschaftler ihnen dann an.
„Angenehm. Elizabeth“, schoss es aus der Ärztin heraus. Sie beugte sich ein wenig vor und schüttelte ihm die Hand.
„Wendy.“ Brooks hatte ein wenig gezögert. Sie war sich nicht ganz sicher, wie das weiter gehen sollte. Dann aber wischte sie die Gedanken bei Seite. Van Meerdink hatte sicher nicht mehr im Sinn, als ein paar gute Unterhaltungen, auch wenn manche seiner Bemerkungen etwas anzüglich waren. Immerhin konnte er gut und gern ihr Vater sein.
„Du bist sicher schon viel herumgekommen“, fing Elizabeth an. „Da gab es doch sicher auch schon ein paar skurrile Personen, oder?“
Van Meerdink nickte vielsagend. „Oh ja, die gab es.“
„Erzähl uns von deiner verrücktesten Begegnung“, forderte die Ärztin ihn auf.
Er zog die Augenbrauen hoch und musste erst einmal einen Moment nachdenken. Als ihm etwas einfiel verzog sich sein Mund zu einem leichten Lächeln. „Also eines der verrücktesten Dinge in meinem Leben habe ich vor knapp dreißig Jahren erlebt. Und das war noch nicht mal im Beruf, sondern privat. Während eines Urlaubes. Obwohl ich es damals alles andere als lustig fand. Sie kennen den Planeten Kilmar? Landschaftlich einer der schönsten Planeten, die es gibt. Dort habe ich vor dreißig Jahren, zusammen mit meiner damaligen Frau, Urlaub gemacht. Den ersten seit beinahe zehn Jahren. Meine Arbeit hatte mich so eingespannt, dass ich einfach nicht dazu gekommen war. So sollte das auch ein besonders schöner und unvergesslicher Urlaub werden. Und unvergesslich, das wurde er auf jeden Fall.“ Er sah die beiden Frauen an und versicherte sich ihrer Aufmerksamkeit. Dann fuhr er fort. „Wir wollten einen romantischen und gleichzeitig auch etwas ungewöhnlichen Urlaub machen. Daher sind wir im Planwagen durch die Prärie gezogen. Nur wir beide, ganz für uns alleine. So konnte uns niemand stören. Wir konnten abschalten, waren beinahe unerreichbar und hatten auf alle Technik verzichtet. So konnte ich auch nicht heimlich nebenher arbeiten.
Die Landschaft war herrlich. Die Sonne hatte jeden Tag geschienen, trotzdem ist es nicht übermäßig warm geworden, weil es schon spät im Jahr gewesen war. Kurzum, es war alles vorbereitet für den absolut perfekten Urlaub.
Und dann fing es an. Dieses Pferd, oder was das auch für ein Wesen war, das unseren Wagen gezogen hatte, war nicht sonderlich gut dressiert, um es milde auszudrücken. Es hörte nicht auf Kommandos. Es machte was es wollte. Und hin und wieder ist es auch einfach durchgegangen. Das fing schon gleich in der ersten Nacht an. Wir hatten es uns gemütlich gemacht und wollten gerade tun, was man zu zweit eben so tut, da hörten wir plötzlich das Traben von Hufen. Dann schlug das blöde Tier heftig gegen den Wagen und dann war es weg. Einfach weg. Es hatte sich aus dem Staub gemacht. Wir haben die halbe Nacht und den ganzen nächsten Tag damit zugebracht das dumme Vieh zu suchen. Zu Fuß sind wir durch die Wildnis gezogen und haben unser Pferd gesucht. Ich habe mehr von der Landschaft gesehen als ich wollte. Und eigentlich hatte ich in dem Urlaub mehr von meiner Frau sehen wollen, wenn ihr versteht was ich meine.“ Er machte eine kurze Pause und ließ die beiden erst einmal lachen. „In der zweiten Nacht war dann auch nicht mehr viel mit Liebe. Wir waren so erschöpft von der Suche, dass wir einfach nur geschlafen haben.“ Er schüttelte den Kopf bei den Erinnerungen. „Und so ging es gerade weiter. Auch als das Pferd am Wagen hing ging es mehrmals durch. Ich hatte meine liebe Mühe den Wagen dann wieder unter Kontrolle zu bringen. Am vierten Tag ist das Gelände etwas unebener geworden, als der Gaul mal wieder durchging. Meine Frau hat es dabei vom Wagen geworfen und sie ist kopfüber auf den Boden gefallen.“
Williams und Brooks sahen ihn entsetzt an. „Ist ihr etwas geschehen?“ wollte die Ärztin sofort wissen.
„Das hatte ich selbst erst einige Minuten später erfahren“, setzte van Meerdink seine Geschichte fort. „Ich hab noch etwas mit dem Pferd kämpfen müssen, bis ich es endlich zum Stehen gebracht hatte. Natürlich bin ich dann sofort zurückgerannt und habe mich um sie gekümmert. Sie war bewusstlos und hatte ein wenig Blut am Kopf. Nichts ernstes, aber das wusste ich in dem Moment noch nicht. In mir wollte schon Panik aufsteigen, ich wusste nicht recht was ich tun sollte. Unser Wunsch, für niemanden erreichbar zu sein, war jetzt unser Fluch. Nur an einigen Punkten in dieser Wildnis war es möglich eine Funkverbindung zur Außenwelt aufzubauen. Da es keine Satelliten im Orbit dieses Planeten gibt saßen wir nun fest. Ich habe es dann schließlich geschafft sie zu wecken. Sie war etwas benommen, aber sonst wohl auf. Wir haben es gemeinsam zum Wagen zurück geschafft und dann sind wir zur nächsten Kontaktstation gefahren. Diese Punkte hatten wir zum Glück alle auf unserer Karte eingezeichnet. Dort hat uns dann ein Shuttle abgeholt. Meine Frau kam zur Untersuchung kurz ins Krankenhaus und dieses dämliche Vieh haben sie hoffentlich zu Gulasch verarbeitet.“
Williams verzog ablehnend das Gesicht, musste dann aber auch wieder lachen. „Da hattest du ja wirklich einen romantischen Urlaub“, sagte sie ironisch.
„Ja. Und er war zu diesem Zeitpunkt ja auch noch nicht zu Ende“, erwiderte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. „Es ging ja gerade so weiter.“
„Du bist nochmal mit dem Wagen raus?“ fragte Brooks ungläubig. Nach der Geschichte wäre sie so schnell wie möglich zu ihrer Arbeit zurückgekehrt.
„Nein“, winkte er ab. „Wir hatten genug von dem Wagen. Aber es gibt dort auch viele schöne Seen. Große Seen, bei denen man das andere Ufer nicht mehr sieht, so weit ist es weg. Dort wollten wir in einer kleinen Hütte dann noch ein paar Tage verbringen. Das erschien uns ungefährlich. Und der erste Tag war tatsächlich so toll, wie wir uns das gedacht hatten. Wow, war das ein Tag. Und eine Nacht.“ Er grinste anzüglich. „Am nächsten Tag sind wir auf den See hinaus gefahren. Mit einem Motorboot, das zur Hütte gehört hatte. Und wir waren auch schon ziemlich weit draußen, konnten unser Ufer schon nicht mehr sehen, da ging plötzlich der Motor aus. Und nichts hat ihn wieder zum Laufen gebraucht. Wir saßen mitten auf dem See fest.“ Er machte eine Pause, um die Dramatik seiner Worte zu betonen.
„Und wieder ohne Funkkontakt zur Außenwelt“, riet Williams.
„Genau“, bestätigte er voller Inbrunst. „Ich kann euch gar nicht sagen, wie mulmig es einem da auf einmal werden kann. Wir hatten zum Glück ein kleines Notpaddel, mit dem ich dann wie wild zu Rudern begann. Außerdem haben wir noch eine kleine Strömung gefunden, die wir genutzt hatten. Trotzdem haben wir fast die ganze Nacht gebraucht, um das Ufer zu erreichen. Ich fahre seitdem übrigens auch auf keinen See mehr“, fügte er noch ein, was ihm einen Lacher einbrachte. „Ich glaube ich war körperlich noch nie so erledigt wie an diesem Tag. Und wir waren noch nicht einmal an unserem Ufer. Unsere Hütte war viele Kilometer entfernt. Im Nachhinein habe ich erfahren, es waren knapp zweihundert, wenn man die Uferlinie als Maßstab nimmt und nicht die direkte Luftlinie. Die hätte ja wieder über den See geführt.
Zu unserem Glück haben wir nach zwei Kilometer Fußmarsch eine weitere Hütte gefunden. Sie war unbewohnt, aber es lag ein Boot davor. Das haben wir uns dann ausgeborgt und sind damit zurückgefahren. Immer schön am Ufer entlang. Nur zur Sicherheit.“
„Du hast ein Boot geklaut?“ Williams schien das zwar nicht für richtig zu halten, in diesem Fall aber für amüsant.
„Wir haben es uns geborgt“, gab er bestimmt zurück. „Ich hoffe nur, dass da nicht irgendein armer Kerl dann an dem See festsaß, weil er kein Boot mehr hatte“, grinste er noch. „Und das war dann auch der Urlaub gewesen. Danach wollten wir nur noch so schnell wie möglich wieder weg.“
Sie lachten gemeinsam und stießen dann mit ihren Gläsern an. „Aber dieser Urlaub ist nicht der Grund, weshalb du nicht mehr mit deiner Frau zusammen bist?“ wollte Williams wissen, nachdem sie einen Schluck getrunken hatten.
„Nein“, winkte er leichthin ab. „Ich bin ein Lebemann und ein Workaholic in einem. Damit kommt nicht jede Frau zurecht. Ich war in meinem Leben bisher viermal verheiratet. Keine Ehe hat lange gehalten.“
Staunend zog Williams die Augenbrauen hoch, obwohl sie ihm das durchaus zutraute.
„Mr. Van Meerdink. Haben Sie einen Moment Zeit für uns?“ rief ihm einer der Wissenschaftler zu, die um Sohral herumstanden. Offenbar brauchten sie sein Fachwissen oder seine Meinung.
„Natürlich“, erwiderte der Angesprochene und erhob sich von seinem Stuhl. „Bitte entschuldigt mich“, wandte er sich erst nochmal an die beiden. „Und nicht weglaufen, ich bin gleich wieder da.“
„Wir werden hier sein“, versicherte Elizabeth. Als van Meerdink zu den andern ging sah Wendy sich um Raum um. Es waren vielleicht noch zwanzig Personen anwesend. Der Rest war bereits gegangen. Die Zeit war schneller verflogen, als sie es empfunden hatte.
„Viermal verheiratet“, wiederholte Elizabeth Williams kopfschüttelnd. Sie trank einen weiteren Schluck vom Sekt. „Und, wie steht es um dein Liebesleben?“ wollte sie dann mit einem anzüglichen Grinsen von der Chefingenieurin wissen.
Wendy sah sie überrascht an. Alkohol senkte eindeutig die Hemmschwelle. Noch gestern hätte die Ärztin das nicht zu fragen gewagt, auch wenn sie sonst so neugierig war. „Das existiert nicht“, antwortete Brooks dann. „Ich stelle mich immer zu ungeschickt an. Wenn sich überhaupt mal eine Gelegenheit ergibt. Und das ist nicht oft.“
„Es ist aber auch schwierig, jemanden kennen zu lernen“, sagte die Ärztin und wirkte auf einmal nachdenklich. Schließlich teilte sie das Schicksal Wendys in dieser Sache. „Jemand wildfremdes anzusprechen ist nicht einfach. Außerdem bleibt einem dabei ja nur, nach dem Aussehen zu gehen. Nur die meisten gutaussehenden Männer sind ja entweder schon vergeben oder schwul oder einfach nur Idioten.“
„Manchmal auch alles drei.“ Wendy grinste und dann mussten sie beide lachen.
„Aber wie will man dann jemanden kennenlernen?“ wurde Elizabeth wieder ernst. Offenbar machte sie sich tatsächlich öfters Gedanken über dieses Thema. „Außerdem kann man sich ja ohnehin erst verlieben, wenn man eine Person schon etwas besser kennt und die Gemeinsamkeiten entdeckt und dieselben Neigungen. Wenn man merkt, ohne den anderen ist alles langweilig und öde. Ohne den anderen möchte man nichts mehr machen. Aber um das zu entdecken muss man eine Person doch erst besser kennen. Das ist ein Teufelskreis.“
„Du meinst also, Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht?“ vergewisserte sich Brooks.
„Nein. Das ist Quatsch“, gab sie entschieden zurück.
Die Ingenieurin musste lächeln. „Und ich dachte schon, nur ich denke so. Denn die meisten Frauen träumen ja von der großen Liebe auf den ersten Blick. Aber du hast recht, die wahre Liebe zu finden ist eigentlich fast unmöglich. Außerdem steigen mit der Zeit die Ansprüche. Es ist nicht mehr das gleiche wie mit zwanzig.“
„Und es fällt einem schwerer von liebgewonnenen Gewohnheiten abzukommen“, ergänzte Elizabeth wichtig.
„Genau.“ Sie lachten wieder und tranken einen weiteren Schluck von ihrem Sekt. „Nein, es ist schon in Ordnung, so wie es ist“, sagte Wendy schließlich und ging damit wieder auf die Anfangsfrage ein. „Ich bin meistens ganz glücklich, so wie es ist.“
Elizabeth musste schelmisch grinsen. „Nur ab und zu jemanden fürs Bett, dann wäre es perfekt, oder?“
Wendy musste schmunzeln. Alkohol machte eindeutig gesprächiger. Und erleichterte auch ihre Antwort. „Ja, so was in der Art. Du meinst eine Freundschaft mit Extras.“
Bei der Beschreibung mussten sie lachen. Elizabeth lachte dabei so laut, dass die verbliebenen Anwesenden im Raum sich zu ihnen umwandten. Sie bekamen einige überraschte aber auch amüsierte Blicke zugeworfen. So ausgelassen und leicht beschwipst waren die beiden Damen noch nie gesehen worden. Sohral, der noch immer bei den Wissenschaftlern stand, zog die rechte Augenbraue hoch. Das Verhalten der beiden Frauen zeigte ihm einmal mehr die Schwäche der menschlichen Rasse.
„Ich glaube, wir sollten etwas leiser sein“, flüsterte Elizabeth grinsend.
Wendy stellte ihr Glas auf den Tisch. „Und ich glaube, wir sollten allmählich ins Bett gehen. Unser Dienst beginnt in einigen Stunden.“
Widerwillig nickte Williams. Doch natürlich wusste sie, dass Wendy recht hatte. Sie hatte genug Disziplin und war nicht so sehr betrunken, um das nicht mehr einzusehen. Daher standen sie beide und gingen, konzentriert darauf, gerade zu laufen, zur Tür.
Mit einem deutlichen Seufzen ließ sich Sanawey auf das Sofa in seinem Quartier fallen. Seine Augen brannten und ein Gähnen überkam ihn, als ob er seit Tagen nicht mehr geschlafen hätte. Das traf zwar nicht ganz zu, immerhin war er jede Nacht doch irgendwann eingenickt, aber Ruhe hatte er dabei nicht gefunden. Das hatte er nicht mehr, seit Karja an Bord gekommen war. Der Gedanke, ein Kind zu haben, um das er sich nie gekümmert hatte, setzte ihm noch immer zu. Er war Vater. Er war wahrhaft Vater. Es gab einen Menschen, der seine Gene trug und der von ihm abstammte. Sein eigen Fleisch und Blut. Aber er hatte als Vater versagt, dabei hatte er noch nicht einmal eine Chance bekommen sich zu beweisen. Nun hasste ihn seine Tochter, wohl auch völlig zu Recht. Und da sie nicht einmal richtig mit ihm reden wollte und jeden seiner Gesprächsversuche ablehnte, würden sie sich wohl niemals allzu viel zu sagen haben. Es war so unfair und so falsch. Doch das Leben war selten fair, daher blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit der Situation zu arrangieren. Nur war das leichter gesagt als getan. Natürlich war ihm bewusst, wenn Karja nicht mit ihm reden wollte, dann musste er das akzeptieren. Dann konnte er nichts weiter tun, als ihr Glück und alles Gute zu wünschen und sie dann ihrer Wege gehen lassen. Nur, ob er damit glücklich werden konnte, das wusste er nicht.
Mühsam stand er auf und ging ins Bad. Alles Grübeln brachte nichts. Er konnte unmöglich alles vorher sehen oder planen. Er konnte zwar immer und immer wieder alle Eventualitäten im Kopf durchspielen, doch letztlich würde es ohnehin anders kommen. Er hatte es selbst nicht in der Hand, daher konnte er auf die Entwicklungen immer nur reagieren.
Im Bad klatschte er sich erst einmal kaltes Wasser ins Gesicht, um die Gedanken fort zu waschen. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Er musste sein inneres Gleichgewicht wieder finden, sonst würde er nie wieder Ruhe finden. Dann stützte er sich mit beiden Händen an der Wand links und rechts des Spiegels ab und sah hinein. Ein alter und müde wirkender Mann sah ihm daraus entgegen. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab. Auch die Augen selbst wirkten grau und müde. Dieser Mann wirkte nicht so entschlossen und so kämpferisch, wie der Mann, der ihm sonst immer aus dem Spiegel entgegen sah. Familienangelegenheiten zu klären war wesentlich belastender als die Verantwortung für eine vierhundertköpfige Crew. Zumal er dabei normalerweise auch wusste, was seine Aufgabe und wer der Gegner war.
Schließlich stieß er sich mit einem Ruck von der Wand ab. Im Spiegel würde er wohl kaum eine Erkenntnis finden. Müde steifte er das Uniformoberteil ab. Es half alles nichts, er musste endlich Ruhe finden und mal wieder richtig schlafen. Und vielleicht würde es ihm ja heute gelingen. Dann würde die Welt morgen schon wieder ganz anders aussehen.
Gerade als er sich weiter entkleiden wollte, summte der Türmelder. Jemand stand vor der Tür und wollte eintreten. Sofort keimte in Sanawey die unsinnige Hoffnung auf, dass es Karja sein könnte, die sich mit ihm aussöhnen wollte. Obwohl ihm bewusst war, wie unwahrscheinlich das wäre.
Es summte erneut und holte Sanawey aus seinen Gedanken zurück. Er ging zur Tür und öffnete sie. Dr. Williams stand davor und musterte ihn kurz. Er trug nur noch seine Uniformhose und mit einem Blick auf seinen Oberkörper musste sie mal wieder feststellen, dass er für sein Alter noch immer sehr fit war. Aber natürlich wusste sie das ohnehin aus den medizinischen Untersuchungen, die sie regelmäßig durchführte. Daher ließ sie sich auch nicht beirren und begann sofort. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt?“ sagte sie, war sich aber sicher, das nicht getan zu haben. Sonst würde er ein wenig anders drein schauen, auch wenn er ziemlich erschöpft wirkte.
„Nein“, schüttelte er den Kopf und bat sie dann herein.
Sie trat ein, blieb dann aber gleich hinter der sich schließenden Türe stehen. „Tut mir leid, Sie jetzt noch zu stören, aber ich habe etwas zu Karjas Mutter herausgefunden und ich dachte, das würde Sie brennend interessieren“, rechtfertigte sie ihr Erscheinen.
„Ja, das ist richtig.“ Sanawey schien sofort wieder etwas wacher zu sein. „Was ist es? Wer ist ihre Mutter?“
„Ihre Mutter war Janet Romain“, eröffnete sie ihm die Nachricht ohne zu zögern.
Langsam nickte Sanawey. „Ja, das hatte ich schon erwartet“, sagte er ruhig. Er wollte sich gerade abwenden, als ihm ihre Formulierung bewusst wurde. „Sie sagten, sie war ihre Mutter?“ hakte er nach.
Williams nickte knapp und dieses Mal zögerte sie einen Moment. „Janet Romain ist tot“, sagte sie schließlich leise.
Obwohl er Janet seit knapp zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, traf ihn die Nachricht doch wie ein Hammerschlag. In den letzten Tagen hatte ihn seine Vergangenheit unerwartet plötzlich eingeholt. All die Gefühle und Empfindungen von damals waren wieder so präsent, als ob das alles erst gestern geschehen wäre. Seine Liebe für Janet war mit einem Mal wieder aufgeflammt und mit ihr die Hoffnung sie durch Karja wieder sehen zu können. Vielleicht hätte er auch endlich eine Erklärung für ihr damaliges Verschwinden bekommen können. Aber eigentlich war das nebensächlich. Die Hoffnung, sie wieder zu sehen, hatte längst verschüttet geglaubte Gefühle wieder geweckt. Die nun mit kurzen Worten zunichte gemacht wurden und ihm zu schaffen machte. Eine solche Achterbahn an Gefühlen hatte er geglaubt nie wieder erleben zu müssen. Schließlich waren solche widersprüchlichen Gefühle nur etwas für junge Leute.
Schwer atmend ging er die wenigen Schritte zur Couch und setzte sich. Williams folgte ihm besorgt und nahm mit ein wenig Abstand neben ihm Platz. Sie schwieg aber erst einmal und ließ ihm Zeit, die Nachricht aufzunehmen und zu verarbeiten.
Schließlich wandte Sanawey sich ihr zu. Die Schmerzen, die ihn innerlich plagten, waren ihm deutlich in den Augen anzusehen. Trotzdem hielt er sich tapfer und hatte eine erstaunlich feste Stimme, als er sie ansprach. „Wie haben Sie das erfahren?“
„Ich hatte verschiedene Anfragen an die Behörden gestellt“, erklärte sie. „Sowohl an die zivilen Stellen, wie auch an die Sternenflotte. Da gibt es Möglichkeiten, die Zivilisten nicht haben. Darum hatte Karja nichts herausfinden können.“
Sanawey nickte langsam. Letztlich spielte es auch keine Rolle, wer die Information weiter gegeben hatte. Es änderte nichts am Ergebnis. „Wissen Sie, wann es passiert ist? Und wie?“ wollte Sanawey noch wissen.
„Sie starb bereits vor knapp zwei Jahren“, gab Williams das wieder, was sie in Erfahrung hatte bringen können. „Das genaue Datum ist nicht bekannt. Sie verließ damals die Erde mit einer Gruppe Kolonisten. Ihr Ziel war das Aldebaran-System. Dort wollten sie sich wohl einer neu gegründeten Siedlung anschließen. Es war eine ziemlich bunt zusammen gewürfelte Truppe. Vor allem Anhänger der Anti-Technologie-Bewegung.“
Erstaunt sah Sanawey sie an. Das konnte er nun wirklich kaum glauben. Janet eine Anhängerin der Anti-Technologie-Bewegung? Das war für ihn nur schwer vorstellbar.
Es gab auf der Erde ein paar kleinere Gruppen, die sich in die entstandene Lücke drängten, welche sich nach dem Rückzug der einstigen großen Weltreligionen gebildet hatte. Seit Beginn der Industrialisierung, spätestens aber seit dem Jahrtausendwechsel hatten die Religionen immer mehr an Einfluss verloren. Der Grund war weniger der schwindende Glaube sondern mehr die Art und Weise, wie sich die Religionen gegen die neue Weltordnung auflehnten und an alten und längst überholten Ansichten festhielten. Sie predigten an den Menschen und der Wirklichkeit vorbei und erreichten sie dadurch nicht mehr. Der dritte Weltkrieg und der Aufbruch der Menschheit ins All ließ die meisten Menschen erkennen, dass man nur ein kleiner und winziger Planet in den Weiten des Alls war. Und dass man nur miteinander überleben konnte. Die unterschiedlichen Religionen standen dem im Wege, denn trotz aller vorgeschobener Toleranz zueinander, beharrte doch jeder auf seinen Ansichten. Eine gemeinsame Basis gab es somit nicht, was die meisten Menschen schließlich erkannten und den Religionen den Rücken zukehrten. Verstärkt wurde dieser Effekt noch durch die Reisen ins All, bei denen man bisher noch keinen göttlichen oder gottähnlichen Wesen begegnet war. Fast schien es so, als sei der Glaube an höhere Wesen für die Menschheit nicht mehr wichtig. Hatte dieser Glauben in der Vergangenheit Halt und Beruhigung verschafft, um sich durch die Wirren der Geschichte zu kämpfen, so hatte sich nun die Zuversicht durchgesetzt, dass die Menschheit selbst Entwicklungspotential hatte, um vielleicht selbst einmal zu höher entwickelten Wesen zu werden. Die Religionen hatten das nicht akzeptieren können, hätte es sie doch ihrer Existenzgrundlagen beraubt. So waren sie zu unbedeutenden Organisationen zusammengeschrumpft.
Stattdessen bildeten sich verschiedene andere Bewegungen, denen sich manche Menschen anschlossen. Zu diesen gehörte auch die Anti-Technologie-Bewegung. Sie predigten den Verlust von menschlichen Werten und Identität durch den immer größer werdenden Einsatz von Maschinen und künstlicher Intelligenz. In ihren Augen nahm die Technologie den Menschen zu viel Arbeit ab. Sie predigten die Rückkehr zur Natur und zu körperlicher Arbeit. Nur das würde den Menschen die gesuchte Erlösung bringen.
Es war eine kleine Gruppe, die vor etwas mehr als zwei Jahren im Aldebaran-System eine Kolonie gegründet hatte. Und Janet Romain war offensichtlich auf dem Weg dorthin gewesen.
„Das Schiff war nach dem Start noch vier Wochen lang auf Kurs“, fuhr Williams mit ihrem Bericht fort. „Dann aber verschwand es urplötzlich von den Bildschirmen der Flugüberwachung. Es hatte keinen Notruf oder Anzeichen für ein Problem gegeben. Das Schiff war einfach weg. Die Sternenflotte hatte auch erst acht Monate später die Möglichkeit ein Schiff zur Suche zu entsenden. Es wurde jedoch nichts gefunden. Keine Trümmer, nichts. Weder im All, noch auf dem nächstgelegenem Planeten. Man geht inzwischen davon aus, dass das Schiff bei einer Explosion vollständig zerstört wurde.“ Williams zuckte entschuldigend mit den Schultern. Sie bedauerte, ihm keine besseren Nachrichten überbringen zu können.
Sanawey lächelte humorlos. „Welch eine Ironie. Wäre diese Gruppe ihren Prinzipien wirklich treu geblieben, hätten sie die Erde nie verlassen dürfen, denn das ist ohne Technologie gar nicht möglich. Dann würden die alle noch leben. In ihrem Fall haben sich die eigenen Prophezeiungen als richtig erwiesen, wonach die Technologie uns eines Tages noch umbringen würde.“
Die Ärztin sah in kurz verwirrt an. So hatte sie es noch gar nicht betrachtet. Als Ärztin war sie einfach nur über die vielen Toten entsetzt gewesen. Die Ironie darin war ihr dabei nicht aufgefallen. Sie nickte nur, sagte aber nichts dazu.
„Dann ist sie bereits seit zwei Jahren tot“, resümierte Sanawey. „Das macht die Situation nicht einfacher.“ Er hatte daran gedacht mit Karjas Mutter zu sprechen. Vielleicht hätte sie Karja alles erklären können, wenn Karja ihr zugehört hätte. Oder Karja hätte zu ihr gehen können. Doch all diese Überlegungen hatten sich nun überholt. Zudem kam er jetzt noch als Überbringer einer schlechten Nachricht zu seiner Tochter. Vermutlich würde Karja ihm das auch negativ anrechnen. Doch er musste es ihr sagen. Sie hatte ein Recht es zu erfahren.
„Danke, Doktor, für Ihre Bemühungen“, sagte er schließlich. Jetzt wusste er wenigstens woran er war.
„Gerne“, nickte Williams ernst. „Auch wenn es nicht ganz die Nachricht war, die Sie gerne gehört hätten.“
„Schon gut“, nickte Sanawey. „An den Entwicklungen trifft Sie ja keine Schuld.“ Er merkte, dass sie sich ein wenig schuldig fühlte für die schlechten Nachrichten. Mit völlig anderem Bewusstsein sah er sie an. Sie war zwar knappe zwölf Jahre älter als Karja, aber sie hätte durchaus ebenfalls seine Tochter sein können. Dessen war er sich noch nie so bewusst gewesen. Mit Erstaunen musste er feststellen, wie eigene Kinder die Perspektiven verschoben.
Williams wusste von seinen Gedankengängen nichts. Sie erhob sich und verabschiedete sich vom Captain. Bevor sie sein Quartier verließ wandte sie sich noch einmal um. „Falls Sie möchten, dass ich auch nochmal mit Karja rede, dann lassen Sie es mich wissen.“ Es war ein gut gemeintes Angebot von ihr, als Vermittlerin tätig zu werden. Er war sich aber nicht sicher, ob Karja das wirklich gewollt hätte.
Daher nickte er höflich. „Ich gebe Ihnen dann Bescheid“, sagte er, war sich aber sicher, das nur im absoluten Notfall zu tun.
Dann war er alleine. Seine Gedanken kreisten nur um Williams‘ Worte. Mit einem Mal wusste er, dass er auch in dieser Nacht keine Ruhe finden würde. Bereits jetzt versuchte er gedanklich die richtigen Worte für Karja zu finden. Doch gab es für so etwas überhaupt richtige Worte? Ihm fielen zumindest keine ein.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bereits nach dreiundzwanzig Uhr war. Trotzdem wollte er Karja umgehend informieren. Auf keinen Fall wollte er das unnötig lange hinaus ziehen. Denn er war sich sicher, dass sie dafür kein Verständnis haben würde.
Er zog seine Uniform wieder an und machte sich dann auf den Weg zu Karjas Quartier. Als er dort den Türmelder betätigte dauerte es etwas länger, bis sich etwas tat. Er war schon versucht wieder zu gehen, als sich doch noch die Türe öffnete. Karja stand vor ihm, eingehüllt in einen Bademantel und mit etwas zerzaustem Haar. Als sie ihn erblickte verfinsterte sich ihr Gesicht und sie wirkte etwas genervt.
„Hallo Karja, ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt“, begann Sanawey vorsichtig.
„Nein“, schüttelte sie knapp den Kopf. Unter ihrem Bademantel trug sie ein Nachthemd. Offenbar hatte sie sich bereits bettfertig gemacht. Oder vielleicht doch schon geschlafen, was sie sicher nicht zugeben würde.
„Tut mir leid, wenn ich dich so spät noch störe, aber es ist wichtig. Sonst wäre ich nicht hier“, fügte er noch hinzu, um die Dringlichkeit zu unterstreichen.
Zu seiner Überraschung trat sie beiseite und ließ ihn herein. Vielleicht hatte die vorgerückte Stunde etwas von ihrer Wut genommen. Vielleicht war sie aber auch noch nicht richtig wach, um ihn direkt anzugreifen. Er hatte sich bereits auf einen längeren Kampf eingestellt und darauf, ihr die schlechte Nachricht auf dem Gang überbringen zu müssen. Nun trat er ein. Das Licht war gedämpft und ein angenehmer Vanilleduft lag in der Luft. Das Quartier bestand aber nach wie vor aus der Standardausstattung. Nichts Persönliches war zu sehen. Sie bewohnte immer noch eines der Gästequartiere. Hier durfte sie auch nicht einfach die Möbel so umstellen, wie sie es gerne gehabt hätte. Sie musste sich damit arrangieren, wie es war.
Da Sanawey nicht wusste, ob er sich setzten durfte, blieb er erst einmal stehen bis Karja ihn aufforderte Platz zu nehmen. Sie selbst wickelte den Bademantel fester um sich, um zu vermeiden, dass sich irgendwo eine Lücke auftat, die Blicke zulassen würde. Dann setzte sie sich so weit weg, wie es möglich war.
„Was gibt es denn so dringendes?“ Die Spitze in ihrem Ton war nicht zu überhören. Sie konnte sich nicht vorstellen, was es denn so wichtiges geben könnte, dass er so spät noch zu ihr kam. Die letzten Gesprächsversuche hatte sie von vornherein abgeblockt. Und langsam fragte sie sich, warum sie das dieses Mal nicht auch getan hatte. Schließlich hatte sich nichts geändert. Es gab keinen Grund jetzt mit ihm zu reden.
„Dr. Williams hat Nachforschungen zu deiner Mutter angestellt“, begann Sanawey langsam und erntete für diese Bemerkung einen spöttischen Blick. Sie unterstellte ihm schon wieder einen üblen Hintergedanken für diese Nachforschungen. „Und sie hat sie tatsächlich ausfindig machen können.“
Unfreiwillig horchte Karja auf. Hatte er tatsächlich das geschafft, was sie nicht erreichen konnte? Hatte er wirklich ihre Mutter finden können? Dann war ihr Ausflug auf dieses Schiff doch nicht überflüssig gewesen.
„Leider sind es keine guten Nachrichten“, fuhr Sanawey fort. Karja spürte, wie sie sich verkrampfte. „Janet war auf dem Weg ins Aldebaran-System und starb bei einem Unfall ihres Transportschiffes“, kam es schließlich über seine Lippen.
Karja war sprachlos. Auf diese Nachricht war sie nicht vorbereitet gewesen. Wie sollte sie auch? Zwar hatte sie ihre Mutter seit Jahren nicht mehr gesehen und sie war sich auch nicht sicher, ob sie tief in ihrem Inneren ohnehin nicht mehr damit gerechnet hatte, sie nochmal zu sehen. Aber die Gewissheit, sie wirklich nie wieder zu sehen, war dann doch etwas ganz anderes.
Sie musste ein paar Mal heftig schlucken um vor ihrem verhassten Vater nicht in Tränen auszubrechen. Das war die ganze Sache nicht wert. Soweit wollte sie sich vor ihm nicht gehen lassen. Er brauchte den Schmerz nicht zu sehen, den sie empfand. Daher sah sie kämpferisch auf. „Was wissen Sie noch darüber?“ Sie musste wissen, wie es passiert ist. Nur wenn das plausibel klang wollte sie ihm glauben, auch wenn sie eigentlich keinen Zweifel daran hatte.
Sanawey berichtete von der Anti-Technologie-Bewegung und von Janet, die mit auf diesen Flug ging. Karja nahm das alles bewegungslos auf. Sie verzog keine Miene. Es passte alles zusammen. Vielleicht war diese Bewegung auch der Grund für ihr immer weiter vorangeschrittenes Desinteresse gewesen. Vielleicht hatte sie mit dem technisierten Leben abgeschlossen und wollte nur noch alleine mit der Natur sein. Dann waren diese Fanatiker Schuld an ihrem Tod. Sie hatten ihre Worte wie Gift in sie eingeflößt, bis sie diesen Blödsinn geglaubt hatte. Diese Leute trugen die Schuld und Karjas Zorn richtete sich nun auch gegen sie. Sie wollte Rache haben, doch wie sollte sie alleine gegen eine solche Organisation antreten, gegen einen Glauben an eine Weltordnung, der sich in den Köpfen dieser Leute festgesetzt hatte? So schnell wie ihr Zorn entflammt war verrauchte er auch wieder angesichts der Erkenntnis nichts tun zu können. Es war noch zu früh für solche Gefühle. Sie würden erst nach und nach wieder von ihr Besitz ergreifen.
So sagten sie erst einmal beide nichts und schwiegen sich an. Sanawey hatte den ungeheuer starken Drang seine Tochter in den Arm zu nehmen und zu trösten. Doch er wusste, sie würde sofort wieder mit Ablehnung reagieren. Daher rutschte er nur ein kleines bisschen näher und legte ihr seine Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid“, sagte er mit so viel aufrichtigem Bedauern in der Stimme, dass Karja einen Moment irritiert war. Sie kehrte mit ihren Gedanken aus einer weit entfernten Welt zurück und sah ihn mit einem Blick an, der ihm einen warmen Schauer über den Rücken laufen ließ und ihn weiter reden ließ. „Und eines solltest du wissen. Wenn du etwas brauchst oder jemanden zum Reden, dann bin ich immer für dich da. Egal wann und egal wo.“ Er konnte kaum noch an sich halten. Brachte Janets Tod die Mauer zwischen ihnen beiden zum Einstürzen?
Karjas Augen verengten sich langsam und ihr Blick wurde wieder kalt. Ihre Stimme war wie Eis, als sie ihm antwortete. „Ach ja? Und wo waren Sie bisher? Wo waren Sie, als wir sie gebraucht hätten? Wenn Sie nicht gegangen wären, wer weiß, vielleicht würde meine Mutter dann noch leben. Glauben Sie ja nicht, ihr Tod würde auch nur irgendwas ändern. Für mich war sie schon lange tot, daher macht es keinen Unterschied.“ Sie redete sich erneut in Rage und erschrocken zog Sanawey seine Hand zurück, bevor sie sie wegschlagen konnte. „Der einzige Unterschied ist, dass Sie noch mehr Schuld auf sich geladen haben.“
Enttäuscht seufzte Sanawey. Der kurze Moment der Vertrautheit war wieder verflogen. Sie führte sich wieder auf wie ein Racheengel, der gekommen war um ihn zu holen. Mit einem letzten Versuch bemühte er sich, sie zu beschwichtigen, doch es gelang ihm nicht. So stand er schließlich auf. Er hatte ihr alles gesagt, was sie wissen musste. Und sein Angebot für sie da zu sein, wenn sie bereit war, galt selbstverständlich weiter, aber er musste sich auch nicht beschimpfen lassen. Nicht schon wieder. Daher verabschiedete er sich knapp und verließ dann das Quartier. Es war einfach frustrierend auf solch eine sture Haltung zu treffen. Karja war in seinen Augen nicht im mindestens daran interessiert einen Dialog zwischen ihnen entstehen zu lassen. Jedes weitere Wort war damit fürs erste absolut überflüssig. Mit einem Gefühl der Leere und Trauer ging er zurück zu seinem Quartier. Er war sich sicher, auch diese Nacht würde er wieder keine Ruhe finden.
Karja hatte noch eine Zeitlang die Türe angestarrt, die sich hinter ihrem Vater wieder geschlossen hatte. Widersprüchliche Empfindungen trieben sie um. Der Hass auf ihren Vater, die Trauer um ihre Mutter, die Ungewissheit vor der Zukunft. Es war verwirrend. Nichts war mehr klar, alles schien sich zu ändern. Aber nicht so, wie sie es gewollt hatte. Ihr ganzes Weltbild veränderte sich und sie hatte keinen Einfluss darauf, in welche Richtung es gehen sollte. Sie wurde von den Gezeiten des Schicksals umhergetrieben. Und statt besser schien alles immer schlimmer zu werden. Statt Klarheit zu erlangen hatte sie auf diesem Schiff nur noch mehr Verwirrung erfahren. Und dieses Gefühlschaos schien immer neue Gipfel zu erklimmen. Was erste Risse in ihrer Mauer entstehen ließ, mit der sie sich schützte. Es gab so viel Widersprüchliches. So war ihr Vater extra noch hierhergekommen, um sie über den Tod ihrer Mutter zu informieren. Und er schien ehrlich interessiert zu sein. Er bemühte sich um sie, suchte immer wieder das Gespräch. War er etwa doch nicht so ein Arsch wie sie gedacht hatte? Aber warum hatte er sie dann damals einfach zurückgelassen und sich nie gemeldet? Und die Erzählungen ihrer Tante? Waren die etwa alle gelogen? Das konnte wohl kaum sein. Eine gute Tat machte nicht alles andere wett. Außerdem wollte sie nicht ihr Leben lang einem Phantom ihre Wut entgegengeschleudert haben. Er musste einfach das Monster sein, für das sie ihn immer gehalten hatte.
Ihr Kopf schmerzte und die Trauer um ihre Mutter überwältigte sie. So fiel sie dann doch noch in einen unruhigen Schlaf, der ihr wenigstens etwas Ruhe brachte.
Rick saß auf seinem Bett und starrte trüb an die Wand. Er hatte das Quartier noch immer alleine für sich, da Milan noch immer auf der Krankenstation lag. Und er hatte die Gelegenheit genutzt und seine Schmuggelware aus dem letzten Landurlaub ausgepackt. Es war ein Alkoholkonzentrat, das man Getränken beimischen konnte. Auf die Weise konnte er das Alkoholverbot an Bord umgehen. Und das hatte er ausgiebig getan. Seit gut vier Stunden, seit er seine Schicht beendet hatte, saß er schon hier und trank ein Glas nach dem anderen. Mit jedem hatte er die Alkoholdosis erhöht und jetzt konnte er kaum noch einen klaren Gedanken fassen, so betrunken war er inzwischen. Die abgestandene und miefige Luft im Raum tat ihr übriges. Rick hatte die Frischluftzufuhr auf das absolute vom Computer akzeptierte Mindestmaß zurückgefahren.
Doch auch all der Alkohol, den er intus hatte, brachte seine Gedanken nicht zum Schweigen. Noch immer quälten ihn Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Es waren schon beinahe körperliche Schmerzen, die er dabei empfand. Er hatte seinen Schmerz herausgeschrien, doch die schalldichten Wände hatten seinen Ruf nicht nach draußen gelassen. So war er ungehört verklungen. Er hatte vor Verzweiflung geweint, doch da war niemand, der ihm die Tränen hätte trocknen können. Er war noch immer alleine. Der einzige, der ihm zuhörte war der Computer. Aber es war eben nur ein Computer, der auf gestellte Fragen nur mit wissenschaftlich fundierter und nüchterner Sachlichkeit antwortete. Früher hatte es noch einen gewissen Reiz gehabt, mit der künstliche Intelligenz in Interaktion zu treten. Er war ein richtiger Freak gewesen, wie man im zwanzigsten Jahrhundert gesagt hätte. Er hatte den Computer verwirren wollen, ihn mit logischen Argumenten eigene Widersprüche erzeugen lassen wollen. Was ihm nie gelungen war. Und mit den immer gleichen Antworten des Computers hatte das Spiel seinen Reiz verloren. Es war eben doch nur eine Maschine, eine künstliche Intelligenz zwar, aber doch nur eine programmierte. Es war keine echte Intelligenz und damit keine echte Unterhaltung. Nur Fragen und Antworten. Antworten, die ihm aber nicht ausreichten. So war ihm nun nur noch der Alkohol geblieben. Doch nicht einmal er konnte ihm mehr helfen.
Nur langsam konnte er den Kopf wenden, da sich sonst alles um ihn herum drehte. Er sah auf den kleinen Tisch neben seinem Bett, auf dem ein Phaser lag. Das war das einzig Gute an der Sternenflotte, man kam leichter an Waffen heran als ein Zivilist. Der Phaser glänzte merkwürdig im gedämpften Licht des Raumes. So, als ob er ihn auffordernd anlächeln würde, endlich einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen. Dem Ganzen ein Ende zu setzten, bevor es noch schlimmer wurde. Einen Abgang, mit einem winzigen Rest an Würde, falls er davon überhaupt noch etwas hatte.
Doch Rick schloss die Augen. Offenbar fehlte es ihm doch am Mut, das zu tun. Wie schon so oft. Wie oft hatte er den heimlich aus der Waffenkammer entwendeten Phaser am nächsten Tag mit pochendem Herzen zurückgebracht, jedes Mal mit der Angst vor der Frage, was er damit vorgehabt hatte. Doch noch nie war er erwischt worden. Und es würde dieses Mal wieder so laufen. Warum schaffte er es einfach nicht? Sein Leben war eine einzige Qual und doch schien er daran zu hängen. Sein alkoholumnebeltes Gehirn biss sich an der Frage fest. Gab es etwas, an dem er hing?
Seinen Job?
Vielleicht. Jedenfalls tat er ihn gerne. Meistens auf jeden Fall. Nicht gerade mit Begeisterung, aber auch nicht mit Ablehnung.
Seine Freunde?
Das war wohl kaum möglich, denn er hatte keine Freunde. Seine Schulkameraden, die sich ständig auf seine Kosten lustig gemacht hatte, wollte er nicht mehr sehen. Und auf der Sternenflottenakademie hatte er nie Freundschaften geschlossen. Ebenso wenig wie hier auf dem Schiff. Obwohl er schon über ein Jahr hier war.
Oder war es gar Karja, an der er hing? Weil dann selbst die kleinste Hoffnung auf ein Leben mit ihr mit ihm sterben würde? Aber gab es denn Hoffnung? Es hieß, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber das traf ganz sicher nicht auf ihn zu. Er hätte niemals Chancen bei ihr, und tief in seinem Inneren wusste er das auch. Sie kannte ihn ja nicht einmal. Wie sollte da dann Hoffnung bestehen? Also warum sollte er sein Leben nicht beenden? Dann würde sie wenigstens mitbekommen, dass es ihn gegeben hatte.
Rick seufzte und stand auf. Er konnte kaum noch gerade stehen. Langsam schwankte er nach vorn und wieder zurück, so als stände er bei starkem Seegang auf einem Schiff. Mühsam zog er einen Fuß nach vorne und stieß dabei das Glas vom Tisch. Mit einem dumpfen Ton schlug es auf dem Teppich auf und zersprang. Er nahm das aber kaum zur Kenntnis. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, lief er durch den Raum und blieb schließlich vor einem Spiegel stehen. Aus trüben Augen, vor deren eingeengtem Blickfeld sich alles drehte, blickte er die traurige Kreatur im Spiegel an. Die dunklen Haare waren ungekämmt, die Schultern hingen schlaff nach unten. Seine Uniform, die er nach Dienstende nicht ausgezogen hatte, hing unförmig und fleckig an ihm. Offenbar hatte nicht mehr alles, was er im Glas gehabt hatte, seinen Mund erreicht. Leere Augen blickten ihm glasig und gleichgültig entgegen.
„Wen siehst du da?“ fragte er schwer lallend sein Spiegelbild.
„Einen Versager. Einen Verlierer. Ein Niemand. Du hast keine Freunde. Niemand kann dich leiden. Du bist überall nur im Weg und jeder ist froh, wenn du nicht dabei bist. Niemals würde dich jemand fragen, ob du bei irgendwas dabei sein willst.
Außerdem bist du ein verdammter Feigling. Du hast Angst, dich gegen deinen bisherigen Lebenswandel zu stellen und etwas zu ändern. Du hast dich zu sehr an die Scheiße gewöhnt in der du steckst. Du bist ein Versager, der absolut nichts zustande bringt. Ein jämmerlicher Bastard, der sich vor allem drückt, selbst vor dem Leben. Du bist absolut nichts wert. Weniger als nichts. An dir hat Gott seine Arbeit umsonst getan. Fahr zur Hölle und geh den Anderen nicht mehr auf den Sack.
“
Rick sah in den Spiegel und schwieg. Er wusste nicht, ob er die Worte selbst gesprochen hatte oder ob das sein Spiegelbild getan hatte. Aber er erkannte, dass es auf jeden Fall die Wahrheit war. Die verdammte Wahrheit. Und es gab nichts, was er zu seiner Verteidigung noch hätte sagen können.
Ich sollte es endlich tun, dachte er und wankte langsam zurück zum Bett und zum Phaser auf dem Tisch.
Anderseits sah Selbstmord so verdammt feige aus. Ein Heldentod wäre viel besser. Doch wie sollte er das anstellen? Er konnte auf die Schnelle ja wohl kaum einen Klingonen herbekommen, gegen den er zur Verteidigung des Schiffes kämpfen musste, um dann ehrenvoll getötet zu werden. Außerdem würde dann niemand merken, dass er Probleme hatte. Aber das sollten sie alle merken. Alle sollten merken, wie einsam er war, wie sie ihn alleine gelassen hatten. Alleine mit sich. Alleine mit seinen Problemen. Sie sollten merken, dass er verzweifelt gewesen war. Und dass sich niemand um ihn gekümmert hatte. Sie alle sollten sich Vorwürfe machen, dass sie ihm nicht geholfen hatten. Sie sollten alle an ihn denken, wenigstens das eine Mal. Sie sollten an ihn denken und sich Fragen nach dem Wieso und Weshalb stellen. Und die unbeantworteten Fragen sollten sie quälen. Ihr Gewissen sollte sich regen, das war der Preis dafür, dass sie sich nicht um ihn gekümmert hatten. Und so blieb er wenigstens noch eine zeitlang Gesprächsstoff. Wenn er das im Leben schon nie war, dann wenigstens im Tod.
Langsam öffnete Rick die Augen und eine Träne lief ihm über die Wange. Verdammt, wieso ich? stelle er sich immer wieder dieselbe Frage. Aber niemand gab ihm darauf eine Antwort. Es blieb so still im Raum, wie schon die ganze Zeit.
Zitternd hob er seine Hand zum Phaser. Doch kurz bevor er ihn berührte zögerte er. Seine Hand blieb einige Sekunden zitternd über der Waffe, dann fasste er schnell zu. Der Metallgriff fühlte sich seltsam kalt an. Ein Gefühl, das ihn ein Stück zurückholte in die Realität, raus aus seinem Selbstmitleid. Aber eben nur ein Stück. Vorsichtig nahm er den Phaser zu sich heran. Er war auf maximale Betäubung gestellt. Auf diese Weise konnte man die Auslösung des Alarms verhindern und ein aufgesetzter Kopfschuss endete trotzdem tödlich.
Langsam, sehr langsam, fast schon in Zeitlupengeschwindigkeit, hob er sich den Phaser an die Stirn. Wie oft war er schon so weit gewesen. Und wie oft hatte er dann wieder abgebrochen, um heulend und hadernd in unruhigem Schlaf zu versinken.
Tu es nicht
, schrie eine Stimme in ihm. Tu es nicht. Lass es. Dazu ist das Leben viel zu wertvoll
.
Seine eigenen Gedanken schrien dagegen. Tu es endlich, du Feigling. Worauf wartest du noch. Dein Leben wird sich nie ändern
.
Das Zittern in Ricks Händen nahm zu. Sein Zeigefinger lag auf dem Abschussknopf. Er spannte sich, bereit abzudrücken.
Doch dann ließ Rick den Phaser sinken. Wie jedes Mal. Und in ihm heulte eine Stimme auf. Du Feigling. Nie wirst du an deinem Leben etwas ändern. Dich wird nie jemand beachten. Du wirst nie Freunde finden. Du bleibst ewig ausgeschlossen aus dem Umfeld. Denn du bist ein Versager
.
Rick saß zusammengesunken da, und starrte die Wand an. Versager, hallte es immer wieder durch sein Gehirn. Versager, Versager, Versager
. Sein Leben würde sich nie ändern, das war gewiss. Warum sollte er es dann nicht beenden? Sein Blick glitt zu der Waffe, die er in der Hand hielt. Ich werde euch verlassen, dachte er. Dann hob er blitzschnell den Phaser an den Kopf und drückte ab.
Eine kaum sichtbare Entladung schoss durch seinen Kopf. Eine Energiewelle, die innerhalb eines Bruchteiles einer Sekunde sein Gehirn überflutete, die Nervenbahnen zerstörte und seine Gedanken endlich zum Schweigen brachte. Durch die Wucht des Phaserrückstoßes wurde sein Kopf zurückgeworfen. Ein wenig Blut lief aus einer Wunde an der Schläfe den Hals hinunter. Das Leben in seinen Augen erlosch mit kurzer Verzögerung. Seine erschlaffte Hand wurde zurückgeworfen und sein Körper fiel leblos zu Seite. So blieb er auf dem Bett liegen. Die Hand, die noch immer den Phaser festhielt, entspannte sich nun und gab dadurch die Waffe frei. Langsam rutschte sie ihm aus den Fingern und fiel dumpf polternd zu Boden.
FÜNF
Hektisch eilte Wendy Brooks durch den Maschinenraum. In wenigen Minuten würden sie mit dem Shuttle zum Planeten hinunter fliegen. Und wie immer gab es auch in den letzten Minuten noch so viel zu tun. Sie hatten alles so gut geplant, um dieses Mal rechtzeitig mit allem fertig zu werden und nun war der Zeitplan doch völlig durcheinander. Natürlich würden sie trotzdem fertig werden. Das schafften sie schließlich immer irgendwie. Sie mussten jetzt eben nur etwas schneller machen.
Heute sollte das Basiscamp für die Forscher errichtet werden. Und die Ingenieure aus dem Maschinenraum hatten die Aufgabe es aufzubauen. Nicht ganz alltäglich für sie, aber auf jeden Fall lösbar. Es waren jedoch Unmengen an Material nötig um die Unterkünfte aufzubauen. Schließlich sollte ein Teil der Forscher mehrere Tage oder Wochen auf dem Planeten verbringen. Und dazu waren mehr als nur ein paar Zelte notwendig. Bereits seit zwei Stunden beamten sie die Materialien auf den Planeten hinunter. Diese mussten dazu erst aus dem Frachtraum geholt und zum Transporterraum getragen werden. Eine schweißtreibende Arbeit. Sie musste unbedingt daran denken, den Verbesserungsvorschlag noch einmal einzureichen, der einen eigenen Frachttransporter für den Frachtraum vorsah. Das würde einiges an Arbeit ersparen.
Es gab allerdings auch einige Teile, die nicht gebeamt werden konnten. Diese waren zu empfindlich und zu filigran, um in einzelne Atome zerlegt zu werden. Diese mussten mit dem Shuttle zur Planetenoberfläche gebracht werden. Und dort würde das Team dann den restlichen Tag benötigen, um alles aufzubauen.
„Bangs, Finelli, Lescott“, rief sie den Ingenieuren zu. „Packen Sie Ihre Sachen und dann im Laufschritt zum Hangar.“ Natürlich würde das Shuttle auf sie alle warten, aber sie wollte den Zeitplan auf keinen Fall noch mehr durcheinander bringen.
„Ja, Ma’am“, kam eine zweistimmige Antwort.
Wendy hielt in ihrer Geschäftigkeit inne. Sie hatte sofort bemerkte, dass Rick Lescotts Stimme fehlte. „Mr. Lescott?“ rief sie durch den Maschinenraum, bekam jedoch keine Antwort.
„Hat jemand Lescott gesehen?“ fragte sie genervt in den Raum hinein. Wo steckte der Kerl denn schon wieder? Mit diesem Mann hatte sie nur Ärger. Er war unpünktlich und undiszipliniert. Und jedes Gespräch schien wirkungslos an ihm abzuprallen, obwohl er während eines Gespräches immer wirkte wie ein geprügelter Hund. Seufzend drehte sie sich wieder ihrer Konsole zu. Einige Male versuchte sie ihn in seinem Quartier zu erreichen, doch es meldete sich keiner. Den schiffsweiten Ruf nach ihm wollte sie vermeiden. Es förderte den Zusammenhalt der Mannschaft nicht, wenn jeder erfahren würde, dass Rick schon wieder nicht pünktlich zum Dienst erschienen war. Es wurde hinter vorgehaltener Hand ohnehin schon viel über ihn geredet. Sie wollte da nicht noch einen Punkt zu beisteuern.
Über das interne Kommunikationssystem des Schiffes rief sie den Sicherheitschef. „Mr. Real, bitte suchen Sie Mr. Lescott und bringen Sie ihn dann in den Maschinenraum.“
„Ist er mal wieder nicht zum Dienst angetreten?“ vermutete Real und es klang mehr wie eine Feststellung als wie eine Frage. Es war nicht das erste Mal, dass Brooks ihn hatte suchen lassen. Dieser Mann kostete sie noch ihre letzten Nerven. Und obwohl sie gut mit Menschen umgehen konnte, an diesen Kerl kam sie einfach nicht ran. Er war viel zu verschlossen und schien überhaupt nicht daran zu denken, sich zu öffnen. Sie konnte nur hoffen, dass das ein paar spätpubertäre Symptome waren, die bald nachließen.
„Ja, ist er“, bestätigte Brooks knapp und beendete dann die Verbindung sofort wieder. Sie hatte jetzt einfach keine Zeit sich über Lescott aufzuregen. Sollte Real sich darum kümmern. Sie musste nun auf die Schnelle einen Ersatz für Lescott finden. Warum musste so etwas immer passieren, wenn ohnehin nicht genug Zeit war?
Gerade als sie aufsah, betrat eine ihrer Ingenieurinnen den Maschinenraum. Ohne lange zu überlegen rief Brooks sie her. „Schnappen Sie sich den vorbereiteten Werkzeugkasten von Mr. Lescott und kommen Sie mit“, befahl sie der überraschten Frau. Völlig perplex nickte sie eifrig, eilte das Werkzeug holen und lief dann im Eilschritt hinter Brooks die Gänge entlang zum Hangardeck. Mit knappen Worten erklärte Brooks ihr was es zu tun gab. Viel musste sie ohnehin nicht dazu sagen. Über den Aufbau des Basiscamps waren alle Mitarbeiter im Maschinenraum informiert worden, nicht nur die davon Betroffenen. Für Brooks war es wichtig, alle auf demselben Wissensstand zu halten. So konnten Spannungen innerhalb des Teams vermieden und ungeplante Ausfälle besser kompensiert werden. So wie jetzt.
Das Shuttle stand bereits startklar bereit und alles war so verstaut worden, wie Brooks es angeordnet hatte. Die Mannschaft war an Bord und Reed, der an der Steuerkonsole saß, wartete nur noch auf sie. Eilig stiegen sie ein und Brooks verschloss die Tür hinter ihnen. Dann nickte sie Reed zum Zeichen zu, startklar zu sein.
„Dann wollen wir mal“, murmelte Reed. Er bat die Brücke um Startfreigabe und wenige Augenblicke später öffneten sich die großen Tore des Hangardecks. Sanft hob das kleine Schiff ab und schwebte ins freie All hinaus.
Real saß auf der Brücke an seiner Konsole. Als Brooks die Verbindung unterbrochen hatte, schloss er für einen Moment die Augen und seufzte. Es war bereits das dritte Mal seit dem Start, dass er nach Lescott suchen musste. Was dachte sich der junge Mann nur dabei? Dass das nicht gerade ein gutes Licht auf ihn warf, war doch allzu klar. Und dass er damit allen anderen nur auf die Nerven ging musste ihm doch ebenfalls bewusst sein. Der Kerl zog seine egoistische Nummer auf Kosten aller anderen durch. Wenn er nicht zum Dienst erschien musste seine Arbeit von jemand anderem erledigt werden. Das war nicht gerade fair den anderen gegenüber. Glaubte er womöglich etwas Besseres zu sein? Oder war er einfach noch nicht erwachsen geworden? Schließlich verhielt er sich wie ein Kleinkind mitten in der Trotzphase.
Das Verhalten war unverständlich für ihn, daher schüttelte er langsam den Kopf. Dann würde er eben nach ihm suchen. Das musste er schließlich tun, ob er es verstand oder nicht. Es war auch nicht weiter schwer, jemanden an Bord ausfindig zu machen. Man musste dem Computer nur die Anweisung geben, nach dem DNS-Muster der entsprechenden Person zu suchen. Dann scannten die inneren Schiffsensoren jedes Lebenszeichen an Bord und verglich die DNS mit den gespeicherten Werten. Das war auch schon alles. Keine große Herausforderung und eine Sache von Minuten.
Der Sicherheitschef gab Lescotts Namen an den Computer und wartete einen Moment. Währenddessen überlegte er, wen er schicken sollte um Lescott zu holen. Brooks wollte ihn im Maschinenraum haben, auch wenn sie im Moment selber nicht da war. Real würde einen Sicherheitsoffizier abstellen, der Lescott im Auge behalten würde, so dass er den Maschinenraum nicht verlassen konnte, ehe Brooks zurück war.
Schließlich meldete der Computer das Ergebnis, wenn auch nicht das erwartete. „Rick Lescott befindet sich nicht an Bord der Republic
“, vermeldete die Computerstimme deutlich.
Erstaunt riss Real die Augen auf. Wo mochte Lescott denn dann sein? Er hielt es für unwahrscheinlich, dass er sich an Bord des Shuttles befunden hatte, das zum Planeten geflogen war. Es war viel zu klein um dort unbemerkt mitfliegen zu können.
Commander Jackson, die zur Zeit das Kommando inne hatte, war durch die Nachricht des Computers aufmerksam geworden. Sie stand vom Kommandosessel auf und kam zu Real herüber. „Stimmt etwas nicht?“ wollte sie wissen.
„Das weiß ich noch nicht“, gab er verwirrt zur Antwort. „Laut Computer ist Mr. Lescott nicht an Bord. Was allerdings nicht sein kann. Er war nicht im Shuttle und laut Transporterprotokollen ist auch niemand von Bord gebeamt worden.“
„Wo ist er dann? Wie kann er das Schiff dann verlassen haben?“ Sie stellte die Fragen ruhig und gefasst und ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. Das gab Real ebenfalls die Fassung zurück. Sofort gab er die Frage an den Computer weiter. Die Antwort lautete schlicht „Unbekannt.“
„Offenbar hat er eine Möglichkeit gefunden“, sagte Jackson trocken. „Oder die Sensoren arbeiten nicht zuverlässig. Irgendwo muss er sein.“ Sie dachte kurz nach und entschied dann. „Suchen Sie ihn, Mr. Real. Sehen Sie sich in seinem Quartier um. Vielleicht finden Sie dort einen Hinweis auf seinen Verbleib.“
„Aye, Commander“, nickte Real und stand auf. Er würde sich selbst der Sache annehmen. Solange er Sicherheitschef war würde niemand an Bord verloren gehen. Er verließ die Brücke und ging durch die Gänge des Decks, auf dem sich ein Teil der Mannschaftsquartiere befand. An einer Gangkreuzung stießen zwei Sicherheitsoffiziere zu ihm, die er noch angefordert hatte. Gemeinsam würden sie Lescott schon zur Vernunft bringen. Und wenn nicht, dann wenigstens in eine der Sicherheitszellen. Der junge Mann hatte ihre Geduld jetzt lange genug strapaziert.
Vor Lescotts Quartier blieben sie stehen. Sie würden jetzt die Privatsphäre einer Person verletzten, indem sie das Quartier betraten und, wenn nötig, auch durchsuchten. Das behagte Real nicht sonderlich. Zwar wusste er, dass es notwendig war und dass er es als Sicherheitschef auch tun musste, aber er tat so etwas trotzdem nicht gern. Die Privatsphäre einer Person war ein zu intimer Bereich, als dass Fremde ohne Einladung darin vordringen sollten.
Mit seiner Berechtigung als Sicherheitsoffizier hob er die Türsperre auf. Die Türschotten öffneten sich und Real verzog angeekelt das Gesicht. Unangenehm stickige und muffige Luft kam ihm entgegen. „Verdammt“, entfuhr es ihm. „Was ist mit dem Lebenserhaltungssystem passiert?“
Langsam trat er ein. Das Licht war abgeschaltet und das Quartier dunkel. Es gab kein Fenster, durch das fahles Sternenlicht hätte hereinkommen können. So sah er zunächst einmal nichts.
„Licht“, befahl er. Sofort fuhr der Computer die Lichtintensität hoch und gab den Blick auf das Zimmer frei. Ein paar Flaschen und Gläser lagen auf dem Boden neben dem Bett. Kleidungsstücke lagen auf dem nahen Tisch und dem dazugehörigen Stuhl. Ein paar Datenpads schauten dazwischen hervor. Das ganze Quartier war ein einziges Chaos. Es wirkte schmuddelig und sah aus, als hätte hier seit Tagen niemand mehr für Ordnung gesorgt. Und auf dem Bett lag Rick Lescott und starrte ihm mit leeren Augen entgegen.
Real musste nicht erst näher hinschauen um zu erkennen woran er war. Als Sicherheitsoffizier hatte er so manchen Toten gesehen und kannte diesen Blick. Er schritt schnell zum Bildschirm des Quartiers und aktivierte ihn. „Medizinischer Notfall im Quartier von Rick Lescott.“ Das reichte schon, um ein Ärzteteam in Bewegung zu setzten.
Er wandte sich noch einmal zu Lescotts Körper um. Langsam trat er zu dem Toten und legte ihm sicherheitshalber die Finger auf den Hals. Doch er spürte keinen Puls mehr. Es war eindeutig. Er wusste woran er war und musste nicht auf das Ärzteteam und deren Bestätigung warten. Daher stellte er eine Verbindung zur Brücke her.
Commander Jackson erschien auf dem kleinen Bildschirm. „Haben Sie ihn?“ fragte sie sofort.
Reals Gesicht blieb ernst. „ Ja, wir haben ihn gefunden“, sagte er langsam. „Sie sollten besser mit dem Captain hier herunter kommen.“ Als sie ihn fragend ansah, fuhr er fort. „Mr. Lescott ist tot.“
Jackson sah ihn für einige Sekunden wortlos dann. Sie brauchte ganz eindeutig einen Moment um die Tragweite seiner Worte zu verstehen. Langsam weiteten sich ihre Augen, dann nickte sie knapp. „Wir kommen.“
Ohne ein weiteres Wort hatte sie die Verbindung unterbrochen. Für einen Moment schloss Real die Augen. Er brauchte einen kurzen Augenblick der Ruhe um sich zu sammeln. In einigen Minuten würde hier Hektik herrschen. Und dann auf Tage eine seltsam gedrückte Stimmung an Bord. Es war eine Sache Crewmitglieder durch Unfälle oder in einem Kampf zu verlieren. Es war aber eine ganz andere, wenn jemand freiwillig aus dem Leben schied. Beides war nicht schön und nur schwer zu verstehen. Aber bei einem Suizid blieben die vielen Fragen nach dem Warum immer offen stehen und niemand würde sie je zur vollen Zufriedenheit klären können.
Die beiden Offiziere, die ihn begleitet hatten standen noch immer vor der Türe und warfen neugierige Blicke herein. Real wies sie an, vor der Türe zu bleiben und alle, die in diesem Moment vorbeikämen, weiterzuleiten. Es durfte vorerst niemand hier herein. Dies hier war nach wie vor ein Tatort. Zwar schien die Sachlage klar zu sein, aber die Spurensicherung musste die Sache in jedem Fall noch untersuchen können. Dazu musste der Raum so unberührt wie möglich bleiben.
Wenige Augenblicke später traf Dr. Williams ein. Eilig und ohne auf Real zu achten trat sie zu Lescott. Sie kniete neben ihm nieder und hantierte mit ihrem Tricorder. Doch wie sie ihn auch einstellte, das Ergebnis war immer dasselbe. Schließlich sah sie auf. Jackson hatte inzwischen zusammen mit Sanawey den Raum betreten. Sie wirkten betroffen und blickten schweigend zu Lescott und Williams.
Williams sah Real an und seufzte. „Sie haben es richtig eingeschätzt. Er ist tot.“
„Was war Todesursache?“ wollte Sanawey wissen und bemühte sich um einen möglichst professionellen Tonfall. Sie mussten das ganze objektiv untersuchen, auch wenn es schwer fiel.
„Ein Phaser, eingestellt auf maximale Betäubung, direkt an die Schläfen gedrückt hat die Nervenbahnen in seinem Gehirn zerstört. Unmöglich, so etwas zu überleben“, schüttelte die Ärztin langsam den Kopf. Sie war noch viel zu geschockt, um wirklich etwas zu empfinden. Es würde Zeit brauchen, bis sie sich bewusst war, was passiert war.
„Kann ihm das jemand anders angetan haben?“ Sanawey wollte vermeiden, dass sie sich zu voreilig auf einen möglichen Hergang festlegten und somit womöglich die Wahrheit überdeckten. Ein Teil von ihm wollte einfach nicht wahr haben, dass sich jemand freiwillig das Leben nahm. Andererseits wäre ein Mord nicht besser, denn dann würde sich der Täter noch immer frei an Bord bewegen.
„Natürlich ist das nie ganz auszuschließen“, gab Williams zögernd zu. „Aber seine Körperhaltung spricht eine andere Sprache.“
„Und die Tatwaffe liegt noch immer hier“, ergänzte Real und zeigte auf den Boden vor dem Bett, wo der Phaser noch lag. Er würde ihn später auf Fingerabdrücke untersuchen.
Sanawey nickte ernst. Er sah Jackson an, da sie bisher noch nichts gesagt hatte. Sie wirkte geschockt und war etwas blass im Gesicht, gab sich aber alle Mühe sich nichts anmerken zu lassen.
„Ich will wissen, was hier passiert ist“, sagte Sanawey schließlich. „Und warum.“ So etwas durfte sich nicht noch mal wiederholen. „Halten Sie mich auf dem Laufenden.“
Williams und Real nickten. Mit einem letzten Blick in die Runde verließen Sanawey und Jackson den Raum wieder. Sie mussten sich nun überlegen, wie sie das der Mannschaft erklärten ohne die Moral zu destabilisieren.
In einem weiten Bogen näherte sich das Shuttle der Planetenoberfläche. Die weite, satte Graslandschaft unter ihnen leuchtete in einem einladenden Grün. Die Grashalme wiegten sich im Wind und wirkten dabei wie ein grünes, von Wellen durchzogenes Meer. Nur wenige Sträucher unterbrachen die sonst flache und konturlose Gegend. Sie befand sich auf einem weit südlich gelegenen Landstrich, so weit südlich, dass die Temperaturen bereits wieder in kühlere Bereiche kamen und nichts tropisches mehr an sich hatten. Zum Südpol des Planeten war es näher als bis zu dessen Äquator. Trotzdem gab es hier kein Eis, keinen Dauerfrost. Die senkrechte Planetenachse sorgte hier für gemäßigte Temperaturen, das ganze Jahr über.
Diese Gegend war für die ersten Forschungsarbeiten ausgewählt worden, da es ein durch Flüsse und Seen eingegrenztes Gebiet war. Eine klare Abtrennung, die nicht nur per Karten und Computer möglich war, sondern auch für das bloße Auge zu erkennen. Auf einem Planeten, der keine einzelnen Kontinente besaß, sondern sein Wasser ausschließlich in Seen und Flüssen von gigantischen Ausmaßen speicherte und der außerdem keine Gebirge vorweisen konnte, war die Orientierung eben an solchen Landmarken nötig. Die ausgewählte Fläche hatte die Größe von knapp 150 Quadratkilometern und wäre sicherlich auch eines der ersten Ziele für die Errichtung einer Kolonie. Allerdings unterschied sie sich kaum vom restlichen Land in denselben Breitengraden. Die ersten Messungen vom Schiff aus hatten ergeben, dass sich die Vielfalt von verschiedenen Pflanzen in Grenzen hielt. Im Gegensatz zur Erde, auf der sich in den verschiedensten Phasen der Erdgeschichte immer wieder Landmassen getrennt und wieder zusammen gefunden hatten und damit immer neue, den Umständen angepasste Populationen hervorgebracht hatte, war hier fast pro Breitengrad eine dominante Art entstanden. Entsprechend eintönig war das Bild, das der Planet in Sachen Flora und Fauna bot. Nach diesen ersten Scans war ein Murren durch die enttäuschten Pflanzenwissenschaftler gegangen. Sie befürchteten bereits, dass ihre Arbeit bei weitem nicht so interessant werden würde, wie ursprünglich erhofft.
„Wir setzen nun zur Landung an und bitten Sie, Ihre Plätze aufzusuchen, das Rauchen einzustellen und Ihre Sitze in eine aufrechte Position zu bringen“, witzelte Drake Reed, der das Shuttle steuerte, in Anspielung an die Durchsagen der alten Fluggesellschaften auf der Erde. Allerdings erntete er damit nur verwirrte Blicke. Kaum jemand kannte sich in der Geschichte so gut aus, um diese mehr als zweihundert Jahre alten Ansagen zu kennen.
Nur wenige Zentimeter über dem Boden setzte das Shuttle zur Landung an, um dann sanft im weichen Gras aufzusetzen. Das leise Surren der Antriebe verstummte. Die Wissenschaftler an Bord fingen raschelnd an ihre Taschen und Instrumente zusammenzupacken, die sie dabei hatten.
„Wir sind nun gelandet und zum Ausstieg bereit. Vielen Dank, dass Sie sich für den Flug mit Vandros Air entschieden haben“, scherzte Reed unbeeindruckt weiter und schaltete die letzten Instrumente ab. Ein kräftiger Schlag auf die Schulter ließ seinen Kopf herumfahren. Maarten Van Meerdink stand hinter ihm und sah ihn schelmisch an.
„Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie nicht ganz normal sind, Mr. Reed?“ Es klang überhaupt nicht wie eine Beleidigung, sondern wie eine ernst gemeinte Frage.
Entsprechend sah Reed ihn mit großen Augen an, bevor er etwas erwidern konnte. „Ja, so etwas höre ich ständig“, sagte er schließlich. Was auch nicht so ganz aus der Luft gegriffen war.
Van Meerdink grinste. „Sie gefallen mir, Mr. Reed. Behalten Sie das bei. Normale Leute sind schließlich langweilig.“ Dann wandte er sich um und stapfte seinen Kollegen hinterher, die das Shuttle bereits verlassen hatten.
Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte Reed sich auf seinem Pilotenstuhl um und sah Wendy Brooks an, die noch im Shuttle war und von hier aus das Ausladen der größeren technischen Geräte überwachte. Sie musste ob Van Meerdinks Bemerkung grinsten. „Sie sind gerade geadelt worden“, stellte sie fest.
„Ist das so, wenn man so etwas von einem Kindskopf gesagt bekommt?“ war sich Reed nicht sicher.
Wendy legte den Kopf schief. „Wenn es sich um einen siebzigjährigen Kindskopf handelt wahrscheinlich schon.“
Er stand auf. „Gut“, grinste er und verließ ebenfalls das Shuttle.
Die Chefingenieurin sah ihm nach und schüttelte dann den Kopf über ihn. Er war so recht nach ihrem Geschmack. Zumindest was sein Humor betraf. Seine Eskapaden mit den Frauen, von denen sie natürlich auch schon gehört hatte, waren ihr allerdings ein Dorn im Auge. So ging man nicht mit anderen Menschen um. Das war eine unverzeihliche Schwäche an ihm. Und so war sie hin und her gerissen zwischen Sympathie und Ablehnung für den jungen Mann und sie konnte noch nicht sagen, was am Ende siegen würde.
Die letzten Bauteile für die Maschinen wurden ausgeladen. Die Ingenieure, die sie begleitet hatten, würden nun alles zusammenbauen, so dass die Forscher damit arbeiten konnten. Was genau sie taten wusste Wendy nicht. Diese Art Wissenschaft verstand sie nicht. Das hatte sie schon während der Schulzeit nicht. Nur, dass es inzwischen egal war, wenn sie es nicht verstand. Sie hatte ein anderes Spezialgebiet. Und während dieser Mission würde es völlig ausreichen, wenn sie wusste, wie die Maschinen funktionierten. Denn das wiederum wussten die Wissenschaftler nicht. So ergänzten sie sich hervorragend.
Wendy verließ das Shuttle ebenfalls und griff sich ein Datenpad, auf dem sämtliche Pläne der Gerätschaften sowie deren Standort verzeichnet waren. So konnte sie den Aufbau überwachen. Das war ihre Aufgabe für die nächsten Stunden. Und sobald alles aufgebaut war, konnte sie den Rest des Tages auf diesem Planeten genießen. Die Sonne auf der Haut, das Gras unter den Füßen und den Wind in ihrem Gesicht. Die Aussicht beflügelte sie und trieb ihre Mannschaft zu Höchstleistungen.
Während der Aufbau voran ging versammelte Sohral die Wissenschaftler um sich. Ohne ihre aufwendigen Instrumente waren sie zwar nur eingeschränkt in der Lage Untersuchungen durchzuführen, aber ganz überflüssig waren sie auch nicht. Sie konnten sich bereits ein erstes Bild von der Lage machen, anhand von örtlichen Gegebenheiten des Geländes erste Thesen aufstellen, kleinere Proben nehmen. Und all das musste Sohral nun koordinieren. Denn der Vulkanier wollte die Zeit so effizient wie möglich nutzten. Und da machte es einfach keinen Sinn, wenn jeder einfach nur aufs Geradewohl durch die Landschaft lief.
Zuerst machte es den Eindruck, als hätte er seine Mühe, die ganzen Wissenschaftler im Zaum zu halten und ihnen ihre Extravaganzen auszutreiben. Doch seine logische Art und sein strukturiertes Denken schien ihnen zu gefallen. Denn je länger er mit ihnen zusammenarbeitete, desto mehr respektierten und achteten sie ihn. Die ursprüngliche Ablehnung verlor sich allmählich. Zu Beginn hatte keiner der Wissenschaftler einen Koordinator, dem sie Bericht erstatten sollten, anerkennen wollen. Schließlich waren sie alle Experten auf ihren Gebieten und gewohnt, von ihren Assistenten und Mitarbeitern selbst Berichte zu erhalten, über die sie dann alleine verfügten. Nun selbst wie ein Mitarbeiter Nachweise über die Fortschritte abzulegen war nahezu undenkbar gewesen. Doch nun mussten sie anerkennen, dass Sohral für diesen Job wie geschaffen war. Der Vulkanier kannte sich in jedem Gebiet so gut aus, dass jeder dieser Wissenschaftler sich geehrt gefühlt hätte, wenn er ihn als Mitarbeiter hätte gewinnen können. Dieses Fachwissen zahlte sich nun aus, da er sich damit das Vertrauen der Wissenschaftler erworben hatte.
So wurden erste Bodenproben genommen, verschiedene Reagenzgläser mit Wasser gefüllt, Steine gedreht und gewendet, Pflanzen, Moose und Pilze begutachtet und kleine Insekten beobachtet. Auf diese Weise konnten sich die Wissenschaftler einen ersten Überblick verschaffen. Gegen Nachmittag waren dann auch alle Geräte aufgebaut, so dass die eigentliche Datensammlung beginnen konnte. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Am Abend sollte es aufs Schiff zurückgehen. Bei diesem ersten Ausflug würde noch niemand zurückbleiben. Mehrtägige Missionen waren erst in einigen Wochen geplant. In dieser Nacht würden die Instrumente und Geräte alles aufzeichnen und automatisch weitere Proben nehmen, die dann später im Labor erforscht würden. Erst wenn eindeutig feststand, dass weder für die Crew noch für die Vegetation des Planeten eine Gefahr bestand, konnten sie sich hier länger aufhalten.
Aber bis zum Rückflug war noch ein wenig Zeit. Drake Reed lag in der Nähe des Shuttles im Gras und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, die etwas weniger intensiv war, als die irdische Sonne, aber deswegen nicht weniger angenehm. Als sich ein Schatten über ihn schob blinzelte er und sah etwas verärgert auf. Bisher hatte ihn noch keine Wolke am Genießen gestört.
Wendy Brooks‘ Lockenkopf hatte sich zwischen ihn und die schon tief stehende Sonne geschoben. Sie sah ihn mit gespielter Empörung an. „Das nennen Sie also arbeiten?“
Reed schloss wieder die Augen und rückte ein wenig zur Seite, so dass er wieder in der Sonne lag. „Ja“, sagte er gedehnt. „So arbeite ich am liebsten. Und Sie können nichts dazu sagen. Denn ich bin Ranghöher als Sie.“
Zuerst glaubte Wendy sich verhört zu haben. Er wollte doch jetzt nicht wirklich die Hierarchie herauskehren. Da er aber nichts weiter dazu sagte, beschloss sie, dass er es nicht so gemeint hatte, wie es klang. Sie ließ sich im Gegenteil neben ihm im Gras nieder. Die Sonne so zu spüren tat wirklich gut. Und bereits nach einigen Minuten musste sie gegen die Müdigkeit ankämpfen.
„Jetzt noch ein wenig klassische Musik und es wäre perfekt“, sagte sie, einfach nur, um sich wach zu halten.
Reed brummte erst nur. Auch er wirkte schläfrig. Dann aber brachte er doch noch den Mund auf. „Besser wäre die Gesellschaft einer schönen jungen Frau.“
Und wieder fühlte sich Wendy vor den Kopf gestoßen. Drake Reed hatte ein Taktgefühl wie ein Trampeltier. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn er einfach nichts gesagt hätte. Sie war nun einmal zehn Jahre älter als er. Auch wenn sie sich nicht so fühlte.
Auch Reed schien zu dämmern, was er da eben gesagt hatte. Denn er riss die Augen auf und räusperte sich demonstrativ. „Das war jetzt etwas anders gemeint“, stammelte er. „Ich wollte damit nur sagen, dass man hier unter dem schönen Himmel auch ganz toll Liebe machen könnte. Und dazu natürlich ein attraktives Mädel gehören würde.“ Verdammt, nächstes Fettnäpfchen. „Nicht, dass Sie nicht attraktiv wären. Ich… äh… es ist nur…“
„Reed“, unterbrach sie ihn barsch.
„Ja?“
„Halten Sie die Klappe.“
„Ja.“ Reed hatte das Gefühl, dass die Temperatur plötzlich sprunghaft angestiegen war. Ihm war unter der Uniform etwas warm geworden, doch war er sich sicher, dass es jetzt besser war, einfach unbeweglich dazuliegen.
So verging der Rest des Nachmittags noch friedlich. Wendy war zwischenzeitlich dann doch noch ein wenig eingenickt, was ihr einen verspannten Nacken einbrachte und einen amüsierten Blick von Reed. Sie hoffte inständig, dass sie nicht geschnarcht oder im Schlaf geredet hatte.
Als die Dämmerung hereinbrach saßen sie alle wieder im Shuttle, das langsam vom Boden abhob und niedergedrücktes Gras zurückließ.
„So, hier ist dein Vulkan-Sunrise.“ Ryan stellte ein Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf den Tisch, direkt vor seinen Freund. Für sich selbst hatte er ebenfalls ein Glas in der Hand. Dessen Inhalt hatte allerdings einen leichten Blauton. Er behielt es in der Hand als er sich setzte und prostete seinem Gegenüber dann zu. „Zum Wohl.“ Der Gruß wurde erwidert bevor sie einen Schluck tranken.
Der Lärmpegel im Raum war nicht sonderlich hoch, obwohl jeder Tisch belegt war. Das lag aber zum einen daran, dass die meisten Anwesenden sich in normaler Lautstärke unterhielten und zum anderen, dass es hier keinen Alkohol gab. Sämtliche Getränke waren streng antialkoholisch. So sollte vermieden werden, dass Crewmitglieder nach durchzechter Nacht noch berauscht zum Dienst erschienen. Zudem sollten Streitereien und Handgreiflichkeiten in alkoholvernebelter Stimmung vermieden werden. Der angenehme Nebeneffekt waren die disziplinierten Gespräche und der damit relativ niedrige Lärmpegel.
Es war ein ganz normaler Abend an Bord. Sonderlich viele Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung gab es nicht, so verteilten sich die privaten Aktivitäten auf die Bar und das Freizeitdeck. Und obwohl die Republic
erst wenige Tage unterwegs war, hatten sich bereits Grüppchen und Cliquen gebildet, die meist auch unter sich blieben. Einzig auf dem Freizeitdeck konnte es durchaus sein, dass sich die Gruppen mal zu einem Duell in den verschiedenen Sportarten trafen. Dann ging es natürlich laut her, denn so ein Duell musste schließlich lautstark untermalt werden.
„Wie kommst du an Bord zurecht?“ wurde Ryan gefragt. Eine Frage, die zwangsläufig kommen musste, da er erst zu Beginn dieser Mission hierher versetzt worden war.
„Bis jetzt ganz gut“, gab er zur Auskunft. Er stellte sein Getränk auf dem Tisch ab und machte es sich auf dem Stuhl bequem „.Mein Team hat mich freundlich aufgenommen und mit der Arbeit komme ich gut zurecht. War das bei dir auch so, Danny?“
Das konnte Danny Palmer nur bestätigen, auch wenn sein erster Tag hier bereits mehr als ein Jahr zurücklag. Aber auch er hatte sich hier vom ersten Tag an wohl gefühlt. Sein Team im Maschinenraum war super und er war sich sicher, noch nie in einem so harmonischen Umfeld gearbeitet zu haben. Die Leute waren großartig und er hatte auch schon viele Freundschaften geschlossen. Das schien hier leicht zu sein. Trotzdem hatte er sich unheimlich gefreut, als er erfahren hatte, dass sein bester Freund aus Jugendtagen nun auf demselben Schiff seinen Dienst verrichten würde wie er. Zwar war Ryan im Labor tätig, aber sie waren endlich wieder zusammen. Wie in alten Zeiten.
„Nur mit den Frauen in meinem Team ist das so eine Sache“, vertraute Ryan ihm leise an. „Es gibt nur zwei süße Mädels in unserem Alter. Die anderen sind alle jenseits von Gut und Böse. Und ich arbeite leider nicht direkt mit ihnen zusammen. Jetzt weiß ich nicht, wie ich sie ansprechen soll.“
Danny musste lachen. „Du warst doch früher nicht so schüchtern. Wenn ich da an Rachel denke…“
Schnaubend winkte Ryan ab. „Rachel war nichts im Vergleich zu diesen Beiden. Ich befürchte fast, die spielen in einer anderen Liga als ich. Da muss selbst ich mich richtig anstrengen.“
„Es gibt hier noch mehr junge Damen in unserem Alter“, beschwichtigte Danny ihn. „Und eine Beziehung im direkten Arbeitsumfeld bringt ohnehin nur Probleme.“
„Sprichst du da etwa aus Erfahrung?“ Ryans Neugier stieg deutlich an und er beugte sich leicht über den Tisch zu Danny hinüber.
Der verdrehte die Augen. „Ich habe keine Zeit für so was“, gab er ungehalten zurück.
„Hmm“, nickte Ryan anzüglich. „Für so etwas findet man immer Zeit.“
„Nicht, wenn man etwas von den Wundern des Alls erleben will“, erklärte Danny seine Motivation. „Frauen würden dabei doch nur ablenken.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst?“ Fassungslos sah Ryan seinen Freund an. „Frauen sind das größte Wunder überhaupt. Es gibt im ganzen All nichts Wunderbareres. Eine Frau zu küssen, zu berühren, das ist das Beste überhaupt. Wie kannst du da nur behaupten, Frauen würden ablenken? Lass dir eines sagen, mein Freund: Du verbringst zu viel Zeit im Maschinenraum. Komm mal da raus und schau dir die Frauen an. Mach die Augen auf. Sonst verpasst du noch etwas, wenn…“ Er brach ab. Danny schien ihm gar nicht mehr zuzuhören. Stattdessen starrte er zur Tür der Bar und schien wie hypnotisiert zu sein. Ganz plötzlich und ohne eine Erklärung. Ryan wandte sich um und sah in die Richtung, die sein Freund fixiert hatte. Dort, an der Tür, stand eine junge Frau. Eine Wahnsinnsfrau. Eine perfekte Frau. Sie hatte bronzebraune Haut, ein symmetrisches, engelsgleiches Gesicht und lange, dunkle Haare. Sie trug zivile Kleidung, die ihre äußerst weibliche Figur noch mehr zur Geltung brachte. Einzig der leicht überhebliche Blick, mit dem sie den Raum bedachte, machte deutlich, dass sie sich für etwas Besseres hielt. Danny allerdings schien das nicht zu stören, denn er ließ sie nicht aus den Augen, als sie sich langsam zur Bar bewegte. Seine vorherige Meinung über die Ablenkung durch Frauen schien er vergessen zu haben.
„Wow“, entfuhr es Ryan begeistert. „Das ist mal eine klasse Frau.“ Für einen kurzen Moment sah er zu seinem Begleiter, der noch immer die Frau fixiert hielt. „Ich glaube, diese Dame ist außerhalb deiner Reichweite, Danny. So jemand wird wohl kaum etwas für einen Schrauberling wie dich übrig haben.“ Offenbar hatte Ryan diese Frau selbst im Visier und wollte auf keinen Fall seinen Freund als Rivalen sehen. Plötzlich wandte er sich wieder voll Danny zu und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Er sah aus, als wäre ihm schlagartig eine Erkenntnis gekommen, mit der er nicht gerechnet hatte. „Ich weiß wer sie ist“, sagte er atemlos.
Danny ließ seinen Blick von ihr ab und sah seinen Kumpel an. „Wer?“ wollte er wissen.
„Das muss die Tochter des Captains sein“, erklärte er wissend. „Du kennst doch die Gerüchte, dass sie eine außergewöhnliche Schönheit sein soll. Und dass sie an Bord ist.“
Langsam nickte Danny und sein Blick ging wieder zu ihr hinüber. Natürlich hatte er davon gehört. Auch wenn er nicht immer alles mitbekam, was an Bord so getuschelt wurde, das war unüberhörbar. Es gab, seit sie Sternenbasis 478 verlassen hatten, quasi kein anderes Thema mehr.
„Und die Gerüchte sind alle wahr“, freute sich Ryan und sah ebenfalls wieder zu ihr hinüber.
Sie hatte ihren Drink bekommen und war nun auf der Suche nach einem freien Platz. Ihr Blick schweifte über die Anwesenden hinweg und es war als hätte sie außer Geringschätzung nicht viel übrig für die Offiziere. Ohne den Hintergrund für dieses Verhalten zu kennen, wirkte das auf die Anwesenden unheimlich arrogant und überheblich. Entsprechend wenig Neigung ihr einen Platz anzubieten kam ihr entgegen. Langsam kam sie Danny und Ryans Tisch näher.
„Jetzt pass mal auf wie man das macht“, raunte Ryan seinem Freund zu. Er zögerte noch einen Augenblick bis sie nahe genug heran war und stand dann betont langsam auf. „Hallo“, sagte er, wobei sein Versuch, möglichst viel Erotik in seine Stimme zu bringen, geradezu lächerlich klang. „Du suchst sicher einen Platz. Bei uns wäre noch einer frei.“ Er deutete auf die freie Stelle am Tisch, groß genug, um bequem sitzen zu können.
Karja sah ihn abschätzend an, dann kurz zum Tisch, um ihm schließlich herausfordernd in die Augen zu schauen. „Und wo soll mich hinsetzen? Etwa auf deinen Schoß?“
Etwas entsetzt sah Ryan auf den Platz, den er ihr angeboten hatte. Ihm war bisher nicht aufgefallen, dass hier zwar ausreichend Platz war, aber kein Stuhl in der Lücke stand. Das war verdammt peinlich. Aber er fing sich schnell wieder und lächelte sie an. „Das ist doch kein Problem. Einen Stuhl habe ich schnell geholt. Wobei die Idee mit dem Schoß auch nicht schlecht ist.“
Sie verdrehte die Augen und sagte dann: „Nur keine Umstände, ich werde schon noch einen freien Platz finden.“ Damit wollte sie weitergehen, doch Ryan dachte nicht daran sich schon geschlagen zu geben.
„Das macht aber keine Umstände. Jetzt komm schon. Du willst doch nicht einfach an zwei so Kerlen wie uns vorübergehen.“ Er deutete auf sich und Danny, der in diesem Moment am liebsten im Boden versunken wäre. Ryan verstand es wirklich sich nach allen Regeln der Kunst zum Affen zu machen. Es war kaum zu glauben, dass er sogar hin und wieder Erfolg bei Frauen hatte. Nur dieses Mal zog er ihn mit hinein.
Karja sah auf Danny herab, dem nichts Besseres einfiel als schief zurück zu grinsen, was aber wohl nicht sehr überzeugend aussah. Sie wandte sie wortlos ab und zog von dannen, da halfen auch weitere Einwände von Ryan nichts mehr. Als er sich schließlich wieder setzte, kam von den Nachbartischen verstohlenes Grinsen herüber. Natürlich war sein Auftritt von allen ringsherum mit Spannung verfolgt worden.
„Toll gemacht“, zischte Danny ihm zu. „Wir werden die nächsten Tage das Gespött der Mannschaft sein.“ Seine Empörung über Ryan war nicht gespielt, sie wuchs sogar noch während er die Worte sprach. Es war unbegreiflich für ihn, wieso sein Freund sie in eine solche Situation gebracht hat. Allein die Art wie Karja sich bewegt hatte, hätte ihm ihre Überheblichkeit schon deutlich zeigen müssen. Er hatte von Anfang an nicht den Hauch einer Chance gehabt.
Ryan winkte selbstgefällig ab. „Halb so wild. Ich kann das wieder gut machen, wenn man mich morgen mit einer anderen Frau sieht. Für dich wird das schon schwieriger, das stimmt.“ Er grinste sogar noch und schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Was Danny aber nur noch wütender machte. Sein Freund schien überhaupt kein Gespür für andere zu haben. Und auch keinerlei Rücksicht nehmen zu wollen. Oder lag es nur daran, dass sie sich schon so lange kannten? Vielleicht war es doch nicht so gut gewesen, dass sie gemeinsam auf einem Schiff ihren Dienst taten. Und vielleicht klammerte er sich zu sehr an die alten Erinnerungen ihrer Freundschaft fest. Nach so langer Zeit hatten sie sich beide verändert. Vielleicht gab es diese Freundschaft einfach nicht mehr.
Mit mühsam unterdrücktem Zorn erhob sich Danny. „Ich gehe jetzt. Mach du, was du willst.“ Damit wandte er sich um und ließ Ryan mit verständnislosem Gesichtsausdruck sitzen. Auf dem Weg in Richtung Tür hatte er das Gefühl, alle Blicke des Raumes waren auf ihn gerichtet. Mit möglichst starrem Blick nach vorn machte er ein paar schnelle Schritte. Noch bevor er den Raum verließ, erkannte er im Augenwinkel, dass Karja tatsächlich noch einen Platz gefunden hatte. Wer dieser arroganten Ziege allerdings noch einen Stuhl angeboten hatte, konnte er nicht erkennen. Es war ihm auch schleierhaft, warum das jemand tun sollte. Wahrscheinlich noch so ein Schürzenjäger wie Ryan, der sich Hoffnungen machte. Danny freute sich bereits wieder auf die Unkompliziertheit des Maschinenraumes.
Karja saß am nächsten Morgen in ihrem Quartier und dachte nach. Sie hatte die Nacht über kaum geschlafen und fühlte sich völlig erschlagen. Die Nachricht vom Tod ihrer Mutter hatte sie aufgewühlt. Mehr als sie es gedacht hätte. Da hatte auch der Ausflug in die Bar nichts ändern können. Zumal es dort auch keinen Alkohol gegeben hatte.
Es schien so lange her, dass sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen hatte. So lange, dass es fast keine Rolle mehr spielte, ob sie noch lebte oder nicht. Aber dem war nicht so. Es spielte eine Rolle und nun war sie wirklich tot. Und Karja stand alleine im Leben. Sicher, es gab noch ihre Tante, aber mit ihrer Mutter war ihre direkte Blutlinie gestorben. Ihre einzige direkte Verwandtschaft.
Was so allerdings nicht ganz stimmte. Diese Erkenntnis hielt sich hartnäckig in ihren hintersten Gedanken und drängte immer stärker nach vorn. Und Karja war versucht dem Nachzugeben. Sie wollte ihn weiter hassen aber ihr Herz machte da nicht mehr ganz mit. Sein Erscheinen gestern Abend, seine deutliche Anteilnahme und seine eigene Trauer waren echt gewesen, das hatte sie gespürt. Es schien fast so, als ob ihre eigene Trauer ihre Sinne für diese Dinge geschärft hätte. Und nun spürte sie eine innere Unruhe. Sie musste sich Gewissheit verschaffen. Gewissheit darüber, wie sie zu ihm stand und ob sie akzeptieren konnte, dass er ihr Vater war. Nur, sie hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte.
Frustriert fuhr sie sich durch die langen Haare. Es war alles so kompliziert, so überaus verworren. Vielleicht hätte sie nie auf dieses Schiff kommen dürfen, dann wäre sie auch nie in eine solche Lage gekommen. Doch das waren unsinnige Gedanken. Das Schicksal hatte sie hierher geführt und daran gab es nichts zu ändern. Und wer wusste schon, ob es anders nicht noch schlimmer gewesen wäre.
Sie entschied, dass sie nun genug mit sich selbst gehadert hatte. Es war an der Zeit, die Fäden wieder in die Hand zu nehmen und nach vorne zu schauen. Sie musste sich nur darüber klar werden, wie sie das anstellen wollte. Sie hatte davon nur eine ungefähre Vorstellung. Als erstes würde sie mit Dr. Williams reden. Zu ihr hatte sie am ehesten eine Art Beziehung hergestellt. Und wenn sie hier an Bord überhaupt jemandem vertrauen konnte, dann ihr. Die anderen kannte sie eigentlich gar nicht.
Nachdem sie eine halbe Stunde unter der Ultraschalldusche verbracht und sich angezogen hatte, kämmte sie noch ihr langes, dunkles Haar. Sie überlegte sich vorab nicht groß, was sie mit der Ärztin besprechen wollte. Das lag auf der Hand. Und wie sie das Thema beginnen wollte, das würde sich spontan ergeben. Sie war niemand, die sich vorher Worte zurecht legte oder in Gedanken schon ganze Dialoge durchging. So etwas brachte ihrer Meinung nach nichts, da sich ein Gespräch meistens ohnehin ganz anders entwickelte als gedacht.
Schließlich betrachtete sie sich kritisch im Spiegel, zog nochmals den Ausschnitt ihres Shirts zurecht und machte sich dann auf den Weg. Die Wege auf dem Schiff waren recht kurz, auch wenn das Schiff vom Bug bis zum Heck 305 Meter lang war und insgesamt 23 Decks hoch. Doch das Liftsystem, das quer durch das Schiff lief, beförderte einen nicht nur von oben nach unten sondern auch horizontal durch das Schiff. Somit konnte man, um von einem Ende des Decks auf das andere zu gelangen auch den Lift benutzten. Das war schneller, als den Weg zu Fuß zurückzulegen.
Ihr Gästequartier, das sie zur Zeit bewohnte, lag nicht weit vom nächsten Lift entfernt. Und gegenüber dem Zugang zur Krankenstation gab es ebenso einen Zugang zum Lift. Dieser half dabei, bei Notfällen schneller an medizinische Versorgung zu kommen, ohne erst lange Wege zu Fuß zurücklegen zu müssen. Und so hatte sie bereits wenige Augenblicke später die Krankenstation erreicht. Elizabeth Williams saß in ihrem Büro und starrte stirnrunzelnd auf einen Bildschirm. Sie war gerade dabei eine Liste mit medizinischen Bestandteilen für das Basislager der Wissenschaftler auf dem Planeten zusammenzustellen. Sie hatte eine entsprechende Anforderung erhalten und prüfte nun, was davon machbar war, ohne die Bestände an Bord zu sehr zu dezimieren.
„Hallo Doktor“, grüßte Karja höflich als sie den Raum betrat.
Die Ärztin sah auf und es war, als ob sie sich erst erinnern müsste, wo sie war, so sehr hatte sie sich in ihre Arbeit vertieft. Als sie Karja erkannte hellte sich ihr Gesicht auf. „Hallo Karja“, freute sie sich sie zu sehen. „Bitte, kommen Sie doch rein.“
Karja nickte dankend und trat näher. Sie zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich an den Tisch, Williams gegenüber. „Ich habe gehört, Sie haben das Schicksal meiner Mutter ergründet“, sagte sie dann.
Ein trauriger Schatten huschte über Williams‘ Gesicht. „Ja, das stimmt. Mein Beileid“, sagte sie aufrichtig.
„Schon gut“, winkte Karja ab. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn andere ihr Mitleid entgegen brachten. In ihren Augen war das überflüssig und nutzlos. „Können Sie mir nochmals genau erzählen, was sie herausgefunden haben? Captain Sanawey hat das zwar schon getan, aber das war eben nur aus zweiter Hand.“
Williams nickte. Sie fand nichts dabei, wenn Karja es nochmals hören wollte. Daher erzählte sie ihr von dem Verschwinden des Schiffes und davon, dass man nie Trümmer oder ähnliches gefunden hatte. Dass das Schiff aber schließlich als Unfallopfer zu den Akten gelegt wurde und alle sich an Bord befindlichen Personen für tot erklärt wurden, da man sich einig war, dass es wohl so auch geschehen war. Sie konnte ihr aber letztlich nicht mehr berichten, als ihr Vater es schon getan hatte.
Karja schwieg kurz als Williams ihren Bericht beendet hatte und die Ärztin gab ihr die Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Es war nicht leicht den Tod eines Elternteils zu verarbeiten, besonders wenn es kein natürlicher Tod war. Elizabeth Williams wusste das aus ihrer Erfahrung als Ärztin. Denn nicht immer gelang es ihr alle Patienten zu retten. Und so hatte sie schon des Öfteren Angehörige über den Tod ihrer Lieben informieren müssen. Das war die unangenehme Seite ihres Berufes.
„Wussten Sie, dass Sanawey eine Beziehung mit meiner Mutter hatte?“ wollte Karja dann wissen.
Williams sah sie verwirrt an. Natürlich hatte er eine Beziehung mit ihrer Mutter gehabt. Wie hätte es Karja sonst geben können? Dann aber wurde ihr bewusst, was Karja wirklich meinte. Sie wollte wissen, ob Williams etwas über die Beziehung sagen konnte. Ob sie damals etwas mitbekommen hatte. „Tut mir leid“, sagte die Ärztin dann. „Über diese Beziehung habe ich nichts gewusst, bis ich herausgefunden hatte, wer Ihre Mutter war. Die Beziehung der beiden ist aber auch schon zu lange her. Ich kannte den Captain zu dem Zeitpunkt noch gar nicht.“ Wenn sie genau darüber nachdachte konnte sie ihn da auch noch gar nicht gekannt haben. Zu dem Zeitpunkt war sie selbst gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen und noch zur Schule gegangen.
„Und er hat nie über sie gesprochen?“ hakte Karja nach und ihre Miene wurde finsterer. Offenbar unterstellte sie ihrem Vater, dass er etwas verheimlichen wollte.
„Nicht mit mir“, gab Williams zu. „Aber so gut kenne ich Ihren Vater auch wieder nicht, um mit ihm über sein Privatleben zu reden. Da müssten Sie schon Mrs. Brooks fragen. Sie ist die engste Vertraute des Captains auf diesem Schiff.“
Karja nickte nur knapp und wusste schon, mit wem sie als nächstes sprechen würde. Aber noch war sie hier nicht fertig. „Sanawey hat den Tod meiner Mutter sicherlich mit Erleichterung aufgenommen“, stellte sie fest und machte damit ihre Meinung deutlich. „So bestand nicht mehr die Gefahr, dass sie ihn aufspüren konnte.“
Williams sah sie schief an. Der finstere Gesichtsausdruck, den Karja hatte, erschreckte sie. „Es ist wohl zwanzig Jahre her, dass er sie gesehen hatte“, betonte sie. „Trotzdem schien ihn die Nachricht geschmerzt zu haben. Ich hatte den Eindruck gehabt, Ihr Erscheinen hatte die Hoffnung in ihm geweckt, auch sie wieder zu sehen.“ Sie machte eine kurze Pause und sah Karja scharf an. „Sie dagegen scheint der Tod Ihrer Mutter nicht sonderlich zu bedrücken.“
„Und wenn schon“, kam die schroffe Antwort. „Das würde sie auch nicht mehr lebendig machen.“
„Das stimmt schon. Aber es ist keine Schande Trauer zu empfinden.“
„Ich habe meine Mutter seit Jahren nicht mehr gesehen und wir standen uns auch nicht sehr nahe“, fauchte Karja böser als sie es beabsichtigt hatte. Dann stand sie ruckartig auf. „Ich danke Ihnen, Doktor.“ Noch ehe Williams etwas sagen konnte wandte Karja sich um und verließ den Raum.
„Nichts zu danken“, murmelte Williams leise, obwohl Karja den Raum bereits verlassen hatte. Nachdenklich und mit sorgenvollem Gesicht sah sie der jungen Frau nach.
Mit unsagbarem Zorn im Bauch ging Karja durch die Korridore des Schiffes. Sie konnte nicht genau sagen, was sie plötzlich so aufgewühlt hatte, aber sie konnte ihren Zorn kaum noch beherrschen. Die widersprüchlichen Empfindungen, die sie mittlerweile hatte, ließen sie langsam wahnsinnig werden. Und als Ventil diente ihr die Wut. Wie schon immer in ihrem Leben. Sie musste endlich Klarheit erlangen und die Wahrheit über sich und ihre Familienverhältnisse in Erfahrung bringen, erst dann würde sie wieder ruhiger werden. Vielleicht würde ein Gespräch mit Wendy Brooks mehr Licht in die Sache bringen, aber davor musste sie sich unbedingt beruhigen, sonst würde es eine ebenso kurze Unterhaltung wie mit der Ärztin werden. Daher beschloss sie, erst einmal aufs Aussichtsdeck zu gehen. Von dort aus hatte man einen hervorragenden Blick auf die Sterne und um diese Zeit auch seine Ruhe.
Das Aussichtsdeck war ein abgedunkelter Raum, der einen einmaligen Blick nach draußen ins All zuließ. Die Sterne funkelten vor dem großen Panoramafenster. Da die verzerrende Wirkung einer planetaren Atmosphäre fehlte, wirkten sie wirklich wie klare Diamanten, die über ein schwarzes Samttuch gestreut worden waren. Es war beruhigend ihr strahlendes, gleichmäßiges Licht zu beobachten. Da lag eine unveränderliche und gleichgültige Ruhe darin. Keine Hektik, kein Ärger. Nur die Jahrmillionen alte gleichmäßige Leuchtkraft, die Veränderungen nur über einen von Menschen kaum noch zu erfassenden Zeitraum zuließ.
Karja hatte auf einem der Stühle Platz genommen und starrte geistesabwesend hinaus. Sie hatte das Gefühl sich allmählich in ihrem emotionalen Chaos zu verlieren. Sie musste die Sache nun schnell zu Ende bringen und dieses verfluchte Schiff dann so bald wie möglich wieder verlassen. Sonst musste sie um ihre geistige Gesundheit fürchten.
Als sie der Meinung war sich wieder etwas beruhigt zu haben stand sie auf. Niemand hatte in der Zeit, in der sie hier gewesen war, den Raum betreten, so war sie immer noch alleine. Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr und musste überrascht feststellen, dass sie beinahe eine Stunde hier verbracht hatte. So lange war es ihr gar nicht vorgekommen. Aber ganz eindeutig hatte sie die Zeit auch wirklich gebraucht.
Nun ging sie zielstrebig durch die Gänge in Richtung des Maschinenraumes. Wenn Wendy Brooks wirklich die engste Vertraute des Captains war, dann würde sie von ihr sicherlich etwas erfahren können. Obwohl ihr natürlich bewusst war, dass Brooks dann voreingenommen und parteiisch sein musste. Trotzdem war Karja sich sicher, durch geschickte Fragen die Wahrheit aus ihr herauszubekommen.
Sie betrat den Maschinenraum durch den Haupteingang. Und stand erst einmal vor einem Problem. Insgesamt waren hier gerade zehn Ingenieure bei der Arbeit, davon vier Frauen. Und Karja wusste nicht, wer Brooks war oder wie sie aussah. Nun, dann musste sie sich eben durchfragen. Daher ging sie zielstrebig auf die erstbeste Person zu, einem Mann, der gerade konzentriert auf einen der Bildschirme starrte und immer wieder ein paar Kommandos eingab.
„Entschuldigen Sie“, sprach sie ihn einfach an. „Ich suche Wendy Brooks.“
Der Mann zuckte kurz zusammen, dann stieß er einen leisen Fluch aus und warf Karja einen finsteren Blick zu. Sie wusste sofort, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie hatte den Mann aus der Konzentration gebracht und nun war irgendetwas schief gegangen. Aber noch bevor sie etwas sagen konnte kam eine andere Frau mit rötlich schimmerndem Lockenkopf auf sie zu.
„Mrs. Karja?“ sprach sie sie an.
„Ja?“ nickte die junge Indianerin.
„Was machen Sie hier?“ Sie klang mehr neugierig als vorwurfsvoll.
„Ich suche Wendy Brooks“, erklärte Karja und war sich nicht mehr sicher, ob das so eine gute Idee gewesen war.
„Das bin ich“, sagte die Frau. „Einen Moment bitte.“ Dann wandte sie sich dem Mann zu. „Alles in Ordnung?“ wollte sie von ihm wissen.
Er blickte auf die Bildschirmdaten und sah dann erleichtert aus. „Es ist nicht so schlimm, wie ich im ersten Moment dachte“, erklärte er. „Ich bekomme das wieder hin.“
Brooks nickte. „Gut.“ Dann sah sie Karja wieder an. „Sie haben mich gesucht?“
„Ich muss mit Ihnen reden“, sagte Karja. Die Art und Weise wie sie das sagte klang dringend.
Wendy Brooks wusste natürlich von Karja und den Problemen, die zwischen ihr und ihrem Vater bestanden. Sanawey hatte schließlich mit ihr darüber geredet. Von daher war sie neugierig, was Karja nun von ihr wollte. Sie bat sie in die kleine Nische in der Nähe des Haupteinganges, die Brooks als Büro diente. Es war zwar kein abgeschlossener Bereich, aber wenigstens etwas abseits. Dann sah sie die junge Frau erwartungsvoll an.
„Ich hatte gehofft, Sie können mir etwas über Sanawey erzählen“, begann Karja.
„Ja, das kann ich“, erwiderte Brooks überrascht. Bisher hatte Karja keinerlei Anzeichen gegeben, dass sie ihren Vater näher kennen lernen wollte. „Was wollen Sie denn hören?“
„Hat er Ihnen gegenüber je von meiner Mutter erzählt? Und warum er sie verlassen hatte?“ Sie versuchte einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, um ihre wahren Gefühle für die Fragen zu verbergen.
Wendy runzelte nachdenklich die Stirn. „Ja, das hat er“, sagte sie dann langsam. „Ich hatte es schon fast wieder vergessen. Denn es ist schon so lange her, dass er mir das erzählt hatte. Er war mit ihr zusammen bevor ich Sanawey kennenlernte. Aber nach Ihrem Erscheinen habe ich mich wieder daran erinnert. Allerdings hatte er nicht sie verlassen sondern umgekehrt.“
„Das ist nicht wahr“, entfuhr es Karja verärgert. Dann aber riss sie sich wieder zusammen. Sie wollte doch erst einmal ruhig bleiben.
„Es ist das, was er mir erzählt hat“, betonte Brooks geduldig. „Und ich habe keinen Grund daran zu zweifeln. Ich kenne ihn lange genug um zu wissen, wann er die Wahrheit sagt. Wollen Sie es nun hören oder nicht?“
Karja biss die Zähne zusammen und nickte dann knapp.
Daraufhin erzählte Wendy Brooks alles was sie über Sanawey und Janet Romain wusste. Über ihre kurze Beziehung und wie glücklich Sanawey damals wohl gewesen war. Darüber, wie sehr es ihn belastet hatte, eine Entscheidung zwischen Janet und seiner Karriere treffen zu müssen. Wie er an dieser Entscheidung geknabbert hatte, als sie plötzlich verschwunden war. Sie war einfach weg gewesen. Er hatte versucht, sie zu finden, hatte ihr Nachrichten hinterlassen, auf die sie nie geantwortet hatte. Bis er schließlich aufgegeben hatte, in dem Glaube, sie wolle ihn einfach nicht mehr sehen, weil sie möglicherweise einen anderen hatte. Und wie er sich dann schweren Herzens auf den Weg zu seinem neuen Einsatz gemacht hatte.
Während der gesamten Erzählung blieb Karja regungslos, einzig ihre Augen funkelten. Sie schien kein Wort davon zu glauben und doch nagte etwas an ihr, das konnte Brooks erkennen.
„Als er gestern von Janets Tod erfahren hatte, hat ihn das mehr getroffen, als er sich anmerken ließ. Und das obwohl er sie zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte. Wenn das mal keine Liebe ist“, beendete Brooks ihre Schilderung.
Karja zögerte. Sie wollte das nicht hören. Sie wollte hören, dass er nie ein Kind gewollt hatte. Dass er sie nie gewollt hatte und deswegen einfach verschwunden war. Und wer garantierte ihr, dass Brooks die Wahrheit sagte? Oder das Sanawey ihr die Wahrheit gesagt hatte? Doch irgendwie klang es auch einleuchtend. Es war nicht so, dass es frei erfunden und völlig zusammenhangslos erschien. Und es passte zu Williams‘ Aussage. Aber vielleicht hatten sich auch alle auf diesem Schiff abgesprochen. Vielleicht war es eine Täuschung. Eine Verschwörung, die sich gegen sie richtete. „Und wieso hat mir meine Tante dann etwas anderes erzählt?“ fauchte sie.
„Das sollten Sie Ihre Tante fragen“, erwiderte Brooks sich verteidigend. Sie kannte weder Karjas Tante noch deren Erzählungen. „Allerdings kann es unter Schwestern durchaus auch Neid und Eifersucht auf die Partner geben. Standen sich Ihre Mutter und Ihre Tante nahe?“
Das konnte Karja nun nicht gerade bestätigen. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern, die beiden jemals längere Zeit beieinander gesehen zu haben. Das war ihr noch nie so bewusst gewesen, aber wenn sie jetzt so darüber nachdachte, dann konnte es schon sein, dass sich die beiden aus dem Weg gegangen waren.
Erneut stieg die Wut in ihr auf wie giftige Galle. Sie fühlte sich benutzt, belogen und hintergangen. Und sie wusste nicht einmal von wem wirklich. Aber ganz offensichtlich wurde sie von irgendjemandem kräftig hinters Licht geführt. Vielleicht sogar von allen. Ihre ganze Familiengeschichte kam ihr auf einmal vor wie ein Sumpf voller Lügen und Intrigen. Gab überhaupt irgendetwas Wahres, an dem, was man ihr aufgetischt hatte?
Und wie kam diese Brooks überhaupt dazu, ihr die Fragen zu stellen? Das hatte sie doch vorgehabt. „Und Sie sind sich sicher, dass das damals so passiert ist?“ fragte sie die Chefingenieurin giftig.
„Nein, natürlich nicht.“ Brooks blieb noch immer ruhig. „Wie gesagt, ich kannte Sanawey damals noch nicht. Ich kenne das alles nur aus seinen Erzählungen.“
„Also kann auch alles gelogen sein.“ Für Karja stand das bereits fest.
„Ich kann mich nur wiederholen, ich habe keinen Grund an Sanaweys Ehrlichkeit zu zweifeln. Das hat er mir zwanzig Jahre lang beweisen“, erklärte Brooks geduldig.
Ruckartig stand Karja auf. „Wenn Sie seine Lügen so verteidigen, dann habe ich genug gehört.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um und verließ schnellen Schrittes den Maschinenraum. Von der Ruhe, die sie hatte bewahren wollen, um Brooks möglichst ausführlich zu befragen, war nichts mehr übrig. Und es war ihr auch egal. Sie konnte es nicht mehr hören, wie toll ihr Vater anscheinend war. Er musste ja fast ein Heiliger sein, so wie die Leute über ihn redeten. Es war einfach unerträglich. Und so unglaubwürdig. Nach allem was sie gehört hatte, müsste ihre Tante gelogen haben. Nur, sie hatte sich um Karja gekümmert als sonst keiner da war. Wie konnte sie eine Lügnerin sein?
Mit weit ausholenden Schritten lief sie zurück zu ihrem Quartier. Sie wollte einfach niemanden mehr sehen. Diese ganze verlogene Bande. Wütend betrat sie das Quartier. Hätte der Türmechanismus die Tür nicht automatisch geöffnet und wieder geschlossen, sie hätte die Türe so laut zugeschlagen, wie sie nur konnte. Aber selbst das blieb ihr auf diesem schrecklichen Schiff verwehrt. Sie war so wütend, am liebsten hätte sie irgendetwas zerschlagen. Doch zu ihrem Bedauern war in diesem Gästequartier nichts passendes, das sie hätte kaputt machen können. Und das machte sie nur noch wütender. Zischend ließ sie den angehaltenen Atem entweichen und schlug mit der flachen Hand so fest sie konnte gegen die Wand. Der Schmerz, der sie augenblicklich durchzuckte, ließ ihren Zorn ein wenig abflachen. Sie betrachtete ihre Handfläche, wie sie langsam rot wurde. Warum musste ausgerechnet sie solche Eltern haben, fragte sie sich. Warum konnte sie keine normalen Eltern haben, die ganz normal verheiratet waren, in einem normalen Haus lebten und ein völlig normales Leben führten? Warum musste es sie treffen?
Völlig frustriert ließ sie sich auf das Sofa fallen. Mit einem Mal war ihre Wut verraucht und sie fühlte sich nur noch leer und ausgebrannt. Sie war so hilflos und wusste nicht, was sie dagegen tun sollte. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass nicht alle auf diesem Schiff lügen konnten. Und das Verhalten Sanawey bestätigte doch nur die Worte aller anderen. Nur wenn das wahr war, dann hatte ihre Tante sie belogen. Und das war der schlimmste Gedanke, den sie haben konnte. Denn ihre Tante war all die Jahre ihr einziger Halt gewesen. Sie war ihre Bezugsperson gewesen. Wenn sie gelogen hatte, wem konnte Karja dann noch trauen? Was konnte sie dann noch glauben? Und wie sollte sie dann noch wissen, wer eigentlich die Wahrheit sagte? Sie wusste nicht mehr aus noch ein. Sie wusste auch nicht, was sie als nächstes tun sollte. Das sinnvollste wäre sicherlich gewesen, ihre Tante anzurufen und sie mit allem zu konfrontieren. Ihre Reaktion hätte Karja sicherlich einiges verraten. Doch Karja fürchtete sich davor. Sie wollte ihre einzige Vertrauensperson nicht so vor den Kopf stoßen. Und sie fürchtete sich davor, vielleicht doch feststellen zu müssen, dass sie auch von ihr belogen worden war. Das einfachste wäre wohl, das Schiff zu verlassen, nicht mehr zurückzuschauen und alles zu vergessen. Aber sie wusste genau, das konnte sie nicht. Die Ungewissheit würde sie ständig quälen.
Entschlossen stand sie auf und ging zum Computer. Sie konnte nur hoffen, dass die Entfernung nicht zu groß war, um eine Verbindung zu ihrer Heimat zu bekommen. Jetzt musste ihre Tante dran glauben. Und wenn sie ihr nicht endlich reinen Wein eingoss, dann hatte sie die Hilfe aller Geister und Götter nötig, die sie nur kannte, das schwor sich Karja während der Computer die Verbindung aufbaute.
Drake betrat die Bar und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Einige der Anwesenden im Bereich der Tür schauten kurz zu dem Neuankömmling auf, wandten sich dann aber wieder ihren Gesprächspartnern zu. Ziellos ging er langsamen Schrittes durch den Raum. Er kannte außer den Führungsoffizieren noch niemanden an Bord. Eine kleine Bar wie diese war der ideale Ort um das zu ändern. Und offenbar war der Treffpunkt sehr beliebt bei der Crew, denn es war ziemlich voll hier drin.
An einem der kleinen Tische sah er eine junge Frau sitzen. Sie hielt sich an ihrem Glas fest und sah abwesend in die Ferne. In Reed schrillten sofort alle Sirenen. Diese Frau würde er anquatschen müssen. Sie war schlank und hatte ein liebliches Gesicht. Ihre dunkelblonden, schulterlangen Haare waren mit hellen Strähnchen durchsetzt. Die Haarspitzen schmiegten sich eng an ihren Hals und gaben ihrer Frisur einen offiziellen, aber doch auch frechen Look.
Auf dem Tisch stand nicht nur ihr Glas, sondern auch noch ein zweites. Offenbar war sie in Begleitung hier, aber für einen Moment allein gelassen worden. Seine Chance. Er ging zu ihr hinüber. Sie sah ihn erst, als er sie ansprach. „Hi. Bitte entschuldige, aber es ist ziemlich voll hier. Ist hier bei euch noch frei?“
Sie musterte ihn kurz und schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein, denn sie bot ihm einen Platz an. Drake hatte nichts anderes erwartet. Diese Masche funktionierte meistens. Wobei ihm sehr wohl klar war, dass ihm sein gutes Aussehen dabei behilflich war. Warum hätte er das dann nicht nutzen sollen?
„Übrigens, mein Name ist Reed, Drake Reed“, stellte er sich vor und setzte dabei sein charmantestes Lächeln auf.
„Miriam Conner“, erwiderte sie und ihr Lächeln entblößte eine Reihe strahlender Zähne.
„Ich hoffe, dein Begleiter hat nichts dagegen, wenn ich mich einfach zu euch setze“, sagte er und versuchte dabei so unschuldig wie möglich zu klingen.
„Nein, bestimmt nicht. Meine Freundin musste nur mal für kleine Mädchen. Sie wird sich bestimmt freuen.“ Ihr Lächeln war ansteckend und ihre funkelnden Augen faszinierten ihn. Eine Haarlocke fiel ihr über die Stirn auf die Nase herab. Es schien ihr Gesicht noch reizender zu machen.
„Bist du neu auf dem Schiff?“ fragte sie, nachdem er sich bei der Bedienung etwas zu trinken bestellt hatte.
„Ja. Bin erst seit einer Woche hier“, bestätigte er. „Sonst hätten wir uns sicher schon früher gesehen.“
„Ich bin auch erst vor einer Woche auf dieses Schiff versetzt worden. Meine Zimmerkollegin hat mich unter ihre Fittiche genommen und führt mich in die Mannschaft ein.“ Sie lächelte und schob sich mit einer eleganten Bewegung die Haarlocke hinters Ohr zurück. Reed verfolgte fasziniert die Bewegung ihrer schlanken Finger. Auch die Art und Weise, wie sie ihren Kopf bewegte gab ihr etwas Anmutiges und äußerst Elegantes. Und trotzdem wirkte es nicht aufgesetzt oder arrogant. Es schien so völlig ihre Art zu sein. Ganz unwillkürlich fragte er sich, wie sie sich wohl im Bett bewegen würde.
Bevor er etwas sagen konnte kam Miriams Begleiterin zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Sie war etwas älter als Miriam und hatte ein so durchschnittliches Aussehen, dass sie unter all den anderen Anwesenden nicht auffiel. Sie war nicht hässlich, aber auch nicht besonders schön. Und sie konnte Miriam nicht einmal annähernd das Wasser reichen.
„Das ist Marlie Hewitt“, stellte Miriam Conner ihre Zimmerkollegin vor. „Und das ist Drake Reed.“
„Hallo“, sagte Marlie mit einem Lächeln, dass Drake mehr aus Höflichkeit erwiderte. Sie war nicht sein Typ und er konnte nicht viel mit ihr anfangen. Zwar beteiligte sie sich mit am Gespräch, doch redeten mehr Drake und Miriam. Und sie lachten viel miteinander. Drake zog seine übliche Masche durch. Er erzählte von den Abenteuern, die er auf verschiedenen Schiffen schon erlebt hatte. Dabei übertrieb er natürlich und schmückte die Geschichten hier und da aus. Doch überzog er den Bogen dabei nicht. Es musste immer noch realistisch klingen, sonst würde man ihn ziemlich schnell als Angeber abstempeln. Das wollte er natürlich vermeiden. Und wie meistens klappte es auch diesmal. Miriam klebte ihm förmlich an den Lippen. Sie schmachtete ihn mit jedem Wort mehr an und lachte auch über die seltsamsten seiner Witze. Ihr Lachen klang dabei so hell und ansteckend, dass er gar nicht genug davon bekommen konnte.
Bisher verlief alles perfekt. Einzig Marlies Anwesenheit störte etwas. Sie war skeptischer und ließ sich von seinem Charme auch nicht ganz so sehr einfangen, wie Miriam. Doch hielt sie sich zurück, einfach deshalb, weil sie nicht wusste, was sie letztlich von ihm halten sollte.
Drake war froh, als sich Marlie endlich verabschiedete, um ins Bett zu gehen. Miriam zögerte. Sie fühlte sich zwar verpflichtet mit ihrer Zimmerkollegen zusammen zu gehen, doch eigentlich wollte sie noch etwas länger bleiben. Sie fühlte sich gerade einfach wohl und Drake schien ein guter Gesprächspartner zu sein. Er war witzig, hatte viel zu erzählen, hörte aber auch ihr zu. So gut hatte sich schon lange nicht mehr unterhalten. Und er sah auch noch so gut aus.
Mit geschickten Worten schaffte er es, nach ein wenig hin und her, sie zum Bleiben zu überreden. Vielleicht war es aber auch Marlies Beteuerung, dass es absolut in Ordnung sei, dass sie noch bliebe. Sie solle nur leise sein, wenn sie ins Quartier zurückkam.
Mit einem Funkeln in den Augen folgte Miriam weiter seinen Ausführungen. Er hatte sie so sehr in seinen Bann gezogen, dass sie sich jetzt auf jede Dummheit mit ihm eingelassen hätte. Und Reed wusste das. Es war zu deutlich in ihren Augen zu sehen. Doch riss er sich zusammen. Jetzt nur nichts überstürzen. Noch ein wenig Geduld und für sie würde es kein Halten mehr geben. Reed spürte, dass der Rest des Abends und der Nacht nur noch Formsache war.
Auf einer metallenen Liege, die aus einer Stasiseinheit herausgezogen war, lag Rick Lescotts toter Körper. Mit ihrem medizinischen Tricorder untersuchte Dr. Williams den Leichnam bereits zum dritten Mal. Das Ergebnis war immer dasselbe. Die Art und Weise, wie die Energieladung in seinen Körper eingedrungen war, ließ nur den Schluss zu, dass er den Phaser selbst bedient hatte. Es bestätigte Reals Untersuchungen von Lescotts Quartier und den Umständen seines Todes. Daran änderten auch noch so häufige Scanns nichts. Natürlich hatte sie das auch nicht erwartet. Sie konnte nur nicht akzeptieren, dass jemand so junges sich selbst das Leben genommen hatte. Es war ein so nutzloser Tod. So sinnlos und überflüssig. Sie rief sich sein Alter in Erinnerung. Zweiundzwanzig Jahre. Er war noch so jung gewesen, hätte sein ganzes Leben noch vor sich gehabt. Wieso? Diese Frage schoss ihr immer wieder durch den Kopf, als sie auf den Tricorder blickte. Doch sie konnte die Daten nicht erkennen. Ihr Blick schweifte ins Innere ab. Sie versuchte sich an Rick zu erinnern, an den jungen Mann, der sich des Lebens freute und in jeder Situation lachen konnte, an den jungen Mann, dessen Lachen ins Herz drang. Doch sie fand ihn nicht. Sie hatte keine Erinnerungen an diesen Mann, denn es hatte ihn nie gegeben. Sie konnte sich an keine einzige Situation erinnern, in der Rick gelacht hätte. Noch nicht einmal an ein Lächeln konnte sie sich erinnern. Wie auch? Er hatte nie gelächelt. Wenn sie zurückdachte fiel ihr zu Rick nur sehr wenig ein. Eigentlich nur dienstliches. Sie hatte ihn nur einige Male gesehen, bei den Routineuntersuchungen in der Krankenstation. Er war immer ernst gewesen, jeder kleine Scherz war an ihm abgeprallt, er hatte keine Miene verzogen. Durch nichts war ihm ein kleines Lächeln abzuringen gewesen. Eigentlich ein Alarmzeichen, auf das sie hätten reagieren müssen. Doch sie hatte es als seine Art hingenommen und akzeptiert. War es normal, dass man mit der Zeit so gleichgültig seinen Mitmenschen gegenüber wurde?
„Doktor“, riss eine Stimme sie aus ihren Gedanken. Sie sah auf und erkannte Wendy Brooks vor sich stehen. Sie holte tief Luft und versuchte sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Langsam legte sie ihren Tricorder auf die Seite.
„Was kann ich für dich tun?“ fragte sie die Ingenieurin.
„Ich wollte dich bitten, mir etwas gegen Kopfschmerzen zu geben“, sagte Brooks und rieb sich die rechte Schläfe.
Williams nickte nur. Sie nahm wieder den Tricorder in die Hand und trat neben Wendy.
Der Raum in dem sie sich befanden lag direkt neben der Krankenstation. Hier befanden sich neun Stasiskammern, in denen ein Körper konserviert werden konnte, damit ihm der Zeitablauf weniger anhaben konnte. In der Regel wurden darin die sterblichen Überreste von verstorbenen Crewmitgliedern aufbewahrt, bis die Untersuchungen beendet waren und das Begräbnisritual durchgeführt werden konnte. Bei Bedarf konnte auch eine schwer kranke Person hier untergebracht werden und somit der Krankheitsverlauf deutlich verlangsamt werden. Das konnte zusätzliche Zeit verschaffen, um eine Heilungsmöglichkeit zu finden. Der Patient befand sich dann in einem Schlafzustand. der am ehesten noch mit einem künstlichen Koma verglichen werden konnte, nur dass die Lebensfunktionen so weit heruntergefahren wurden, dass der Betreffende wie eingefroren war. In diesem Zustand schritt die Zeit für den Betroffenen nur sehr langsam voran. Theoretisch konnte ein Mensch auf diese Weise mehrere Tausend Jahre überstehen. Was natürlich noch niemand getestet hatte.
Elizabeth untersuchte den Kopfbereich der Chefingenieurin, besonders die vorderen Stirnlappen. „Es ist nichts Ernstes“, beschied sie schließlich. „Du stehst in letzter Zeit nur ziemlich unter Stress. Du solltest dich ein bisschen erholen.“
„Das werde ich“, erwiderte Wendy matt lächelnd. „Sobald auf dem Planeten alles rund läuft und die Leute im Maschinenraum die Geschehnisse verarbeitete haben.“ Natürlich waren ihre Mitarbeiter noch geschockt vom plötzlichen Tod Lescotts, auch wenn sie alle ihn kaum gekannt hatten. „Dann werde ich für den Rest der Mission genug Zeit haben mich zu entspannen. Kannst du mir aber jetzt etwas gegen die Kopfschmerzen geben? Ich muss in wenigen Minuten zum Planeten hinunter und weiter mithelfen, das Camp aufzubauen.“
Elizabeth seufzte. Sie hielt nicht viel davon, nur die Symptome zu bekämpfen. Denn das würde Wendys Kopfschmerzen nicht lösen können. Und auch nicht ihre Probleme. Doch verstand sie auch, dass Wendy jetzt nicht einfach frei nehmen und entspannen konnte. Das würde noch einige Tage warten müssen. Daher nickte sie, ging zum Schrank und kam mit einem Hypospray zurück. Sie drückte es Wendy an den Hals und verabreichte ihr zischend eine Injektion, die innerhalb von Sekunden wirkte. Wenn das nur bei allen Patienten möglich wäre, dachte Williams mit einem Gedanken bei Lescott.
„Danke.“ Wendy sah die Ärztin an und blickte dann zu Lescotts totem Körper hinüber. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass es wirklich passiert ist.“
„Ja“, nickte Elizabeth. Sie hatte Rick kaum gekannt und doch traf sie sein Tod sehr. Nein, genaugenommen war das falsch. Es war nicht so sehr die Tatsache, dass er tot war, die sie so traf. Dazu hatte sie ihn zu wenig gekannt. Es war mehr die Art seines Todes. Es war einfach unbegreiflich und für den Verstand eines Außenstehenden nicht nachvollziehbar. Was mochte in so einem Kopf vorgehen, dass es zu einer solchen Tat kam? Und hätten sie es nicht alle lange vorher sehen müssen? Die Anzeichen dafür lagen ihnen allen stets vor den Augen. Ricks extrem verschlossene Art. Er hatte nie gelacht, er kam oft zu spät zum Dienst, und er war in seiner Freizeit nie zu sehen, er saß nur in seinem Quartier. Waren das nicht alles schon Anzeichen gewesen auf die sie hätten reagieren müssen? Stumme Hilfeschrei, die sie aber alle übersehen hatte - oder womöglich nicht hatten sehen wollen?
„Ich wüsste gerne, wieso er das getan hat. Wie es soweit kommen konnte“, meine Wendy, aber es klang nicht sonderlich aufrichtig. Sie sagte es wohl nur, um irgendwas zu sagen. Elizabeth hatte den Eindruck, die Chefingenieurin könnte auch ohne dieses Wissen gut leben.
Sie allerdings nicht. Sie musste es wissen. „Ich auch. Und ich werde es herausfinden“, erwiderte sie fest entschlossen.
Wendy nickte nur knapp. Sie wandte sich zur Tür, bedankte sich aber vorher noch für das Medikament. Dann verließ sie den Raum.
Die Ärztin wandte sich langsam um. Ihr Blick fiel auf Rick hinab. Seine jungen Gesichtszüge wirkten so unschuldig. Und so starr und kalt. Es sah so falsch und irreal aus. Es war nicht richtig, dass er hier lag. Tot. Sie würde herausfinden, was ihn angetrieben hatte. Wenigstens nach seinem Tod würde sie ihn aus dem Abseits herausziehen, in dem er sein Leben verbracht hatte und allen zeigen, dass auch er gelebt hatte. Sie würde verhindern, dass er einfach vergessen wurde.
„In Ordnung, noch ein Stück weiter nach links. Langsam. Okay, Stopp. Und nun runter lassen“, dirigierte Wendy den Mann im Kran, der gerade ein großes Wandteil in Position brachte. Bereits seit fünf Stunden arbeiteten sie auf dem Planeten an verschiedenen Gebäuden. Es war die Vorbereitung für eine Dauerpräsenz von Wissenschaftlern, um so die Forschungsmöglichkeiten und die Effizienz zu steigern. Damit konnte der tägliche Transfer zwischen Schiff und Planeten vermieden werden. Und Untersuchungen konnten direkt vor Ort analysiert und bewertet werden und mussten nicht bis zum nächsten Tag verschoben werden. Den Wissenschaftlern kam dies sehr entgegen, drängten sie doch schon seit einiger Zeit darauf, länger auf dem Planeten verweilen zu können.
Nun standen ihnen verschiedene Labore zur Verfügung. Insgesamt gab es drei Gebäude, die ausschließlich Forschungszwecken dienten. Daneben gab es noch eine Unterkunft für zehn Personen und ein Gebäude für die hygienischen Bedürfnisse. Und alles so gebaut, dass es am Ende leicht wieder demontiert werden konnte und keinerlei dauerhafte Schädigungen auf dem Planeten zurückließ. Ein wichtiges Anliegen sowohl der Forscher als auch der Verantwortlichen bei der Föderation. Einzig der Kran, der zum Aufbau benötigt wurde, hatte eine Verankerung im Boden, die sich nicht vollständig rückgängig machen ließ. Aber dieses kleine Opfer war einfach zu bringen.
Für Wendy und ihr Team waren diese Bauarbeiten etwas ungewöhnlich gewesen. Normalerweise tüfteln sie im Maschinenraum an wesentlich kleineren und technisch komplizierten Maschinen herum. Etwas wie ein Haus hatte noch keiner von ihnen errichtet. Denn auch die großen Maschinen auf dem Schiff waren bereits in der Werft konstruiert und zusammengebaut worden. Das Ingenieursteam des Schiffes war damals nicht dabei gewesen. Und während des Betriebes des Schiffes galt es nur beschädigte Einzelteile zu reparieren oder auszutauschen. So waren alle vor den Arbeiten hier etwas skeptisch gewesen, doch die Tätigkeit an der frischen Luft und das schnelle Ergebnis trugen zur allgemeinen guten Laune bei. Und mit den vorgefertigten Bauteilen war es einfacher als zuerst befürchtet.
Das metallische Summen des Transporterstrahls erklang einige Meter von Wendy Brooks entfernt und kündigte einen Besucher vom Schiff an. Mit einem kurzen Blick erkannte die Chefingenieurin, dass Commander Jackson sich aus dem Transporterstrahl löste. Da der Moment günstig war übergab sie die Aufsicht an einen Mitarbeiter und wandte sich dann der Stellvertreterin des Captains zu. „Commander, schön Sie hier zu sehen.“
Jackson sah sich mit einem schnellen Blick um. Sie atmete die frische Luft ein und schien sich dadurch tatsächlich etwas zu entspannen. Nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit bei ihr. „Es ist tatsächlich so schön hier, wie in Ihrem Bericht steht“, sagte sie dann.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Brooks ihre Vorgesetzte an. Sie wusste, dass Jackson zum ersten Mal auf diesem Planeten war. Aber ihre emotionsarme Analyse der Umgebung schien doch seltsam unpassend zu sein. Jeder normale Mensch wäre bei dem Anblick des frischen Grasses, der sich im leichten Wind wiegenden Bäume und des in einigen hundert Metern entfernen Sees in Verzückung geraten. Aber Jackson konnte dem Ganzen offenbar nicht mehr abgewinnen als ein Vulkanier. Oder sie konnte es einfach nicht ausdrücken.
„Es ist fantastisch“, ergänzte Brooks begeistert. „Ich hoffe, der Captain wird uns während unserer Mission noch einen mehrtätigen Landurlaub erlauben. Denn hier kann man wunderbar seine Seele baumeln lassen.“
Jackson nickte zwar bestätigend, sagte aber weiter nichts dazu. Stattdessen ging ihr Blick hinüber zu den neuen Gebäuden. Sie waren auf Stelzen gebaut, um so möglichst wenig den Boden zu beschädigen. Einzig die Stelzen bohrten sich ein wenig in den Boden. Doch sorgte auch hier mehr die Technik für einen stabilen Halt denn den Verankerungen im Boden. Anti-Gravitationseinheiten nahmen den Gebäuden einen Teil des Gewichtes, so dass der Untergrund nicht mehr als unbedingt nötig belastet wurde. Die hellgraue Einheitsfarbe hob sich allerdings etwas unangenehm von den ringsherum herrschenden satten Farben ab. Doch niemand wäre auf die Idee gekommen, hier noch eine Farbbehandlung durchzuführen. Letztlich würde in einem halben Jahr alles wieder verschwunden sein.
„Wie kommen Sie mit den Arbeiten voran?“ wollte Jackson wissen.
„Wir liegen gut in der Zeit und werden voraussichtlich in drei Stunden fertig sein. Dann können die Wissenschaftler einziehen“, gab Wendy zur Antwort. Bei den meisten Forschern war ihr ziemlich gleichgültig, ob sie auf dem Schiff waren oder nicht. Von ihnen war ohnehin kaum etwas zu sehen. Einzig Van Meerdink würde sie an den Tagen vermissen, an denen er hier unten weilte. Er war ein geselliger Mensch und die Abende, an denen er mit aufs Freizeitdeck oder in die Bar kam waren immer äußerst unterhaltsam und kurzweilig. Ihm schien nie die Luft auszugehen und auch nie die Geschichten und Sprüche, die er immer zum Besten gab. Er war ein Hansdampf in allen Gassen und seine gute Laune einfach ansteckend.
Anerkennend nickte Jackson. Sie war vom Captain mit der Betreuung der Forschungsmission beauftragt worden. Ursprünglich hatte er das selbst machen wollen, doch seine Tochter hatte ihm da nun einen Strich durch die Rechnung gemacht und er wusste, dass er sich zurzeit voll und ganz diesem Problem widmen musste. Da blieb leider keine Zeit mehr für die Forschung. Daher musste sie nun ran. Und sie erledigte die Aufgabe mit der ihr typischen Effizienz. Sie arbeitete Hand in Hand mit Sohral und hatte den Verlauf der Mission genauestens dokumentiert. „Das werden die Wissenschaftler gerne hören“, sagte sie.
Wendy lächelte. „Das hoffe ich. Wir haben uns hier schließlich Mühe gegeben.“ Dann wurde sie wieder ernst. „Wie geht es dem Captain?“ wollte sie wissen, in der Hoffnung, dass Jackson etwas Aktuelles wusste. Immerhin kam sie gerade vom Schiff.
„Er hat mich eben zum Transporterraum begleitet. Danach wollte er weiter zu Karja“, wusste Jackson zu berichten. „Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, mit ihr ins Gespräch zu kommen.“
Abwesend nickte Brooks. Sie wusste, nach außen hin hatte er die Hoffnung noch nicht aufgeben. Innerlich zweifelte er aber ernsthaft daran. Auch wenn er sich das niemals anmerken ließ. Dazu war er zu sehr der Captain, der immer und in jeder Situation für die Moral der Crew den Anschein bewahren musste, alles im Griff zu haben und Optimismus ausstrahlte. Das konnte er auch dann nicht abschalten, wenn es um eine private Angelegenheit ging.
„Sie machen sich Sorgen“, stellte Jackson mitfühlend fest, wobei der emotionale Teil in ihrer Stimme seltsam ungewohnt wirkte.
Wendy kannte Jackson zwar schon seit einigen Jahren und vertraute ihr bedingungslos. Wie weit das Vertrauen aber in Privates gehen sollte, dessen war sie sich immer noch nicht sicher. Dazu war der Commander einfach zu verschlossen und unnahbar. Und sie hatten in all den Jahren nie eine engere Freundschaft aufbauen können, obwohl sie in ungefähr dem gleichen Alter waren. Trotzdem nickte sie. „Ja, natürlich. Er ist in einer schwierigen Situation und ich kann ihm dabei kaum helfen. Das ist frustrierend.“
Jackson wusste natürlich um die Freundschaft der beiden. Sie machten daraus keinen Hehl und auch wenn sie eng befreundet waren würde doch niemand auf die Idee kommen, da mehr hinein zu interpretieren. So war es absolut verständlich, dass Wendy sich Sorgen machte. Doch wenn vielleicht doch mehr dahinter steckte? Jackson schien heute etwas leutseliger zu sein als sonst, denn sie griff das Thema noch einmal auf. „Er bedeutet Ihnen sehr viel, nicht wahr?“
Etwas überrascht von der Frage geriet Wendy ein wenig ins Schleudern. „Ja, das ist richtig“, sagte sie. „Als Freund. Als richtig guter Freund“, fügte sie aber noch schnell hinzu.
„Wirklich nur als Freund?“ wollte Jackson wissen.
Wendy zögerte, bestätigte dann aber nur umso fester: „Ja, wirklich nur als Freund. Als Freund und Mentor.“ Die natürliche Umgebung schien befreiend auf beide zu wirken. Während sie langsam auf die Gebäude zugingen plauderten sie unbefangen miteinander, was sie auf dem Schiff sonst nie taten. „Ich kenne Sanawey schon sehr lange“, fuhr Wendy fort. „Als ich von der Akademie kam, wurde ich auf sein Schiff versetzt. Damals war ich zwanzig, noch sehr unerfahren und ein wenig zu impulsiv. Wir verstanden uns von Anfang an sehr gut und er half mir mich weiter zu entwickeln. Mit der Zeit sah ich in ihm so etwas wie eine Vaterfigur.“
„Ihr wirklicher Vater…“
„Ich habe ihn nie kennengelernt“, unterbrach Wendy sie. „Er starb noch vor meiner Geburt. Die Klingonen haben das Schiff zerstört auf dem er diente.“
„Das tut mir leid“, sagte Jackson mit ehrlicher Anteilnahme.
„Mein Vater wusste, was er tat, als er zu Sternenflotte ging“, winkte Brooks ab. „Und meine Mutter wusste es ebenfalls, als sie ihn geheiratet hatte.“
„Und nun sind Sie eifersüchtig, weil die wirkliche Tochter des Captains aufgetaucht ist?“ vermutete Jackson vorsichtig.
Brooks hielt im Laufen kurz inne. An so etwas hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie horchte in ihr Inneres, konnte aber nichts in der Art finden. „Nein“, sagte sie dann und winkte lächelnd ab. „Ich sehe keinen Vater mehr in Sanawey. So jung bin ich nun auch nicht mehr, dass ich das noch bräuchte. Aber er steht mir sicher näher als sonst jemand. Er ist meine Familie. Und dass er nun wirklich eine Tochter hat finde ich schön. Ich hoffe nur, sie werden sich irgendwann richtig gut verstehen. Dann hätte nämlich auch meine Familie Zuwachs bekommen.“ Sie lächelte andächtig. „Ich hoffe nur, dass er mit all dem auch fertig wird, wenn sie die Differenzen nicht ausräumen können.“
„Das wird er“, gab Jackson zuversichtlich zurück. Dann deutete sich nach vorn. „Sieht so aus, als gäbe es ein Problem mit dem Dach des letzten Gebäudes.“
Brooks folgte ihrem Blick und zuckte dann ein wenig zusammen. „Ich bin gleich wieder da“, sagte sie eilig und ging dann schnell zu ihren Leuten. Wenn sie das Problem nicht in den Griff bekamen würde das ihren ganzen Zeitplan über den Haufen schmeißen.
Am Abend saßen Williams und Brooks bei gedämpftem Licht im Konferenzraum vor dem Bildschirm. Auf dem Tisch lagen einige Datenträger. Es waren die persönlichen Logbücher von Rick Lescott. Dr. Williams hatte sie bei ihren Nachforschungen zu Ricks Tod in seinem Quartier gefunden. Sie wollte sie durchgehen, hatte sich in seinem Quartier aber etwas unbehaglich gefühlt. Daher hatte sie sich für den Konferenzraum als neutralen Ort entschieden. Auf dem Weg hierher war sie auf Brooks getroffen, die sich trotz ihres langen Tages und der harten Arbeit auf dem Planeten spontan entschlossen hatte, sie zu begleiten. Immerhin war Lescott einer von Brooks Mitarbeitern gewesen.
Inzwischen hatten sie alle Logbücher gesehen und saßen nun schweigend vor dem Bildschirm. Das Gesehene hatte sie tief erschüttert. Es war nicht leicht, das Ganze ruhig und distanziert zu analysieren. Es waren die ganz persönlichen und intimen Gedanken eines Menschen. Seine Träume und Hoffnungen, seine Ängste und Tiefpunkte. Es waren die geheimsten und tiefsten Wünsche, die eigentlich niemanden etwas angingen. Es war das Tagebuch eines Sternenflottenoffiziers, der inzwischen verstorben war.
Sie wussten beide nicht, was sie sagen sollten. Sie hatten das gleiche gesehen und es gab dazu nicht viel zusagen. Es sprach für sich. Sie starrten beide wortlos vor sich hin und mussten das Gesehene erst einmal verarbeiten. So reagierten sie auch nicht, als sich mit einem leisen Zischen die Tür in ihrem Rücken öffnete. Sanawey trat ein, blieb aber sofort stehen, als er die zwei so da sitzen sah. Einen kleinen Moment blieb er an der Türe stehen und beobachtete sie einfach nur. Dann ging er zum Tisch und setzte sich. Mit fragendem Blick, aber ohne ein Wort zu sagen, sah er sie an. Er wusste, sie würden ihm erzählen was sie herausgefunden hatten, wenn sie dazu bereit waren. Und drängen wollte er sie nicht.
„Er war absolut hoffnungslos“, begann Williams schließlich nach einer Zeit des Schweigens. „Er war so unzufrieden mit seinem Leben, sah aber auch keine Chance, es selbst in die Hand zu nehmen und etwas zu ändern. Er ist zu sehr in seinem Selbstmitleid versunken. Alle seine Aufzeichnungen strahlen dieselbe hoffnungslose Stimmung aus. Er war von Selbstzweifeln zerfressen und sah sich überall nur als Störenfried, den niemand mochte. Er hatte absolut kein Selbstwertgefühl. Er hat ein trauriges und einsames Leben geführt.“
„Und am Schluss wusste er einfach nicht mehr weiter. Ein Gespräch mit einem Counselor hätte vielleicht geholfen“, fügte Brooks bitter hinzu. Sie fragte sich, ob es Anzeichen gegeben hatte, die das Unheil angekündigt hatten. Und ob sie diese Anzeichen hätte sehen müssen. Immerhin hatte er in ihrer Abteilung gearbeitet. Sicher, er war ein Sonderling gewesen, äußerst schweigsam und verschlossen. Aber reichte so etwas als Zeichen?
„Sie sollten sich vielleicht einmal eine Aufzeichnung ansehen“, schlug Williams vor. „Sie sind alle ähnlich. Aber eine annähernde Vorstellung was in ihm vorging, bekommt man trotzdem erst, wenn man alles gesehen hat. Wirklich nachvollziehen kann man es aber nicht.“
„In Ordnung“, nickte Sanawey langsam. „Wählen Sie eine aus. Sie haben sie alle gesehen.“
Williams griff gezielt in den Stapel der Datenträger und zog einen heraus. „Der hier ist vier Wochen alt“, sagte sie und steckte es dann an die dafür vorgesehene Schnittstelle.
Auf dem Bildschirm erschien Rick Lescott. Zusammengesunken saß er auf der Couch in seinem Quartier. „Persönliches Logbuch, Sternzeit 38620,1“, diktierte er dem Computer. „Ich fühle mich so einsam und allein. Aber das alleine reicht nicht als richtige Beschreibung. Ich fühle mich so... leer. Hohl. Ausgebrannt. Ich bin nicht mehr als eine leere Hülle. Und eine leere Hülle ist nicht imstande zu überleben. Genauso wenig bin ich dazu im Stande. Ich glaube, ein Counselor würde folgende Beschreibung von mir abgeben: Die Einsamkeit, das Selbstmitleid und die Unfähigkeit mein Leben zu verändern haben meine Seele verbrannt.
Ich kann nicht mehr. Und ich will auch nicht mehr. Wozu auch?
Ich hatte nie irgendwelche Freunde, mit denen ich reden konnte. Oder auch einfach mal Spaß haben oder feiern konnte. Ich war immer alleine. Außerdem hatte ich nie ein Mädchen, das meine Liebe erwidert hatte. Oh, sicher, ich war einige Male verliebt, aber das war einseitig. Nie wurde etwas Ernstes daraus. Nie wurde die Liebe erwidert. Und ich glaube mit jeder unerwiderten Liebe stirbt oder vernarbt ein Teil der Seele, während eine erwiderte Liebe diesen Teil der Seele wieder heilt. Aber demnach müsste meine Seele längst tot sein. Und irgendwie ist sie das ja auch.“ Rick lächelte kurz, doch es wirkte nicht wie ein Lächeln, das von Herzen kam. Es war ein trauriges Lächeln. „Es gibt so viele Dinge, die ich noch nie erlebt habe: wilde Partys, Zärtlichkeit, Sex oder auch wie es ist von einem anderen Menschen gebraucht zu werden. Und ich werde das wohl auch nie erleben. Jeden Tag hoffe ich auf ein Wunder. Auf eine Person, die mich liebt, und die mir zeigt wie das Leben wirklich ist. Eine Person, die mich einfach rettet. Einen Engel, der mir hilft. Aber so jemanden gibt es nicht. Niemand kann mir helfen. Und damit gibt es für mich auch keinen Grund weiter zu leben.“ Wieder machte er eine kurze Pause, aber anstatt die Eintragung zu beenden fuhr er mit seinem verzweifelten Monolog fort. „Ich stehe doch sowieso nur allen im Weg und gehe jedem auf die Nerven. Es wären doch alle viel besser dran, wenn es mich nicht geben würde. Denn im Grunde bin ich ein Nichts, ein Niemand. Ein Versager. Würde es überhaupt jemand bemerken, wenn ich nicht mehr da wäre? Würde es irgendjemanden interessieren? Würde mich irgendwer vermissen? Nein, niemand. So einfach ist das. Niemand. Niemand“, wiederholte er leise.
Damit war die Eintragung beendet.
Sanawey saß auf seinem Stuhl und starrte den Monitor an. „Mein Gott“, entfuhr es ihm dann. „Wie kann ein Mensch nur all seine Hoffnung verlieren? Wie kann man das Leben nur so sehr hassen? Wie kann man sich selbst nur so sehr hassen?“ Entsetzen und Unverständnis spiegelte sich in seinem Gesicht. Es war für ihn so unvorstellbar. Vor allem, weil Rick Lescott seine Situation selbst so eiskalt und distanziert analysiert hat. So völlig teilnahmslos, als rede er von einer ihm völlig unbekannten Person, nicht von sich selber. „Wie kann es nur soweit kommen, ohne dass es jemand merkt?“ Das war nicht als Vorwurf an Brooks gemeint, sondern eher als allgemeine Frage, auch kritisch an sich selbst.
„Die meisten Eintragungen klingen so, oder mit noch mehr Selbstmitleid gefüllt“, erklärte Dr. Williams. „Er muss ein prägendes Ereignis in seiner Jugend erlebt haben, das ihm sämtliches Selbstbewusstsein geraubt hat. Aber wir werden wohl nie erfahren, was das war.“
Der Captain sah sie an. Einerseits war er erleichtert, dass diese Tat nicht direkt in Bezug zu dem Schiff oder seiner Crew stand. Auf diese Weise bestand keine akute Gefahr einer Wiederholung. Andererseits hatte er sich eine bessere Erklärung für diese Tat erhofft. Das war keine wirkliche Erklärung und die Frage nach dem Warum stand nach wie vor im Raum. Und das gab ihm das völlig hilflose Gefühl, dass er es sowieso nicht hätte verhindern können.
„Wie lautete seine letzte Eintragung?“ erkundigte er sich bei den beiden. Nicht, dass er etwas anderes erwartet hätte, aber er hatte das Gefühl es Lescott einfach zu schulden, wenigstens noch seine letzten Worte zu hören.
„Er wiederholt ziemlich viel aus anderen Tagen“, sagte Williams mit rauer Stimme. „Und er meint, dass er keinen Sinn darin sähe weiter zu leben, da er sein Leben ohnehin nicht genießen könnte. Es klingt nicht viel anders wie das, was Sie gesehen haben. Nichts deutet darauf hin, dass er sein Vorhaben jetzt umsetzten würde. Einziger Unterschied ist, dass er meint einem Engel begegnet zu sein, aber selbst dieser ihn nicht retten könne, da nicht einmal Engel von ihm Notiz nehmen würde. Obwohl er diesen Engel über alles lieben würde. Und er meinte damit Karja.“
Ein erschrockener Aufschrei von der Tür her ließ sie alle herumfahren. Dort stand Karja. Ohne dass es einer von ihnen bemerkt hatte war die junge Indianerin eingetreten und hatte einen Teil des Gesprächs mitbekommen. „Ich bin schuld an seinem Tod?“ brachte sie mühsam hervor.
„Nein“, erwiderten alle drei gleichzeitig.
Sanawey stand auf und ging auf sie zu. „Natürlich bist du nicht schuld“, besänftigte er sie. Knapp vor ihr blieb er stehen und sah sie an. Sie zu berühren wagte er aber nicht.
„Aber er hat sich das Leben genommen, weil er unglücklich in mich verliebt war.“ Sie klang noch immer geschockt und fühlte plötzlich eine Last auf ihren Schultern, die sie zu zerbrechen drohte. Sie war ohnehin schon völlig aufgewühlt hierhergekommen, um mit ihrem Vater zu reden. Nun kam diese Verantwortung noch hinzu.
„Ich glaube nicht, dass das der Hauptgrund war. Da sagen die gesamten Aufzeichnungen etwas anderes“, erklärte ihr Williams sanft, die ebenfalls neben Karja getreten war und ihr den Arm um die Schultern gelegt hatte. „Es war nur eine kleine Randbemerkung am Schluss. Letztlich hatte er unter schweren Depressionen gelitten, die der Auslöser zu seiner Tat waren.“
Karja wusste nicht wer Lescott gewesen war. Sie hatte ihn nicht gekannt, hatte nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Sie konnte nicht wissen, was in ihm vorgegangen war. Und doch fühlte sie sich Mitschuld am Tod dieses Unbekannten.
„Du trägst keine Schuld an dem was passiert ist“, wiederholte Sanawey nochmals ernst. Auf einmal war Lescotts Tod nebensächlich geworden. Jetzt kam es darauf an, Karja vor Schuldgefühlen zu bewahren. „Er war so sehr in seinem Selbstmitleid gefangen, dass ihm niemand mehr hätte helfen können. Selbst professionelle Hilfe wäre keine Garantie gewesen. Und dass er dich liebte kannst du nicht ernst nehmen. Er kannte dich doch nicht einmal. Wie kann er da von Liebe reden? Er hätte bei jeder Frau von Liebe gesprochen, die ihm etwas Aufmerksamkeit gegeben hätte.“
„Ihr Vater hat recht, Karja“, unterstrich Williams seine Worte. „In seinem Zustand wäre er zu solchen Gefühlen gar nicht in der Lage gewesen.“
Karja nickte nur. Als niemand mehr etwas dazu zu sagen hatte breitete sich ein seltsames Schweigen im Raum aus. Mit einem kurzen Blickkontakt gab Sanawey der Ärztin zu verstehen, dass er gerne mit seiner Tochter alleine wäre. Daraufhin zogen sich Williams und Brocks taktvoll zurück.
Als sich die Türe hinter den beiden schloss sah Sanawey seiner Tochter in die Augen. Er spürte die Last, die auf ihr lag. Und er hätte alles getan, um sie ihr abzunehmen. „Karja“, begann er langsam, kam jedoch nicht weiter. Denn Karja fing an zu weinen. Das war der letzte Tropfen, der ihr ohnehin schon völlig überfordertes Inneres zum Überlaufen brachte.
Überrascht trat Sanawey noch etwas näher an sie heran. Er hätte sie am liebsten in den Arm genommen, wusste aber nicht, ob das angebracht war. So legte er ihr zögernd die Hand auf die Schultern. Langsam drehte sich Karja zu ihm um und sah ihn aus tränenverschleierten Augen an. Ganz vorsichtig und unsicher lehnte sie sich an ihn. Und genauso vorsichtig legte er dann seine Arme um sie. Es war fast so, als wüssten beide nicht, ob das richtig wäre und wie sie sich dabei verhalten sollten. Und doch brauchten beide dieses Gefühl der Annäherung.
Sanawey sagte nichts und hielt sie nur im Arm. Er wollte einfach für sie da sein. Er spürte ihr Zittern und Beben und ihre Tränen rannen über seine Uniform. Sie schien all den Schmerz und die Verwirrung der letzten Tage herauszulassen und fand kein Ende mehr. Sanawey hielt sie liebevoll im Arm. Schuldgefühle meldeten sich in ihm, da er fast froh sein musste, dass Lescott sich das Leben genommen hatte. Immerhin schien das Karja endlich offener werden zu lassen und er hoffte, nun endlich eine Beziehung zu ihr herstellen zu können. Aber dass es dazu den Tod eines Menschen bedurft hatte schockierte ihn zutiefst und ließ ihn seine Gefühle nur schwer einordnen. Das Leben schlug manchmal seltsame Bahnen ein und war mit den hohen Moralansprüchen eines Sternenflottenoffiziers nicht immer vereinbar. Er musste nun schauen, wie er seine Gefühle richtig einordnete und damit leben konnte.
Etwas später saß Karja allein vor dem Bett in dem Gästequartier, das sie zur Zeit bewohnte. Sie hatte sich in ihr Quartier zurückgezogen und wollte erst einmal für sich sein. Sie musste all das erst einmal verarbeiten. Ihr Vater hatte sie zuerst begleiten wollen, doch sie hatte das abgelehnt. Es war lieb von ihm gemeint, dass er ihr helfen wollte. Doch das konnte er nicht. Da musste sie alleine durch.
Nun starrte sie an die Wand, doch mit ihren Gedanken war sie weit weg. Ganz weit weg. Ein paar vereinzelte Tränen liefen ihr über die Wange. Doch sie merkte noch nicht einmal, dass sie weinte. Es war einfach alles so schrecklich. Sie war an Bord gekommen, um ihren Vater zu sehen und um ihn zu bestrafen. Es sollte nur eine kurze Sache werden. Und eine einfache noch dazu. Doch nun war alles so schrecklich kompliziert geworden. Da gab es ihren Vater, der so gar nicht war wie sie gedacht hatte. Sie hatte einen eingebildeten, selbstsüchtigen Egoisten erwartet, doch er war das genaue Gegenteil. Dann die Crew des Schiffes, die alle so nett waren und sich schützend vor ihren Captain stellten. Die ihr die Augen geöffnet hatten und sie die Erzählungen ihrer Tante hatten anzweifeln lassen. Karja hatte daraufhin mit ihrer Tante gesprochen. Natürlich hatte sie alles abgestritten. Zuerst. Aber Karja war so wütend gewesen, dass ihre Tante Cloe es vorgezogen hatte, ihr dann doch die Wahrheit zu sagen. Dass Karjas Mutter Janet Sanawey verlassen hatte, weil sie schwanger geworden war und ihm bei seiner Karriere nicht im Weg stehen wollte. Sie hatte gespürt, dass ihn die Entscheidung zwischen Karriere und Familie zerreißen würde. Und das wollte sie ihm nicht antun. Aber sie hat ihm damit nie die Gelegenheit gegeben sich selbst zu entscheiden. Und er hatte nach Janet gesucht, als sie einfach verschwunden war. Das hatte damals auch Cloe mitbekommen. Doch Janet hatte alle Versuche einer Kontaktaufnahme von Sanawey abgeblockt. Somit hatte er auch nicht wissen können, dass er Vater geworden war. Und Karja hatte ihm schrecklich unrecht getan. Sie kam sich vor wie eine Närrin. Und als sie ihm das sagen wollte, hatte sie zufällig mitbekommen, wie dieser junge Offizier, den sie nicht einmal kannte, sich das Leben genommen hatte, während er anscheinend in sie verliebt war. Auch dafür fühlte sie sich schuldig. Auch wenn sie im Prinzip wusste, dass sie nichts dafür konnte. Aber es kam einfach alles zusammen und da konnte sich nicht mehr trennen.
Ihr ganzes Weltbild war zusammengebrochen. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Und sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte, was sie als nächstes machen konnte. Sie war alleine und vorerst auf diesem Schiff gefangen. Denn bis die Republic
in den Föderationsraum zurückkehren würde, sollten noch mehrere Monate vergehen. Aber was sollte sie danach machen? Mit einem Mal vermisste sie ihre Mutter schrecklich. Die Wärme und Zuneigung einer Mutter. Den mütterlichen Rat. Den sie von ihr allerdings nie bekommen hatte. Und an ihren Vater konnte sie sich nicht wenden. Sie kannte ihn ja noch nicht einmal. Er war ein Fremder, mehr als je zuvor, denn ihre vorgefasste Meinung über ihn stimmte ja auch nicht mehr.
Die Mauer um ihre Seele herum war zusammengebrochen. Und jetzt, da die Wut und ihr Zorn sie nicht mehr schützten, fühlte sie sich das erste Mal in ihrem Leben richtig einsam und alleine. Sie war verloren. Sie hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, doch die neuen schienen ins Nirgendwo zu führen. Sie hatte keine Familie und keine Freunde.
Schluchzend saß sie auf dem Boden und weinte. Sie konnte nichts dagegen machen. Ihre Gefühle, die sie jahrelang unterdrückt hatte kamen zurück und zerbrachen ihre Selbstbeherrschung. Sie weinte die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit aus sich heraus. Sie war so sehr in ihrer Verzweiflung gefangen, dass sie fast nicht hörte, wie der Türsummer einen Besucher meldete. Leise schluchzte sie ein Herein, machte sich aber nicht die Mühe aufzustehen.
Sanawey trat vorsichtig ein und sah sich um. Als er sie am Boden vor dem Bett sitzen sah kam er sofort zu ihr. Er setzte sich neben sie und nahm sie wortlos in den Arm. Er drückte sie fest an sich und sie ließ ihren Tränen freien Lauf.
Sie brauchte lange, bis sie sich wenigstens wieder ein bisschen beruhigt hatte. Und während der ganzen Zeit hielt er sie einfach fest. Er nahm sich die Zeit und ließ alles andere einfach mal beiseite. Sie würden auf dem Schiff auch ohne ihn zurechtkommen. Schließlich war er nicht unersetzlich.
Irgendwann löste sie sich aus seiner Umarmung. Sie betrachtete die Uniform an seiner Schulter, die von den Tränen ganz nass war. „Entschuldigung“, murmelte sie und strich mit ihrer Hand darüber, als ob sie es damit weg wischen könnte.
„Schon gut“, sagte er nachsichtig. „Alles in Ordnung bei dir?“ erkundigte er sich und sah sie liebevoll an.
Karja nickte. Es war ihr etwas peinlich, dass sie so viel geweint hatte. Und dass sie nun so verquollen aussah. Sie hatte das Gefühl, dicke Augen zu haben. Und rote noch dazu. Doch schien ihn das gar nicht zu stören. Er wirkte einfach nur glücklich, dass sie ihn nicht gleich wieder ankeifte.
„Ich habe mit Tante Cloe gesprochen“, sagte sie schließlich. „Sie hat mir die Wahrheit erzählt. Über meine Mutter und Sie.“ Sie schluckte und musste ihre Stimme wieder fangen. Dann lächelte sie ein wenig verlegen. „Über meine Mutter und dich“, korrigierte sie sich. Ein freudiges Funkeln trat daraufhin in seine Augen. „Ich habe dir schrecklich unrecht getan und es tut mir leid“, ergänzte sie noch.
Sie wollte noch mehr sagen, aber er legte ihr den Finger auf die Lippen. „Du musst dich nicht entschuldigen. Du konntest es nicht wissen. Und das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.“
Sie nickte. „Es tut mir trotzdem leid“, sagte sie. Dann saßen sie eine Zeitlang schweigen nebeneinander, einfach nur glücklich sich gefunden zu haben. Und doch auch ein wenig abwartend. Sie mussten sich erst einmal kennenlernen. Und sie mussten lernen miteinander umzugehen.
„Wie soll es nun weitergehen?“ fragte Karja nach einer Weile.
„Ich weiß es nicht“, gestand er. „Diese Mission soll noch ein halbes Jahr andauern. So lange werden wir hier festsitzen und viel Zeit füreinander haben.“ Er machte eine kurze Pause. „Was hast du denn vor?“
„Ich weiß es auch nicht“, sagte sie hilflos. „Ich habe mir über meine Zukunft nie Gedanken gemacht.“
„Dann werden wir nach dieser Mission erst einmal auf die Erde zurückkehren. Ich werde um meine Versetzung ins Sternenflottenhauptquartier bitten. Alles weitere wird sich dann ergeben“, meinte er zuversichtlich.
„Aber deine Karriere“, protestierte sie.
„Ist nicht so wichtig“, unterbrach er sie. „Ich will dich nicht auf der Erde absetzten und gleich wieder verschwinden. Ich habe neunzehn Jahre deines Lebens verpasst. Und ich glaube kaum, dass ich die nächsten neunzehn habe, um das nachzuholen.“ Er lächelte sie an. Er wusste, dass er nur wenige Jahre haben würde, um sie kennenzulernen und ihr ein Vater zu sein. Geradezu lächerlich wenige Jahre. Sie würde in nicht allzu ferner Zukunft selbstständig sein und ihre eigenen Wege gehen. Für ein paar Jahre würde sie vielleicht noch auf seinen Rat und seine Unterstützung zurückgreifen. Aber irgendwann wäre auch das vorüber.
„Es ist ja noch ein halbes Jahr, bis wir zur Erde zurückkönnen“, sagte sie dann und vertagte damit die Entscheidung. Dafür war es auch noch viel zu früh. Sie mussten erst einmal die nächsten Wochen angehen.
„Ich hoffe, dass du erst einmal auf dem Schiff bleiben wirst“, äußerte er seine Wünsche, als ob sie eine Wahl gehabt hätte. Aber allein, dass er sie bat, war schon wichtig für sie. „Du kannst in diesem Quartier hier wohnen bleiben. Es soll erst einmal deines sein.“
Karja sah ihn an. Erneut stiegen Tränen in ihre Augen. Sie nickte einfach nur und legte dann ihren Kopf an seine Schulter. Für diese ersten Momente reichte ihr seine Nähe. Sie musste ihn noch gar nicht sonderlich gut kennen. Er war für sie da, der Rest spielte jetzt keine Rolle. Aber sie war sich sicher, es würde schon irgendwie weitergehen.
SECHS
In aller Ruhe schlenderte Reed durch die Gänge des Schiffes. Vor wenigen Stunden war er von der Planetenoberfläche zurückgekehrt und hatte nun den Rest des Tag dienstfrei. Das musste ausgenutzt werden, auch wenn er noch nicht so genau wusste, was er anstellen sollte. Auf der einen Seite lockte ihn das Freizeitdeck. Eine Partie Billard wäre jetzt genau das Richtige. Nur hatte er keinen Partner für ein Spiel. Und schließlich konnte er sich nicht mit jedem auf ein Duell einlassen. Es musste schon sein Niveau sein. Darunter machte es einfach keinen Spaß. Und eine Herausforderung sollte es auch sein. Denn schließlich ging es ja darum, sich zu messen. Das Problem war ganz einfach, er war zu gut. Da gab es kaum Auswahl an potentiellen Gegnern. Um diese Uhrzeit einen würdigen Gegner zu finden, dazu waren die Chancen einfach zu gering.
So blieb ihm auf der anderen Seite noch die Bar. Aber wenn man nicht gerade mit Kumpels dorthin ging oder eine feste Verabredung hatte, dann machte das eigentlich auch keinen Spaß. Nicht, dass es ihm schwer gefallen wäre eine Frau anzusprechen. Aber zu seinem Bedauern hatte er feststellen müssen, dass es nicht so viele Frauen an Bord gab, die seinen Ansprüchen genügten. Und die Mission ging noch einige Monate, da musste er sich die wenigen Frauen einteilen.
Entsprechend unentschlossen war er, was die Abendgestaltung anging. Und während er noch so durch die Gänge schlenderte hörte er eine Stimme hinter sich, die seinen Namen rief. Er musste sich auch gar nicht erst umdrehen um Williams‘ Stimme zu erkennen.
„Hallo Elizabeth“, sagte er und blieb stehen, so dass sie ihn einholen konnte.
Die Ärztin schloss zu ihm auf. „Du siehst im Moment nicht sehr beschäftigt aus“, sagte sie in der Hoffnung, ihn begleiten zu können. Offenbar hatte auch sie noch keine Begleitung für diesen Abend.
„Das täuscht. Ich leiste grade Schwerstarbeit“, erwiderte Reed und tat dabei ganz wichtig.
Elizabeth zog skeptisch die Augenbrauen nach oben. Ihr Blick ging an ihm einmal nach unten und dann wieder nach oben. „Und was tust du gerade?“ wollte sie wissen.
„Nun, ich denke darüber nach, wohin ich jetzt gehen könnte. In die Bar oder auf das Freizeitdeck“, gab er so ernst zurück, als würde er für die Antwort darauf den Nobelpreis erhalten.
Sie stieg drauf ein und blickte ihn ebenso ernst an. Sie kniff für einen Moment die Lippen zusammen. „Ja, das verstehe ich“, sagte sie dann. „Für manche ist das Denken wirklich Schwerstarbeit. Und für manche auch einfach nur Glückssache. Schwierig wird es, wenn beides zutrifft.“ Die Spitze in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Sprichst du da aus eigener Erfahrung?“ griff er ihre Vorlage auf und spielte den Ball zurück.
„Natürlich“, bestätigte sie noch immer absolut ernst. „Du weißt sicher, als Ärztin hat man immer wieder mit solchen Fällen zu tun.“
Drake machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch fiel ihm dazu nichts mehr ein. Also schloss er ihn wieder und zuckte nur mit den Schultern.
„Was, du bist sprachlos?“ Sie schien das gar nicht glauben zu können und ihr Gesicht fing an zu strahlen. Sie sprang kurz in die Luft. „Ja, ich habe es einmal geschafft. Ich habe gewonnen. Den Tag muss ich mir im Kalender anstreichen“, freute sie sich. „Wann habe ich das das letzte Mal geschafft?“
„Noch nie“, gab er kurz angebunden zurück. Und bevor sie etwas sagen konnte fuhr er schnell fort. „Was genau willst du eigentlich?“
„Ich wollte dich nur fragen, ob du mit in die Bar kommst. Falls so eine Frage deine schwer arbeitenden Gehirnzellen nicht überfordert“, foppte sie ihn gut gelaunt weiter.
Er neigte langsam den Kopf, so als müsse er ihre Frage erst einmal ernsthaft in Erwägung ziehen und die Vor- und Nachteile abwägen, um sich zu entscheiden. „Na schön. Ausnahmsweise“, sagte er dann.
„Ich fühle mich geehrt“, erwiderte Williams ironisch, hakte sich aber doch bei ihm ein.
„Das solltest du auch“, grinste er etwas unverschämt zurück. „Komm jetzt.“
Gemeinsam gingen sie weiter durch den Gang, bis sie vor der Bar standen. Dort ließ Drake, ganz Gentleman der er manchmal war, Elizabeth den Vortritt durch die Tür. Als er nach ihr den Raum betrat bemerkte er sofort, dass sich das Besucherinteresse heute in Grenzen hielt. Die Bar war nur mäßig besucht. Offenbar wandten sich jetzt, nach einigen Wochen an Bord, die meisten Crewmitglieder wieder dem Freizeitdeck zu. Dort waren die Aktivitätsmöglichkeiten eben doch vielfältiger. So war hier nur etwa jeder zweite Tisch belegt, was aber den Vorteil bot, dass man die Wahl hatte, was den Platz anging.
Die beiden blieben erst einmal direkt an der Tür stehen und ließen ihre Blicke durch den Raum schweifen. Zum einen nach einem schönen Platz, zum anderen aber auch um zu sehen, ob vertraute Gesichter zu sehen waren, mit denen man den Abend gemeinsam verbringen konnte. Natürlich kannten sie fast jeden an Bord, aber eine Freundschaft verbanden sie nur mit wenigen. Heute war aber niemand von diesen Personen hier. Elizabeth entdeckte an einem Tisch aber Karja, die offenbar alleine hier war, denn auf dem Tisch vor ihr stand nur ein Getränk und sie beschäftigte sich mit einem Datenpad.
„Komm, wir setzten uns zu ihr“, schlug Elizabeth vor und wollte schon los, aber Drake hielt sie auf.
„Nein, besser nicht“, sagte er schnell. „Setzen wir uns dorthin.“ Er deutete auf einen Tisch, der die größtmögliche Entfernung zu Karjas Tisch aufwies. Und obwohl er sich um einen möglichst neutralen Ton bemühte, fiel Elizabeth eine plötzliche Anspannung an ihm auf.
„Hast du etwas gegen Karja?“ wollte sie wissen. Sie runzelte die Stirn. Sein Verhalten war eindeutig nicht normal. Aber andererseits war es das ja ohnehin nur selten. Dann hellte sich ihr Gesicht auf und sie musste grinsen. „Hast du etwa schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht?“ In den Augen der Ärztin blitzte es belustigt auf. „Hast du einen Korb von ihr erhalten?“
„Nein, nein“, stritt Reed das etwas zu schnell ab. Allein der Gedanke an sie schien ihn nervös zu machen. Und das war ganz sicher ungewöhnlich. Denn normalerweise wurde Drake bei schönen Frauen nie nervös. Im Gegenteil. Normalerweise ging er auf solche Frauen direkt zu und wickelte sie – meistens erfolgreich – um den Finger. Dass er nun eine Ausnahme machte, war mehr als auffällig. Doch versuchte er das Ganze etwas herabzuspielen. „Sie ist die Tochter des Captains. Und ich will es mir mit dem Captain nicht verderben. Schließlich habe ich noch etwas zu beweisen.“
„Aha“, erwiderte Elizabeth in einem Ton, der alles bedeuten konnte. Vor allem aber, dass sie ihm kein Wort glaubte.
„Außerdem wird es wahrscheinlich bald eng um ihren Tisch.“
Seine Versuche abzulenken fand die Ärztin zwar etwas an den Haaren herbeigezogen, aber auch amüsant. Sie sah zu Karja hinüber. Die junge Indianerin war eine wahre Schönheit. So war es sicher nur eine Frage der Zeit, bis die ersten es sich zutrauten, sich zu ihr zu setzen.
Sie gingen zu dem Tisch, auf den Drake gedeutet hatte und setzten sich. Nachdem sie ihre Getränke bestellt hatten fanden sie genug Themen, über die sie sich unterhalten konnten. Da beide schon auf dem Planeten waren konnten sie über die Schönheit und die Ähnlichkeiten zur Erde philosophieren. Und natürlich mussten sie sich auch gegenseitig über die neuste Gerüchteküche auf dem Schiff austauschen. Das war doch schließlich immer das Interessanteste auf solchen Missionen. Wer mit wem und wer mit wem nicht mehr und warum. Darüber konnte man stundenlang diskutieren.
Elizabeth fiel auf, dass Drake so saß, dass er die Türe im Blick hatte. Und dass sein Blick jedes Mal kurz dorthin ging, wenn jemand den Raum betrat, allerdings ohne dabei die Unterhaltung zu unterbrechen. Aber mit einem Mal hielt er plötzlich mitten im Satz inne und starrte zum Eingang.
„Was ist?“ wollte Williams wissen, die mit dem Rücken zum Eingang saß und sich fest vorgenommen hatte, das beim nächsten Mal anders zu machen.
Drake klappte seinen Mund zu und schluckte nur.
Sein Verhalten hatte Williams‘ Neugier erweckt. Wozu aber nicht viel gehörte, wie sie selbst zugeben musste. Dazu war sie einfach von Natur aus zu neugierig. Sie drehte sich um und sah noch, wie eine junge, blonde Frau mit äußerst üppigem Vorbau sich an einen Tisch unweit von ihnen setzte. Sie war alleine hier, wobei das nichts heißen musste. Da die Quartiere in der gesamten Untertassensektion des Schiffes verteilt waren, trafen sich die meisten Verabredungen oder Gruppen erst direkt vor Ort. Und daher war damit zu rechnen, dass sich bald noch Freundinnen von ihr oder gar eine männliche Verabredung einfanden.
Drake Reed verfolgte jede ihrer Bewegungen wie ein Luchs. Nichts schien ihm zu entgehen. Als ob er seine Beute beobachten würde. Und im Prinzip war es ja auch nichts anderes. Denn mit einem Mal bekamen seine Augen einen seltsamen Glanz und ein verschlagenes Lächeln. Er nahm sein Getränk in die Hand und stand auf. „Ich glaube, ich habe jemand für heute Nacht gefunden. Wenn du mich entschuldigen würdest.“ Mit diesen Worten wandte er sich um und ging zu der Frau hinüber.
Die Ärztin sah ihm ungläubig nach. Sie sah, wie Drake die Frau ansprach, was ihr offenbar gefiel, denn einen Moment später nickte sie und Drake ließ sich betont lässig auf den Stuhl nieder und begann sie einzuspinnen. Natürlich war Elizabeth bewusst wie gut Drake aussah. Aber dass er doch so einfaches Spiel hatte war geradezu beängstigend. Und auf keinen Fall wollte sie sich eingestehen, dass es damals zwischen ihnen beiden auch so schnell und einfach für ihn gewesen war.
„Darf ich mich setzen?“ fragte plötzlich eine Stimme neben Elizabeth und ließ sie erschrocken herumfahren. Hatte sie nicht nur überhaupt nicht damit gerechnet angesprochen zu werden, fühlte sie sich auch noch dabei ertappt, wie sie Drake beobachtet hatte. Das war ihr doch etwas peinlich.
Sie sah hoch und erkannte Karja, die neben ihr stand. Sanaweys Tochter war offenbar auch aufgefallen, dass Drake sich woanders hingesetzt hatte. Dass sie das allerdings zum Anlass nehmen würde, sich an die Ärztin zu wenden war doch etwas ungewöhnlich. Karja war bisher sehr verschlossen und meist allein geblieben. Elizabeth wurde bewusst, welch großer Vertrauensbeweis ihr damit entgegengebracht wurde.
„Natürlich. Setzen Sie sich“, sagte Williams als sie sich wieder gefangen hatte und deutete auf einen Stuhl.
Die junge Frau nahm Platz und deutete dann mit einem knappen Kopfnicken zu Reed hinüber. „Ich habe das eben gesehen. Ist er immer so?“ Ihre Stimme hatte einen missbilligenden Tonfall.
„Meistens“, bestätigte die Ärztin und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
Karja schüttelte ihren Kopf. „Mich hat er vor einigen Tagen ebenfalls anbaggern wollen. Allerdings habe ich ihn gleich durchschaut.“
In einem Moment der Erkenntnis fiel es Elizabeth wie Schuppen von den Augen. „Darum hatte er vorher darauf bestanden sich nicht zu Ihnen zu setzen“, sprach sie laut aus was sie dachte.
Aber Karja schien das nicht gehört zu haben. Sie fuhr fort, ihre Missbilligung zu äußern. „Ich frage mich, was das für Frauen sein müssen, die auf so jemanden hereinfallen.“
„Nun, das… äh… das weiß ich… nicht.“ Williams lächelte etwas verlegen und ihre Wangen bekamen eine rötliche Färbung. Bildete sie sich das nur ein oder erhöhte sich die Temperatur hier drin tatsächlich?
Die Tochter des Captains hob den Blick und sah Elizabeth mit durchdringendem Blick an. Für einen Moment herrschte ein Schweigen zwischen ihnen, das Elizabeths Unbehagen noch steigerte. „Sie sind auch auf ihn hereingefallen“, sagte Karja schließlich. Es war nicht einmal eine Frage, so sicher war sie sich.
„Ja… nein… das heißt…“ Karjas Ruhe verstärkte Williams‘ Verlegenheit. Und vielleicht lag es auch daran, dass sie befürchtete in Karjas Augen an Respekt zu verlieren und damit auch das neu gewonnene Vertrauen.
„Haben Sie auch mit ihm geschlafen?“ fragte Karja direkt heraus.
Elizabeth wich ihrem Blick aus und sah zum Fenster hinaus. Was sollte sie sagen? Sollte sie Karja belügen? Nein, dazu war die junge Frau zu intelligent. Und sie wollte sie auf keinen Fall mit einer Lüge beleidigen. Aber es war so eine persönliche Frage. Und ihr Verhältnis war einfach noch nicht auf so einem persönlichen Niveau, das eine solche Frage rechtfertigte. Dann aber sah sie Karja direkt in die Augen. „Ja. Aber ich habe es hinterher bitter bereuen müssen.“
„Er ist ein richtiges Schwein.“ Aus ihrem Mund klang es wie ein Urteil.
„Er ist ganz in Ordnung“, beschwichtigte Williams. „Bis auf diesen kleinen Fehler.“
„Ein kleiner Fehler?“ wiederholte Karja erstaunt. „Er behandelt Frauen wie Spielzeug und Sie meinen, das sei ein kleiner Fehler. Und das, wo er Sie selbst noch benutzt hat.“ Das Unverständnis sprach nicht nur aus ihrer Stimme sondern spiegelte sich in ihrem ganzen Gesicht wieder.
Elizabeth schwieg einen Moment. Sie fühlte sich von Karja in die Ecke gedrängt. Was sollte sie auch sagen? Sie konnte die damaligen Ereignisse nicht ungeschehen machen. Und irgendwie musste sie ja auch weiter mit ihm auskommen. Ein angespanntes Verhältnis hielt sie für wenig förderlich. Außerdem war eine Zusammenarbeit dann nicht mehr möglich. Dazu kam, dass sie sich einfach gut mit ihm verstand. Und sie war nicht der Typ, der mit Feindschaften durchs Leben ging. Nur war ihr auch klar, dass Karja das nicht verstehen würde. Daher sagte sie leise: „Vielleicht ist es auch ein großer Fehler.“
Karja dachte einen Augenblick nach, dann stand sie auf und lächelte Williams nachsichtig aber trotzdem kühl an. „Ich nehme es Ihnen nicht übel, dass sie mit ihm befreundet sind“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Aber ich könnte das nicht.“ Damit wandte sie sich um und verließ stolzen Hauptes den Raum, ohne Drake Reed auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
Elizabeth sah ihr nach. Die junge Indianerin war eine verdammte stolze Frau, soviel war auf den ersten Blick zu erkennen. Dieser Stolz war aber letztlich nicht nur förderlich. Sie stand sich damit oft selbst im Weg. Wie auch ihr Umgang mit der aktuellen Situation mit ihrem Vater gezeigt hatte. Elizabeth hoffte ehrlich, dass Karja durch ihren Stolz nicht irgendwann in solche Probleme kam, die sie dann nicht mehr lösen konnte. Denn auch wenn Elizabeth keine Psychologin war, so kannte sie sich mit diesem Gebiet doch gut genug aus, um zu erkennen, dass Karjas zur Schau gestellter Stolz nur als Schutzschild diente, um ihre Unsicherheit und ihre Verletzlichkeit zu verbergen. Sie hatte es sich zu Eigen gemacht, andere zu verletzen, bevor jemand sie verletzen konnte. Frei nach dem Motto, Angriff ist die beste Verteidigung. Nur ewig konnte das nicht gutgehen.
Mit einem letzten Blick auf Drake, der jetzt absolut in seinem Element war, verließ auch Elizabeth die Bar. Sie hatte für diesen Tag genug und wollte sich nur noch die Decke über den Kopf ziehen.
Mit etwas gemischten Gefühlen betrat Karja den Bereitschaftsraum des Captains. Sie war noch nie hier gewesen. Sie war zwar schon seit einigen Wochen an Bord, ihrem Vater war sie aber immer in ihrem Quartier oder im Transporterraum begegnet. Und natürlich das eine Mal im Besprechungsraum, als sie von Lescotts Tod erfahren hatte. Seitdem hatte sie ihn ein paar Mal gesehen, aber irgendwie war es trotzdem jedes Mal seltsam gewesen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie ihn verachtet und gehasst, nur um dann feststellen zu müssen, dass er gar nicht so war, wie sie erwartet hatte. Aber die Gefühle, die sie all die Jahre in sich getragen hatte, konnten nicht einfach über Nacht in Vertrauen und Wohlgefälligkeit umgewandelt werden. Sie mussten sich erst einmal kennenlernen, langsam vorantasten, um zu erkennen, wer sie jeweils waren und wie sie miteinander umgehen konnten. Karja hatte bei jedem Treffen das Gefühl, wieder von vorne anzufangen. Nicht von ganz vorne, sie kamen mit jeder Begegnung etwas voran, aber es fing immer damit an, dass sie beide etwas befangen waren. Ihr schien es so, als ginge es immer mit jedem Treffen zwei Schritte voran, um dann in der Zwischenzeit wieder einen Schritt zurückzufallen.
Sanawey empfing sie mit einem Lächeln. Er saß hinter seinem Schreibtisch und schaltete den Bildschirm ab, als sie eintrat. Auch er war, wie jedes Mal, etwas nervös, auch wenn er alles tat, um es sich nicht anmerken zu lassen. Karja fand das richtig süß. Denn es entsprach so gar nicht dem, was sie all die Jahre gedacht hatte. Und es freute sie. Er bemühte sich um sie und da er nicht wusste, wie sie reagierte, war er etwas aufgeregt.
„Hallo Karja“, begrüßte er sie erfreut. Natürlich hatte er gewusst, dass sie kommen würde. Schließlich hatte er sie herbestellt.
„Hallo“, erwiderte sie und wusste wie immer nicht, wie sie ihn ansprechen sollte. Das Wort Vater wollte ihr nicht recht über Lippen kommen.
„Bitte, nimm doch Platz“, bot er ihr am Besuchertisch einen Stuhl an. Er selbst stand auf und kam ebenfalls zum dem Tisch herüber.
Karja nickte und setzte sich. Sie wusste nicht, was er von ihr wollte. Vor zwei Stunden hatte er sich bei ihr gemeldet und sie zu dieser Uhrzeit hierher bestellt. Er hatte ihr aber nicht verraten, was er mit ihr besprechen wollte. Sie vermutete, dass es nichts Privates war. Denn sonst hätte er sie wohl kaum hierher kommen lassen. Dann hätte er sie in ihrem Quartier besucht. Aber etwas Dienstliches konnte es wohl kaum sein, denn sie gehörte nicht zur dieser Crew, noch nicht einmal zur Sternenflotte.
„Wie geht es dir?“ fragte er etwas unbeholfen. Er wollte ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, wusste aber auch sonst nicht, was er sagen sollte. Schließlich hatte er sie erst gestern Abend gesehen.
„Danke, gut“, nickte sie und ihr war nicht weniger seltsam zumute. Sie fragte sich, was jetzt auf sie zukam.
Sanawey merkte das sehr wohl, daher wollte er sie nicht länger im Ungewissen lassen. „Karja, du wirst ja noch eine Zeitlang an Bord sein“, sagte er dann. „Und du kannst in der Zeit nicht einfach nur herumsitzen.“
„Ja“, nickte Karja langsam. Sie hatte sich das auch schon gefragt. Ein halbes Jahr nichts zu tun zu haben war zwar für viele ein Traum, doch Karja hatte dem eher mit Grausen entgegen gesehen. Es gab an Bord des Schiffes einfach zu wenige Möglichkeiten sich ein halbes Jahr lang jeden Tag zu beschäftigen. Denn selbst das Fitnessstudio und die Freizeiteinrichtungen waren irgendwann ermüdend. So konnten diese Monate zu einer sehr langen Zeit werden.
„Daher hatte ich mir gedacht“, fuhr er fort. „dass du eine Aufgabe hier an Bord übernehmen sollst.“ Er machte eine Pause, um ihre Reaktion abzuwarten. Doch Karja zeigte keine. Sie blieb weiterhin unbeweglich sitzen und sah ihn einfach nur an.
„Ich habe gehört, du bist technisch begabt“, versuchte er es anders und sie bestätigte ihm das. „Deswegen hatte ich mir gedacht, dass du im Maschinenraum eine Beschäftigung bekommen solltest. Ich habe darüber bereits mit Wendy Brooks gesprochen und sie wollte nach einer Aufgabe für dich suchen. Ich kann dir das nicht befehlen, schließlich gehörst du nicht zur Sternenflotte. Aber ich kann dir das anbieten. Was hältst du davon?“ wollte er von ihr wissen.
„Das finde ich gut“, sagte sie zögernd. Sie freute sich, eine Aufgabe zu bekommen. Dann konnte sie sich einbringen und kam sich nicht mehr so überflüssig vor. Aber sie war sich nicht ganz sicher, ob die anderen sie akzeptieren würden, gerade weil sie nicht dazu gehörte. Zudem war es eine Sache gewesen in ihrer Heimatkolonie an veralteten technischen Geräten herumzuschrauben. Aber es war etwas ganz anderes, auf einem Raumschiff dieser Größe die Technik verstehen zu wollen. Doch ihr Vater winkte nur großzügig ab, als sie ihm das sagte. Er war der Meinung, dass sie das schon schaffen würde. Zudem sollte sie ja nicht alleine das Schiff am Laufen halten. Sie würde auch keine Ingenieursaufgaben übernehmen dürfen. Sie würde in erster Linie lernen. Und das konnte schließlich nie schaden.
Als Karja das einsah und bereit war, diese Aufgabe zu übernehmen, wollte Sanawey mit ihr sofort in den Maschinenraum gehen. Es sollte gleich alles geregelt werden, so dass sie so schnell wie möglich eine Beschäftigung hatte. Das würde dann auch die Grübeleien beenden, die sie zum Tod ihrer Mutter und zu ihrem ganzen bisherigen Leben noch immer beschäftigten.
„Ich bin sicher, Wendy wird etwas passendes gefunden haben“, sagte Sanawey, als sie im Lift durch das Schiff fuhren. „Sie ist die beste Ingenieurin, die ich kenne. Und wenn etwas ist, dann kannst du dich auch jederzeit an sie wenden.“ Er war sich sicher, Karja in die besten Hände zu geben, da machte er sich keine Sorgen. Und auch nicht darüber, ob sie es schaffte. Das stand für ihn außer Zweifel.
Und er hatte richtig gelegen. Wendy hatte sich schon sehr genau überlegt, was sie Karja als Aufgabe geben wollte. Sie begrüßte die beiden freundlich, als sie den Maschinenraum betraten. Karja war es erst etwas unangenehm, der Chefingenieurin unter die Augen zu treten. Immerhin hatte sie vor einiger Zeit im Maschinenraum eine kleine Szene hingelegt, als sie mit Brooks über Sanawey hatte reden wollen. Ein Auftritt, der ihr im Nachhinein etwas peinlich war. Doch Brooks verhielt sich ganz normal, so als sei nie etwas geschehen. Was Karja wiederum erst einmal beruhigte.
„Ich habe mir gedacht, dass Sie in den nächsten Monaten einmal alle Stationen hier im Maschinenraum durchlaufen“, sagte Brooks zu Karja. „Sie würden damit einen groben Überblick über die gesamten Abläufe erhalten. Es wird immer jemanden geben, dem Sie über die Schultern schauen können. Und der Ihnen etwas beibringen und Ihre Fragen beantworten kann. Wir sind bei dieser Mission nicht besonders im Stress, so dass genug Zeit bleiben wird, um alle Ihre Fragen zu beantworten.“
„Das freut mich“, sagte Karja. Die Antwort kam ihr zwar selbst etwas einfach vor, aber ihr fiel nichts besseres ein.
„Und wir fangen im Transporterraum an“, fuhr Brooks fort. „Einer unserer beiden Transportertechniker liegt derzeit auf der Krankenstation, daher ist Mr. Palmer im Moment allein. Ich bin sicher, über ein wenig Unterstützung würde er sich freuen.“
Karja war sich dessen nicht so ganz sicher. Zum einen, weil sie sich nicht unbedingt als Unterstützung sah. Sie war hier zum Lernen hatte es geheißen. Und wenn sie sich im Maschinenraum so umsah und die ganze Technik sah, die von hier aus das Schiff am Leben hielt, dann war sie sich auch sicher, erst noch einiges lernen zu müssen, bis sie eine echte Hilfe sein konnte. Bis dahin würde sie wohl eher eine Belastung sein. Und erst recht für jemanden, der im Moment die Arbeit von zweien erledigen musste.
„Sie sollten sich dann morgen um acht Uhr im Transporterraum einfinden“, sagte Brooks. Sie sah Karja ihr Unbehagen an. Und sie konnte es auch nachvollziehen. Als Neuling war es immer schwierig, sich irgendwo einzufinden. Das ging den Kadetten, die direkt von der Akademie kamen, nicht anders. Und jemand Aussenstehendem wie Karja musste das noch deutlicher so ergehen. „Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Und keine Sorge. Wir beißen nur selten“, zwinkerte sie Karja freundlich zu.
„Da bin ich aber erleichtert“, erwiderte Karja und lächelte pflichtbewusst.
„Haben Sie noch Fragen?“ wollte Wendy von ihr wissen.
Doch die junge Frau schüttelte sofort den Kopf. „Ich denke, das wird dann erst mit den Aufgaben kommen“, erwiderte sie.
„Davon bin ich überzeugt.“ Brooks verabschiedete sich von ihr mit der Erinnerung, an den Dienstbeginn morgen früh. Dann verließen Karja und Sanawey den Maschinenraum wieder.
„Dann gehörst du jetzt quasi zur Crew“, stellte Sanawey lächelnd fest, als sie durch den Gang liefen. „Da du aber nicht zu Sternenflotte gehörst, kann ich dir keinen Rang übertragen.“ Es klang ein wenig bedauernd, doch für Karja war ein Rang ohnehin nicht von Bedeutung.
„Das ist schon in Ordnung“, sagte sie. „Ich bin froh, mich wieder nützlich machen zu können. Vielen Dank dafür.“
Sanawey winkte ab. „Nichts zu danken. Ich bin froh, wenn du dich an Bord wohlfühlst. Und wenn du ein wenig unter die Leute kommst. Es ist eine tolle Crew und es sind nette Leute.“ Er sah ihr in die Augen um seine Worte noch deutlicher zu unterstreichen. „Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.“
„Das hätte ich auch nicht gedacht“, lächelte sie zurück.
Bei ihrem Lächeln ging Sanawey das Herz auf. Noch vor einiger Zeit hätte er es nicht für möglich gehalten, einmal so normal mit ihr zu reden können. Und nun war dieses Wunder doch geschehen. Mehr noch, sie wäre auf jeden Fall ein paar Monate hier an Bord bei ihm. Und danach konnte einfach alles geschehen. Liebevoll sah er sie an. Wieder einmal konnte er es kaum fassen. Er hatte ein Kind. Er hatte eine Tochter. Es war ein herrliches Gefühl. Ein Gefühl, dass nur jemand nachvollziehen konnte, der selbst Kinder hatte. Es erschien ihm, als habe er erst jetzt den eigentlichen Sinn des Lebens erkannt. Das, was dem Leben erst eine echte Bedeutung gab. Es war zwar bedauerlich, dass er das erst jetzt erleben durfte und nicht schon vor knapp zwanzig Jahren bei Karjas Geburt. Aber er war schon froh darüber, dass er sie überhaupt noch kennengelernt hatte.
Sie schien zu ahnen, was in ihm vorging, denn sie senkte kurz verlegen den Kopf. Dann sah sie wieder auf. „Ich nehme an, eine Uniform werde ich auch keine bekommen?“ sagte sie, einfach um irgendwas zu sagen.
„Nein“, schüttelte er den Kopf. „das geht leider nicht.“
„Dann werde ich mir etwas Passendes zum Anziehen aussuchen. Kann ich dir dann morgen Abend von dem ersten Tag erzählen?“ Sie wusste, egal wie es laufen würde, sie würde darüber reden müssen. Und ihr fiel niemand anderes ein als er.
„Natürlich“, gab er erfreut zurück.
„In Ordnung. Dann bis morgen Abend.“ Sie berührte ihn leicht am Oberarm, mehr war bis jetzt einfach noch nicht drin. Aber Sanawey war auch darüber schon glücklich. Er verabschiedete sich von ihr und sah ihr nach, wie sie in Richtung ihres Quartiers zurückging. Dabei war er sich sicher, er war derzeit der glücklichste Mensch im Universum.
Karja erschien am nächsten Morgen pünktlich im Maschinenraum. Sie trug eine schwarze Hose, ähnlich den schwarzen Uniformhosen der Sternenflotte. Dazu hatte sie eine weiße Bluse an, die zwar gut saß, sich aber nicht zu streng über ihren Oberkörper spannte. Zudem hatte sie die Bluse bis oben hin zugeknöpft. Auf keinen Fall wollte sie den Eindruck erwecken, irgendjemanden von der Arbeit abhalten zu wollen. Mit diesem weißen Oberteil unterschied sie sich deutlich von den anderen Crewmitgliedern, da die Uniformjacken alle Rot waren. Für Karja war das aber in Ordnung. Schließlich gehörte sie nicht zur Crew. Im besten Falle war sie so etwas wie eine Praktikantin, die sich die Arbeit bei der Sternenflotte einmal anschaute.
Vor der Türe zum Transporterraum traf sie Wendy Brooks, die gerade um die Ecke kam. Natürlich wollte sie Karja erst einmal dem Transportertechniker vorstellen, der ihr alles zeigen sollte. Karja war froh darüber. In ihren albtraumhaften Vorstellungen hatte sie schon damit gerechnet, dem Mann alleine gegenüber treten zu müssen und der wusste dann nicht einmal, warum sie da war, weil man ihm nichts gesagt hatte.
„Guten Morgen“, begrüßte Brooks sie fröhlich. „Bereit etwas zu lernen?“
„Ja, ich bin bereit.“ Sie hielt es für unnötig zu erwähnen, dass sie etwas nervös war.
Brooks nickte. „Dann gehen wir hinein.“
Die automatische Türe öffnete sich vor ihnen. Den Transporterraum kannte Karja bereits. Hier war sie vor scheinbar langer Zeit an Bord gekommen. Der Transportertechniker war ihr damals allerdings nicht aufgefallen. Dafür fiel er ihr aber jetzt sofort auf. Er stand hinter der Konsole und sah auf, als die beiden Frauen den Raum betraten. Und Karja erkannte ihn sofort. Sie hatte ihn vor einiger Zeit in der Bar gesehen, als sein seltsamer Freund sie angesprochen hatte. Damals hatte er einen ziemlich lächerlichen Eindruck gemacht. Obwohl er gar nicht schlecht aussah, wie ihr jetzt auffiel.
„Hallo Mr. Palmer“, begrüßte Brooks den Mann. „Hier bringe ich Ihnen den Schüler, den ich Ihnen versprochen hatte.“ Sie deutete auf ihre Begleiterin. „Darf ich Vorstellen. Karja. Und das ist Danny Palmer.“
„Wir haben uns schon mal gesehen“, sagte Karja und reichte ihm die Hand.
„Ja“, erwiderte er schlicht. Offenbar war ihm die Erinnerung daran etwas unangenehm. Und lag da nicht auch etwas Ablehnung in seinen Augen? Trotzdem griff er zögernd nach ihrer Hand.
„Mr. Palmer und ich haben einen Ablaufplan für die nächsten Tage zusammengestellt“, erklärte ihr Brooks. „Daran sollten wir uns erst einmal orientieren. Und wenn es nötig wird, dann passen wir ihn einfach entsprechend an.“ Sie sah die beiden abwechselnd an, die bestätigend nickten. „Na schön. Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß. Sollte etwas sein, dann melden Sie sich einfach bei mir.“ Damit wandte sie sich um und verließ den Raum. Die beiden standen nun alleine da. Palmer blieb ernst, als er sie an die Konsole bat. Seine Ablehnung ihr gegenüber war offensichtlich. „Bitte Mrs. Karja.“ Er sprach sie mit Mrs. an und verwendete dabei ihren Vornamen. Offenbar ging er davon aus, dass sie, wie ihr Vater auch, nur einen Namen hatte. Karja gefiel das, daher korrigierte sie ihn auch nicht. „Ich werde Ihnen erst einmal die grundlegende Funktionsweise eines Transporters erklären.“ Während er anfing, ihr von Transporterscannern und Musterpuffern zu erzählen und ihr den Rematerialisierungsprozess erklärte, fiel Karja auf, dass er eigentlich ganz gut aussah. Auch hatte er eine angenehme Stimme. Und seine Hände bewegten sich in weichen, fließenden Bewegungen. Er schien doch nicht ganz so furchtbar zu sein, wie sie damals in der Bar gedacht hatte.
Sie folgte ihm aufmerksam und konnte auch ab und zu etwas beitragen. Nicht zu oft, denn sie wollte ihn nicht aus dem Konzept bringen. Aber doch genug, um zu zeigen, dass auch sie etwas davon verstand. Und das schien sie ein wenig in seiner Achtung steigen zu lassen. Denn seine Ablehnung verringerte sich nach und nach. Ihr Auftreten damals in der Bar hatte seine Meinung, sie sei hochnäsig und arrogant, noch erhärtet. Nun aber musste er feststellen, dass es zumindest hier im dienstlichen Bereich nicht so war. Sie war nicht nur aufmerksam, sie lernte auch noch ziemlich schnell. Das gefiel ihm. Und so konnte Karja am Ende des Tages ihrem Vater eine absolut positive Rückmeldung geben.
So verstrichen die Tage zügig, aber ereignislos. Jeder ging seinen Tätigkeiten nach, während die Forscher sich täglich um den Planeten kümmerten und nach und nach ein rundes Bild zusammensetzten. Der Planet schien tatsächlich geeignet zu sein, um kolonisiert zu werden. Zumindest schienen das die fortschreitenden Forschungsergebnisse zu ergeben. So zogen sich die Tage zu Wochen und die Wochen zu Monaten. Neben der routinierten, täglichen Arbeit gab es viel Raum für die Freizeitaktivitäten. So gelang es den neuen Crewmitgliedern einfacher als bei anderen Missionen, sich in die Mannschaft zu integrieren. Jeder fand relativ leicht Anschluss, auch Drake Reed oder Karja bildeten da keine Ausnahme. Trotz Reeds schwierigem Ruf und der Tatsache, dass Karja die Tochter des Captains war.
Besonders für Karja aber änderte sich in dieser Zeit so einiges. Während sie sich immer weiter in die Crew integrierte, spürte sie zum ersten Mal seit ihrer Kindheit wieder das Gefühl, irgendwo wirklich hinzugehören. Sie hatte allmählich immer mehr das Gefühl, ein Zuhause gefunden zu haben. Die Leute hier waren toll. Sie akzeptierten einander, so wie jeder war. Wenn es Probleme gab hielt man zueinander und half sich gegenseitig. So ausgeprägt wie hier hatte sie das noch nie erlebt. Und je weiter sie sich zugehörig fühlte und je weiter die Zeit verstrich, desto mehr wünschte sie sich, diese Mission würde niemals zu Ende gehen. Denn dann wäre es vorbei. Dann würde sie aus diesem Traum erwachen müssen. Sie gehörte nicht der Sternenflotte an. Sie würde das Schiff wieder verlassen müssen, sobald sie die Möglichkeit dazu hatte. Zwar wollte sie jetzt noch nicht darüber nachdenken, doch der Gedanke kam immer wieder zurück. Vier Monate waren bereits verstrichen, das hieße, dass sie maximal noch zwei hatte, um sich dann wieder der Realität zu stellen. Eine verdammt kurze Zeit, wenn man glücklich war. Denn auch mit ihrem Vater verstand sie sich immer besser. Nicht nur das, sie fing auch an ihn zu lieben, wie man einen Vater nur lieben konnte. Er vergötterte sie und sie spürte das. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so geborgen gefühlt. Es tat so gut, zu wissen, wo man hingehörte. Und sie wusste das nun. Endlich.
Ihrer Arbeit ging sie mit viel Leidenschaft nach. Es machte einfach Spaß sich mit den technischen Systemen zu befassen. Sie hatte noch ein paar Stationen im Maschinenraum durchlaufen, war aber in den Transporterraum zurückgekehrt. Hier gefiel es ihr am besten. Was auch an Danny Palmer lag. Je mehr sie miteinander zu tun hatten, desto besser schienen sie sich zu verstehen. Er wurde täglich zugänglicher. Sie arbeiteten Hand in Hand und fingen an miteinander zu scherzen. Beide mussten feststellen, wie nett der jeweils andere doch war. Und jeden Tag freute sich Karja auf ihre Arbeit. Denn das bedeutete, dass sie Danny wieder sehen konnte. Und ihm ging es nicht anders. Karja war nicht die eingebildete Person, für die er sie gehalten hatte. Sie war im Gegenteil äußerst anziehend und bezaubernd. Er konnte kaum noch an etwas anderes denken als an sie. Ehe sie sich versahen, hatten sie Gefühle füreinander entwickelt. Und nach einiger Zeit waren sie ein Paar geworden.
Karja hätte die ganze Welt, um die sie kreisten, umarmen können. Am liebsten hätte sie die Zeit angehalten, um dieses Glück nie wieder verlieren zu können. Sie wollte nie wieder woanders hin, woanders sein. So wie es jetzt war, so konnte es auf ewig bleiben. Aber natürlich wusste sie auch, dass das nicht ging. Die Zeit schritt gnadenlos weiter voran, als ob sie die Aufgabe hätte, jedes Glück irgendwann auch wieder in ein Unglück zu verwandeln. Und das würde auch passieren, wenn die Republic
in zwei Monaten wieder zur Erde zurückkehrte.
Drake Reed saß im Shuttle und steuerte auf die Basis der Forscher zu. Mit flinken Fingern beherrschte er das Shuttle spielend und hatte seinen Spaß daran mit dem kleinen und wendigen Schiff durch die Atmosphäre zu fliegen. Er war einer der besten Piloten der Sternenflotte und liebte die Geschwindigkeit. Zwar fing die Technik des Shuttles alle Bewegungen ab, doch wenn man hart an den Belastungsgrenzen flog, dann war doch noch etwas zu spüren. Und das war der Kick bei solchen Flügen.
Gestern hatte Captain Sanawey ihm eröffnet, dass er mit einigen Wissenschaftlern heute das Gelände aus der Luft erkunden sollte. Zwar konnten die Sensoren der Republic
aus dem Orbit die Gegend scannen und zum Großteil auch analysieren. Doch ersetzte das auf keinen Fall die Erforschung vor Ort. Und jeder Wissenschaftler, der etwas auf sich hielt, musste sein zu erforschendes Gebiet mit eigenen Augen sehen. Dem menschlichen Auge mochte eine Besonderheit vielleicht eher auffallen, wenn sie so einzigartig wäre, dass dem Computer nicht einmal gesagt werden konnte, worauf er achten sollte. Mit dem Flug wollten die Wissenschaftler einige interessante Plätze genauer anschauen, die auf den Scan-Ergebnissen vielversprechend aussahen.
Für Reeds Verhältnisse würde es ein ruhiger Flug werden, trotzdem war er froh hier zu sein. Es gab während einer Mission nicht viele Gelegenheiten für einen Piloten mit einem Shuttle zu fliegen. Daher hatte er sofort zugesagt. Nun musste er die Wissenschaftler noch von Camp abholen, dann konnte es losgehen.
Unweit der Gebäude gab es eine natürliche ebene Fläche, die dem Shuttle als Landeplatz diente. Dort setzte Reed sanft auf und schaltete dann den Antrieb ab. Er war ein wenig zu früh hier, aber er hatte es einfach nicht mehr erwarten können zu starten. Daher war er etwas eher aufgebrochen, was ihn nun zu einer Wartezeit zwang. Langsam ging er nochmal alle System durch, prüfte die Funktionalität. Dann stand er auf und öffnete die Tür, die sich seitlich hinter dem Cockpit befand. Er würde erst einmal ein wenig die frische Luft das Planeten hereinlassen. Zwar war ihm klar, dass das Luftreinigungssystem des kleinen Schiffes schnell wieder den sterilen Zustand hergestellt hatte, doch fühlte er sich einfach besser, wenn natürliche Luft um seine Nase strich.
Seine Stiefel drückten mit leisem Knirschen das Gras nieder, als er nach draußen trat. Es war noch früh am Morgen und die Sonne gerade erst im Begriff hinter dem Horizont zu erscheinen. Die Luft roch nach dieser ganz besonderen Frische, die um diese Zeit noch herrschte, in diesem einmaligen Augenblick zwischen Nacht und Tag, der nur wenige Minuten andauerte. Der Osthimmel war bereits hell erleuchtet und fast wolkenlos. Er kündigte einen weiteren schönen Tag an, während es im Westen noch dunkel war und die Schatten der Nacht nur langsam zurückwichen.
Sie hatten früh aufbrechen wollen, um den ganzen Tag nutzen zu können. Die Wissenschaftler hatten vor, ein möglichst großes Gebiet anschauen zu können. Immerhin sollte der ganze Planet irgendwann als Kolonie dienen, nicht nur der kleine Teil, auf dem sie sich jetzt befanden. Und da durfte es keine unliebsamen Überraschungen geben.
Reed streckte sich und sog tief die Luft ein. Als Besatzungsmitglied eines Raumschiffes hatte man viel zu selten die Gelegenheit einen Sonnenaufgang bewundern zu können. Daher richtete er seinen Blick Richtung Osten und sah, wie sich die Sonnenscheibe über den Horizont schob. Ein leuchtender Feuerball, dessen reines Licht sich über die Landschaft ergoss und im Moment des Aufgehens einen geradezu majestätischen Anblick bot. Fasziniert beobachtete er, wie sich die Sonne über die Baumwipfel am Horizont erhob, um sich dann langsam in die Höhe zu begeben. Es war jedes Mal ein erhabenes Gefühl, einen Sonnenaufgang so beobachten zu können und Reed verstand, weshalb die ersten Kulturen der Erde in der Sonne eine Gottheit gesehen hatten.
Diese Sonne und die gesamte Umgebung des Planeten unterschieden sich optisch nur unwesentlich von der Erde, daher konnte er für einen Moment sogar vergessen, dass dies nicht die heimatliche Sonne war, die er hier bewunderte. Es spielte auch keine Rolle, denn das Gefühl, das er hier empfand, war genau richtig.
Am Geräusch von niedertretendem Gras hörte er, das sich jemand ihm näherte. Da die Siedlung hinter ihm lag musste er sich aber zuerst umdrehen, um die Person zu erkennen. Es waren sogar zwei Personen, die auf ihn zukamen. In ihnen erkannte er Van Meerdink, der aufgrund seiner Körperfülle einzigartig unter den Wissenschaftlern war. Und Riccardo Costa, einer der Geologen dieser Mission. Ein zweiter Geologe sollte an diesem Erkundungsflug ebenso noch teilnehmen, wie ein Botaniker, dessen Interesse den verschiedenen Pflanzenarten und der ganzen Flora und Fauna des Überfluggebietes galt.
„Mr. Reed, Sie sind ein pünktlicher Mann“, stellte Van Meerdink erfreut fest und schüttelte Reed überschwänglich die Hand. Er schien sich über die Abwechslung zu freuen. Offenbar langweilte er sich ein wenig in der Gesellschaft der anderen Wissenschaftler. Hier im Camp ging es natürlich ruhiger zu, als auf der Republic
und seine Möglichkeiten, sich zu amüsieren, waren etwas eingeschränkt.
„Sie aber auch“, gab Reed gut gelaunt zurück. Denn die beiden waren tatsächlich auf die Minute genau zum vereinbarten Zeitpunkt hier aufgetaucht. Die zwei fehlenden Kollegen schienen es da nicht so genau zu nehmen.
„Für mich wird das auch ein spannender Ausflug. Ich erhoffe mir davon neue Erkenntnisse mit denen ich meine Arbeit fortsetzten kann“, erklärte er. „Aber für Sie wird das doch eher langweilig. Sie müssen diese alten, verrückten Wissenschaftler einen ganzen Tag lang herumfliegen.“
Drake lachte. „Ja, das ist wahr. Aber ich sitze am Steuer. Und wenn es mir nicht mehr passt, dann fliege ich einfach zurück.“
Bevor Van Meerdink noch etwas sagen konnte, kamen die beiden anderen Wissenschaftler um das Shuttle herum. So verkniff sich der Hydrogeologe seinen Kommentar und wuchtete stattdessen seinen gewaltigen Körper in das Shuttle. Die anderen folgten ihm und nahmen drinnen ihre Plätze ein. Zuvor verstauten sie noch ihre Taschen, die sie dabei hatten. Denn jeder hatte noch ein paar Instrumente dabei, nur für den Fall, dass sie irgendwo landen sollten, um sich etwas genauer umzusehen. Das war zwar nicht geplant, aber wer konnte schon im Voraus sagen, ob es nicht etwas so Interessantes gab, dass sie einfach landen mussten. Denn obwohl sie alle seriös und gebildet genug waren, hoffte doch jeder insgeheim, eine so sensationelle Entdeckung zu machen, die ihnen den Nobelpreis oder etwas Vergleichbares einbringen würde.
Als alle an Bord waren und sich so positioniert hatten, dass sie durch die Fenster sehen konnten, startete Reed die Triebwerke. Langsam hob das Shuttle ab und strahlte hell in der bereits über dem Horizont stehenden Sonne. Durch das im Shuttleboden eingelassene Fenster sahen sie, wie sich die Landschaft unter ihnen entfernte. Das Ingenieursteam der Republic
hatte die letzten Tage dieses Fenster für diesen Flug extra eingebaut. Reed hatte noch gut Brooks Flüche im Ohr, denn der Einbau war komplizierter gewesen, als sich das die Verantwortlichen der Sternenflotte gedacht hatten. Immerhin verliefen etliche Versorgungsleitungen durch den Boden, die alle hatten verlegt werden müssen. Sonst wäre das kleine Schiff am Ende ohne Antrieb dagestanden.
Knapp über der Baumhöhe stoppte Reed den Aufstiegsflug und begann dann, den vorher ausgearbeiteten Flugplan zu verfolgen. So würden sie ein möglichst großes Gebiet abdecken können und am Ende des Tages mehrere hundert Quadratkilometer abgeflogen haben.
Zu Beginn des Fluges wirkte die Landschaft noch gleich wie rund um das Camp, doch später wechselte des Bild und die Landschaft wurde karger. Die Bäume verschwanden und nur noch dürre Sträucher wuchsen in der Steppenlandschaft. Das Gras wirkte spröde und wenig einladend. Von Flüssen oder Seen, die vom Orbit aus scheinbar den gesamten Planeten durchzogen, war hier nichts zu sehen. Schließlich verschwand der pflanzliche Bewuchs komplett und sie überflogen eine Wüste aus zerfurchtem Gestein. Die Luft flimmerte heiß über der Landschaft. Die Lebenserhaltungssysteme des Shuttles arbeiteten gleichmäßig weiter, so war von der draußen herrschenden Temperatur nichts zu spüren, aber die Sensoren maßen über 80 Grad Celsius.
„So eine Wüste ist nichts ungewöhnliches für einen großen Kontinent“, wusste Costa zu berichten. „Während der großen Urkontinente auf der Erde, als alle Landmassen zusammengeballt waren, bestand das Zentrum immer aus einer großen Wüste. Nur an den Küsten und einem mehrere hundert Kilometer breiten Streifen war es Grün.“
„Der Wasserkreislauf funktioniert bei einem so großen Kontinent nicht mehr. Die Wolken regnen sich ab, lange bevor sie das Landesinnere erreichen“, fuhr Van Meerdink fort. „So kommt es, dass es im Herzen eines so großen Landes niemals regnet. Und damit auch kein Wasser dort ankommt. Die Landschaft verödet und trocknet aus.“
Costa nickte zustimmend. „Es ist ein Wunder, dass der Planet hier nicht aus einer einzigen Wüste besteht.“
„Eigentlich ist es kein Wunder“, widersprach Van Meerdink. „Es gibt hier zwar keinen Ozean, doch scheint der Planet trotzdem über eine beachtliche Menge an Wasser zu verfügen. Da es sich nicht in großen Flächen sammeln kann, muss es sich über den gesamten Planeten verteilen. Was der Vegetation nur zugutekommt. Ich vermute auch, dass es hier riesige unterirdische Meere gibt, vielleicht sogar Ozeane. Das Wasser muss sich seine Höhlen gegraben haben, in denen es fließt. Aber aus irgendeinem Grund gibt es in dieser Gegend kein Wasser. Vielleicht ist das Gestein hier anders“, spekuliert er.
„Das wäre möglich“, gab Riccardo Costa zu. Er nahm sein Datenpad und tippte ein paar Informationen ein. Dieses Gelände würden sie genauer untersuchen müssen. Allerdings brauchten sie dazu spezielle Ausrüstung, sowohl für die Technik wie auch für sich selbst, denn in diesen Temperaturen konnten Menschen nicht arbeiten.
Der Flug dauerte an und irgendwann wich die Steinwüste auch wieder grünem bewachsenem Land. Die Anzahl der Flüsse stieg und mit ihnen das Leben. Sie überflogen Seen und Moorlandschaften, Tundra und Taiga ähnliche Gebiete, hauptsächlich aber üppige und nicht enden wollende Wälder. Das pflanzliche Leben hatte sich hier entfalten können, während das tierische Leben kaum stattfand. Größere Berge gab es überhaupt nicht, was an der fehlenden Tektonik lag. So konnten sich keine Landmassen auftürmen. Einzig kleinere Hügel gab es, Überbleibsel einstiger Gebirge, die während einer aktiveren Zeit des Planeten entstanden waren und in den seither vergangenen Jahrmillionen von Wind und Wasser immer weiter abgetragen worden waren.
Da sie innerhalb des Suchmusters blieben gab es keinen direkten Rückweg zum Camp, sondern sie überflogen immer neue Gebiete. Nach mehr als einem halben Tag, Reed fing inzwischen doch an sich zu langweilen, geriet die Wissenschaftlertruppe in Bewegung. Es war nicht gerade Aufregung, die sie erfasste, doch etwas schien sie zu irritieren.
„Mr. Reed, bitte wenden Sie und fliegen nochmals langsam zurück“, rief ihm Van Meerdink zu. Sie beugten sich alle etwas mehr über das Fenster im Boden, um ja nichts zu verpassen.
Die Aufforderung schreckte Reed auf. Seine Konzentration hatte etwas nachgelassen. Zu Beginn hatte er sich über den Ausflug noch gefreut, hatte das Shuttle selbst gesteuert. Doch nach einigen Stunden war es doch zu eintönig geworden. Sie flogen stets mit der gleichen Geschwindigkeit und auf dem vorgegeben Kurs. Für einen Piloten gab es da nicht viel zu tun. So hatte er die Kontrollen schließlich an den Autopiloten übergeben und begnügte sich in der Rolle des Beobachters. Nun musste er sich wieder aufrichten und den Autopiloten deaktivieren. Dann drosselte er die Geschwindigkeit und wendete das Shuttle in einem engen Radius. Langsam ging es wieder zurück.
„Stopp“, rief ihm Van Meerdink schließlich zu und Reed gab den entsprechenden Befehl ein. Das kleine Schiff verharrte in der Position knapp über den Baumwipfel und Reed konnte absolut nicht erkennen, was es hier besonderes gab.
„Gehen Sie höher“, bat ihn Van Meerdink wieder. „Aber langsam.“
Reed tat wie ihm geheißen und langsam stieg das Shuttle nach oben. So lange, bis die Wissenschaftler der Meinung waren, dass sie nun hoch genug waren. Drake Reed hatte immer noch keine Ahnung, was die Forscher so aufgeschreckt hatte. Er gab dem Autopiloten den Befehl, die Position zu halten, dann stand er auf und ging nach hinten. Sollten die Wissenschaftler ihm mal erklären, was es hier so Interessantes gab.
Van Meerdink winkte ihn auch sogleich zum Fenster und deutete nach unten. „Sehen Sie das?“ wollte er wissen.
Reed sah hinunter. Etliche hundert Meter unter dem Shuttle erstreckte sich ein scheinbar endloser Wald in alle Richtungen. Und er bestand im Wesentlichen aus einer Art Laubbaum. Aufgrund des Fehlens von Jahreszeiten waren die Bäume das ganze Jahr über grün. Ob sie jemals ihre Blätter abwarfen wusste Reed nicht. Wahrscheinlich auch noch keiner der Wissenschaftler. Ansonsten sah er aber nichts Besonderes. Was er entsprechend kundtat.
„Sehen Sie genauer hin“, forderte Van Meerdink ihn auf. „Dort.“ Sein Finger machte eine kreisende Bewegung, als wollte er einen bestimmten Bereich einkreisen.
Angestrengt sah Reed hinunter. Zuerst bemerkte er nichts, dann aber fiel es ihm auf. Der Wald an dieser Stelle sah aus, als ob er nicht zeitgleich mit dem Rest gewachsen wäre. Das Grün der Bäume wich leicht ab und sie waren auch schmaler und kleiner. Als wenn der Wald an der Stelle gefällt worden und dann langsam nachgewachsen wäre. Doch es gab auf diesem Planeten niemanden, der einen Baum hätte fällen können.
„Ein Wirbelsturm?“ spekulierte Reed, ohne die geringste Ahnung von dem Thema zu haben.
„Unmöglich. Ein Sturm kann nicht mitten im Wald eine Schneise schlagen. Dazu braucht er eine Angriffsfläche, wie einen Höhenzug oder ähnliches“, entgegnete Costa. „Nur ein Hurrikan kann mitten in einem intakten Wald so etwas anrichten. Aber dazu ist die Fläche zu klein.“
„Außerdem ist das Wetter des Planeten so stabil, dass ein Hurrikan nicht entstehen kann“, gab Van Meerdink zu bedenken. Diese Information hatte er von den Atmosphärenforschern des Teams aufgeschnappt.
„Aber was war es dann?“ wollte Reed wissen.
„Das ist das Rätsel, das es zu knacken gilt“, lächelte Van Meerdink. „Und dazu braucht es Geduld. Die Forschung ist kein Gebiet, in dem es die Antworten sofort und auf dem Silbertablett gibt.“
„Dann ist es nichts für mich“, brummte Reed und sein Interesse schwand schon wieder.
Van Meerdink schüttelte den Kopf. „Die Jugend von heute ist einfach zu ungeduldig und weiß ein gutes Rätsel nicht mehr zu schätzen.“ Dann wurde er wieder ernst. „Bringen Sie uns bitte wieder so weit runter wie es geht.“
Drake verzog das Gesicht. „Ich komme mir vor wie ein Lift Boy“, murmelte er, tat aber wie ihm geheißen.
Langsam ging das Shuttle wieder nach unten. Während des Sinkfluges trat Costa neben ihn und nahm im Co-Pilotensessel Platz. Der Geologe interessierte sich weniger für die Bäume als viel mehr für die Landmasse darunter.
„Können die Sensoren etwas erkennen?“ fragte er, nachdem sie wieder direkt über den Bäumen waren.
Reed sah sich die Daten an, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, nichts. Nur Steine und Erde. Und… Moment, da ist ein extrem schwaches elektromagnetisches Feld. Die Sensoren können es fast nicht erfassen. Im Überflug vorhin ist ihnen das entgangen.“
„Elektromagnetisch?“ runzelte Costa die Stirn. „So etwas dürfte es hier nicht geben. Das sollten wir uns genauer anschauen.“
„Aber nicht heute“, antwortete Reed sofort. „Wir können hier nirgendwo landen.“ Der Wald war viel zu dicht und eine Lichtung gab es im weiten Umkreis nicht.
„Das könnte aber wichtig sein“, beharrte Costa.
Reed seufzte. „Na schön. Ich benachrichtige die Republic
. Sie werden ein Team herunter schicken, das sich die Sache sofort anschauen wird. Einverstanden?“
Riccardo Costa schien nicht begeistert zu sein. Denn wenn nun ein Team der Republic
die Sache untersuchte, konnte er nicht dabei sein. Dann nickte er. Er hatte eingesehen, dass er aus dem Shuttle nicht einfach aussteigen konnte.
So setzten sie ihren Flug fort, nachdem die Republic
informiert worden war. Allerdings hatte Sanawey zusichern müssen, sofort ein Team herunter zu beamen, so dass die Sache nicht aufgeschoben wurde.
Schon wenige Minuten später materialisierte sich ein Team von sechs Personen auf dem Waldboden zwischen den Bäumen. Captain Sanawey hatte es sich nicht nehmen lassen selbst das Außenteam anzuführen. In seiner Begleitung befanden sich Sohral, George Real mit einem seiner Sicherheitsoffiziere und noch ein Geologe mit seiner Assistentin. Gemeinsam wollten sie der Sache auf den Grund gehen. Auch Sohral hatte sich für eine sofortige Untersuchung ausgesprochen, als die Nachricht vom Shuttle gekommen war. Ein elektromagnetisches Feld dürfte es hier nicht geben und auch wenn der Vulkanier seine Emotionen nicht auslebte, so schien er doch etwas beunruhigt zu sein. Grund genug für Sanawey, auch sofort ein Team einzusetzen.
Die ersten Blicke des Außenteams gingen die Bäume hinauf. Es waren stattliche Bäume, die sogar die großen Mammutbäume auf der Erde noch an Höhe und Durchmesser weit übertrafen. Zumindest die Bäume, die hinter ihnen standen. Vor ihnen sah das Bild anders aus. Diese Bäume waren bei weitem nicht so hoch und sehr viel dünner. So als ob sie erst Jahrhunderte nach den anderen gewachsen wären. Ein Unterschied, welcher der Crew aus dem Shuttle heraus bereits aufgefallen war, hier unten aber noch deutlicher zu sehen war. Das Unterholz dagegen unterschied sich nicht vom Umfeld. Es war im ganzen Wald erstaunlich licht. Nur ein wenig Moos und die Überreste ein paar herabgefallener Äste säumten den Boden. Aber keine kleinen Bäume, die nachwuchsen. Das sollte aber ohne Tiere, die diese kleinen Pflanzen gleich wieder anfraßen, eigentlich der Fall sein. Es sei denn, diese Bäume vermehrten sich nicht, solange der Bestand stabil war. Was eine erstaunliche Entwicklung in der Evolution gewesen wäre. Oder aber es lag einfach an den schummrigen Lichtverhältnissen, die hier herrschten. Das dichte Blätterdach schirmte die Sonnenstrahlen sorgfältig ab, so dass hier unten ständiges Dämmerlicht herrschte. Das Blätterdach war so dicht, dass der darauf prasselnde Regen zwar zwischen den Blättern hindurch laufen konnte, der Wasserdampf aber nach oben hin nicht mehr entweichen konnte. Stattdessen kondensierte er an den Blättern und tropfte wieder zu Boden. Auf diese Weise herrschte hier ein Treibhausklima, das einer Sauna alle Ehre machen würde. Diese Bedingungen waren der ideale Nährboden für Moose und Pilze, aber weniger für Bäume. Der Baumnachwuchs hatte somit nur dann eine Chance, wenn eine größere Lichtung entstand.
„Der Tricorder empfängt schwache Signale eines elektromagnetischen Feldes“, beendete Sohral die Betrachtung der Natur. Denn schließlich waren sie nicht deswegen hier. Das würden die Botaniker übernehmen müssen. Und auch wenn die Sonne nicht zu sehen war, so wussten sie doch, dass der Mittag schon weit überschritten war und ihnen somit bis zur Dämmerung nicht mehr viel Zeit blieb. Und nach Sonnenuntergang würde es auch hier deutlich dunkler werden.
„Haben Sie eine Richtung?“ wollte Sanawey wissen und trat zu Sohral.
Der Vulkanier zeigte in das Feld der jungen Bäume hinein. „Ungefähr einen Kilometer vor uns.“
„Ungefähr?“ schmunzelte Sanawey. Eine etwas ungewöhnliche Angabe für den sonst so genauen Vulkanier.
„Der Tricorder tut sich mit der Erfassung der Quelle des Signales schwer“, erklärte Sohral ohne mit der Wimper zu zucken.
„Aha“, sagte Sanawey nur. Dann sah er die anderen an. „Lassen Sie uns einen Spaziergang machen.“
Der Geologe und seine Assistentin, eine robuste junge Frau, die gerade ihr Studium machte und hier ihr Praxissemester absolvierte, setzten sich in Bewegung. George Real aber sah Sanawey skeptisch an. „Captain, halten Sie das für eine gute Idee? Bei diesem Dämmerlicht kann uns leicht ein Tier anfallen, ohne dass wir es kommen sehen. So kann ich für die Sicherheit nicht garantieren.“ Wie immer galt seine Sorge der Gesundheit der Crew.
„Mr. Real, hier gibt es keine Tiere“, erinnerte Sanawey ihn. „Die Sensoren haben das bestätigt.“
„Die Sensoren haben auch keine elektromagnetischen Felder entdeckt“, sagte Real trocken.
Der Captain zog die Augenbrauen hoch und sah seinen Sicherheitschef an. Das war durchaus ein Argument, das musste er zugeben.
„Mr. Sohral, können wir uns näher an das Feld heranbeamen lassen?“ hielt er den Vulkanier auf.
„Davon würde ich abraten. Wir kennen den Sender des Feldes nicht. Es wäre möglich, dass es durch die Störungen eines Transporterstrahles seine Integrität verlieren würde.“
Damit war die Sache entschieden. „Wir werden einen kleinen Spaziergang machen“, betonte Sanawey und machte Real gegenüber eine einladende Geste, voraus zu gehen.
„Ja, Sir“, sagte der nur, dann setzte er sich in Bewegung. So liefen sie durch das Dämmerlicht, immer aufpassend auf den teils rutschigen Moosen nicht den Halt zu verlieren. Real ging voraus, dicht gefolgt von Sohral, der mit seinem Tricorder immer wieder die Richtung kontrollierte. Dahinter folgte der Geologe mit seiner Assistentin. Die Nachhut bildeten Sanawey und der Sicherheitsoffizier. Während sie sich ihren Weg bahnten fragte sich der Captain, ob Real nicht Recht hatte. Nicht, dass er glaubte, es könne hier Tiere geben, die ihnen gefährlich werden konnten. Aber was war mit den Pflanzen? Die Offiziere der Mandela
hatten die Wälder sicherlich nicht so genau untersucht. Dazu hatten sie auch gar keine Zeit gehabt. Aber was, wenn es hier große fleischfressende Pflanzen gab?
Über sich selbst erstaunt schüttelte Sanawey leicht den Kopf, was in dieser Dämmerung niemand sah. So ein Unsinn. Wovon sollte sich eine solche Pflanze denn ernähren, wenn es keine größeren Tiere gab? Wenn er sich auf die Art schon selbst verrückt machte, dann musste er sich wohl Gedanken darum machen, ob er nicht zu alt wurde für den Job.
Obwohl es nur ein Kilometer war, zog sich der Weg doch länger hin als gedacht. Der Boden wurde immer unebener. Furchen zogen sich im Boden dahin wie Schleifspuren. Als ob ein göttlicher Pflug hier langezogen wäre. Dann fiel das Gelände leicht ab, nur um kurz darauf ein Stück steil anzusteigen. Und hier gab es gar keine erkennbaren Strukturen mehr am Boden. Es war, als wäre dieser Teil des Waldes komplett umgegraben worden. Sie stolperten mehr vorwärts, als dass sie liefen. Bis Sohral das Zeichen gab, dass sie am Ziel seien.
Sanawey sah sich um. Er versuchte irgendetwas Außergewöhnliches zu erkennen, etwas, das eine Erklärung für die elektromagnetischen Vorkommen gab. Doch außer noch mehr Bäumen war nichts zu sehen.
„Mr. Sohral?“ wandte er sich an den Vulkanier.
„Das Feld befindet sich direkt unter uns“, erklärte Sohral ruhig. Wie üblich war ihm nicht anzumerken, ob er in freudiger Erregung darüber war, vielleicht etwas Ungewöhnliches zu entdecken.
Sanawey sah zu Boden. Er sah hier nicht anders aus, als auf dem gesamten Weg hierher, wenn auch eindeutig unebener.
„Außerdem kann der Tricorder Metalllegierungen unbekannter Herkunft entdecken“, fuhr Sohral fort. „Eindeutig nicht natürlichen Ursprunges.“
Einer plötzlichen Eingebung folgend sah Sanawey auf, in die Richtung aus der sie gekommen waren. Die Struktur des Bodens, die Tatsache, dass nur hier die Bäume nachwachsen mussten, die Metalllegierungen und das elektromagnetische Feld. All das sagte ihm irgendwas. Es war, als läge die Lösung direkt vor ihm und doch fiel es ihm nicht ein.
„Sie meinen, es war schon jemand vor uns hier und hat eine unterirdische Anlage gebaut?“ fragte der Geologe verwundert nach. Bisher hatten sie noch keine Anzeichen für den Besuch von intelligenten Spezies auf diesem Planeten gefunden.
„Hier ist ein Raumschiff abgestürzt“, platzte es aus Sanawey heraus. Und in dem Moment als er es sagte, war es ihm sonnenklar.
Sohral sah ihn an, zog die rechte Augenbraue nach oben und nickte. „Das klingt plausibel“, sagte er dann. „Aufgrund der Menge des Metalls handelt es sich aber eher um ein Shuttle.“
„Oder der größte Teil des Schiffes ist vorher schon zerstört worden“, schaltete sich auch Real ein. Und alle mussten sofort an die als vermisst gemeldete USS Mandela
denken. Waren sie hier auf die Überreste einer Katastrophe gestoßen? Denn dass die Mandela
hier bei diesem Planeten gewesen war, das war schließlich sicher. Von diesem Schiff stammten die Berichte zur Voruntersuchung und die ersten Messergebnisse. Vielleicht waren sie ja zurückgekommen, weil sie etwas vergessen hatten. Und dann hier abgestürzt.
„Spekulieren hilft uns nicht weiter“, sagte Sanawey laut und deutlich. Die düsteren Gedanken standen ihnen nur im Weg. „Wir brauchen Bergungswerkzeug. Und mehr Leute, um das Schiff auszugraben. Dann werden wir wissen, welche armen Teufel hier gestrandet sind.“
„Das elektromagnetische Feld ist gut abgeschirmt, so dass wir es wagen können, Beamvorgänge direkt hierher durchzuführen. Damit sollte sich die Arbeit beschleunigen“, ergänzte Sohral die Angaben des Captains.
„Sehr gut.“ Sanawey sah nach oben. Es war seit ihrer Ankunft noch ein wenig dämmriger geworden. Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu. Es würde heute nicht mehr reichen, die nötigen Vorbereitungen zu treffen und dann auch gleich mit der Arbeit zu beginnen. Auch wenn der Captain, von der Neugier getrieben, am liebsten sofort angefangen hätte zu graben. Sie nutzten die verbleibende Zeit noch, um sich mit dem Gelände vertraut zu machen. Sohral machte mit dem Tricorder Aufzeichnungen der Bodenbeschaffenheit, das Geologenduo nahm Bodenproben und die Sicherheitsoffiziere umkreisten das Gebiet weitläufig, um eventuell weitere Wrackteile zu finden. Allerdings ohne Erfolg. Dann beendete Sanawey den Ausflug und sie kehrten aufs Schiff zurück. Die restlichen Vorbereitungen mussten hier vorgenommen werden.
Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen. Schmerzen, die durch die Nervenbahnen seines Körpers brannten und jeden Muskel verkrampfen ließen. Schmerzen, so stark, dass sie ihm fast die Besinnung raubten. So stark, dass der Körper zu seinem eigenen Schutz am Liebsten sämtliche Aktivitäten eingestellt hätte, um sich der trügerischen Sicherheit der Bewusstlosigkeit hinzugeben. Schmerzen, deren Erduldung langes und hartes Training war – oder deren Nichterduldung den Tod bedeutete.
Grelle Lichtblitze explodierten direkt vor seinem inneren Auge und nahmen ihm die Orientierung. Seine innere Sensorik schien von einer Ohnmacht befallen zu sein, denn es gab für ihn keinen Unterschied mehr zwischen oben und unten. Kein hier und dort, kein jetzt und nachher. Nichts von Bedeutung. Nichts, das sich mit rationalen Worten erklären ließ. Nur diese unerträglichen Schmerzen, die an die Mauern seines Verstandes brandeten, die er zu seinem Schutz errichtet hatte, da er befürchtete wahnsinnig zu werden, wenn die Schmerzen ihn zu sehr überwältigten.
Ein erneuter Hieb der Elektropeitsche ließ ihn aufstöhnen. Eine neue Welle des Schmerzes lief durch seinen Körper hindurch. Er musste seine ganze Konzentration aufbringen, um bei Bewusstsein zu bleiben. Wenn er die Besinnung verlieren sollte, würde der Wächter ihn so lange auspeitschen, bis er tot war.
Allmählich erlangte er die Kontrolle über seinen Körper zurück. Vor seinen weit aufgerissenen Augen bildeten sich wieder Konturen. Langsam nahm er seine Umgebung wieder wahr. Überrascht stellte er fest, dass er auf allen vieren gestützt am Boden lag. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie er gestürzt war. Oder wie lange er schon am Boden lag. Er schloss seine Augen und konzentrierte sich auf sich selbst. Er musste seinen Körper wieder vollständig unter Kontrolle bringen. Und er musste aufstehen, bevor ihn ein weiterer Peitschenhieb traf, ansonsten war es um ihn geschehen.
Mit zitterndem Körper versuchte er wieder auf die Beine zu kommen. Seine Hände tasteten sich an dem Grubenwagen entlang, den er geschoben hatte. Mühsam zog er sein rechtes Bein nach, stellte es neben den Wagen und belastete es vorsichtig. Es zitterte jedoch so stark, dass er es nicht wagte, sofort sein gesamtes Gewicht darauf zu verlagern. Er brauchte ein paar Sekunden Pause. Sekunden, die er nicht hatte.
„Schneller“ dröhnte die Stimme der Wache an sein Ohr, dann spürte er einen harten Tritt der schweren Stiefel in die Rippen.
Sofort brach er wie ein nasser Sack erneut zusammen und lag keuchend am Boden. Dieser Teufel ließ ihm keine Chance. Ganz offensichtlich wollte diese Wache jetzt einen Gefangenen töten und seine Wahl war auf ihn gefallen. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Das war eben Pech. Wie so oft in letzter Zeit. Aber so leicht wollte er sich nicht geschlagen geben. Da musste die Wache sich schon mehr einfallen lassen als grobe Gewalt. Er würde diesem Teufel beweisen, dass der Geist über die Gewalt siegte. Wieder nahm er seine ganze Konzentration zusammen und stand unter Aufbringung seiner letzten Kräfte auf. Und diesmal gelang es ihm. Zwar stand er auf wackeligen Beinen, aber er stand. Und sicher genug, um nicht gleich wieder umzufallen. Langsam wandte er sich seinem Peiniger zu, der sich nun links neben ihm befand.
Vor ihm stand ein knapp zwei Meter großes Wesen. Seine Haut bestand aus einer harten, lederartigen Panzerung, ähnlich der eines Reptils. Es hatte keine Nase, keine Ohren und keine Haare. Anstelle der normalen Augen eines Humanoiden hatte dieses Wesen zwei kreisrunde Facettenaugen, deren wabenartige Struktur deutlich zu erkennen war. Sein halb geöffneter Mund zeigte spitze, dolchähnliche Zähne, mit denen er ohne weiteres einen lebenden Menschen hätte zerfleischen könnte. In seiner Hand, die nur aus drei adlerartigen Krallenfingern bestand, hielt er einen Phaser. Als Kleidung trug er eine Rüstung, die überwiegend aus Metall hergestellt war, ähnlich einem Kettenhemd der Ritter, nur effektiver gegen spitze Gegenstände, Schusswaffen und Energiestrahlen. Es war die hässlichste Rasse, die er jemals gesehen hatte. Und zugleich die brutalste und mächtigste.
Adrac, dachte der Misshandelte verächtlich. Adrac, so hießen diese Wesen. Diesen Namen hatten sie von dem ersten Volk erhalten, das sie überfallen und versklavt hatten. Adrac, das in der Sprache der ersten Opfer so viel wie Teufel oder Dämon geheißen hatte. Und dieses Wort war das einzige, was von dieser ersten Rasse übrig geblieben war. Die Adrac hatten dieses Volk so lange misshandelt, gefoltert und getötet, bis es irgendwann einfach verschwunden war. Ausgestorben. Ausgerottet. Diesem Schicksal waren inzwischen weitere Rassen gefolgt, seit die Adrac vor wenigen Generationen plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und Angst und Terror über ihre Nachbarn gebracht hatten. Auch seinem Volk stand dieses Schicksal bevor und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können. Nichts, außer hier und jetzt seinen ganz persönlichen Widerstand zu leisten und den kleinen Triumph auszukosten, wenn er dieses Zusammentreffen überleben sollte. Ein fahler Triumph, denn er würde ihn letztendlich nicht retten.
Die Wache stieß ihn gegen den kleinen Grubenwagen, den er geschoben hatte. „Vorwärts“, befahl er und seine Stimme klang trotz der automatischen Übersetzung des kleinen Computers, den der Adrac am Körperpanzer trug, noch immer furchteinflößend.
Er klammerte sich an dem Wagen fest und stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Der Wagen setzte sich auf den Schienen, die durch die Mine verlegt worden waren, quietschend in Bewegung und langsam, Schritt für Schritt, bewegte er sich von der Wache fort. Diese gab ihm noch einen heftigen Schlag mit der Elektropeitsche auf den Weg mit. Der Gefangene musste sich beherrschen, um unter den plötzlichen Schmerzen nicht aufzustöhnen. Diese Genugtuung wollte er der Wache auf keinen Fall geben. Und er schaffte es tatsächlich auf den Beinen zu bleiben. Nur auf dem Rücken schlafen würde er in dieser Nacht nicht können, das war ihm sofort klar. Falls überhaupt an Schlaf zu denken war.
Je weiter er sich von der Wache entfernte, desto dunkler wurde es. Nur wenige, matt scheinende Lichter erhellten den dunklen Gang. Gerade so viele, dass die Gefangenen sich orientieren konnten. Es war ähnlich schummrig, wie in einer Vollmondnacht. Die Adrac-Wachen waren mit ihren Facettenaugen hier im Vorteil. Sie sahen auch in diesem Licht noch genug, um ihre Gefangenen nicht aus den Augen zu verlieren. Außerdem hatten die Wachen auch noch leistungsstarke Lampen, mit denen sie ihre Opfer peinigen konnten, da die Augen der meisten Gefangenen sich bereits an diese Dunkelheit gewöhnt hatten. An die Planetenoberfläche oder in einen heller erleuchteten Raum kamen die Gefangenen nie.
Dies war ein Erzförderstollen der Adrac. Ein trockenes und staubiges Höllenloch, auf irgendeinem unbedeutendem Planetoiden mitten im Nirgendwo. Wer hierher kam durfte nicht auf Flucht oder Rettung hoffen. Es war der Eintritt in die Hölle, aus der es nur einen Ausweg gab – den Tod. Lebend kam hier niemand mehr heraus. Das war ihm vom ersten Tag an klar gewesen. Zu effizient waren die Vorkehrungen, die die Adrac getroffen hatten. In dieser Mine wurden all die Sklaven beschäftigt, die auf dem Sklavenmarkt nicht verkauft werden konnten. Weil sie entweder untauglich für andere Tätigkeiten waren, aufsässig oder schlicht zu viele. Denn die Sklavenhändler wollten es auf keinen Fall riskieren, dass durch ein Überangebot an Sklaven die Preise in den Keller gingen. So wurden nur die besten, stärksten und schönsten Sklaven auf den Sklavenmärkten der Adrac angeboten. Der Rest landete hier. Wobei er sich absolut nicht sicher war, welches Schicksal das Schlimmere sein mochte.
Langsam schob er den schweren Wagen vor sich her. Die Schienen, auf denen er lief, waren zwar gleichmäßig am Boden angebracht, doch die ständige Steigung, die es hinaufging, forderte seine letzten Kräfte. Der Grubenwagen war leer schon schwer, aber voll beladen mit dem abgebauten Erz, war es eine Tortur ihn zu schieben. Und es gab niemanden, der ihm hätte helfen können. Jeder Gefangene hier hatte seine Aufgabe und es war schwer genug, diese zu erfüllen. Da gab es keinen Platz für Hilfe.
Er musste den Wagen zum Aufzug bringen. Von dort aus würde er dann zur Oberfläche transportiert werden. Was dort weiter geschah wusste er nicht. Und es interessierte ihn auch nicht. Er wusste nur, dass er am Aufzug den Inhalt seines Grubenwagens dort hineinkippen musste. Mit dem leeren Wagen musste er dann wieder hinunter zu den Arbeitern, die das wertvolle Metall mit Spitzhacken und bloßen Händen dem Fels entrissen. Und da die Grubenwagen keine Bremsen hatten, würde es ihn wieder Kräfte kosten, den Wagen auf dem Weg hinab zu halten, so dass er nicht davon rollte. Am Ende eines jeden Tages musste er froh sein, wenn er es noch bis zu seinem Schlafplatz schaffen würde, so erschöpft war er immer.
Schreie hallten durch die langen Gänge. Schreie gescholtener Mitgefangener. Es waren grässliche Schreie, die durch die Beschaffenheit des Ganges einen Widerhall hervorriefen, der sich verzerrt durch die Höhle fortsetzte. Es klang wie aus den Untiefen der Hölle. Schreie und Rufe von verschiedenen Gefangenen unterschiedlichster Spezies, die hier ein gemeinsames Schicksal teilten. Manche dieser Schreie kamen stoßweise, dazu das Knallen der Elektropeitschen und die Stimmen der Wachen. Andere gingen in ein ständiges Wimmern über, das leiser und leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Dann war wieder ein Gefangener tot. Ein Ereignis, dass sich mehrmals täglich wiederholte. Doch mit der Zeit gewöhnte man sich an diese Schreie. Man stumpfte ab und nahm sie gar nicht mehr richtig zur Kenntnis. Es wurde zu einem ständigen Hintergrundgeräusch, ähnlich dem Summen von Maschinen, über das man nicht mehr nachdachte. Vermutlich auch so ein Selbstschutz des Gehirns, da man ansonsten wohl wahnsinnig werden würde.
Langsam ging er den Gang entlang. Links und rechts knieten und hockten Mitgefangene, die mit primitiven Werkzeugen den Fels bearbeiteten. Sie hatten meist nur Hammer und Meißel. Spitzhacken gab es nur wenige. Teils gruben sie sogar mit bloßen Händen. Und wenn sie nicht genug Erz förderten, wurden sie hart bestraft. Männer, Frauen, sogar Kinder. Die Adrac machten keinen Unterschied. Jedes Wesen, das Befehlen gehorchen konnte, war für die Adrac geeignet, hier zu schuften. Er hatte hier schon Greise gesehen und Kinder die maximal fünf Jahre alt waren. Doch es gab nur wenige Alte oder Kinder, da die meisten von ihnen die Brutalität und die hygienischen Verhältnisse nicht lange überlebten.
Nur noch wenige Meter, dann hatte er den Lift erreicht. Dann musste er mit dem leeren Wagen den Gang wieder hinunter fahren und eine neue Ladung Erz herausholen. Und dann würde es wieder von vorne beginnen. So ging es Tag für Tag. Fuhre um Fuhre. So lange, bis er an der Unterernährung und den Misshandlungen sterben würde. Das war ihm inzwischen klar. Zu viele gleiche Schicksale hatte er bereits gesehen um zu wissen, wie es kommen würde. Eine Chance zur Flucht gab es nicht.
Er erreichte den Lift. Eine große, graue Monstrosität aus Stahl, deren oberes Ende sich irgendwo in der Dunkelheit verlor. Nicht einmal hier, wo es eindeutig nach oben ging, kam Licht herein. Ganz offensichtlich wollten die Adrac vermeiden, dass ein Lichtstrahl womöglich Hoffnung in den Gefangenen auslösen konnte. Denn Gefangene, deren Willen gebrochen war und die jede Hoffnung aufgegeben hatten, waren leichter zu kontrollieren.
Der große Auffangbehälter, in dem das Erz gesammelt wurde, war knapp zwei Meter tief und an die fünf Meter breit. Er war so im Boden versenkt, dass es einfacher war, die Ladung aus den Grubenwagen in den Behälter zu kippen. Allerdings war der Gedanke dabei nicht, es den Gefangenen einfacher zu machen, sondern die Effektivität zu steigern. Wer sich nicht lange mit dem Umladen beschäftigen musste, konnte schneller wieder weiterarbeiten. Am Ende eines jeden Arbeitstages wurde der Behälter dann hinaufgezogen. Immer wieder gab es Gefangene, die sich im Lift zu verstecken versuchten, um mit nach oben zu gelangen. Doch gab es das Gerücht, dass der Lift auf dem Weg nach oben durch einen Scanner oder etwas Ähnliches laufen würde. Und dieser Scanner sollte angeblich jegliche biologischen Formen auflösen. So sollten Krankheitserreger und Flüchtlinge aufgehalten werden. Ob das stimmte wusste er nicht. Niemand war je von einem solchen Fluchtversuch zurückgekehrt. Was bestimmt nicht daran lag, dass den Verrückten die Flucht gelungen war. Denn oben angekommen, war man noch immer auf dem Planetoiden gefangen. Auf einem Planetoiden ohne eigene Atmosphäre. Von dort aus ging es nirgendwo hin. Also war spätestens dort oben Endstation für jeden Flüchtigen. Das Erz dagegen wurde dort entladen und am nächsten Tag stand der Behälter leer wieder da und wartete auf das neue Erz.
Heute lag viel Erz im Aufzug. Es war einiges abgebaut worden. So eine Ausbeute gab es nicht jeden Tag. Doch ihm nutzte das gar nichts. Die Adrac gaben keine Belohnungen für gute Taten. Nur Strafen für zu wenig Arbeit. Und wenn sie einmal den Erfolg vom Vortag nicht schafften bekamen sie die Strafe dafür sofort. Das Ergebnis von heute setzte sie für den morgigen Tag gehörig unter Druck. Er war sich ziemlich sicher, dass sie morgen alle bestraft würden.
Ein lauter und langer schriller Ton halte durch die Gänge. Das Zeichen, dass die Arbeit für heute beendet war. Nun hatten sie vier Stunden Zeit zu schlafen und wieder zu Kräften zu kommen. Danach mussten sie wieder achtzehn Stunden schuften. Das war der Tagesablauf, jeden Tag. So verbrachten sie die zweiundzwanzig Stunden, die ein Tag auf diesem Planetoid hatte.
Kurz vor dem Lift zweigte ein Gang nach links ab. In ihm wurde kein Bergbau betrieben. Er führte zum Aufenthaltsraum, falls das Loch diese Bezeichnung überhaupt verdiente. Es war eine riesige Höhle, die Platz für mehr als zweitausend Lebewesen bot. Hier mussten alle Gefangenen dieses Stollens am Ende des Tages herkommen. Und sobald alle anwesend waren, wurde ein altes Stahltor geschlossen und sie waren hier drin gefangen. Wie Tiere. Als ob das nötig gewesen wäre. Sie hätten ohnehin nirgends hingehen können. So trafen hier Wesen aus den unterschiedlichsten Welten aufeinander. Und völlig ohne Translator. Da kam es manchmal auch zu Missverständnissen, die dann durchaus auch für einen der Beteiligten tödlich enden konnten.
Langsam und vorsichtig lief er durch den Raum. Auf keinen Fall wollte er jemanden ungeschickt berühren oder gar auf jemanden treten. Auf den dann zwangsläufig folgenden Streit konnte er gut verzichten. Auch hier war die Beleuchtung auf ein absolutes Minimum reduziert, wie im Rest der Mine. Das andere Ende der Höhle verlor sich irgendwo im dunklen und grauen Einerlei. Wie ein gnädiger Schatten legte sich das Halbdunkel über die Gefangenen und verdeckte einen Großteil des Elends und des Grauens, das die Gefangenen umgab, die sich überall niederließen, um die kurze Zeit, die ihnen blieb, zum Schlafen zu nutzen. Die besten Schlafplätze wurden von den stärksten Gefangenen kontrolliert. In der Regel waren das die Neuankömmlinge, die noch im Vollbesitz ihrer Kräfte waren. Bis sie sich hier drin aufrieben und dann von wieder neuen Sklaven vertrieben wurden. Die besten Plätze waren die Ecken und Nischen des Raumes. Der Rest schlief quer durch den Raum verteilt, dort wo Platz war und wo man niemanden störte. Aber alle mussten auf dem kalten, steinigen Boden ausharren. Der Planetoid besaß keinen heißen Kern, es war nur ein Stein im Weltraum. Entsprechend besaß er keine eigene Wärmequelle. Die fehlende Atmosphäre trug ihr übriges bei, dass es ein kalter, lebensfeindlicher Stein blieb. Hier war es nur so warm, wie die Körper der Gefangenen es machten. Während der Knochenarbeit war die Kälte nicht zu spüren, doch hier drin war es immer kalt. Und die Gefangenen hatten zum Wärmen nur die Fetzen von Kleidung, die sie trugen. Manche von ihnen waren nur noch Haut und Knochen. Lebende Skelette, deren Körper kaum eigene Wärme produzierten und schnell auskühlten. Auch er war abgemagert. Wenn er Glück hatte würde er noch zwei Monate leben. Sofern man das als Glück bezeichnen konnte.
Sein Schlafplatz war ganz am anderen Ende des Raumes, nahe der Wand. Noch konnte er diesen Platz verteidigen. Müde ließ er sich nieder. Er würde nicht lange brauchen, bis er einschlief und sein Geist wenigsten für wenige Stunden diesen Ort verlassen konnte. Sein Blick fiel nach rechts. Dort lag eine noch relativ junge Frau. Sie hatte etwa schulterlanges Haar, das zerrissen und mitgenommen war und wie die Borsten eines alten Besens in alle Richtungen davon stand. Die Farbe blieb ihm in der Dunkelheit verborgen, genauso ihre genauen Gesichtszüge. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein, doch die Arbeit unter Tage unter diesen Bedingungen hatte ihre Spuren hinterlassen. Auch sie war ausgehungert, ihr Haar und ihre Haut spröde. Narben bedeckten ihren Körper. Ihre Augen lagen weit zurück in den Augenhöhlen und gaben ihr einen leicht unheimlichen Ausdruck.
Er lächelte sie an und sie erwiderte das Lächeln. Sie kam ein wenig näher und legte zärtlich ihre Hand auf seine Brust. „Wie ging es dir heute, Nonac?“ fragte sie leise und ihre Stimme klang freundlich, völlig unwirklich und falsch in dieser Umgebung. Als ob sie nicht hierher gehören würde.
„Das übliche“, erwiderte er kurz. Er wollte ihr nicht unnötig Sorgen bereiten. Was hätte er auch sagen sollen, sie hätte ohnehin nichts ändern können. Deshalb behielt er den Zwischenfall mit der Wache für sich. Sie hätte sich nur aufgeregt. Eine Verschwendung von Energie, die sie zum Leben benötigen würde. Allerdings musste er auf dem Rücken liegen, damit sie die Spuren der Elektropeitsche nicht sehen konnte. Der harte Boden drückte schmerzhaft auf die Wunden und die Kühle des Gesteins verschaffte kaum eine Linderung. Er musste sich beherrschen, um sie nicht merken zu lassen, unter welchen Schmerzen er litt.
Er wusste sie liebte ihn und er liebte sie auch. Er wollte ihr so viele Sorgen wie möglich ersparen. Ihnen blieb ohnehin nur wenig Zeit. Und das galt sowohl für die wenigen Momente, in denen sie beisammen sein konnten, sowie für die verbleibende Zeit, die sie noch zu leben hatten. Diese Zeit wollte er nicht mit Sorgen verschwenden.
Sie gab ihm einen Kuss und kuschelte sich an ihn. „Bei mir war auch nichts Besonderes.“ Offenbar machte sie es nicht anders als er. Falls ihr etwas zugestoßen war, dann würde auch sie es für sich behalten. Nonac respektierte das und bohrte auch nicht weiter nach.
Liebe unter den Gefangenen war nichts Ungewöhnliches. Das gemeinsame Schicksal und das unvermeidbare Ende vor Augen schweißten zusammen. Zudem gab es den Betroffenen Halt und die Möglichkeit das Ganze ein wenig erträglicher zu machen. Viel Zeit blieb ihnen jedoch nicht. Selten ergab sich für solche Liebenden die Möglichkeit gemeinsam zu arbeiten. Meist hatten sie nur diese vier Stunden, in denen das Schlafen jedoch an oberster Stelle stand, denn die Arbeit brachte jeden an seine Grenzen. Und eine Privatsphäre gab es ohnehin nicht. Intimität gab es nur hier in dieser Höhle, bei Anwesenheit aller anderen. Das war auch ein Grund, weshalb Nonac darauf verzichtete. Zudem würde er das Leben seiner Freundin riskieren. Denn würde sie schwanger werden, wäre das ihr sicherer Tod. Die Adrac schätzen es nicht, wenn die Leistung nachließ. Und ihr Verständnis für Schwangere war minimal. Nonac hatte einmal mit eigenen Augen mit ansehen müssen, wie einer Schwangeren der Bauch aufgeschnitten wurde und alles herausgeholt wurde, was sich darin befand. Die Frau musste durch die Hölle gegangen sein, bis sie endlich tot war. Und dieses Schicksal wollte er ihr auf jeden Fall ersparen.
Der Gestank von Blut, Urin und Fäkalien hing in der Luft, ein Gestank, der bei jedem normalen Menschen augenblicklich abgrundtiefe Übelkeit hervorgerufen hätte. Es war unerträglich, und doch gewöhnte man sich mit der Zeit daran. Es blieb einem auch nichts anderes übrig. Weiter entfernt hörte er wie sich jemand lautstark übergab. Das musste ein Neuankömmling sein. Denn jeder Gefangene wusste, dass das Entleeren des Magens zu vermeiden war. Es gab hier so wenig zu essen, da durfte man das wenige nicht gleich wieder von sich geben.
„Wenn wir hier raus sind, gehen wir an einen Ort in dem wir in Frieden leben können. Wir bauen ein Haus und gründen eine Familie. Und leben glücklich bis an unser Lebensende“, murmelte sie erschöpft.
Nonac sah sie an. Sie wusste genau, dass sie hier nicht lebend herauskamen. Trotzdem hörte sich nicht auf Pläne zu machen und von der Zukunft zu träumen. Sie tat so, als würde es ganz selbstverständlich schon weiter gehen. Und genau deshalb liebte er sie. Zärtlich fuhr er ihr durch die Haare. „Ja, das werden wir“, flüsterte er leise. „Das werden wir.“
Am Tor knarrte es, dann wurde es schwungvoll aufgerissen. Krachend schlug es gegen die Felswand. Der Schlag zerriss förmlich die Stille, die über den Schlafenden gelegen hatte und hallte als mehrfach widergegebenes Echo durch die Höhle. Die Gefangenen schreckten hoch, verängstigt und hellwach. Die meisten der Anwesenden kannten die nun folgende, grausame Prozedur. Zitternd versuchten viele sich möglichst klein und unsichtbar zu machen, in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden. Einige fingen an zu schluchzen und zu wimmern. Angst und Panik hatte von den Gefangenen Besitz ergriffen. Eine eiskalte Todesangst, die sich um die Herzen schloss. Die Erschöpfung des Tages war mit einem Mal wie weggeblasen. Die Angst, die nun in der Luft lag, war beinahe greifbar.
Die Gefangenen, die direkt an der Tür geschlafen hatten, wichen eilig zurück, um den vier eintretenden Adrac Platz zu machen. Niemand wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Das wäre einem Todesurteil gleich gekommen. Denn die Adrac interessierte es nicht, ob jemand ihnen absichtlich oder unabsichtlich den Weg versperrte.
Unwillkürlich hielt Nonac den Atem an und legte schützend einen Arm um seine Freundin, obwohl er genau wusste, dass er gegen die Wachen im Ernstfall nichts würde ausrichten können. Trotzdem geschah diese Handlung wie im Reflex. Denn wie jeder andere hier wusste auch er genau, was jetzt kam. Die Adrac waren hier, um unter den Gefangenen die Schwächsten und Nutzlosesten auszuwählen, die dann fortgebracht wurden. Und bisher war noch keiner dieser Unglücklichen zurückgekommen.
Langsam schritt der erste Adrac vorwärts. Und vor ihm wichen die schattenhaften Gestalten der Gefangenen wie Geister zur Seite, in der trügerischen Hoffnung, dann nicht von ihm gesehen zu werden. Doch den Sehzellen der Facettenaugen entging nicht die kleinste Bewegung in diesem Raum. Zielsicher ging er zwischen den Gefangenen hindurch. Der Gesichtsausdruck dieses so scheußlichen Wesens war dabei absolut nicht deutbar. Die beiden Facettenaugen ließen keinerlei Rückschlüsse auf seine Gefühle zu. Sie gaben ihm stattdessen ein sonderbar gleichgültiges Erscheinungsbild. Als ob es ihn nicht interessieren würde was hier geschah. Wie ein Metzger, dessen Beruf es war, Schlachtvieh zu töten, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Oder besser noch, wie ein Müller, der die Spreu vom Weizen trennt. Dieser würde auch nie auf die Idee kommen, sich zu fragen, ob es dem Weizenhalm etwas ausmachte, auseinandergerissen zu werden. Und ähnlich gleichgültig war dieser Adrac. So als ob es sich bei den Gefangenen um irgendwelche mindere Lebensformen ohne Intelligenz und Gefühle handeln würde. Ein Gärtner, der sich durch seinen lebenden Garten bewegte, um krankes Gewächs zu entfernen. Und diese ausgestrahlte Gleichgültig war beinahe noch schlimmer zu ertragen, als wenn er böse und mordlustig drein geblickt hätte und ihm die Lust am Töten anzusehen gewesen wäre.
Mit seiner Peitsche, die er in der Hand trug, deutete er auf ein besonders ausgehungertes Alien, dessen Rasse Nonac nicht kannte. Zwei weitere Adrac lösten sich aus ihrer Stellung an der Tür, kamen eiligen Schrittes herbei, packten den wimmernden Mann und warfen ihn in hohem Bogen zur Tür. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf dem Boden auf. Das Brechen von Knochen war durch die Höhle zu hören und verstärkte das Entsetzen der Gefangenen noch. Die Wachen schien das allerdings nicht zu beeindrucken. Der vierte Adrac, der noch an der Tür stehen geblieben war, packte den völlig wehrlosen Gefangenen und schleuderte ihn vollends zur Tür hinaus.
Das Gesehene ließ bei einem anderen Gefangenen offenbar alle Sicherungen durchbrennen. Mit lauten, irren Schreien sprang er auf. Er wirbelte völlig ziellos mit den Armen in der Luft herum und hörte auch nicht auf, Kreischlaute von sich zu geben, die eindeutig zeigten, dass es um seinen geistigen Zustand nicht mehr sehr gut stand. Dann rannte er los, stolperte über einen Mitgefangenen und fiel. Doch noch ehe jemand reagieren konnte, rappelte er sich schon wieder auf und rannte Haken schlagend wie ein Hase weiter. Die Adrac blieben völlig ruhig stehen, drehten noch nicht einmal ihre Köpfe. Ihre Augen erfassten auch so die Bewegungen des Mannes. Schließlich zog der Adrac an der Tür seine Elektropeitsche, änderte die Einstellung am Griff und schloss dann seine Krallenfinger darum. Als der kreischende Gefangene schließlich nahe genug war, holte er aus und schlug zu. Wie vom Blitz getroffen zuckte der Mann zusammen. Von einer Sekunde auf die andere brachen seine Schreie ab und hinterließ eine unheimliche Stille. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Mann die Wache an, dann fiel er wie ein nasser Sack um. Ein leichtes Röcheln aus seiner Kehle zeigte, dass er noch lebte, allerdings aufgrund der Intensität des Elektroschocks zu keiner Bewegung in der Lage war.
Die beiden Adrac, die dem ersten gefolgt waren, liefen eilig zu dem Mann, um ihn dann genauso unsanft zur Tür zu befördern, wie ihr voriges Opfer.
Das schien den ersten Adrac aber schon nicht mehr zu interessieren. Mit langsamen Schritten ging er weiter. Seine Facettenaugen schweiften durch den Raum, auf der Suche nach einem weiteren Opfer. Dabei kam er auch in Nonac’s Richtung.
Nonac spürte wie Panik in ihm hinauf kroch. Aber warum? Er war noch nicht ausgehungert genug um abgeholt zu werden. Es bestand eigentlich noch keine Gefahr für ihn. Der Adrac würde an ihm vorübergehen. Er machte einfach nur seine Runde, die ihn eben auch in seine Richtung brachte. Trotzdem machte sein Bein unwillkürlich eine Bewegung, die ihn etwas näher an die Wand schob. Er wollte nicht sterben. Er wollte weiterleben. Sicher, der Tod würde ihn von den Qualen dieses Ortes erlösen. Aber er konnte seine Freundin nicht zurücklassen. Er konnte das nicht. Und letztlich war der Lebenswille, trotz all der Leiden hier, immer noch vorhanden.
Der Adrac kam langsam näher. Wohin er sah war aufgrund der Beschaffenheit seiner Augen nicht zu erkennen. Dann blieb er stehen. Er hob seine Peitsche und deutete in Nonac’s Richtung. „Du“, sagte er.
Nonac stockte der Atem. Dieses eine Wort schien ihn seinem Kopf zu dröhnen. Er? Warum er? Nein, das konnte nicht sein. Das musste in Irrtum sein. Oder meinte er doch jemand anderes? Jemanden, der neben ihm lag?
Die zwei anderen Adrac kamen näher und wollten ihn holen. Es war tatsächlich er gemeint.
Schnell stand Nonac auf. „Aber ich kann arbeiten“, rief er. „Ich bin noch nicht zu schwach. Ich kann noch nützlich sein für euch. Ich kann arbeiten.“ Seine Stimme überschlug sich fast. Er war so panisch, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er spürte wie die Angst ihn zu überwältigen drohte. Wie sie nach seinem Verstand langte, um ihn endgültig zu zerstören.
„Du“, wiederholte der Adrac gleichgültig und wandte sich dann von ihm ab.
„Nonac“, schrie seine Freundin, fiel ihm um den Arm und krallte sich an ihm fest. Sie weinte. Sie weinte seinetwegen.
„Suri, hör auf zu weinen“, bat er sie mit sanfter Stimme, von sich selbst erstaunt, so plötzlich so ruhig zu sein. „Dazu ist das Wasser viel zu wertvoll.“
Sie ließ ihren Griff um ihn etwas lockerer und sah ihm in die Augen. „Nein. Du bist es wert“, brachte sie mühsam mit brüchiger Stimme hervor.
Die zwei Adrac packten ihn an der Schulter und wollten ihn von ihr wegreißen. Doch ihr Griff war erstaunlich stark, so dass ihnen das nicht auf Anhieb gelang. Nonac gab Suri noch einen flüchtigen Kuss. Er spürte ihre Lippen. Ihre Tränen. Nein, er konnte sie nicht verlassen.
Sie nahm seine Hand und wollte ihn zurückhalten. Sie ließ ihn nicht los.
„Nein, Suri. Lass mich los. Sonst wirst du auch sterben“, flehte er sie an.
Einige Mitgefangene standen zitternd auf und hielten Suri so fest, dass sie Nonac schließlich los lassen musste.
„Nonac“, kreischte sie und ihre ganze Verzweiflung brach in dem Schrei aus ihr heraus.
„Ich liebe dich, Suri“, rief er, während die zwei Adrac ihn zur Tür zerrten. Er wehrte sich nicht einmal richtig. Er versuchte nur, sie so lange im Blick zu behalten wie möglich. Dabei bemerkte er nicht, dass er gestoßen und gezerrt wurde, aber nicht den sonst üblichen Wurf der Wachen über sich ergehen lassen musste. Die Gruppe der vier Adrac sammelte sich an der Tür, als sie ihn hinausstießen. „Ich liebe dich“, rief er noch einmal in die Höhle hinein, dann schloss sich die Tür hinter ihm.
Weinend brach Suri zusammen. Er hatte ihr gerade das erste Mal gestanden, was er für sie empfand. Das erste Mal in den wenigen Wochen, die sie gemeinsam verbracht hatte, seit sie sich hier getroffen hatten. Und nun war er fort. Für immer. Wahrscheinlich war er in diesem Moment auch schon tot. Sie würde ihn nun nie wieder sehen. Zwar hatte sie tief in ihrem Inneren immer gewusst, dass das eines Tages passieren würde, aber sie hatte es sich nie eingestehen wollen. Sie hatte es nie wahr haben wollen. Und nun waren alle ihre Hoffnungen dahin. Hoffnungen, die es eigentlich gar nie gegeben hatte. Er war der einzige Grund, weshalb sie bisher die Kraft aufgebracht hatte, diese Hölle durchzustehen und am Leben zu bleiben.
Zusammengesunken saß sie auf dem Boden und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Kostbares Nass, dass sie einfach so vergoss. Für das sie noch gestern alle Strapazen dieser Welt auf sich genommen hätte. Doch das spielte nun alles keine Rolle mehr.
Commander Sylvia Jackson saß auf der Brücke im Kommandosessel und war gerade dabei das Schiffslogbuch auf den aktuellsten Stand zu bringen, als sich Captain Sanawey von der Oberfläche des Planeten meldete. Nach der geradezu sensationellen Entdeckung des Vortages und der Vermutung, dass sich ein abgestürztes Raumschiff in die Planetenoberfläche gebohrt hatte, war der Captain heute wieder an den Ort des Geschehens zurückgekehrt. Zusammen mit einem gut ausgerüstetem und vorbereitetem Team. Kaum hatte die Sonne den Planeten soweit umrundet, dass wieder etwas Helligkeit auf die Unglückstelle fiel war das Team zur Stelle. Ausgerüstet mit großen Scheinwerfern, um das ewige Dämmerlicht noch weiter zu erhellen, und schwerem Räumgerät waren die Grabungsarbeiten begonnen worden.
Seit der Entdeckung der Spuren und der damit einhergehenden Erkenntnis, es mit einem abgestürzten Schiff zu tun zu haben, hatten sich die Gerüchte und Spekulationen an Bord ausgebreitet. Denn wie durch ein Wunder wusste bereits wenige Stunden später jeder auf der Republic
über die Entdeckung Bescheid. Solche Dinge verbreiteten sich immer mit Warpgeschwindigkeit und schneller als jede offizielle Information. Seitdem wurde viel darüber spekuliert, um was für ein Schiff es sich handeln könnte. Am weitesten verbreitet war die These, dass es ein Teil der USS Mandela
sein musste. Ob das aufgrund der aufgefundenen Begleitumstände überhaupt möglich sein konnte oder nicht, spielte dabei kaum eine Rolle. Zu groß war der Wunsch, das Schicksal der Mandela
endlich klären zu können. Immerhin war das Schiff seit knapp einem halben Jahr verschwunden. Und diese Ungewissheit war für viele schlimmer zu ertragen als endgültige Klarheit über deren Zerstörung. Denn natürlich hatten auch einige der Crewmitglieder Freundschaften zu Offizieren der Mandela
. Freundschaften, die aus früheren gemeinsamen Diensten entstammten oder gar bis zur gemeinsamen Akademiezeit zurückreichten. Und wer niemanden auf diesem Schiff kannte, den berührte dessen Schicksal trotzdem. Immerhin war es ein Schiff der Sternenflotte und damit Teil der großen Familie.
Jackson selbst war fest davon überzeugt, dass hier nicht die Mandela
abgestürzt war. Im Gegensatz zu den meisten Crewmitgliedern hatte sie alle Fakten vorliegen und diese ergaben ein ganz anderes Bild. Sohral hatte mit dem Tricorder das Alter der Bäume bestimmt. War der alte Teil des Waldes schon über zweitausend Jahre alt, ergab sich für die neuen Bäume immerhin schon ein Alter von dreißig Jahren. Zu alt also, um seit einem möglichen Absturz der Mandela
nachgewachsen zu sein. Was auch immer das für ein Schiff war, das da unten lag, es war definitiv nicht das vermisste Schiff. Auch gab es keine anderen Schiffe der Föderation, die in dieser Gegend des Alls vermisst wurden. Vieles sprach also dafür, dass ihre Entdeckung nicht irdischen Ursprunges sein würde. Die spannendste Frage war daher, welcher Rasse das Schiff gehörte.
Sie ließ sich die Verbindung auf die Lautsprecher geben, da es keine Bildverbindung gab.
„Commander, Sie müssen unbedingt hier herunterkommen“, drang die Stimme des Captains über die Brücke. Er wirkte völlig euphorisch und aufgedreht. „Das müssen Sie sich ansehen. Und bringen Sie Reed mit, immerhin hatte er die Sache mit entdeckt.“
Jackson zog die rechte Augenbraue hoch. Eine Eigenschaft, die sie sich von Sohral abgeschaut hatte und die sie immer dann anwandte, wenn sie nicht recht wusste, wie sie die Situation einschätzen sollte. „Captain. Können Sie uns sagen, was genau Sie entdeckt haben?“
„Nein, das kann ich nicht beschreiben. Kommen Sie einfach runter. So schnell wie möglich.“ Dann unterbrach er die Verbindung, so dass Jackson keine Chance mehr hatte noch etwas zu sagen.
Sie seufzte resigniert. Was sollte sie jetzt auch anderes tun, als auf den Planeten hinunter zu beamen? Sie sah Reed an, der an seiner Station saß, und gab ihm mit einem Zeichen zu verstehen, dass er mitkommen solle. Er grinste über das ganze Gesicht. Noch am Morgen war er zutiefst enttäuscht gewesen, dass er nicht hatte mitkommen dürfen. Seine Abenteuerlust war nach dieser Entdeckung in ihm entflammt, doch er war zuerst ausgeschlossen worden. Nun konnte er doch noch mit eigenen Augen sehen, was er am Vortag zusammen mit den Wissenschaftlern aus dem Shuttle heraus entdeckt hatte.
Wenig später materialisierten sich die beiden inmitten eines Waldes, dessen Blätterdach keinen Blick auf den Himmel zuließ. Die schwüle Luft, die sie sofort umgab, drückte ihnen augenblicklich den Schweiß aus den Poren. Damit hatten sie, trotz der Erzählungen, nicht gerechnet.
Vier große Schweinwerfer waren um den Platz herum aufgestellt worden und leuchteten die Szenerie so gut aus, als würde die Sonne direkt hierher scheinen. Die Räumgeräte standen noch herum, waren aber zur Seite geschafft worden. Die restlichen Arbeiten mussten mit der Hand und einfachen Schaufeln erledigt werden. Zu groß war die Gefahr, etwas zu beschädigen.
Und in der Mitte des Geländes befand sich ein großes, ausgehobenes Loch. Es war tief und in der Mitte ragte das ausgegrabene Objekt heraus. Metall schimmerte im Scheinwerferlicht und ließ schon von weitem erkennen, dass es nicht natürlichen Ursprunges war. Die Oberfläche war zwar weitestgehend zerstört und abgekratzt, trotzdem konnte es als Schiffskörper identifiziert werden. Die Beschädigungen waren aber zu stark, um alleine von der Optik her sagen zu können, zu welcher Spezies dieses Schiff gehörte.
Langsam näherten sich die beiden Neuankömmlinge. Als Sanawey sie sah winkte er sie zu sich heran. Er stand direkt an der Ausgrabungsstätte und schaute zu, wie sich ein Techniker mit einem Schweißbrenner einen Zugang ins Innere des Wracks zu verschaffen versuchte. Einen tatsächlichen Eingang schienen sie nicht gefunden zu haben. Oder er ließ sich aufgrund der Beschädigungen nicht mehr öffnen. Zudem war auch nicht das ganze Schiff freigelegt. Mindestens die Hälfte steckte noch im Boden. Vielleicht befand sich die Zugangsluke auch dort.
Jackson sah sich die Überreste des Schiffes genauer an. Eine ursprüngliche Form ließ sich kaum noch erkennen. Die Kräfte, die beim Aufprall auf das Schiff eingewirkt hatten, mussten gigantisch gewesen sein. Es war ein Wunder, dass das Schiff dabei nicht vollständig zerbrochen war, sondern sich am Stück in die Erde gebohrt hatte. Was sicher nur aufgrund der besonderen Bedingungen hier möglich war, denn der Boden war aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit weich und bot einem abstürzendem Objekt, das in einem flachen Winkel ankam, kaum Widerstand.
Die Größe des Schiffes ließ sich aufgrund des ausgegrabenen Teiles nur schätzten. Es machte aber den Eindruck, als sei das Schiff nur wenig größer als die Shuttles eines Sternenflottenschiffes. Damit konnten maximal zehn Personen darin Platz finden. Und für eine längere Mission bedeutete das, dass es ziemlich eng und ungemütlich werden würde. Aber vermutlich diente dieses Schiff, ähnlich den Shuttles der Föderation, nur für Kurzstrecken. Oder aber es war gar eine Rettungskapsel eines weitaus größeren Schiffes, das in der Nähe des Planeten in Schwierigkeiten gekommen war.
Der Captain bemerkte ihren prüfenden Blick. Er beobachtete sie einen Moment. „Erkennen Sie den Schiffstyp?“ wollte er dann wissen. Besonders hoffnungsvoll klang er dabei aber nicht.
Sie schüttelte erwartungsgemäß den Kopf. „Nein. Aber bei den Beschädigungen ist das auch nicht verwunderlich. Ich könnte nicht einmal sagen, ob das hier vorne oder hinten, unten oder oben ist.“
Sanawey nickte. „Das konnte selbst Sohral noch nicht einwandfrei klären. Und das muss schon was heißen.“ Er schmunzelte. „Allerdings kam bei der Analyse des Metalls heraus, dass dessen Struktur auf einen Ursprung und eine Verarbeitung außerhalb der Föderation hindeutet. Auch die Struktur der Metalle der Romulaner, Klingonen und Tholian sei anders“, wusste er weiter zu berichten.
Sie war sich der Konsequenz seiner Aussage sehr wohl bewusste. „Dann gehört dieses Wrack einer uns noch unbekannten Spezies“, stellte sie fest.
„Alles spricht dafür“, bestätigte Sanawey. Auf der einen Seite war das ein aufregender Gedanke. Sie erhielten hier die Gelegenheit eine neue Lebensform kennen zu lernen. Es konnte kaum etwas Aufregenderes geben. Ein Erstkontakt mit lebenden Vertretern eines Volkes war aber dennoch erstrebenswerter. So konnten sie noch nicht einmal wissen, welche Rituale dieses Volk mit Verstorbenen hatte. Begingen sie einen Frevel, wenn sie das Schiff betraten? Würden sie damit in den Augen der Fremden die Totenruhe stören und damit einen unverzeihlichen Fehler begehen, womöglich gar einen Krieg auslösen? Natürlich war das kein Argument, auf die Erforschung zu verzichten. Hätte sich die Menschheit von solchen Bedenken abhalten lassen, dann wäre sie wohl kaum soweit gekommen. Neugier war eine Grundeigenschaft, die die Menschen immer weiter vorantrieb.
„Captain, wir sind durch“, rief der Techniker mit dem Schneidbrenner. Vorsichtig nahmen zwei seiner Kollegen den herausgeschnittenen Teil der Außenhülle heraus und ließen ihn zu Boden sinken. Real und seine Sicherheitsoffiziere standen mit schussbereiten Phasern daneben, bereit auf alles zu schießen, was aus dem Schiffsinneren herauskommen sollte. Was auch immer das nach dreißig Jahren sein konnte.
Doch das einzige, das ihnen direkt entgegenschlug war ein Schwall modriger Luft, der alle Anwesenden erst einmal einen Schritt zurück treten ließ. Die Luft hatte sich über die Jahrzehnte in diesem Wrack gesammelt, ohne eine Möglichkeit zum Austausch mit der Außenwelt. Ein Beweis dafür, dass die Außenhülle des Schiffes beim Aufprall auf den Planeten nicht beschädigt worden war. Sie mochte zwar deformiert und äußerlich völlig unbrauchbar wirken, doch erfüllte sie ihre Funktion, indem sie die Insassen vor allen Einflüssen schützte. Wer auch immer die Konstrukteure waren, ihre Schiffe waren gut gepanzert.
„Mr. Sohral, was sagt der Tricorder?“ wollte Sanawey wissen, nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet und den Geruch aus der Nase bekommen hatte.
Der Vulkanier nahm das Messgerät auf und richtete den Sensor direkt auf die herausgeschnittene Öffnung des Wracks. Die dicke Außenhülle hatte bisher genauere Messungen verhindert. Doch nun gab es dieses Hindernis nicht mehr.
Der Tricorder war ein handliches und damit transportables Messgerät, mit deren Hilfe Untersuchungen in nahezu alle Richtungen durchgeführt werden konnte. Mit dem eingebauten Scanner wurden die Daten aufgenommen. Der Mini-Computer im Inneren des Gerätes war dank der Technik mit Daten zu nahezu jedem Themengebiet gefüttert. So konnten, je nach Einstellung des aufgerufenen Programmes, die gesammelten Informationen direkt vor Ort ausgewertet und analysiert werden. Weitergehende Entscheidungen zum Vorgehen waren damit unverzüglich möglich. Da die Datenmenge aufgrund der Größe des Gerätes jedoch begrenzt war, gab es neben dem allgemeinen Tricorder noch auf spezielle Themengebiete ausgelegte Geräte. Zum Beispiel für die technische Abteilung, die Wissenschaft oder Medizin. Bei diesen Geräten waren die gespeicherten Informationen nicht so breit gestreut, sondern mehr auf das Spezialthema zugeschnitten. So konnten diese Geräte komplexere Analysen vornehmen. Natürlich konnte dadurch nicht sämtliche Arbeit vor Ort erledigt werden. Für etliche Untersuchungen waren weiterhin größere Rechnerleistungen notwendig, die nur auf dem Schiff erledigt werden konnten. Und in Ausnahmefällen reichte nicht einmal das aus. Dann mussten die Computersysteme der großen Forschungseinrichtungen herangezogen werden.
Sohral genügte für eine erste Analyse das Ergebnis, das der Tricorder ihm anzeigte. „Keinerlei Lebenszeichen messbar“, berichtete er.
„Was für eine Überraschung“, brummte Reed ironisch. Die Blicke, die er dafür erhielt sagen ihm deutlich, dass er lauter gedacht hatte, als er wollte.
„Die Atmosphäre im Schiff beinhaltet 25 Prozent Sauerstoff, 73 Prozent Stickstoff, 1 Prozent Argon und weitere Gase in geringeren Mengen“, fuhr Sohral unbeeindruckt fort. „Sie ist damit der unseren sehr ähnlich und vermischt sich nun ohnehin mit der Atmosphäre dieses Planeten. Die Energiesysteme des Schiffes sind nicht aktiv, mit Ausnahme des schwachen, elektromagnetischen Feldes. Ob die Systeme nur abgeschaltet sind oder wegen fehlender Energie ausgefallen sind, ist unklar.“
„Na schön“, nickte Sanawey. „Wir sollten uns das einmal ansehen.“ Er ging wieder zu der Öffnung, um in das Schiff hineinzuklettern.
„Warten Sie“, trat George Real ihm entschlossen in den Weg. „Trotz Mr. Sohrals Analyse wissen wir noch nicht welche Gefahren da drin lauern. Ich werde daher voraus gehen.“
Sanawey wollte schon widersprechen, sah dann aber ein, dass es keinen Sinn hatte, sich mit seinem Sicherheitschef anzulegen. Real würde in dieser Sache ohnehin nicht nachgeben. Daher trat er einen Schritt zur Seite und machte ihm mehr Platz. Real schaltete die Lampe ein, die an seinem Phasergewehr befestigt war, und leuchtete erst einmal in die Öffnung hinein. Viel war im Kegel des Schweinwerfers aber nicht zu erkennen. Der Boden neigte sich leicht zur Seite, da das Schiff schräg im Boden steckte. Einige Trümmerstücke der Innenverkleidung des Schiffes lagen zusammen mit den Ausrüstungsgegenständen auf dem Boden verstreut. Aber etwas Gefährliches konnte Real nicht entdecken.
„Ich gehe rein“, sagte er und wuchtete seinen muskulösen Körper dann ins Innere. Dort bewegte er seine Lampe erst einmal im Halbkreis vor sich her. Doch auch aus dieser Perspektive sah es nicht anders aus als von draußen. Eine leichte Staubschicht lag überall, Überreste der Zerstörungen, die sich in den Jahren abgesetzt hatten. Staub von außerhalb war in dem luftdicht abgeschlossenen Schiff keiner hinzugekommen. Sonst hätten sie sich jetzt durch einige Zentimeter der feinen Partikel hindurcharbeiten müssen.
Vorsichtig machte er einige Schritte tiefer hinein. Dabei achtete er darauf wo er hintrat. Auf keinen Fall wollte er über die Trümmer stützen. Als er sich sicher war, dass hier wirklich keine Gefahr lauerte, wandte er sich wieder der Öffnung zu. „In Ordnung. Sie können reinkommen.“
Sofort erschien Sanawey und schlüpfte herein. Auch er hatte eine Taschenlampe dabei, mit der er das Schiffsinnere ausleuchten konnte. Nach ihm kam noch Sohral herein, der Rest würde draußen warten.
Sie untersuchten die Trümmer und die Wandverkleidungen. Fasziniert stellte Sohral fest, dass die Antriebssysteme des Schiffes und die dazugehörige Technik komplett in einem doppelten Unterboden untergebracht waren. Sie waren wesentlich kleiner, als die vergleichbaren Einrichtungen der Republic
. Eine ungeheure technische Meisterleistung, die aber sicher auch ihre Nachteile hatte. Das musste aber Wendy Brooks mit ihrem Team herausfinden.
„Captain, es gibt hier noch eine Tür“, stellte Real fest und deutete auf einen unscheinbaren Teil der Wand, der sich bei genauerer Ausleuchtung tatsächlich als Türe herausstellte. Allerdings war die gesamte Struktur des Schiffes durch den Aufprall so verzogen, dass sie sich nicht mehr öffnen ließ. Nach einigen erfolglosen Versuchen gaben sie auf.
„Wir müssen da durch“, betonte Sanawey. „Ich hoffe, wir finden dahinter einige der Besatzungsmitglieder dieses Schiffes.“
So ließen sie sich den Schweißbrenner hereingeben. Real nahm sich der Aufgabe an und brannte ein großes Loch in die Tür. Während seiner Arbeit wurde es immer wärmer im Schiff und auch der Sauerstoffgehalt verbrannte im grellen Licht des Schweißbrenners. Zwar strömte durch die Öffnung neuer Stauerstoff herein, trotzdem hatte Sanawey das Gefühl, langsam weniger Luft zu bekommen. Bevor es jedoch unerträglich wurde, war Real fertig. Mit lautem Poltern fiel der herausgeschnittene Teil ins Innere des anderen Raumes. Krachend schlug er irgendwo im Dunkeln an die Wand und blieb dann liegen.
Real zuckte entschuldigend mit den Achseln, dann leuchtete er durch die Öffnung. Und schnappte erst einmal hörbar nach Luft. Für einen kurzen Moment war er schockiert, dann aber gewann die Routine wieder die Oberhand. „Da ist die vermisste Crew“, sagte er und deutete mit einem kurzen Wink in den Raum.
Sanawey trat an die Tür und sah hinein. Als erstes fiel ihm der steilere Boden dieses Schiffteiles auf. Beim Aufprall hatte sich das Schiff in sich völlig verbogen. Der vordere Teil hatte sich beim Abtauchen in den Erdboden nach unten hin verbogen. Es war erstaunlich, dass die Hülle dabei nicht gerissen war.
Dann sah er sie auch. Die Mannschaft des Schiffes. Sie lagen auf dem Boden. Vier von ihnen. Ein fünfter saß noch vorne auf einem sitzähnlichen Ding. Sein Oberkörper lag reglos auf der Konsole vor ihm. Wie sie gestorben waren war auf diesen ersten Blick nicht ersichtlich, doch wie sie so nebeneinander dalagen machte es nicht den Eindruck, als seien sie bei dem Absturz ums Leben gekommen.
Sanawey trat als erster durch die Öffnung. Er musste sich an dicken Kabelsträngen festhalten, die aus der geborstenen Wandverkleidung heraushingen. Vorsichtig näherte er sich so den Wesen. Sohral folgte ihm. Die Toten waren fast vollständig erhalten. Das isolierte Schiff hatte sie vor jeglichen Verwesungsprozessen geschützt. Ein Glücksfall für die Republic
-Crew, da sie nun ein genaues Bild von dieser Rasse hatten. Es waren Reptilien. Aufrecht gehende Reptilien, mit zwei kräftigen Beinen und zwei Armen. Die Hände bestanden aus drei Krallen, die in nahezu perfektem Winkel zueinander an den Armenden saßen. Unter den dunkelgrauen Uniformen deuteten sich massige Körper an, die auf enorme Stärke schließen ließen. Allerdings wirkten sie etwas eingefallen. Der Kopf war haarlos und von einer ledrigen, dicken Haut überzogen, eine Art schuppenartiger Panzer. Es gab keine Nase und keine Ohren. Der Mund war riesig und beanspruchte die gesamte untere Gesichtshälfte. Er war mit spitzen Zähnen besetzt. Es sah aus, als ob sich diese Wesen aus einer fleischfressenden Reptilienart weiterentwickelt hätten. Das war für die Spezies des bekannten Universums schon etwas ungewöhnlich. Es gab nur wenige intelligente Reptilienrassen. Das Außergewöhnlichste aber waren die Augen. Diese Wesen hatten zwei kreisrunde Facettenaugen. Völlig untypisch für Reptilien. Auf ihrem Heimatplaneten musste eine interessante Evolution stattgefunden haben, die diesen Wesen eine Eigenheit von Insekten eingebracht hatte.
„Ist Ihnen eine solche Rasse bekannt?“ wandte sich der Captain an Sohral, der an seine Seite getreten war.
„Nein“, sagte der Vulkanier schlicht.
Langsam und vorsichtig ging Sanawey auf dem schrägen Boden in die Knie. „Wer sie wohl sein mögen?“ sagte er leise und andächtig. „Und wie sie wohl gestorben sind?“
„Dr. Williams wird das bei einer Autopsie feststellen können.“ Sohral blieb wie gewohnt sachlich und nüchtern. Die ganze Umgebung hier schien ihn nicht im Geringsten zu berühren.
„Ja, das soll sie tun“, sagte Sanawey abwesend. „Ich würde gerne mehr über dieses Volk erfahren.“ Es war, als spräche er mehr zu sich selbst. „Wo kommen sie her? Was bestimmte ihr Handeln? Was wollten sie hier?“ Nachdenklich sah er die Toten an. „Jemand hat sie hier so aufgebahrt“, sagte er dann so bestimmt, als wäre er dabei gewesen.
„Es war aber sicherlich noch niemand hier“, gab Real zu bedenken. Offenbar fühlte er sich zu einer Antwort gezwungen.
Sanawey richtete sich wieder auf. Der Lichtkegel seiner Lampe kreiste durch den vorderen Teil des Schiffes, an dem der fünfte Tote saß. „Vielleicht können wir noch einige Aufzeichnungen retten. Dadurch könnten wir erfahren, was hier geschehen ist.“
Skeptisch sah Real ihn an. „Wir kennen noch nicht einmal ihre Sprache, geschweige denn ihre Technik.“
„Wendy wird sich etwas einfallen lassen müssen“, gab Sanawey schlicht zurück. „Wir sind schließlich noch einige Wochen hier, da hat sie etwas mehr Zeit als sonst.“
Real nickte nur, froh darüber, kein Ingenieur zu sein.
„Konnten Sie die Quelle der elektromagnetischen Strahlen schon lokalisieren?“ wandte Sanawey sich an seinen Wissenschaftsoffizier.
Dieser nickte knapp. „In der Tat. Auch hier befinden sich noch technische Systeme im Unterboden. Die Messungen deuten darauf hin, dass hier auch die Antimaterievorräte für die Energieerzeugung gelagert werden.“
„Und diese entweichen nun“, ergänzte Sanawey. Eine logische Annahme. Denn beim Aufeinandertreffen von Antimaterie mit normaler Materie vernichteten sich die beiden Teilchen unter Freisetzung der in den Teilchen gespeicherten Energie. Dieser Prozess nannte sich Annihilations-Reaktion. Dabei entstand als Nebeneffekt eine elektromagnetische Strahlung. Bei der kontrollierten Kollision der Teilchen, etwa im Warpantrieb der Republic
, wurde diese Strahlung abgeschirmt, um die Systeme nicht zu stören. Die gewonnene Energie trieb sämtliche Systeme des Schiffes an. Fast alle raumfahrenden Völker nutzten diese Technik der Energiegewinnung. Nur so konnten sie die energiefressenden Überlichtantriebe überhaupt betreiben.
Kam es allerdings zu einem unkontrollierten Zusammentreffen der Teilchen in großen Mengen, so wurde auch die Energie mit einem Schlag freigesetzt. Die Folge wäre eine gewaltige Explosion, die, je nach der Menge der aufeinandertreffenden Teilchen, auch einen ganzen Planeten oder ein ganzes Sonnensystem zerstören konnte. Dass dies hier nicht geschah deutete auf ein kleines Leck hin, vermutlich nur ein Haarriss, kleiner als der Millionste Teil eines Millimeters.
„Na schön“, nickte Sanawey schließlich. „Wir nehmen die Toten mit aufs Schiff. Danach soll Mrs. Brooks den Antimaterieaustritt untersuchen. Wenn sie ihn versiegeln kann, dann soll sie das tun. Und dann wird das Schiff untersucht. Ich will alles wissen, was die Systeme noch hergeben.“
Wenige Stunden später war sich Wendy Brooks mit ihrem Team sicher, dass der Antimaterieaustritt ungefährlich war, solange sich niemand daran zu schaffen machte. So wurde die genauere Untersuchung der Schifftechnik erst einmal verschoben, der Rest wurde aber so ausgeführt, wie von Captain Sanawey angeordnet.
Captain Sanawey trat aus seinem Quartier in den Gang hinaus. Noch vor wenigen Minuten lag er auf seinem Sofa und döste vor sich hin. Nach der Rückkehr vom Planeten hatte er ein wenig Ruhe benötigt. Die Aufregung, die ihn dort unten erfasst hatte, hatte ihn einiges an Kräften gekostet. Und er würde wohl immer noch auf seinem Sofa liegen, wenn ihn Sylvia Jackson, seine Stellvertreterin, nicht zur Brücke gerufen hätte. Sie hatte aufgeregt geklungen, offenbar waren sie auf etwas gestoßen. Auf etwas Interessantes.
Eilig durchschritt er den Gang bis zum nächsten Turbolift. Während er zur Brücke fuhr, fragte er sich, was das für eine Entdeckung sein mochte. Es konnte eigentlich nur im Zusammenhang mit dem unbekannten Schiff sein, das sie auf der Oberfläche gerade untersuchten. Oder gab es noch weitere Teile des Schiffes?
Als sich die Lifttüren vor ihm öffneten und sein Blick auf die Brücke fiel, sah er, dass Jackson nicht im Kommandosessel saß, was sie sonst gerne tat. Er betrat die Brücke und sah nach rechts. Dort, an der Wissenschaftsstation stand sie und sah dem Wissenschaftsoffizier Sohral über die Schulter.
Als sie Sanawey erblickte richtete sie sich sofort auf. „Captain, wir haben einen Notruf empfangen. Peilung 186,42. Keine Identifikation möglich“, berichtete sie sofort.
Sanawey horchte auf. Ein Notsignal konnten sie nicht einfach ignorieren. Schließlich waren sie in friedlicher Mission unterwegs und eine Prämisse der Sternenflotte lautete eben auch, Schwächeren und in Not geratenen Personen zu helfen. „Haben wir ein Bildsignal?“ wollte er wissen.
„Nein“, schüttelte Jackson den Kopf. Das war bedauerlich, denn es hätte es einfacher gemacht, die Lage einzuschätzen.
„Es handelt sich um ein automatisches Notsignal ohne genauere Beschreibung“, sagte Sohral. „Es wird in dem Notruf lediglich um Hilfe gebeten.“
„Das sind ja recht dürftige Angaben“, brummte Sanawey. Er seufzte. Es war ein Wagnis, sich aufgrund so geringer Informationen auf den Weg zu machen, aber letztlich hatten sie keine Wahl. „Na schön, wir werden uns das mal ansehen.“
„Captain, was ist mit den Wissenschaftlern?“ wollte Jackson leise wissen. „Wir sind hier um sie zu unterstützen. Wir können nicht einfach aufbrechen.“
„Dessen bin ich mir bewusst.“ Sanawey lächelte. Er musste einen Spagat zwischen den beiden Verpflichtungen durchführen, hatte aber bereits eine Idee. „Der Ursprung des Notrufs ist ungefähr einen Tag entfernt, das heißt mit Hin- und Rückflug wären wir knapp drei Tage weg. Ich denke, so lange können wir die Wissenschaftler hier alleine lassen.“
Jackson sah ihn stirnrunzelnd an. Sie teilte seine Meinung nicht so ganz.
„Wir werden sie natürlich auch nicht ganz alleine lassen“, fuhr Sanawey fort und wollte Jackson damit beruhigen. „Wir werden ein Shuttle mit einigen Ingenieuren im Camp stationieren. Sollten die Wissenschaftler etwas benötigen, dann kann Brooks ihnen das basteln.“
„Darüber werden weder die Wissenschaftler noch Mrs. Brooks sonderlich begeistert sein“, sagte Jackson trocken, hatte aber natürlich nicht ganz unrecht.
„Die Beteiligten werden darüber Hinwegkommen“, erwiderte Sanawey ernst. Dann musste er grinsen. „Und Sie werden ihnen dabei helfen.“
Jackson riss die Augen auf. „Wie darf ich das verstehen?“ fragte sie, obwohl die genau wusste, worauf er hinaus wollte.
„Sie werden die Mission auf dem Planeten leiten. Das ist nur konsequent“, erklärte er. „Sie haben sich die letzten Monate bereits um die Wissenschaftler und deren Forschungen gekümmert. Und das äußerst erfolgreich. Die Wissenschaftler vertrauen Ihnen.“
Abwehrend hob Jackson die Hände. „Schon gut, Sie haben mich überzeugt“, sagte sie dann und gab sich geschlagen. „Jagen Sie nur dem Notruf nach und amüsieren sich, während ich den Babysitter spielen werde.“
„Das werde ich“, grinste Sanawey nur, dann wandte er sich an Nerre, die Kommunikationsoffizierin der Republic
. „Informieren Sie Commander Brooks. Sie soll umgehend ein Team zusammenstellen, mit dem sie die nächsten drei Tage auf dem Planeten verbringen wird. Und sie soll alles einpacken, was sie für die Betreuung der Wissenschaftler und für die weitere Erforschung des Wracks braucht. Und das im Eiltempo, in einer Stunde muss sie starten.“ Er wusste, dass das ein ehrgeiziger Zeitplan war, doch wenn sie den Notruf wirklich ernst nehmen wollten, dann mussten sie so schnell wie möglich aufbrechen.
„Ja, Sir“, nickte Nerre würdevoll und gab die Befehle dann weiter.
„Captain, ich würde gerne ebenfalls hierbleiben und die Untersuchung des fremden Raumschiffes fortführen“, sagte Sohral. Der Vulkanier bat nur selten um etwas. Und wenn doch, dann hatte es natürlich einen logischen Hintergrund und war nicht aus persönlichen Gründen geleitet.
„Tut mir leid“, lehnte Sanawey seine Bitte ab. „Ich brauche Sie hier.“ Keiner wusste, was sie am Ursprungsort des Notrufes erwartete. Und er musste bereits auf Jackson und Brooks verzichten, da konnte er den Vulkanier nicht auch noch entbehren.
„Verstehe“, nickte Sohral. Er akzeptierte die Entscheidung des Captains ohne Groll. Denn sich den Entscheidungen des Captains zu fügen entsprach den Hierarchien.
„Tja, dann werde ich auch einmal packen“, sagte Jackson und wandte sich dem Lift zu.
„Commander“, hielt Sanawey sie auf. „Nehmen Sie die beiden Shuttles Independence
und Freedom
. Dann haben Sie ein Shuttle für die Forscher und eines für die Ingenieure, die das Wrack untersuchen.“
Sie nickte und verließ dann die Brücke. Sie hatte nur wenig Zeit und die wollte sie so gut wie möglich nutzen. Neben dem ganzen Equipment für die Arbeit waren auch noch einige persönliche Dinge zusammen zu packen, vor allem die Kleidung für ein paar Tage.
Sanawey sah ihr nach, als sich die Lifttüren hinter ihr schlossen. Sie war eine gute Stellvertreterin und eine ausgezeichnete Offizierin. Sie würde in nicht allzu ferner Zukunft einen guten Captain abgeben. Aber hoffentlich nicht auf diesem Schiff, dachte er innerlich lächelnd. Noch aber fehlte ihr etwas die nötige Erfahrung. Die musste sie sich als Erster Offizier erst noch erwerben.
Langsam wandte er sich um und ging zum Kommandosessel. „Mr. Remog, setzten Sie einen Kurs auf den Notruf. Sobald das Shuttle das Schiff verlassen hat gehen Sie auf Warp 8.“
„Aye, Aye, Sir“, brummte Remog und seine langen Finger glitten mit fast graziösem Anmut über die Armaturen seiner Station.
Mit auf den Bildschirm gerichteten Blick nahm Sanawey im Kommandosessel Platz. Ganz deutlich spürte er die innerliche Anspannung, die in ihm aufstieg. Nach den Monaten, die er hier nahezu untätig gewesen war, konnte er es kaum noch erwarten, endlich wieder loszuziehen. Er kam sich vor wie ein junger Hund, der nach Tagen des Eingesperrtseins wieder hinaus in die Freiheit durfte.
Doch noch musste er warten. Nur langsam verging die Zeit. Die einzelnen Minuten schienen sich dahinzuziehen. Mühsam konnte Sanawey dem Drang widerstehen, aufzustehen und auf und ab zu gehen. Und je länger sich die Zeit dahin zog desto schwerer wurde es. Alle paar Minuten sah er auf die Uhr und musste feststellen, dass kaum Zeit vergangen war.
„Captain, die Shuttles bitten um Starterlaubnis“, erlöste ihn Nerre mit ihrer Auskunft endlich.
Es war genau eine Stunde vergangen, eine beeindruckende Leistung der beiden Offiziere. „Dann geben Sie die Erlaubnis.“
„Ja, Captain“, nickte Nerre. Wenige Augenblicke später war auf dem Bildschirm das Heck der Republic
zu sehen. Die Hangartore waren bereits offen und die beiden Shuttles schwebten hintereinander ins Freie. In einem weiten Bogen bewegten sie sich auf den Planeten zu.
„Captain, Commander Jackson lässt noch viel Erfolg ausrichten. Und Ihnen viel Spaß.“ Sie runzelte verwirrt die Stirn. Spaß bei der Aufklärung eines Notrufes, das passte für sie nicht zusammen. Die Nachricht ergab für sie keinen Sinn. Nur wieder einmal die Erkenntnis, dass Menschen seltsam waren.
Sanawey lächelte vielsagend. Dann wandte er sich wieder nach vorn. „Mr. Remog, ist der Kurs gesetzt?“
„Aye, Captain“, bestätigte er mit tiefer Stimme.
„Dann gehen Sie auf Warp 8“, befahl Sanawey. Als das Schiff beschleunigte lehnte er sich im Kommandosessel zurück, stützte seine Ellenbogen auf den Armlehnen auf und legte die Fingerspitzen zusammen. Nun konnte er nur noch warten. Warten bis sie den Sender des Notrufes erreicht hatten. Und das würde noch knapp einen Tag dauern.
Eilig durchbürstete Karja noch einmal ihr langes, dunkles Haar und sah sich danach kritisch im Spiegel an. Ihre Haare hatten eine leichte Wellenbewegung, die ihr gar nicht passte. Aber sie schaffte es nicht, das herauszubekommen. So würde sie es akzeptieren müssen und versuchen, den Rest des Abends nicht mehr daran zu denken.
Sie war heute Abend mit Danny Palmer verabredet. Und sie konnte es kaum erwarten ihn endlich in ihre Arme zu schließen. Seit sie gemeinsam den Dienst im Transporterraum verrichteten hatte sie feststellen müssen, dass er doch nicht so ein Idiot war, wie sie bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Bar gedacht hatte. Damals, es schien eine Ewigkeit her zu sein, war noch dieser seltsame Freund von Danny dabei gewesen. Karja hatte seinen Namen vergessen. Sie mochte ihn nicht und war froh, dass auch Danny sich weniger mit ihm traf seit er sie kannte. Ohne diesen Typ war Danny der süßeste und netteste Mensch, den sie sich vorstellen konnte. Sobald sie in seiner Nähe war konnte sie alle Sorgen vergessen. Sein Humor war einmalig, er konnte sie in jeder Situation zum Lachen bringen. Und wenn das ganze Universum um sie herum zusammenbrechen würde, er konnte sie trotzdem zum Lachen bringen, da war sie sich sicher. Sie war sich hundertprozentig sicher, dass er ihr Mann fürs Leben war. Er war so zärtlich und unheimlich lieb. In seinen himmelblauen Augen konnte sie versinken, und beim Klang seiner Stimme schmolz sie dahin.
Das Summen des Türmelders riss sie aus ihren Gedanken. Sie warf einen letzten kritischen Blick in den Spiegel, dann wandte sie sich um und lief zur Tür. Als die Türe beiseite glitt fiel sie Danny sofort um den Hals und gab ihm einen kurzen Kuss. „Ich bin so weit“, sagte sie dann und ihre Augen strahlten ihn einladend an.
„Das sehe ich“, sagte er langsam und sein Blick glitt an ihr hinab. Sie trug eine enge Jeanshose, die ihren knackigen Hintern betonte. Dazu eine wundervolle blaue Bluse, die kunstvoll über dem Bauchnabel zusammengeknotet und weit aufgeknöpft war. So konnte man sowohl ihren straffen Bauch wie auch den Ansatz ihrer Brüste sehen. Ihre bronzebraune Haut machte den Anblick noch reizender als er ohnehin schon war.
„Du siehst umwerfend aus“, sagte er sprachlos. Die Worte kamen ihm auch erst im zweiten Anlauf über die Lippen.
Sie strahlte ihn an. „Danke. Aber nun mache deinen Mund wieder zu.“ Bei diesen Worten fuhr sie ihm mit dem Zeigefinger über das Kinn.
„Ich hatte meinen Mund nicht offen“, widersprach er schwach. Er war von ihrem Anblick noch ganz geblendet.
In ihren Augen blitzte es schelmisch. „Dann war es als Vorwarnung gedacht.“
Danny’s Grinsen wuchs. Karjas Anwesenheit versetzte ihn in eine Art Rauschzustand, aus dem er nie wieder erwachen wollte. „Komm jetzt, bevor ich es mir anders überlege und Dr. Williams zum Essen einlade.“
„Das wirst du nicht wagen“, drohte ihm Karja lachend. Dann hakte sie sich bei ihm ein. „So, jetzt kannst du mir nicht mehr entkommen.“
Er sah ihr tief in die Augen. „Das will ich auch gar nicht“, meinte er ernst und berührte zärtlich ihre Wangen. Karja hatte den Eindruck, als würden tausende Schmetterlinge in ihrem Bauch auf und ab fliegen. Ihr Blick verlor sich in seinen blauen Augen und sie vergaß, dass sie mitten auf dem Gang standen und hin und wieder ein paar Offiziere an ihnen vorbeiliefen.
Er gab ihr einen langen, leidenschaftlichen Kuss und die Welt um sie herum verschwand. Als er sich wieder von ihr löste sagte er: „Wir sollten los, sonst ist unser Tisch besetzt.“
Karja erwachte wie aus einem Traum, obwohl sie am liebsten nicht aufgewacht wäre. „Na schön“, nickte sie langsam. Sie hatte gar keine Lust mehr essen zu gehen. Sie hätte viel lieber etwas ganz anderes mit Danny gemacht. Aber das konnte sie nach dem Essen immer noch.
Eigentlich gab es auf der Republic
keinen Ort, an dem man romantisch hätte essen gehen können. Es gab nur einen kleinen Imbiss auf dem Freizeitdeck und eben die Messe, die Kantine des Schiffes. Da der Raum aber von Grund auf renoviert worden war, eine Parkettimitation auf dem Boden und Terrakottafarben an den Wänden erhalten hatte, wirkte er weit weniger wie der tägliche Essensraum für die Mannschaft, sondern mehr wie ein einladender Speisesaal. Die Bilder an den Wänden verstärkten diesen Eindruck noch. Daher wurde der Raum von der Crew liebevoll auch genauso genannt: Speisesaal.
Karja hatte keinen Vergleich mit den Messen anderer Schiffe, aber sie fand es einen sehr schönen Ort. Auch wenn man privat unterwegs war. Und wie üblich war der Raum gut gefüllt, als sie eintraten. Ein buntes Treiben herrschte hier, da nicht nur Uniformen zu sehen waren, sondern auch einige Crewmitglieder, die in Zivil erschienen waren. Ein ständiges Raunen lag in der Luft. Keiner sprach besonders laut. Saß man am Tisch konnte man meist nicht verstehen, was am Nebentisch gesprochen wurde. So blieb die gesamte Lautstärke in dem Raum in einem angenehmen Bereich, auch wenn es beim Eintreten erst etwas erschreckend wirkte. Als Karja und Danny den Raum betraten wurde es aber für einen kurzen Moment etwas ruhiger als gewöhnlich. Die meisten drehten sich um und sahen den beiden entgegen. Karja war ein Blickfang. Sowohl optisch als auch einfach nur, weil sie die Tochter des Captains war. Es gab jede Menge Gerüchte über die ersten Wochen, als sie auf das Schiff gekommen war. Natürlich hatten damals alle mitbekommen, welche Ablehnung sie ihrem Vater gegenüber an den Tag gelegt hatte. Nur die Gründe dafür, darüber gab es unterschiedliche Meinungen. Denn selbstverständlich hatten alle, die die Wahrheit mitbekommen hatten, alles für sich behalten.
Nach einem kurzen Blick zu den beiden wandten sich aber alle wieder ihren Gesprächen zu und die normale Lautstärke war wieder erreicht. Karja und Danny steuerten direkt den von ihm reservierten Tisch an. Galant schob er ihr den Stuhl heran, als sie sich setzte. Dann erst nahm er Platz. Da sie nur Blicke für sich hatten, bemerkten sie nicht, dass an einem Tisch in der Ecke Elizabeth Williams und Drake Reed saßen. Die Ärztin hatte dem Eingang den Rücken zugewandt. Als Danny und Karja den Raum betreten hatten blickte Reed kurz überrascht und dann ablehnend drein, so dass Williams sich umwandte, um zu sehen, was diese Reaktion ausgelöst hatte. Als sie die beiden erkannte musste sie lächeln.
„Wer hätte gedacht, dass sich diese zornige junge Frau so schnell hier einleben würde?“ lächelte sie.
„Ja, Wahnsinn“, brummte Reed und nahm einen Schluck seines Getränkes.
„Die zwei scheinen sich gut zu verstehen“, fuhr die Ärztin einfach fort.
Diesmal brummte Reed nur, sagte aber nichts weiter.
Elizabeth legte den Kopf schief und sah ihn an. „Bist du etwa eifersüchtig?“
Mit einer schnellen Handbewegung winkte er lässig ab. „So was lächerliches.“ Er setzte ein schräges Grinsen auf. „Ich finde nur, dass Karja einen Fehler macht. Sie ist kaum an Bord und fällt schon auf so jemanden wie Danny Palmer herein.“
„Er macht aber einen ganz netten Eindruck.“ Elizabeth war von seiner Äußerung etwas überrascht. Wie konnte Reed das denn auch beurteilen? Er war doch selbst noch neu an Bord und kannte Palmer mit Sicherheit nicht einmal.
„Er ist ein Idiot“, sagte Reed knapp, als würde das als Begründung schon ausreichen.
Dann ging Elizabeth ein Licht auf und sie sah ihn mit gespieltem Ernst an. „Es wäre sicher besser gewesen, wenn sie sich auf dich eingelassen hätte“, sagte sie trocken.
„Er wird sie enttäuschen und ihr das Herz brechen“, fuhr Reed fort, ohne auf Williams‘ Bemerkung zu reagieren. „Er kann mit einer Frau wie Karja nicht mithalten.“
„Aber du könntest das?“ sagte Williams spitz und im Moment war es ihr auch egal, ob sie ihn damit verletzte oder nicht. Seine Arroganz war wieder einmal unerträglich und da musste sie ihm aus Prinzip einfach contra geben.
„Bei mir wüsste sie wenigstens von vornherein was Sache ist, da würde eine solche Enttäuschung gar nicht erst entstehen.“ Er schien das durchaus ernst zu meinen.
Williams lachte ironisch auf. „Du hast es nicht verkraftet, dass sie dir einen Korb gegeben hat“, brachte sie die Sache auf den Punkt. „Ich frage mich, wer hier der Idiot ist. Nein, eigentlich frage ich mich das nicht“, verbesserte sie sich selbst. „Denn das ist völlig klar.“ Sie machte eine kurze Pause und sah ihn an. Sein Blick war nicht deutbar und sie fragte sich für einen Moment, ob er sie nur auf den Arm nahm. Daher beschloss sie, die Sache abzukürzen. „Die beiden werden das schon schaffen“, sagte sie dann schlicht.
„Wir werden sehen“, lächelte Drake vielsagend und nippte wieder an seinem Glas.
Elizabeth sah ihn streng an. „Wenn ich irgendetwas mitbekomme, dass du deine Finger im Spiel hast und die beiden auseinander bringen willst, dann werde ich bei deinem nächsten Besuch auf der Krankenstation das neue Laserskalpell an dir ausprobieren“, drohte sie ihm und machte dabei eine Bewegung an ihrem Hals entlang.
„Ich werde versuchen, mir das zu merken“, lachte er. Für ihn war klar, dass er nichts in der Richtung unternehmen würde. Er war einmal bei ihr abgeblitzt und er wusste, das würde ihm auch ein weiteres Mal passieren, wenn er es vorschnell noch einmal probierte. Und er wusste auch, es gab leichtere Opfer. „Sag mal, was hältst du eigentlich von dem Notruf“, wechselte er dann sicherheitshalber das Thema.
Eine kleine Kugel schwebte durch das All. Eine Kugel, gerade so groß, dass eine Person darin Platz finden konnte. Es war eine schlichte Kugel, ohne Verzierungen, ohne Kennnummer und ohne sichtbare Öffnung. Nichts deutete auf einen Antrieb oder andere Steuerungssysteme hin. Auch ihre Herkunft war nicht ersichtlich. Aber Ihr Ursprung war eindeutig nicht natürlich. Es musste Erbauer dazu geben.
Im Inneren war es dunkel. Nur ein kleiner Bildschirm war blass erleuchtet und zeigte die Sterne des Alls. Ein Mann saß auf der einzigen Sitzgelegenheit und war über der Konsole zusammengesunken. Sein Atem ging schwer und rasselte. Er hatte Mühe überhaupt noch Luft zu bekommen. Seine Augen hatte er geschlossen. Die Temperatur in der Kapsel war nahe dem Gefrierpunkt. Offenbar hatte er die Umweltkontrollen so eingestellt, um Energie zu sparen. Jedes Mal, wenn er ausatmete kondensierte seine Atemluft. Wenn er einschlafen sollte, dann würde er wohl nie wieder aufwachen, dessen war er sich bewusst. Daher zwang er sich in regelmäßigen Abständen auf den Bildschirm zu sehen, was ihm aber inzwischen sehr schwer fiel.
Der automatische Notrufsender war aktiviert, schon seit vielen Stunden. Ach was, inzwischen mussten es Tage sein. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Doch bisher hatte er noch keine Antwort erhalten. Und sein Sauerstoff würde nicht mehr lange reichen. Es war aussichtslos. Hier draußen schien außer ihm niemand zu sein. Was für ihn aber auch keine Rolle mehr spielte. Dann würde er eben hier und jetzt sterben. Wenigstens würde er dann den Frieden finden, den er sich schon seit so langer Zeit ersehnte. Nie wieder unmenschliche Arbeit unter Tage, nie wieder Wachen, die ihn schikanierten, nie wieder Bestrafungen. Eigentlich konnte es nicht besser kommen.
Ein kleines rotes Lämpchen fing an zu blinken. Normalerweise eher unauffällig. Doch in dieser Dunkelheit fiel es sofort auf. Selbst mit halb geschlossenen Augen. Und es wollte auch gar nicht mehr aufhören. Es störte seine gerade gefundene Apathie. Er wollte nicht mehr, dass sich noch irgendetwas tat.
Da es aber nicht mehr aufhörte und ihn störte, hob er langsam den Kopf und blickte auf den Bildschirm. Konnte das möglich sein? Ein Schiff? Hatte etwa doch noch jemand seinen Notruf empfangen?
Tatsächlich, dort draußen näherte sich etwas. Zuerst nur ein ganz kleiner Punkt, der aber rasch größer wurde, bis sich die Konturen des Schiffes erkennen ließen. Eine große bläulich schimmerte Sensorscheibe, hinter der sich ein dicker keulenförmiger Rumpf erstreckte. Darüber ein gewaltiges Diskussegment. Und dahinter, mit dem Rumpf verbunden, zwei lange zigarrenförmige Gebilde, offenbar der Antrieb. Das Schiff erstrahlte in hellem Weiß und war damit ein beinahe funkelnder, freundlicher Anblick inmitten des schwarzen und lebensfeindlichen Alls. Einige Abzeichen befanden sich auf der Schiffshülle, die er jedoch nicht erkennen konnte.
Oder war das gar kein Schiff? Halluzinierte er? Spielte ihm sein erschöpftes Gehirn einen Streich? Oder war er gar schon tot und dies dort draußen war ein Engel, der ihn abholte?
Eigentlich war es ihm auch egal was es war. Er hatte ohnehin nicht mehr genug Energie, um eine Kommunikationsverbindung aufzunehmen. Oder um an Bord des fremden Schiffes zu fliegen. Er wäre auf jeden Fall tot bevor man ihn retten konnte.
Er warf einen letzten Blick auf den Bildschirm, betrachtete noch einmal die majestätische Schönheit des Schiffes, dann senkte er den Kopf wieder. Es würde nur noch Minuten dauern, das spürte er. Und er wollte diese Zeit in Frieden verbringen, ohne noch einen Kampf zu führen.
Plötzlich spürte er ein Kribbeln in seinem Inneren. Eine kurze Kühle folgte und eine Desorientierung, dann löste sich die Umgebung um ihn herum auf.
Was war das? War er jetzt tot? Hatte das fremde Schiff auf ihn geschossen und wurde er jetzt in seine einzelnen Atome zerblasen? Eigentlich hatte er sich den Tod anders vorgestellt. Aber es hätte auch wesentlich schlimmer kommen können. Er spürte keinen Schmerz und so gab er sich völlig dem dunklen Nichts hin.
„Wir haben den Ursprung des Notrufes erreicht“, meldete Reed dem Captain. „Er liegt direkt vor uns.“
„Auf den Schirm“, befahl Sanawey und stand auf.
Der Bildschirm zeigte eine kleine rotierende Kugel, die steuerlos durchs All trieb. Nichts deutete auf ihren Zweck oder Herkunft hin. Es war einfach nur eine metallene Kugel. Sie schimmerte im Licht der Sterne. Sanawey wandte sich erstaunt zu Sohral um. Er hatte etwas anderes erwartet. Ein Schiff in Not vielleicht oder gar einen ganzen Planeten. Aber mit so einer kleinen Kugel hatte er nicht gerechnet. „Könnte es sich um eine Sonde handeln?“ fragte er seinen Wissenschaftsoffizier.
„Das wäre möglich“, gab der Vulkanier zögernd zu. „Allerdings ist eine Sonde, die einen Notruf ausschickt ohne dabei den Grund oder die Koordinaten des Hilfebedürftigen zu senden...“ Sohral legte eine Pause ein und schien nach den richtigen Worten zu suchen. „... ungewöhnlich, “sagte er dann schlicht. „Genaueres kann ich aber noch nicht sagen. Dazu fehlen mir die Daten und die Sensoren können das Material nicht durchdringen.“
„Alarmstufe Gelb“, befahl Sanawey sicherheitshalber. Ganz spontan musste er an eine Falle denken. Wenn die Sensoren das Metall nicht durchdringen konnten, dann konnte die Kugel alles Mögliche beinhalten. Es konnte auch eine Bombe sein, die das Schiff beschädigen sollte. Es wäre dann ein leichtes für ein in der Nähe wartendes Schiff die Republic
zu entern. „Mrs. Nerre, rufen Sie diese Kugel. Vielleicht erhalten wir eine Antwort. Ich will wissen, was es ist und woher es kommt.“
„Aye, Sir“, bestätigte die Kommunikationsoffizierin.
Gebannt sah Sanawey auf den Bildschirm. Auf was waren sie gestoßen? Welches Rätsel befand sich hinter dieser Kugel und dem Notruf? Was es auch war, der Captain war entschlossen es herauszufinden. Jetzt war seine Neugierde erweckt.
„Captain, es gibt keine Reaktionen auf unsere Rufe“, meldete sich Nerre zu Wort.
„Also ist es keine Sonde zur Kontaktaufnahme“, dachte Sanawey laut nach. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Wieso war er nicht schon früher daran gedacht? Dabei lag das doch auf der Hand. „Mr. Reed, gibt es Lebenszeichen in dieser Kugel?“
„In dem kleinen Ding?“ vergewisserte Reed sich erstaunt, und in seiner Frage lag ein Ton, der vermuten ließ, dass er den Captain für sonderbar hielt.
„Gibt es Lebenszeichen?“ wiederholte Sanawey seine Frage drängender. Er konnte nur hoffen, dass Reed in einer echten Krisensituation besser auf Befehle reagierte.
Schnell überprüfte Reed die Anzeigen seiner Konsole. „Ich kann nur Mr. Sohrals Worte wiederholen. Die Sensoren können das Material dieses..... Dings nicht durchdringen.“ Entschuldigend zuckte er mit den Schultern.
Verdammt, fluchte Sanawey innerlich und konnte seine Faust gerade noch stoppen, bevor er damit auf der Armlehne aufschlug.
„Captain, es gibt ein Lebenszeichen an Bord“, meldete Sohral und Sanawey drehte überrascht den Kopf zu ihm.
„Haben Sie einen Weg gefunden, das Innere zu scannen?“ Wie konnte er nur fragen? Natürlich hatte er. Der Vulkanier war ein Teufelskerl.
„Nicht direkt“, gab Sohral offen zu. „Ich habe den Transporterfokus auf das Innere der Kugel gerichtet. Der Transporter meldet ein organisches Muster zum Beamen. Allerdings kann ich nicht sagen, um was es sich handelt. Es könnte auch nur ein Tier sein.“
„Oder ein blutsaugendes, mordendes Monster“, sagte Reed laut. „Frankensteins Monster.“ Er konnte sich nicht zurückhalten, Sohrals Vorlage war einfach zu verlockend gewesen.
„Auch das wäre möglich“, gab Sohral zurück, der sich verpflichtete fühlte darauf eine Antwort zu geben. „Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass sich ein Volk die Mühe machen würde, ein, wie Mr. Reed sagte, blutsaugendes, mordendes Monster ins All zu schicken.“
„Vielleicht um es loszuwerden?“ konterte Reed trocken.
Sanawey hob die Hand zum Zeichen, dass er nicht wünschte, dass diese überflüssige Diskussion weiterging. Vielleicht war es wirklich ein Risiko, dieses fremde Wesen, oder was es auch immer sein mochte, an Bord zu holen. Aber Sohrals Worte klangen einleuchtend. Wer würde schon ein Raubtier oder ein Tier überhaupt in solch einer Kugel ins All schicken? Um es loszuwerden, gab es einfachere Wege. Dazu musste man nicht Ressourcen opfern, um eine künstliche lebenserhaltende Umgebung zu schaffen. Und wenn es ein intelligentes Wesen war, bekamen sie vielleicht noch ein paar nützliche Informationen über diesen Raumbereich. Immerhin musste dieses Wesen etwas erlebt haben, sonst säße es wohl kaum in einer Art Rettungskapsel, die einen Notruf sendete. Und dass es eine Rettungskapsel war, davon war Sanawey inzwischen fest überzeugt.
„Mr. Real, gehen Sie mit einem Sicherheitsteam zur Krankenstation“, befahl er seinem Sicherheitschef. Nur um sicherzugehen, dass nicht doch etwas Bissiges an Bord kam.
Real nickte nur kurz und verließ dann die Brücke.
„Doktor“, hob Sanawey nun seine Stimme. Der Computer erkannte am Stimmmuster, dass der Captain nicht mit jemandem in seiner Nähe sprechen wollte. Daher wurde automatisch eine Kommunikationsverbindung zur genannten Person hergestellt.
„Ja, Captain?“ meldete sich Dr. Williams.
„Halten Sie sich bereit ein fremdes Wesen aufzunehmen. Wir werden es direkt auf die Krankenstation beamen. Es könnte verletzt sein. Aber um was für ein Wesen es sich handelt kann ich Ihnen nicht sagen. Wir wissen es einfach nicht. Darum wird Ihnen ein Sicherheitsteam zur Seite stehen. Seien Sie trotzdem vorsichtig und halten Sie ein Beruhigungsmittel bereit.“ Das waren schon alle Sicherheitsmaßnahmen, die sie durchführen konnten. Und das musste einfach reichen.
„Aye, Captain“, bestätigte Williams und unterbrach dann die Verbindung. Sanawey konnte sie nicht sehen, konnte sich aber denken, dass sie über die wenigen Angaben von ihm nicht gerade erfreut war. Aber das war er selbst auch nicht. Wer wusste schon, was sie sich da jetzt an Bord holten.
„In Ordnung“, nickte Sanawey, mehr zu sich selbst. Es war alles vorbereitet und es konnte losgehen. „Mrs. Nerre, teilen Sie dem Transporterraum mit, dass sie das fremde Wesen nun an Bord beamen können.“ Das war der Startschuss. Nun nahmen die Dinge ihren Lauf.
Drake Reed überprüfte die Anzeigen auf seiner Konsole, und nach einigen Augenblicken wandte er sich zum Captain um. „Der Transport ist abgeschlossen. Das Wesen ist nun an Bord.“
Sanawey nickte zufrieden. Er wartete noch einen Moment, doch von der Krankenstation meldete sich niemand. Das schien ein gutes Zeichen zu sein, denn anderenfalls wäre der Alarm schon ausgelöst worden. „Bergen Sie die Kugel und bringen Sie sie in einen Lagerraum“, befahl er Reed dann. „Lieutenant Sohral, sehen Sie sich das Ding mal an. Vielleicht enthält es ein paar aufklärende Daten. Ich bin auf der Krankenstation und werde mir unseren Gast mal anschauen.“ Mit diesen Worten betrat er den Lift.
Als der Captain fort war, drehte Reed sich zuerst noch einmal zu Sohral um, bevor er die Kugel bergen wollte. „Wieso haben Sie die Kugel mit dem Transporterstrahl gescannt?“ wollte er von dem Vulkanier wissen. Und es lag ausnahmsweise auch kein Hohn oder Spott in seiner Stimme, nur ehrliches Interesse. „Dazu gab es doch gar keinen Grund. Wenn es eine Sonde gewesen wäre, dann hätte es doch gar nichts zum Beamen gegeben.“
Sohral sah ihn ruhig an und meinte: „Das ist wahr. Aber nichts hat darauf hingedeutet, dass es eine Sonde war. Sie haben wohl die Möglichkeit schon ausgeschlossen, dass es eine Rettungskapsel sein könnte? Oder einfach ein kleines Schiff, einer sehr viel weiter entwickelten Zivilisation?“
„An die Möglichkeit hab ich nicht mal gedacht“, brummte Reed zerknirscht.
„Ein berühmter Vulkanier hat einmal gesagt: Schließe immer das Unmögliche aus, und in dem Rest, der dann übrig bleibt, muss die Wahrheit stecken, auch wenn es noch so Unwahrscheinlich aussehen mag.“
„Das sollte ich mir vielleicht merken“, lächelte Drake schief.
„Ja, das sollten Sie“, sagte Sohral ruhig und wandte sich dann wieder seiner Station zu. So entging ihm der Anblick, wie Reed die Kinnlade herunter klappte.
Auf der Krankenstation hatte Dr. Williams mit ein paar schnellen Handgriffen die nötigen Instrumente für eine Behandlung vorbereitet. Zumindest diejenigen, welche sie normalerweise gebrauchen würde. In diesem Fall war es jedoch unmöglich vorherzusagen, was benötigt wurde, da niemand wusste welcher Spezies der mögliche Patient angehörte. Dr. Williams war sich nicht einmal sicher, ob sie dem Fremden auch wirklich helfen konnte. Vielleicht stellte seine unbekannte Anatomie ein unüberwindbares Hindernis dar. Vielleicht unterschied er oder sie sich so sehr von jeder bekannten Rasse, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte. Dann konnte es durchaus sein, dass er unter ihren Händen starb, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Es gab zu viele Wenn und Vielleicht, um sich wirklich auf etwas verlassen können. Wie sie es hasste, unter solchen Bedingungen eine blitzschnelle Behandlung vorzubereiten. Wie leicht konnte da etwas vergessen werden, was hinterher ein Leben kostete.
Leise fauchend glitt die Tür der Krankenstation beiseite und Sicherheitschef Real trat mit vier seiner Leute ein. Sie waren alle mit Handphasern bewaffnet. Mit einigen kurzen Befehlen dirigierte er sie auf ihre Posten. Damit waren alle Ausgänge blockiert. Sie waren bereit ihr Überraschungspaket an Bord zu beamen. Real nickte der Ärztin kurz zu. Er wollte ihre Vorbereitungen nicht weiter stören und hielt sich daher mit Worten deutlich zurück.
Das Summen des Transporterfeldes ertönte und auf der Operationsliege materialisierte sich das fremde Wesen. Es sah aus wie ein Mensch. Und zwar wie ein Mann. Allerdings war er ausgehungert. Genaugenommen war er beinahe verhungert. Das Gesicht war eingefallen und die Augen lagen weit in den Höhlen zurück. Die Haut spannte sich wie altes Pergamentpapier über seine Knochen, so dass jeder einzelne zu sehen war. Er war ein lebendes Skelett. Narben und noch nicht verheilte Wunden bedeckten seinen gesamten Körper. Seine linke Hand hatte nur noch vier Finger, während die rechte Hand sechs Finger besaß, offensichtlich die normale Anzahl bei dieser Spezies. Seine Kleidung bestand nur aus einigen Stofffetzen, die er um den Körper gewickelt hatte. Und er war überall mit Dreck und Blut beschmiert, das längst an seinem Körper angetrocknet war und eine Art zweite Haut bildete. Er sah aus, als ob er sich seit Jahren nicht mehr gewaschen hätte. Und so roch er auch.
Es war ein Bild des Schreckens, das sich vor den Augen der Ärztin zeigte. Es war fast ein Wunder, dass der Mann noch lebte. Bei seinem Anblick musste Dr. Williams unwillkürlich an Bilder aus dem Geschichtsunterricht an der High School denken. Bilder aus der Zeit, als die sich Menschen noch gegenseitig umbrachten und in Massenvernichtungslager steckten. Bilder aus den dunkelsten Kapiteln der Erdgeschichte. Ihr Magen rebellierte und wollte das Mittagessen von sich geben.
Dann setzte sich ihre Disziplin wieder durch und verdrängte ihr Entsetzten. Ihre Professionalität sorgte dafür, dass sie nicht mehr das Elend sah, sondern nur noch den Patienten, der Hilfe brauchte. Sie nahm einen Tricorder zur Hand und trat an die Liege. Eine ihrer Assistentinnen, die blass geworden war, trat tapfer auf die andere Seite der Liege und wartete auf die Anweisungen der Ärztin.
Dr. Williams sah auf die Anzeigen ihres Tricorders und dann zur Assistentin. „Wenn ich die normalen Werte des Wesens kennen würde, wüsste ich was ihm fehlt“, meinte sie frustriert.
„Er wirkt fast menschlich. Bis auf einige Kleinigkeiten“, erwiderte ihre Gegenüber und versuchte optimistisch zu klingen.
„Ja, und das nicht nur äußerlich“, nickte Williams und schöpfte neuen Mut. „Auch seine inneren Organe sind den unseren ähnlich. Ich werde ihn nach unseren Maßstäben behandeln müssen“, beschloss sie. Sie hatte keine andere Wahl, wenn sie überhaupt etwas tun wollte. Als sie die Tricorderdaten weiter anschaute schöpfte sie neue Zuversicht. „So wie es aussieht hat er keine wesentlichen inneren Verletzungen. Legen Sie eine Infusion an, wir werden ihn als erstes etwas stabilisieren müssen. Und geben Sie mir einen Hautregenerator“, forderte sie.
Ihre Assistentin reichte ihr das gewünschte Gerät. Williams nahm es wortlos entgegen und begann mit der Behandlung. Wunde für Wunde nahm sie sich vor und ließ sich für eine gründliche Behandlung Zeit. Entsetzen spiegelte sich noch immer in ihren Augen. Dieses Wesen hatte so viele Verletzungen, Verletzungen für deren Entstehen Williams keinerlei Erklärung hatte. Oder über deren Entstehen sie nicht nachdenken wollte. Kein vernünftiges Wesen konnte einem anderen so etwas antun. Der Mann musste höllische Schmerzen erlitten haben. Oder er hatte sich schon so sehr daran gewöhnt, dass er es schon gar nicht mehr wahrgenommen hatte.
Sie sah sich seine linke Hand genauer an. Zwei Finger fehlten. Von sechsen. Aber die Stümpfe waren mit Sicherheit nicht ärztlich behandelt. Es sah vielmehr so aus, als wären sie unter nicht besonders guten Bedingungen einfach irgendwie zugewachsen. Einer der zwei Stümpfe war nicht richtig verheilt. Er musste lange entzündet gewesen sein, doch nun war er verfault. Auch die restlichen Finger sahen nicht besonders gut aus. Die Fingerkuppen fehlten vollständig, so als ob er mit bloßen Händen versucht hatte in einen Steinboden ein Loch zu graben.
Wer auch immer ihm das angetan hatte besaß offenbar kein Gewissen. Es musste der Teufel in Person sein. Williams konnte nur hoffen, dass derjenige seine gerechte Bestrafung erhielt. Und sie hoffte, ihren Patienten so gut wie möglich heilen zu können, damit er helfen konnte seine Peiniger der gerechten Strafe zuzuführen.
Wendy Brooks trat aus einem der zwei Gebäude in denen das Team aus Wissenschaftlern und Technikern für die Zeit ihres Aufenthaltes hier untergebracht waren. Es waren schlichte Unterkünfte, jedes Zimmer nur wenige Quadratmeter groß. Das reichte gerade für ein Bett, einen kleinen Schrank in dem das nötigste untergebracht werden konnte, und das war es. Es gab kaum genug Platz, um sich einmal um sich selbst zu drehen. Da ihr Aufenthalt jedoch nur wenige Tage andauern sollte würde es ausreichen. Die Duschen und die Toiletten waren in einem anderen Gebäude untergebracht. Das hätte mit der schnellen Fertigbauweise auch nicht anders funktioniert. Zumal sie alles Wasser, das sie verbrauchten und verunreinigten, sammeln mussten, um es später an Bord der Republic
zu recyceln. Auf keinen Fall wollten sie das Ökosystem des Planeten konterminieren, solange sie nicht wussten, welche Auswirkungen das haben würde. Es galt allen Schaden vom Planeten abzuwenden. Allerdings war der Gedanke an Gemeinschaftsduschen für die verwöhnten Sternenflottenoffiziere eher wenig erfreulich gewesen, gelinde ausgedrückt. Wendy dagegen fand das alles hier ziemlich aufregend. Das war wie campen. Zumindest stellte sie es sich so vor. Denn sie war noch nie campen gewesen. Ihre Mutter hatte davon nie viel gehalten und daher mit ihr nie einen solchen Urlaub gemacht. Und später war sie auch nie dazu gekommen. Dass sie so etwas ähnliches doch noch einmal erleben würde hätte sie nicht mehr geglaubt.
Die Sonne war gerade hinter den Bäumen des riesigen Waldes, der sich bis zum Horizont erstreckte, untergegangen. Ihre Strahlen schienen jedoch noch hell an den Himmel und sorgten für eine langanhaltende Dämmerung. In der entgegengesetzten Himmelsrichtung zog jedoch schon die Nacht mit ihrer Dunkelheit herein. Eine mondlose Nacht. Und das nicht etwa weil Neumond war, sondern weil der Planet keinen Mond besaß.
„Wendy, setz dich zu uns“, rief Van Meerdinks Stimme aus dem Hintergrund. Zwischen den Gebäuden waren Tische und Bänke aufgestellt worden, die den hier Zurückgebliebenen nun Platz zum Abendessen boten. Alles wirkte noch reichlich improvisiert, denn schließlich war das ihr erster Abend in dieser großen Runde. Die Republic
hatte am Morgen die Umlaufbahn verlassen und nun waren sie hier auf sich gestellt. Doch schien das niemanden groß zu besorgen. Die beiden Shuttles standen unweit der Gebäude und deren Energievorräte würden für viele Tage ausreichen. Auch die Lebensmittelvorräte waren ausreichend und so gab es keinen Grund zur Besorgnis.
Wendy ging zu den Tischen hinüber. Unweit davon wurde gerade ein Lagerfeuer entzündet, das Helligkeit und Wärme spenden sollte. Die Nächte hier waren zwar nicht sonderlich kalt, aber die Atmosphäre, die von dem Feuer ausging, sollte sie alle noch etwas mehr zusammenschweißen. Es hatte allerdings einige Mühen gekostet, die Wissenschaftler von einem Feuer überzeugen zu können, doch letztlich hatten sie eingesehen, dass das dem Ökosystem nicht schaden würde, wenn sie ein wenig aufpassten.
„Hallo“, grüßte Wendy in die Runde. Nur wenige, wie Maarten van Meerdink, saßen schon am Tisch. Die meisten waren noch damit beschäftigt Geschirr und Lebensmittel heranzuschaffen und zu verteilen. Der Hydrogeologe schien das allerdings nicht für nötig zu halten. Was vielleicht auch an seiner Körperfülle lag. Außerdem hatte er eine Flasche vor sich stehen, die verdächtig nach einer Rotweinflasche aussah. Wendy hätte unmöglich sagen können, wie er die an Bord der Republic
und dann wieder herunter geschmuggelt hatte. Aber für Van Meerdink schien nichts unmöglich zu sein.
„Die wird uns nachher das Essen versüßen“, zwinkerte er ihr zu, als er ihren Blick bemerkte. „Und ich habe noch mehr davon.“ Er schien sich darüber zu freuen wie ein kleines Kind.
„Haben Sie sonst noch etwas dabei?“ wollte Wendy gleich wissen. Und sie befürchtete die Antwort schon zu kennen.
„Eine Flasche romulanisches Ale“, gab er verschwörerisch flüsternd zu. Immerhin war dieses Getränk nicht nur das alkoholhaltigste, das es gab, sondern auch noch illegal. Und trotzdem schien es so, als sei es an jeder Ecke der Föderation auffindbar.
Wendy schüttelte nur den Kopf sagte aber weiter nichts. Insgeheim musste sie ihm allerdings recht geben. Das Ganze würde sicherlich zur Auflockerung der Atmosphäre zwischen Wissenschaftlern und Ingenieuren beitragen. Und genau so kam es dann auch. Nach einem guten und reichlichen Essen lockerte der Wein die Zungen und es wurde viel geredet und noch mehr gelacht. Das Feuer knisterte und knackte neben ihnen und strahlte eine unglaubliche Wärme ab. Oder war das doch der Alkohol? Und über ihnen funkelten den Sterne so zahlreich, als hätte jemand Diamanten über das Firmament verstreut.
Als Wendy schließlich mit schwerem Kopf ins Bett kroch, da bedauerte sie bereits, dass die Republic
nur noch zwei weitere Abende fort sein würde. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte dieser Ausflug mindestens eine Woche andauern können. Auch wenn ihr Blut dann sicherlich aus mehr Alkohol wie Blut bestanden hätte.
Stimmen. Leise Stimmen. Viele Stimmen. Von allen Seiten. Keine Ruhe. Ein ständiges, unablässiges Murmeln. Zu laut, um sie zu ignorieren. Zu leise um Worte zu verstehen. Zu fremdartig. Vermischt mit dem Summen elektrischer Geräte. Wo war er? Hörte es sich im Himmel so an? Oder war er gar in der Hölle? Nur langsam schienen die Gedanken in seinem Kopf wieder in geordneten Bahnen laufen zu wollen. Er hatte das Gefühl, als ob ihm jeder Gedanke entfiel, noch ehe er ihn zu Ende gedacht hatte. So wurde ihm erst allmählich bewusst, dass er überhaupt noch dachte. Er dachte. Sein Geist war also noch intakt. Offenbar war in den Geschichten über das Leben nach dem Tod doch etwas Wahres enthalten. Und dass er Stimmen hörte bewies, dass er nicht alleine hier war. Allein dass die Laute so fremdartig klangen verwirrte ihn etwas. Niemand hatte je auch nur angedeutet, dass man im Jenseits womöglich eine neue Sprache würde lernen müssen. Und während er sich darüber noch wunderte verarbeitete sein Gehirn einen weiteren erfreulichen Eindruck. Er spürte seinen Körper. Er besaß noch immer einen Körper. Diese Erkenntnis löste eine seltsame Freude in ihm aus. Wenigstens etwas erschien ihm nun vertraut. Ein ewiges Leben ohne Körper, nur als reine Energie, hätte er sich auch nicht vorstellen können. So war das nun eher nach seinem Geschmack.
Langsam öffnete er die Augen und blinzelte ins Licht. In ein Licht, das ihn direkt anstrahlte. Es war hell. Ein wenig zu hell, er musste die Augen sofort wieder schließen, da er völlig geblendet war. Blinzelnd und mit zusammengekniffenen Augen versuchte er etwas zu erkennen. Aber wenigstens passte das Licht zu den Berichten. Genau wie es nach dem Tod sein soll
, dachte er Aber wer sprach da? Göttliche Wesen? Engel?
Langsam versuchte er sich aufzurichten. Doch gelang es ihm nicht, die nötige Spannung in den Muskeln aufzubauen. Sein Körper verweigerte ihm den Dienst. Offenbar war er noch zu schwach. War man geschwächt, nachdem man gestorben war? Auch davon hatte er noch nie etwas gehört. Sein Bewegungsversuch hatte aber Aufmerksamkeit auf ihn gezogen. Denn die Stimmen verstummten abrupt. Stattdessen hörte er Schritte. Dann erschien ein Gesicht vor seinen Augen, das sich über ihn beugte. Ein Frauengesicht. Eingerahmt von hellen blonden Haaren. Ein Lächeln umspielte ihre roten Lippen. Und ihre Augen leuchteten ihn so freundlich an, wie er noch nie Augen hatte leuchten sehen. Kein Zweifel, es musste ein Engel sein.
Dann öffnete sich ihr Mund und seltsame Laute drangen daraus hervor und auf ihn ein. Er verstand kein Wort. Was war das für eine seltsame Sprache? War das eine göttliche Sprache?
„Es tut mir leid, ich kann Sie nicht verstehen“, sagte er und musste feststellen, dass ihn das Sprechen ungewöhnlich stark anstrengte. Als ob er seit einer Ewigkeit nicht mehr gesprochen hätte. Wie lange war er eigentlich schon tot? Doch der weibliche Engel sah ihn nur traurig an und zuckte mit den Schultern. Offensichtlich verstand sie ihn auch nicht. Wenn man im Jenseits die Sprache der Lebenden nicht verstand, dann war es auch kein Wunder, dass die Götter nie zu den Menschen sprachen, durchzuckte ihn ein Gedanke und auf einmal ergab alles ein rundes Bild. Der Engel drehte den Kopf und redete mit jemandem außerhalb seines Gesichtsfeldes. Wer war da? Eine markante Männerstimme antwortete. Der Gottvater?
Die Frau fing wieder an mit ihm zu reden. Er verstand jedoch noch immer kein Wort. Dann half sie ihm sich aufzurichten. Ihre Berührungen waren sanft und fürsorglich. Das spürte er auch durch den Stoff der Kleidung, die er trug. Und sie löste eine wohlige Gänsehaut in ihm aus. Nur mit Mühe konnte er dem Drang wiederstehen, sich in ihre Arme sinken zu lassen. Denn in den Armen eines Engels musste man sich einfach geborgen und sicher fühlen. Ein Gefühl, dass er absolut nötig hatte, nachdem er gestorben war.
Dann saß er. Auf einer Liege wie er feststellen musste. Einer bequemen zwar, doch müsste man im Jenseits nicht in einem Himmelbett aufwachen? Er hob den Blick und ließ ihn durch den Raum schweifen. Den Himmel hatte er sich anders vorgestellt. Ganz anders. Das hier sah so gar nicht wie der Himmel aus. Das hier sah mehr wie eine medizinische Einrichtung aus. In dem Raum standen noch drei weitere Liegen, die aber momentan leer waren. Dazu gab es Computerkonsolen und Bildschirme, auf denen irgendwelche unbekannten Daten zu sehen waren. An der gegenüberliegenden Wand schien es einen Wandschrank zu geben. Sicher sagen konnte er das aber nicht, denn die Verblendungen der Türen, Klappen und Schubladen waren der Struktur der restlichen Wände angepasst, so dass es fast keinen Unterschied zu sehen gab. „Wo bin ich?“ fragte er verwirrt, dann fiel ihm ein, dass die Frau ihn gar nicht verstehen konnte. Allmählich breitete sich ein Gefühl der Beklommenheit in ihm aus. Hier stimmte eindeutig etwas nicht.
Die Frau trug eine rote Uniform mit einigen goldenen Abzeichen. Sie war also eindeutig kein Engel, denn Engel trugen keine Uniformen. Und mit dieser Erkenntnis kam sie ihm auch nicht mehr so engelhaft vor. Obwohl sie ohne jeden Zweifel gut aussah. Einige Schritte hinter ihr stand ein ebenfalls uniformierter Mann mit schulterlangen grauen Haaren, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte und kupferbraunem Gesicht. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte gegen eine der Liegen und sah ihn neugierig an. Dahinter, an einer Tür, standen zwei weitere Uniformierte. Ein großer schwarzer Mann und eine weiße Frau.
„Wer seid ihr?“ fragte er. Nun bekam er es doch mit der Angst zu tun. Er spürte, wie die Panik in ihm aufsteigen wollte. Ein nur allzu bekanntes Gefühl für ihn. Was wurde hier gespielt? War das ein Experiment, um seine Reaktionen zu testen? Aber warum sollten sie das tun? Seit wann interessierten sich diese Teufel für ihre Opfer?
Doch sie verstanden ihn nicht. „Wer seid ihr?“ wiederholte er drängender und hoffte, dass das Zittern seiner Stimme niemandem auffiel. Er versuchte seine Worte mit der passenden Gestik zu untermauern. Vielleicht verstanden sie ja Zeichensprache. „Wo bin ich? Was ist das hier für ein Raum?“
Die Frau drehte sich wieder um und sah den Mann hinter ihr an. Dieser nickte nur leicht, zeigte ansonsten aber keine Reaktion. Was sollte das bedeuten? War der Mann zufrieden damit, dass sein Opfer allmählich Panik bekam?
Was war nur mit ihm geschehen? Die Frage stellte er aber nicht. Warum auch, es hätte ihn ja doch keiner verstanden, geschweige denn, eine ihm verständliche Antwort geben können. Stattdessen versuchte er sich zu erinnern was als letztes geschehen war. Er hatte sich in seiner Rettungskapsel befunden. Der Sauerstoff war knapp geworden. Nein, er war ausgegangen. Er hatte bereits die Auswirkungen der Unterversorgung seines Gehirns erlebt. Und dann... dann kam dieses Schiff, dieses große Raumschiff. Hatte er sich das nur eingebildet? Oder war er nun etwa an Bord dieses Schiffes?
„Wir sind auf einem Raumschiff?“ dachte er laut nach. Warum auch nicht, diese Fremden schienen ihn ohnehin nicht zu verstehen. „Sie haben mich gefunden. Wollten Sie mich retten oder sind Sie zufällig vorbei gekommen?“ Wollten sie Informationen aus ihm herauspressen indem sie ihn verhörten oder folterten? Da konnten sie nicht viel erreichen. Misshandlungen war er zu sehr gewohnt. Sie gehörten seit langem zu seinem Tagesablauf.
Beiläufig sah er zu seinen Händen hinab. Und riss ungläubig die Augen auf. Die Wunden, die er dort gehabt hatte, waren fort. Ebenso die Narben. Nichts mehr zu sehen. Nur die zwei fehlenden Finger fehlten noch immer. Allerdings schien es ihm so, dass auch die Stümpfe behandelt worden waren. Sein Blick wanderte die Arme hinauf. Makellose Haut. Von den tiefen Wunden, die sich dort befunden hatten, war nun nichts mehr zu sehen.
Fassungslos vor Erstaunen sah er auf. Und blickte abwechselnd in die fremden Gesichter. Sie sahen ihn noch immer neugierig an und schienen Fragen an ihn zu haben, die sie aufgrund der Sprachbarriere nicht stellen konnten. Dass sie seine Verletzungen behandelt hatten, und das auch noch so makellos, schien für sie völlig normal zu sein. „Sie haben mich geheilt“, brachte er schließlich langsam hervor und hob dabei seine Hände, um sie nochmal zu bewundern. „Wieso? Sie kennen mich nicht. Vielleicht bin ich ja Ihr Feind. Wieso helfen Sie jemandem den Sie nicht kennen? Das ist eine Verschwendung von Arzneimitteln.“ Dort wo er herkam, wäre so etwas niemals passiert. Niemand hatte so viel übrig, dass er etwas verschenken konnte. Nicht, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
„Nicht bei uns“, antwortete die Frau. Ihre Stimme war weich und angenehm. Und er verstand sie.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. War ihm bisher alles schon seltsam vorgekommen, so wusste er nun gar nicht mehr woran er war. „Wieso... verstehe ich Sie auf einmal? Ist das etwa alles nur ein Traum?“ stammelte er. Aber genauso musste es sein. Nur so war das alles hier zu erklären. Er befand sich noch immer in seiner Rettungskapsel und der zunehmende Sauerstoffmangel sorgte dafür, dass sein Gehirn ihm etwas vorgaukelte.
„Nein“, lächelte sie noch immer äußerst freundlich. Es war seltsam sie plötzlich zu verstehen. „Unser Computer hatte Ihre Sprache erst analysieren müssen, um ein Muster darin zu erkennen. Damit hat er ihre Sprache gelernt und kann jetzt unsere Worte übersetzen. Ohne Zeitverlust. Es kommt Ihnen nur so vor, als würden wir Ihre und Sie unsere Sprache sprechen. Es erleichtert die Verständigung.“ Sie erklärte das so selbstverständlich als sei das nichts besonderes. In Wahrheit waren die Rechnerleistungen, die hinter diesen Operationen steckten äußerst komplex und fast schon ein kleines Wunder. Nur selten scheiterte der Computer an einer Sprache. Immerhin lagen dem Sprachanalyseprogramm Muster mehrerer Dutzend Sprachen zugrunde.
„Das glaube ich“, erwiderte er gedankenverloren. Offenbar war er schon weiter mit seinen Gedanken. Kein Wunder, bei all den neuen Informationen, die auf ihn einströmten.
„Wie heißen Sie?“ wollte die Frau wissen.
„Nonac“, antwortete er nach kurzem Zögern. Er kannte diese Leute nicht, was konnte er ihnen alles sagen? Wie weit konnte er ihnen vertrauen? Aber immerhin hatten sie ihn geheilt, damit konnten sie wenigstens seinen Namen wissen.
„Nonac“, wiederholte sie lächelnd. Fand sie den Namen amüsant? „Ist das Ihr Vor- oder Nachname?“
„Vor? Nach?“ Verwirrt sah er sie an. Was meinte diese Fremde? „Das ist mein Name“, stellte er dann nochmal klar.
„In Ordnung“, nickte sie nur und deutete dann auf sich. „Ich heiße Elizabeth Williams und bin die Chefärztin hier“, stellte sie sich vor.
Zwei Namen. Sie hatte zwei Namen. Das fiel Nonac sofort auf. Sie musste etwas besonderes sein, wenn sie zwei Namen hatte. Oder die Namen bei ihrem Volk bestanden aus zwei Worten. Das allerdings würde in seinen Augen alles nur schwieriger machen und wäre wenig effizient.
Der Mann, der bisher schweigend hinter der Frau gestanden hatte, löste sich aus seiner Position und trat vor. Mit einer fast wie zufällig wirkenden Bewegung zog er seine Uniform zurecht. „Ich bin Sanawey. Captain des Föderationsraumschiffes Republic
“, stellte er sich freundlich vor. „Willkommen an Bord, Mr. Nonac.“
Obwohl der Captain freundlich und ehrlich wirkte, wurde Nonac noch etwas bleicher, als er ohnehin schon war. Fast hätte man meinen können, er würde Sanawey kennen. Dann sammelte er sich wieder. „Danke, Captain. Danke für die Rettung.“ Er versuchte dabei so überzeugend wie möglich zu klingen. Auf keinen Fall wollte er, dass diese Fremden den Eindruck gewinnen könnten, er wüsste nicht zu schätzen, was sie getan hatten. Nicht, dass er sie mit zu wenig Dankbarkeit womöglich verärgerte.
Die Ärztin trat ein wenig zur Seite, um ihrem Captain mehr Platz einzuräumen. Zwar war ihr Patient immer noch in einem schlechten Zustand und hatte noch viel Ruhe nötig, aber einige Fragen mussten einfach jetzt schon geklärt werden, dessen war sie sich bewusst.
Sanaweys Blick ruhte noch immer auf Nonac. Auch ihm war der Gesundheitszustand ihres Gastes bewusst. Dr. Williams hatte ihm ausführlich berichtet, wie es um ihn stand. Was auch immer Nonac erlebt hatte, seine Verletzungen hatten mehr als deutlich gezeigt, dass er durch die Hölle gegangen sein musste. Aber Sanawey musste einfach wissen, was geschehen war. Schon auch um einschätzen zu können, ob eine Gefahr für sein Schiff und seine Mannschaft bestand. „Mr. Nonac, wir haben Sie in Ihrer Rettungskapsel gefunden, als Sie bewusstlos durchs All getrieben waren. Wir haben auch Ihre Verletzungen gesehen. Von welchem Planeten kommen Sie und was ist Ihnen zugestoßen?“
Nonac sah dem Captain in die Augen und die Erinnerung an das Erlebte trübte kurz seinen Blick. Es war nur ein Augenblick, der rasch vorüber ging, aber es genügte um Sanawey schaudern zu lassen. Trauer und Schmerz spiegelten sich in Nonacs Augen. Unendlicher Schmerz. Und eine noch tiefere Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Denn trotz seiner Rettung und der Heilung seiner Wunden schien er nicht zuversichtlicher zu sein. Es war, als hätte er keinerlei Lebensfunken mehr ihn sich. Die psychischen Verletzungen, die er erlitten hatte, waren eben nicht so einfach zu heilen wie Knochen und Muskeln.
Was sollte er dem Captain erzählen? Würde der Captain es überhaupt verstehen können? Er sah nicht so aus, als wäre ihm schon mal etwas schlimmeres zugestoßen. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der hier Mildtätigkeit verteilt wurde, schien hier ohnehin alles im Überfluss vorhanden zu sein. Wie sollte er ihm da begreiflich machen, was er im Lager der Adrac erlebt hatte, wie er sich dort gefühlt und gelitten hatte? Mit Worten war das nicht zu erklären. Worte konnten ein solches Grauen nicht beschreiben.
„Ich war ein Sklave der Adrac“, begann er. Eine Erklärung, die bei den meisten der ihm bekannten Völker ausgereicht hätte. Aber sicher nicht bei diesen Leuten. „Ein Sklavenhändlervolk“, fügte er daher noch hinzu. Das löste zwar Entsetzten in den Augen seines Gegenübers aus, aber lange nicht das Grauen, welches die Erwähnung der Adrac normalerweise hervorrief. „Ich musste in einer ihrer Minen arbeiten. Dort mussten wir das Material fördern, dass sie zum Bau ihrer Schiffe benötigen. Es war grauenhaft.“ Nonac schwieg. Er musste mit schrecklichen Erinnerungen fertig werden, die ihn zu überwältigten drohten. Erinnerungen, die er verdrängt hatte.
Williams sah Sanawey an. „Sie sollten später noch mal wiederkommen und ihm jetzt etwas Ruhe gönnen“, sagte sie leise.
„Nein“, antwortete Nonac, noch bevor der Captain etwas sagen konnte. „Nein, das ist nicht nötig. Was ich zu sagen habe ist wichtig. Es kann nicht warten. Ich muss das jetzt erzählen.“ Er machte eine erneute Pause und es war, als müsse er um seine Fassung ringen. Das Erlebte hatte ihn körperlich und auch seelisch mitgenommen.
„Ich denke, das kann warten“, beschwichtigte ihn auch Sanawey, obwohl er darauf brannte zu erfahren, was Nonac zu erzählen hatte. Aber er sah auch, dass ihr Gast äußerst schwach war und kaum in der Lage längere Sätze zu sprechen.
„Nein, es muss sofort sein“, keuchte Nonac fast tonlos. Fast schien es so, als habe alleine seine Sturheit ihn am Leben erhalten.
Ungeduldig sah Sanawey die Ärztin an und ein kaum wahrnehmbares Nicken gab ihr zu verstehen, dass sie den Mann ruhig stellen sollte. Noch ehe Nonac etwas sagen konnte drückte Williams ihm ein Hypospray an den Hals, das ein Beruhigungsmittel in seinem Körper verbreitete. Nonac blieb gerade noch die Zeit für einen verdutzten Gesichtsausdruck, dann fiel er auf die Liege zurück und in einen tiefen Schlaf.
SIEBEN
Unruhig wälzte Nonac sich im Schlaf hin und her. Albträume plagten ihn. Träume, von seiner Arbeit als Sklave, von den Peitschenhieben mit der Elektropeitsche, von den vielen Toten und den immer währenden Schreien, die durch die Stollen hallten. Er träumte von den Demütigungen, die er hatte erdulden müssen und von der Hoffnungslosigkeit, die dort herrschte. Und er träumte von Suri. Seiner lieben Suri, die er dort hatte zurücklassen müssen. Er musste sie retten, doch die Angst wieder dorthin zurückzukehren war zu groß. Und was sollte eine so kleine und unbedeutende Person wie er schon ausrichten können?
All das trieb ihn im Schlaf um. Er schnaufte und stöhnte, wandte sich von links nach rechts und wieder zurück. Seine Bewegungen waren so wild, dass Dr. Williams Angst bekam, er würde von der Liege fallen, auf der er noch immer schlief. Der Computer überwachte seine Lebenszeichen, und die Anzeige für den Herzschlag war übermäßig hoch für einen Schlafenden. Sein Puls raste, doch er wachte nicht auf. Schließlich sah sich die Ärztin gezwungen ihm ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Dann würde er wenigstens die Erholung bekommen, die er zu seiner Genesung unbedingt brauchte.
Das Mittel tat seine Wirkung. Nonacs Bewegungen wurden langsamer und ließen schließlich ganz nach. Er lag wieder ruhig da, atmete gleichmäßig aus und ein. Nur seine Augen zuckten unter den geschlossenen Liedern noch immer heftig hin und her. Die wilden Träume waren offenbar noch nicht ganz vorüber.
Nach einigen Stunden wachte Nonac langsam auf. Noch immer hatte er im ersten Moment Probleme zu erkennen wo er sich befand. Es war hier so hell, ganz anders als in der Mine. So dass er jedes Mal dachte, er wäre tot und im Jenseits. Dann aber fiel ihm wieder ein, dass er auf diesem Raumschiff war. Und ihm fiel ein, was er tun musste. Sein Pulsschlag beschleunigte sich vor Aufregung wieder. Er wollte sich aufsetzten, doch gelang ihm das nicht ganz. Aber seine Bewegungen hatten Aufmerksamkeit erregt. Eine der Schwestern eilte auf ihn zu. Nonac hatte ihren Namen vergessen und die Buchstaben auf diesem Schild, das sie an ihrem weißen Umhang trug, konnte er nicht entziffern. Sie waren einfach zu fremdartig.
„Sie müssen sich ausruhen“, sagte die Frau freundlich und drückte ihn wieder zurück auf die Lehne.
„Nein“, protestierte er mit rauer Kehle. Er hatte seit Stunden nichts mehr getrunken und ein Gefühl, als würde seine Zunge am Gaumen festkleben. Doch davon durfte er sich jetzt nicht beirren lassen. „Ich muss mit dem Captain sprechen“, brachte er mühsam hervor.
„Sie sind noch nicht fit genug. Sie müssen sich erst noch weiter ausruhen“, versuchte die Frau ihm geduldig beizubringen.
„Dafür ist keine Zeit“, gab er schroff zurück. „Ich muss den Captain sprechen. Sofort.“
„Dazu reichen Ihre Kräfte noch nicht.“ Ihre Geduld schien unermesslich zu sein.
Aber Nonac musste ihr insgeheim recht geben. Sie hatte nur ihre Hand auf seine Schulter gelegt und schon konnte er sich nicht mal mehr ein wenig aufrichten. Er hatte einfach keine Kraft dazu. Nur durfte das jetzt keine Rolle spielen. „Bin ich etwa Ihr Gefangener?“ stieß er hervor. „Ihr Captain hat gesagt, ich wäre hier Gast, aber ganz offensichtlich hatte er mich belogen.“ Und während er das sagte wurde ihm bewusst, dass dem wirklich so war. Er war ein Gefangener. Natürlich. Er hatte sich nur von den Worten des Captain blenden lassen. Aber schon wie sie ihn einfach ruhig gestellt hatten zeigte doch deren wahre Natur. Niemand würde jemand anderes so derart selbstlos heilen. Sie wollten ihn. Und die Informationen die er hatte. Er war wieder nur ein Gefangener.
Doch die Frau reagierte ganz anders als er erwartet hatte. Sie trat einen Schritt zurück und wirkte von seinem Vorwurf geschockt. Dann drehte sie ihren Kopf und rief Dr. Williams herbei. Nur wenige Augenblicke später stand die Ärztin neben ihm und sah auf ihn herab. Mit ihren blonden Haaren wirkte sie noch immer wie ein Engel, auch wenn Nonac inzwischen wusste, dass sie natürlich kein Engel war.
„Sie sind kein Gefangener“, sagte die Ärztin ruhig und es klang aus ihrem Mund so wahr. „Aber Sie sind noch zu entkräftet, um ein längeres Gespräch zu führen.“
„Es ist aber wichtig“, betonte er nochmal, wenn auch freundlicher als vorher.
Sie sah ihn an und schien ihn zu verstehen. Denn nach kurzem Zögern nickte sie. „Also gut. Ich werde den Captain holen. Und Sie bleiben erst einmal hier liegen.“
Nonac nickte widerwillig. Was sollte er auch machen? Er war ohnehin zu schwach, um sich groß zu wehren. Und Dr. Williams hielt Wort. Es dauerte eine gefühlte Unendlichkeit, dann half sie ihm auf und gab ihm etwas zu trinken, das sehr seltsam schmeckte, aber laut der Ärztin seine Genesung fördern sollte. Und dann trat der Captain ein. Er wirkte so autoritär. Der Raum schien ein wenig kleiner zu werden als er eintrat. Er sah Nonac und Dr. Williams an und kam auf die beiden zu.
„Mr. Nonac“, grüßte er freundlich. „Wie ich sehe geht es Ihnen besser.“
Nonac sah Williams schief an. „Etwas, ja. Aber mir geht es noch lange nicht wieder gut.“
Sanawey nickte nur. Was sollte er darauf auch sagen als immer nur die gleichen Floskeln zu wiederholen, wonach alles gut werden würde. Danach stand ihm aber nicht der Sinn. „Dr. Williams hat mir ausgerichtet, Sie wollten mich dringend sprechen“, sagte er dann und kam direkt auf den Punkt.
„Ja, das ist richtig.“ Nonac Stimme war wieder fester. „Ich muss Ihnen einiges erzählen.“
Neugier blitzte in den Augen des Captains, als er ihn ansah. Da Nonac aber nicht weiter sprach musste Sanawey nachhaken. „Was müssen Sie erzählen?“
„Es geht um das Arbeitslager, in dem ich war. Die Mine. Dort gibt es noch mehr Gefangene. Sie müssen sie befreien. So schnell wie möglich. Sonst werden sie alle elend sterben. Bitte“, flehte er den Captain an. „Bitte, befreien Sie sie.“
Etwas überrascht von dieser Bitte sah Sanawey Williams an. Wie stellte Nonac sich das vor? Sie konnten mit der Republic
nicht einfach losziehen und ein Arbeitslager befreien. Dazu waren sie gar nicht in der Lage. Moralisch waren sie vielleicht dazu verpflichtet, aber die Föderation hatte den Grundsatz der Toleranz gegenüber andern Bräuchen und Sitten. Sie konnten nicht einfach losziehen und irgendwelche Arbeitslager befreien. Das käme einer Provokation und damit einer Kriegserklärung gleich. Natürlich konnte die Föderation eine solche Behandlung von anderen Lebewesen nicht einfach hinnehmen, das widersprach den Grundsätzen der Freiheit eines Individuums. Aber es gab andere Wege, um so etwas zu klären. Dazu kam, dass Sanawey nur ein Schiff hatte. Er befahl keine Flotte. Also selbst wenn er wollte, er könnte nicht einfach losziehen und das Lager befreien. Sie kannten den Gegner noch nicht einmal. Bis auf die Erzählungen von Nonac und das abgestürzte Wrack, dass sie vor wenigen Tagen entdeckt hatten, wussten sie nichts über die Adrac. Wie weit waren die Adrac entwickelt, welchen technischen Stand hatten sie? Wie sah ihre Ethik aus? Nach was für Regeln lebten sie? Sanawey wollte auf keinen Fall der Mann sein, der sofort beim Erstkontakt mit den Adrac einen Krieg auslöste. Nicht, solange nicht klar war, ob es auch eine friedliche Einigung geben konnte, woran er uneingeschränkt glaubte.
„Erzählen Sie uns erst einmal mehr über dieses Arbeitslager und die Adrac“, entschied der Captain dann. Damit vertagte er die endgültige Entscheidung und konnte Zeit gewinnen. Zeit, um mehr Informationen für eine fundierte Entscheidung zu sammeln. Dann wandte er sich an die Ärztin. „Kann Mr. Nonac die Krankenstation verlassen?“
Williams sah ihn tadelnd an. „Nein, eigentlich noch nicht. Dazu ist er zu schwach“, sagte sie ernst. Aber sie wusste genau, dass der Captain diesen Einwand nicht gelten lassen würde. Und insgeheim wusste sie auch, dass es wichtig war, dass Nonac aufstehen konnte. Inzwischen hatte er sich dank seines Schlafes und der Infusionen auch soweit erholt, dass sie es wagen konnte, ihn mit Medikamenten auf den Beinen zu halten. Deshalb hatte sie schon ein Hypospray vorbereitet, das Nonac auf die Beine helfen sollte. Doch so leicht wollte sie es dem Captain nicht machen.
„Er muss in den Konferenztraum“, sagte Sanawey und stellte die Prioritäten klar. „Das wird er doch schaffen? Sie sind dann die ganze Zeit dabei und können aufpassen wie es ihm geht.“
„Captain, er ist stark unterernährt. Er ist viel zu schwach“, hielt Williams ihm entgegen.
„Ich kann ihm nicht helfen, solange ich nicht mehr Informationen habe.“ Sanawey wirkte angespannt. Natürlich verstand auch er, dass die Ärztin ihre Patienten schützen musste. Aber es gab eine Grenze und zwar dann, wenn es um die Sicherheit der Crew und des Schiffes ging. „Er will das Arbeitslager befreien“, fuhr Sanawey fort. „Dann muss er mehr erzählen. Und zwar der gesamten Führungscrew.“
„Ich bin stark genug“, mischte sich Nonac ein. Demonstrativ straffte er die Schultern und unterdrückte den leichten Schmerz, den er dabei empfand. Er wollte Sanaweys Hilfe. Er brauchte Sanaweys Hilfe, wenn er Suri helfen wollte. „Ich schaffe es.“
Williams verdrehte die Augen. Jetzt fiel er ihr auch noch in den Rücken. „Nein, das schaffen Sie nicht“, wandte sie ein.
„Ich muss“, gab Nonac fester zurück, als man es ihm hätte zutrauen können.
Die Ärztin seufzte. „Also gut“, gab sie schließlich nach. Wenigstens einmal hätte sie gerne einen Patienten, der auf ihren Rat hören würde und nicht so stur war. „Aber nach der Besprechung ruhen Sie sich sofort aus.“
„Versprochen“, nickte Nonac eifrig.
Williams holte das bereitliegende Hypospray und drückte es ihm an den Hals. Leise zischend wurde ihm die Injektion verabreicht. „Dadurch werden Sie fit genug, um die nächsten Stunden zu überstehen. Aber es ist nur eine kurzfristige Wirkung. Es heilt Sie nicht“, warnte sie noch.
Sanawey ging sofort in das Büro der Ärztin und aktivierte den Bildschirm. „Alle Führungsoffiziere in den Konferenzraum. Besprechung in zehn Minuten.“
Zusammen mit einem Techniker aus dem Maschinenraum lief Karja durch die Gänge der Republic
. Sie legte einen zügigen Schritt an den Tag und der beleibte Mann hatte seine Mühe ihr zu folgen. Mit schnellem Blick überflog sie das Datenpad, das sie in der Hand hielt. Seit sie vor einigen Monaten die Arbeit im Transporterraum aufgenommen hatte, war viel geschehen. Die Arbeit machte ihr riesig Spaß. Sie lernte sehr schnell wie alles funktionierte. Ihr Talent kam ihr da sehr zugute. Sie konnte es inzwischen fast schon mit ihrem Kollegen aufnehmen, von dem sie eigentlich eingelernt wurde. Viel konnte er ihr nicht mehr beibringen. Es kam inzwischen sogar hin und wieder vor, dass sie ihm einen Tipp geben konnte. Das allerdings verpackte sie dann so, dass es nicht besserwisserisch oder gar kritisierend klang. Denn kritisieren wollte sie ihn auf keinen Fall. Ihr Kollege war inzwischen schließlich ihr Freund, und da wollte sie kein böses Blut erzeugen. Dazu liebte sie ihn auch zu sehr.
Als sie die Daten auf dem Pad alle gelesen hatte, reichte sie es dem Ingenieur zurück. „Was ist mit den Fluktuationen im Energieniveau des Transporters? Wir haben alles untersucht, aber am Transporter selbst scheint es nicht zu liegen. Also muss sich der Maschinenraum des Problems annehmen.“
„Wir konnten den Grund noch nicht genau feststellen“, gab der Mann schnaufend zurück. „Vermutlich eine fehlerhafte Energiekupplung. Die müssen wir austauschen. Allerdings hat Mr. Danjou die Prioritäten anders gesetzt, so dass die Reparatur noch zwei Tage dauern wird.“ David Danjou war Brooks Stellvertreter im Maschinenraum. „Aber die Fluktuationen sind ja innerhalb der Toleranzgrenze“, fügte er leichthin hinzu.
Karja sah ihn groß an. Wie konnte ein Ingenieur so etwas nur sagen? „Das mag sein. Aber wenn wir einen Massentransport durchführen müssen und die Systeme stark belastet werden, können sich die Werte schnell ändern“, mahnte sie. „Wenn etwas nicht hundertprozentig funktioniert ist es wertlos.“ Das war ihre Prämisse, danach handelte sie.
„Ein solcher Massentransport wird in den nächsten zwei Tagen wohl kaum stattfinden“, sagte der Mann schulterzuckend. „Und dann wird es repariert sein.“
Karja blieb an einer Gangkreuzung stehen und sah ihn ernst an. Sie war fassungslos über diese Einstellung. „Unsere Rettungsmission ist noch nicht beendet“, sagte sie deutlich. Die Republic
befand sich tatsächlich immer noch an der Stelle, an der sie Nonac aufgelesen hatte. Sie waren noch nicht zum Planeten Vandros IV zurückgekehrt. „Und so ein Transport kann jederzeit notwendig werden. Und wenn das der Fall sein sollte, werde ich Mr. Danjou und Sie als erstes durch den Transporter schicken. Ist das klar?“ Sie spürte wie die Wut in ihr emporstieg und entsprechend deutlich waren ihre Worte ausgefallen.
„Ich werde nochmals mit Mr. Danjou sprechen“, sagte der Mann kleinlaut. Ob die rötliche Färbung auf seinen Wangen von der Anstrengung kam oder von ihrem Vortrag war nicht zu erkennen.
Aus dem Augenwinkel sah Karja, dass Danny Palmer den Gang entlang kam. Sie wollte ihn da nicht auch noch mit hineinziehen. Es machte auch keinen Sinn, wenn sie zu zweit auf den armen Mann einprügelten. Sie würde Danny berichten, was geschehen war, das reichte. Daher entließ sie den Mann mit den Worten: „Tun Sie das. Und richten Sie ihm viele Grüße von mir aus.“
Der Ingenieur nickte kurz und ging dann weiter. Obwohl Karja kein offizielles Mitglied der Besatzung war, hatte sich ihre Kompetenz bereits herumgesprochen und die Leute respektierten sie. Und sie war die Tochter des Captains.
Danny erreichte sie, als der Mann schon einige Schritte entfernt war. „Hallo Karja“, begrüßte er sie und gab ihr einen Kuss. „Gab es hier ein Problem?“
„Nicht der Rede wert“, winkte Karja ab und schilderte ihm in kurzen Worten den Vorfall.
Anerkennend sah er sie an. „Nicht schlecht. Du hast den armen Ortega ja ganz schön ins Schwitzen gebracht“, grinste er. „Mit dir möchte ich mich nicht anlegen.“
„Das will ich dir auch geraten haben“, sagte sie ernst und lächelte ihn dann an. Ihr fiel auf, dass er aus Richtung des Transporterraumes kam, ihrem Ziel. Sie hatte damit gerechnet ihn erst dort zu treffen. „Wohin des Weges?“ wollte sie daher wissen.
„Ich soll in den Konferenzraum kommen und an einer Besprechung teilnehmen“, sagte er und klang dabei etwas unsicher. Er hatte noch nie an einer Besprechung der Führungskräfte teilnehmen müssen. Normalerweise deckte Brooks auch den Bereich der Transportertechnologie ab. Allerdings war das nicht ganz Danjous Fachgebiet, daher musste Danny ebenfalls teilnehmen.
„In die Chefetage“, stellte Karja schnippisch fest. „Was für ein Aufstieg.“
„Wenn das so weitergeht, bin ich bald Captain“, scherzte er.
„Dann werde ich aber meine Versetzung beantragen“, grinste Karja ihn neckisch an.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte er heiter. „Ich muss jetzt aber los. Wie sieht’s aus, hättest du heute Abend Lust, mit mir zu essen? Candle-Light-Dinner. Nur du und ich. Bei mir.“ Er sah ihr dabei so intensiv in die Augen, dass ihr ein wohliger Schauer über den Rücken lief.
Karja strahlte. „Liebend gern“, rief sie und fiel ihm um den Hals.
Er drückte sie fest an sich. „Um neunzehn Uhr dann bei mir“, meinte er, dann löste er sich aus der Umarmung.
„Okay. Bis dann.“ Karja ging ein paar Schritte rückwärts und lächelte Danny noch zu. Dann wandte sie sich um und verschwand im Gang.
Danny sah ihr noch nach. Er mochte es, Karja beim Laufen zuzusehen. Sie hatte einfach einen tollen Hintern. Dann aber machte auch er sich auf den Weg. Er wollte auf keinen Fall zu spät kommen.
Er war nicht der letzte, der den Konferenzraum betrat. Diese Rolle übernahm Captain Sanawey selbst. Alle anderen waren bereits anwesend. Als Captain saß er an der Stirnseite des Tisches. Links von ihm saßen Nonac, Dr. Williams und Nerre, rechts Sohral, Reed, Real und Danny Palmer.
Der Captain sah sie alle kurz an. „Schön, dass das so kurzfristig geklappt hat“, sagte er dann. Und machte dann erst einmal ein paar Angaben zu Nonacs Person. Nicht jeder kannte den Mann schon. „Mr. Nonac war ein Gefangener der Adrac. Er hatte fliehen können und bittet uns jetzt um Hilfe bei der Befreiung des Gefangenenlagers. Mir ist die Problematik eines solchen Unternehmens sehr wohl bewusst“, fügte er schnell hinzu, bevor es Proteste geben konnte, insbesondere von Sohral, der bei solchen Gelegenheiten gerne die Sternenflottenvorschriften zitierte. „Mr. Nonac ist bereit, uns alles an Informationen über die Adrac zu geben, die er hat. Und ich denke, wir sollten ihm wenigstens einmal zuhören. Über eine Rettungsmission wäre damit noch lange nicht entschieden.“ Er sah in die Runde, aber es gab keinen Widerspruch. Daher wandte er sich direkt an ihren Gast. „Nun Mr. Nonac, erzählen Sie uns, was Sie erlebt haben.“
Nonac holte tief Luft, als müsste er erst den Mut sammeln, um zu erzählen. „Ich war schon immer Minenarbeiter“, begann Nonac zu erzählen. „Auf meinem Heimatplaneten Izmar. Unser Planet ist reich an Mineralvorkommen und überall auf dem Planeten betreiben wir Bergbau. Die Rohstoffe sind wichtige Bedarfsstoffe des Alltags. Ohne sie könnten wir das Niveau unserer Wirtschaft nicht halten und uns nicht weiterentwickeln. Vor allem die Weltraumforschung verschlingt viele Ressourcen. Wir konnten allerdings noch nicht so weit ins All vordringen wie Sie. Wir konnten noch nicht einmal unser Sonnensystem verlassen. Aber wir waren kurz vor dem Durchbruch in der interstellaren Raumfahrt. Dann kamen die Adrac. Sie zerstörten vom Weltraum aus unsere wichtigsten Städte und Militärbasen, ohne dass wir eine Chance zur Verteidigung gehabt hätten. Dadurch hatten wir keine Regierung mehr und kein Militär. Wir waren handlungsunfähig. Es gab kaum Widerstand als sie auf dem Planeten landeten. Nur einen kleinen Verteidigungsversuch, der aber in einem Blutbad endete. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube bei der Eroberung unseres Planeten ist kein einziger Adrac getötet worden. Das war vor knapp hundert Jahren.“ Nonac schwieg einige Sekunden und versuchte ruhig zu bleiben.
„Die Adrac gestatteten uns unser Leben normal weiterzuleben. Unter der Bedingung, dass wir keine Regierung und kein Militär mehr aufbauten. Und dass unser abgebautes Mineral nur noch ihnen geliefert werden durfte. Wir dachten zuerst, wir wären noch ganz gut davongekommen und fügten uns. Die Forschung wurde eingestellt und wir schufteten nur noch für unsere neuen Herren. Doch erst nach einiger Zeit verstanden wir, was die Adrac wirklich wollten. Wann immer sie Sklaven brauchten kamen sie vorbei, um wieder einige Tausend unserer Bevölkerung mitzunehmen. Wir mussten immer für genug Nachwuchs sorgen. Und das in dem Wissen, dass unsere Kinder wahrscheinlich eines Tages von den Adrac entführt und auf Sklavenmärkten verkauft würden. Wir waren im Grunde eine Sklavenaufzuchtstation. Und die Adrac kontrollieren unzählige solcher Planeten.“
„Wieso wehrt sich ihr Volk nicht?“ fragte Williams fassungslos. „Ich meine, wieso weigerte sich ihr Volk nicht Kinder zu bekommen? Es ist doch nichts leichter als nicht schwanger zu werden. Und wenn die Adrac als Strafe ihr Volk töten, dann ist das immer noch besser als zu wissen, dass die eigenen Kinder Sklaven werden.“ Williams war zutiefst geschockt von seinen Ausführungen. Sie war so mitfühlend anderen gegenüber, wie kaum jemand an Bord. Wahrscheinlich machte ihre Jugend das in diesem Ausmaß erst möglich. Und ihre Einstellung ihren Mitmenschen gegenüber. Daher war sie auch so eine gute Ärztin.
„Wir dachten zuerst genauso“, ging Nonac darauf ein. „Aber dann schickten die Adrac Aufseher, die an jeder nichtschwangeren Frau künstliche Befruchtungen durchführen. Auf ziemlich brutale, schmerzhafte und erniedrigende Art und Weise. Und in meiner Kultur steht das ungeborene Leben über allem. Eine schwangere Frau würde alles tun, um ihr Kind gesund auf die Welt zu bringen. Auch unter diesen Umständen. Auf meinem Planeten gibt es Gerüchte, die besagen, früher, vor einigen Jahrhunderten, bevor die Adrac kamen, muss unser Volk brutal gewesen sein. Wir töteten und misshandelten uns gegenseitig und machten auch vor Kindern nicht halt. Um das zu vermeiden, hatten die Regierungen damals beschlossen unsere Gene so ändern zu lassen, dass wir wenigstens Kindern nichts mehr antun konnten. Daher können wir uns nicht wehren, auch wenn wir es wöllten. Heute ist das unser Fluch. Wir können einem Ungeborenen und einem Kind nichts antun.“ Er machte eine Pause und musste sich erst einmal wieder sammeln.
„Eines Tages“, fuhr Nonac fort. „kamen die Adrac wieder. Sie hatten ein neues Erzvorkommen auf einem Planetoiden entdeckt und benötigten nun Sklaven, die dort arbeiteten. Und ich als Minenarbeiter war dabei. So kam ich in dieses Minenarbeitslager. Es war die Hölle. Es gibt dort kein Licht, keine Frischluftzufuhr, kein frisches Wasser. Wer nicht hart genug arbeitet wir bestraft. Wer während der Arbeitszeit einen Ton von sich gibt wird bestraft. Wer während der Arbeitszeit einem natürlichen Drang nachgibt wird bestraft. Es gibt nur Strafen. Die Adrac nutzen jeden Vorwand, um ihre Strafen zu verhängen. Sie spielen mit den Sklaven. Sie bereiten ihnen möglichst viele Schmerzen, ohne sie sterben zu lassen. Es macht ihnen Spaß.“ Er lachte kurz humorlos auf über seine Formulierung, wonach eine solche Quälerei jemandem Spaß machte. Ein äußerst einseitiger und morbider Spaß.
„Der Geruch, der in der Luft liegt, ist übelerregend“, fuhr er langsam mit seiner Schilderung fort. „Es stinkt erbärmlich, da es überhaupt keine hygienischen Einrichtungen gibt. Und so viele verschiedene Lebewesen auf so engem Raum ergeben den schlimmsten Gestank, den man sich vorstellen kann. Allerdings gewöhnt man sich seltsamerweise daran. Zu Beginn hatte ich das kaum für möglich gehalten. Doch erst seit ich hier an Bord wieder frische Luft atmen kann, weiß ich wie schlimm es gewesen war.“ Er machte erneut eine Pause, um seine Fassung nicht zu verlieren. Während der Schilderung drohte ihn seine Erinnerung zu überwältigen. Zudem überlegte er, was es noch wichtiges zu erzählen gab.
„Die maximale Lebenserwartung liegt bei einem halben Jahr. Kaum jemand überlebt jedoch ein halbes Jahr in Gefangenschaft. Zumindest in den Minen nicht. Die meisten sterben an Unterernährung oder Wassermangel. Und wenn eine Krankheit im Sklavenbestand ausbricht werden kurzerhand alle Sklaven getötet, alles gereinigt und neue Sklaven beschafft. Das ist billiger und geht innerhalb weniger Stunden. Die Erzförderung stoppt also nur für ein paar Stunden.
Wer ein halbes Jahr in Gefangenschaft überlebt hat wird von den Wachen abgeholt und erscheint nie wieder. Wir vermuten, dass diese Personen getötet werden. Auf diese Weise wollen die Adrac vermeiden, dass sich jemand zum Anführer ernennt, der die andern Sklaven zu einem Aufstand aufrufen könnte.
Es war schrecklich und Worte können kaum beschreiben, was dort geschieht“, schloss Nonac leise seinen Bericht. „Ohne Suri hätte ich bestimmt nicht so lange gelebt.“
„Suri?“ fragte Dr. Williams ebenso leise.
„Eine Sklavin, die ich dort kennen und lieben lernte.“
Erstaunt hob Williams die Augenbrauen. „Sie sind ohne sie geflohen?“ Bisher hatte Nonac so sympathisch gewirkte, aber wie konnte er ohne seine Liebe fliehen und sie dem grausamen Schicksal überlassen, von dem er eben berichtet hatte?
„Das ging nicht anders“, verteidigte er sich kraftlos. „Man hat mich abgeholt und fortgebracht. Vermutlich zur Exekution. Aber auf dem Weg konnte ich die Wachen überwältigen. Ich bin dann durch die Gänge geirrt und habe schließlich eine Rettungskapsel gefunden. Mit der bin ich geflohen.“
„Wie viele Wachen haben Sie abgeholt?“ erkundigte sich Sohral, bevor ihm die Ärztin mit unnötigen emotionalen Fragen zuvorkommen konnte.
„Wie viele?“ wiederholte Nonac verwirrt. „Zwei. Wieso? Was spielt das für eine Rolle?“
„Sie konnten in Ihrem geschwächten Zustand zwei Wachen der Adrac überwältigen?“ Ein Hauch von Skepsis lag in der Stimme des emotionslosen Vulkaniers.
Sanawey war froh, solche Offiziere zu haben. Er selbst war noch viel zu sehr geschockt von Nonacs Erzählung, als dass ihm dieses Detail aufgefallen wäre. Aber einen Vulkanier konnte nichts schockieren. Und einem Vulkanier konnte man nichts vormachen, besonders nicht mit Logikfehlern in einer Erzählung.
„Ja, das konnte ich“, bestätigte Nonac. „Fragen Sie mich bitte nicht wie. Vielleicht verfügt man in einer solchen Situation über besondere Kraftreserven. Oder die Wachen waren sich ihrer Sache zu sicher und überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass ein Gefangener zu fliehen versuchen könnte. Ich weiß es nicht. Tatsache ist, ich hab es geschafft, sonst wäre ich jetzt nicht hier.“
„Das ist ein Tatbestand, den ich nicht bestreiten kann“, gab Sohral zu. Sanawey war sich aber sicher, dass der Vulkanier nicht ganz überzeugt war.
„Bitte, Captain“, wandte sich Nonac Sanawey zu. „Retten Sie die anderen. Befreien Sie die Mine. Befreien Sie Suri.“
Sanawey zögerte mit einer Antwort. Soweit reichten seine Befugnisse nicht. Doch die Erzählungen Nonacs waren nicht wirkungslos geblieben. Konnte er wirklich zulassen, dass Lebewesen so behandelt wurden? Vorschriften hin oder her, das war einfach nicht rechtens. Und musste eine solche Rettungsaktion wirklich zwangsläufig einen Krieg auslösen? Die Adrac und die Föderation kannten sich noch nicht, die Diplomaten konnten hinterher, bei einem offiziellen ersten Kontakt, sich immer noch auf ein Missverständnis herausreden. „Sie haben uns noch nicht gesagt, wie stark die Adrac sind“, wich er einer direkten Antwort aus. „Wie entwickelt ist ihre Technologie? Ihre Waffen? Ihre Verteidigungstechnik? Das sind wichtige Faktoren, wenn wir uns zu einer Rettungstat entscheiden würden.“
Nonac zögerte. „Das weiß ich nicht genau“, gab er schließlich zu. „Sie sind viel weiter entwickelt als mein Volk es ist. Aber das ist wohl kaum ein Maßstab.“ Er dachte einen Augenblick nach. „Aber sie sind sicher nicht so weit entwickelt wie Sie“, sagte er dann zuversichtlich. „Ich habe noch nie gehört, dass sie Personen auseinandernehmen und wieder zusammensetzten können.“ Er spielte auf die Transportertechnologie an. Beamen musste in der Tat für viele Völker sehr außergewöhnlich und mächtig wirken.
„Das ist nicht sehr viel“, sagte Sanawey nachdenklich. Er spielte mit dem Gedanken, wirklich helfen zu wollen, doch dazu brauchte er mehr Informationen. „Wo liegt diese Mine eigentlich und wie stark ist sie befestigt?“ versuchte er es auf diesem Weg.
„Auch das kann ich Ihnen nicht sagen“, gab Nonac kleinlaut zurück. Ihm war klar, dass er keine besonders große Hilfe war. „Als ich geflohen bin, habe ich nur versucht zu überleben“, verteidigte er sich. Dann kam ihm eine Idee. „Aber die Sensoren der Rettungskapsel haben einiges aufgezeichnet. Wenn Sie die Daten auswerten können, erhalten Sie vielleicht alle Informationen, die Sie benötigen.“
„Mr. Sohral“, wandte Sanawey sich an den Vulkanier. Mehr brauchte er nicht zu sagen. Sohral wusste, was er zu tun hatte. Sofort nach der Besprechung würde er die Daten auswerten und nicht mehr ruhen, bis er die letzten Informationen aus den Speichersystemen heraus gepresst hätte.
„Sie sagten, die Adrac sind Sklavenhändler“, wandte sich Sanawey erneut an Nonac. „Haben Sie auch etwas mehr über den Handel mit Lebewesen erfahren?“
„Nicht sehr viel. Und auch nur aus Erzählungen.“ Nonac war dieses Thema sichtlich unangenehm, doch er gab sich alle Mühe, die Frage zu beantworten. „Es gab ein paar Mitgefangene, die zuerst auf einem Sklavenmarkt verkauft wurden. Sie dienten dann einigen wohlhabenden Familien oder mussten Feldarbeiten verrichten. Wer nicht hart genug arbeitete wurde bestraft, das war nicht anders als in der Mine. Und wer danach immer noch nicht genug arbeitete, weil er sich für diese Art von Arbeit nicht eignete, der wurde immer wieder bestraft. Und diese Strafe fiel je nach Laune des Besitzers aus. Entweder verkaufte er den Sklaven an eine Mine oder man exekutierte ihn kurzerhand. Oder man gab ihn den medizinischen Forschungslaboren. Einigen Sklavenbesitzern fielen sicher auch andere Strafen ein. Es gibt bei den Adrac soviel ich weiß kein Gesetz, das den Umgang mit Sklaven regelt. Sie sind Freiwild.“
Sanawey nickte nur. Was er gehört hatte reichte ihm. Doch für eine endgültige Entscheidung fehlten ihm noch die wichtigsten Daten. Die Informationen über die Verteidigungsmöglichkeiten des Planetoiden. Und die mussten sie aus der Rettungskapsel holen.
„Ich denke Dr. Williams wird mir zustimmen, wenn ich sage, Sie sollten sich etwas ausruhen“, meinte der Captain schließlich. Er war sich sicher, von Nonac nichts Wichtiges mehr erfahren zu können.
„Ja, der Meinung bin ich auch“, stimmte Williams schnell zu.
„Captain, Sie müssen die Mine befreien“, gab Nonac mit Nachdruck zurück. „Allein schon um Ihr Gewissen entlasten zu können. Und um all die Gefangenen zu befreien. Und um die Überlebenden der USS Mandela
zu befreien“, spielte er seinen letzten Trumpf aus.
Wie elektrisiert horchten auf einmal alle auf. Darauf war niemand gefasst gewesen. Selbst Dr. Williams, die Nonac schon aus dem Raum führen wollte, sah ihn mit großen Augen an und vergaß für einen Augenblick seine Gesundheit.
„Wie war das?“ hakte Sanawey nochmals nach. „Überlebende der USS Mandela
?“
Nonac nickte eifrig. „Ja. Sie kamen vor knapp einem halben Jahr in die Mine. Sie erzählten, dass ihr Schiff von den Adrac in eine Falle gelockt worden war und dann zerstört wurde. Die Überlebenden, die mit den Rettungskapseln das Schiff verlassen hatten, wurden aufgegriffen und gefangen genommen. Sie hatten auch erzählt, dass sie erst wochenlang verhört worden waren. Danach kamen sie in die Mine, wie so viele andere Sklaven auch.“
Sanawey wusste nicht recht, ob er das glauben sollte. Die Mandela
war inzwischen seit zehn Monaten verschwunden. Es hatte keine Hinweise auf den Verbleib des Schiffs gegeben, nichts. Es war einfach verschwunden. Die Suchmannschaften hatten inzwischen ihre Arbeit eingestellt und man war davon ausgegangen, dass alle Besatzungsmitglieder tot waren. Und nun gab es anscheinend Überlebende. „Sind Sie Captain Bogat begegnet?“ wollte Sanawey wissen.
„Nein, der Captain war nicht in der Mine. Er war wohl schon vorher getötet worden. Aber Mr. Hibbert, sein Stellvertreter, war dort. Mit ihm habe ich öfters gesprochen.“
Sanawey nickte. Das ließ die ganze Sache in einem anderen Licht erscheinen. Nun mussten sie eine Rettungsaktion durchführen, Konsequenzen hin oder her. Und die erste kriegerische Handlung war eindeutig von den Adrac ausgegangen. Dabei ging es auch nicht darum, gleiches mit gleichem zu vergelten. Das ließ die Moral schon gar nicht zu. Aber sie konnten die Crew der Mandela nicht einfach im Stich lassen. Niemand wurde zurückgelassen. Das war ganz wichtig für die Moral an Bord der Schiffe. Auch daran musste er denken. Wobei die Sicherheit trotz allem vorging. Es war niemandem geholfen, wenn sie bei der Rettungsaktion alle ihr Leben ließen. Und genau das brachte er Nonac gegenüber zum Ausdruck. „Ich werden das Leben meiner Crew trotz allem nicht unnötig riskieren“, sagte er ruhig aber bestimmt.
„Unnötig?“ Nonac war empört. „Unnötig? Wollen Sie behaupten, die Rettung der anderen Gefangenen sei unnötig? Wie können Sie nur so anmaßend sein? Ihr nobles Schiff lässt Sie wohl alles andere vergessen“, ereiferte er sich.
„Wenn wir bei einem Rettungsversuch alle getötet werden, hilft das den Gefangenen nicht. Wir müssen abwarten, was die Daten Ihrer Sonde ergeben.“ Insgeheim überlegte er sich jedoch, ob Nonac nicht vielleicht doch recht hatte. War er zu sehr auf Nummer Sicher aus? War es ihre Pflicht anderen zu helfen, auch wenn die Chance nur gering war? Wenn zweihundert seiner Crew starben um zweitausend zu retten, war die Mission dann nicht ein voller Erfolg? Nein, entschied er. So durfte er das nicht sehen. Es war seine Pflicht Leben zu retten, ja, aber nicht um jeden Preis. Und Leben gegeneinander aufzurechnen war der grundlegend falsche Weg.
„Und wenn sich herausstellt, dass das Risiko zu hoch wäre?“ Nonacs Ton wurde immer herausfordernder.
„Dann werden wir einen anderen Weg finden müssen.“ Sanaweys fester Blick hielt dem Nonacs stand.
„Aber das könnte Tage oder Wochen in Anspruch nehmen, einen andern Weg zu finden.“ Dafür, dass er noch vor wenigen Augenblicken so schwach gewirkt hatte, entwickelte Nonac jetzt eine ungeheure Streitlust.
„Dann dauert es eben Tage oder Wochen. Ich werde meine Crew nicht zur Schlachtbank führen. Ich habe meine Entscheidung getroffen.“ Sanaweys Tonfall ließ keinen Zweifel daran. Für ihn war die Diskussion beendet.
Nonac stand auf und sah auf den Captain herab. „Ich hätte mir mehr von Ihnen erwartet. Aber offenbar ist Ihre Föderation nicht besser als die Adrac.“ Dann verließ er den Konferenzraum, gefolgt von Dr. Williams, die nochmals zurück sah und nur hilflos mit den Achseln zuckte.
Schweigen breitete sich im Raum aus. Keiner der verbliebenen Personen sagte ein Wort. Jeder wusste, welch schwierige Entscheidung der Captain eben getroffen hatte. Er musste zwischen dem Leben seiner Crew und dem Leben vieler hundert Gefangenen, die er vielleicht retten konnte, entscheiden. Noch aber fehlten ohnehin die Daten um eine endgültige Entscheidung treffen zu können.
„Mr. Real, sorgen Sie dafür, dass unser Gast immer von einem Sicherheitsoffizier begleitet wird, wenn er die Krankenstation verlässt“, befahl Sanawey seinem Sicherheitschef. „Nach seinem Auftritt gerade erscheint er mir nicht mehr ganz so hilflos.“
„Wird erledigt, Captain“, kam die sofortige Antwort.
„Der ist doch irre“, brach es aus Reeds heraus. „Glaubt er etwa allen Ernstes, wir können mal eben so bei den Adrac vorbeischauen und ein Gefangenenlager befreien? Glaubt er etwa wir seien die Racheengel des Universums?“
„Mr. Reed“, mahnte Sanawey, aber in verständlichem Tonfall. „Wenn es dort wirklich Überlebende der Mandela gibt, dann müssen wir sie retten. Wir sollten uns dann aber ernsthaft die Frage stellen, ob nicht andere Lebewesen denselben Anspruch auf Rettung haben. Wenn unsere Motivation nur aufgrund einiger Sternenflottenoffiziere geleitet wird, dann ist es mit unserer Moral nicht weit her.“ Er machte eine kurze Pause, um die Emotionen etwas zu beruhigen, ehe er fortfuhr. „Aber jede weitere Diskussion ist sinnlos ohne die Daten der Rettungskapsel.“
„Eine menschliche, unlogische und unnütze Diskussion. Völlig kontraproduktiv“, erwiderte eine völlig ruhige und sachliche Stimme, die eigentlich einem Vulkanier gehören sollte. Aber alle Blicke wandten sich zu Reed, der gesprochen hatte.
Dieser grinste Sohral an und meinte: „Das würde unser Vulkanier sagen.“
Die Rettungskapsel war eine verhältnismäßig kleine Kugel. Obwohl sie größer wirkte, wenn man vor ihr stand. Doch allein die Tatsache, dass sie in diesen Frachtraum passte, verdeutlichte ihre geringe Größe. Es fand gerade ein Humanoid von der Größe eines Menschen darin Platz. Andererseits musste eine Rettungskugel auch nur dem Retten von Leben dienen. Die Rettungskapseln der Republic
waren auch nicht bedeutend größer. Und sie verfügten nur über Manövriertriebwerke. Diese Kugel hatte trotz ihrer geringen Größe Impulstriebwerke. So konnte man damit weiter fliegen als mit den Rettungskapseln der Föderation. Ein anderes Sternensystem damit zu erreichen war aber trotzdem unmöglich.
Sanawey stand neben der fremden Rettungskapsel. Ihre glatte Außenhaut verriet nichts über ihre Herkunft. Es gab keine Buchstaben oder andere Zeichen. Nicht der kleinste Hinweis auf die Erbauer oder Besitzer.
„Captain, diese Konstruktion ist faszinierend“, sagte Sohral, als er neben den Captain trat. „Das Material der Kugel ist dasselbe, wie das des Schiffes auf Vandros IV“, wusste er zu berichten.
„Es ist dasselbe Material?“ echote Sanawey nachdenklich. „Das würde ja bedeuten, dass das Schiff auf Vandros IV von den Adrac stammt.“
„Die Rettungskugel sowie das entdeckte Schiff seinen von denselben Konstrukteuren zu stammen“, erwiderte Sohral zögernd. Ihm behagte es gar nicht, etwas zu sagen, wenn er sich dessen noch nicht vollkommen sicher war. Für den völlig logischen Vulkanier waren es erst dann Tatsachen, die er akzeptieren konnte, wenn er einen unumstößlichen Beweis vor sich hatte. Aber er wusste auch, dass der Captain etwas hören wollte, darum gab er so viel preis, wie er glaubte, verantworten zu können. Denn die Materialübereinstimmung reichte ihm noch nicht als definitiver Beweis. Vielleicht gab es noch weitere Spezies, die dieses Material nutzten. Das war zwar unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen.
Sanawey hatte sich inzwischen an diese Eigenschaft Sohrals gewöhnt. „Wie steht es mit den Daten, die die Sonde aufgezeichnet haben soll?“
„Wir haben sie gefunden, aber benötigen noch einige Minuten, um die Auswertung abzuschließen. Ich werde Sie sofort informieren, sobald wir die gewünschten Informationen haben.“
Sanawey nickte knapp. „Ich bin auf der Brücke.“ Dann ging er in Richtung Ausgang, wandte sich jedoch noch einmal um und warf einen Blick auf die Kugel. Irgendetwas passte nicht. Hatte er etwas übersehen?
Die makellose, graue Außenhülle verschwamm langsam vor seinen Augen, als er zu lange darauf starrte. Mit einer schnellen Bewegung wandte er sich von der Kugel ab und wischte somit auch diese Gedanken bei Seite. Nein, er hatte nichts übersehen.
Doch auf dem ganzen Weg zur Brücke waren diese Gedanken immer präsent. Im Hintergrund, wie ein ständiges, weit entferntes Wehklagen. Und er konnte sich von diesem Gedanken nicht befreien, so sehr er auch versuchte, an etwas anderes zu denken. Es nagte an ihm, schien ihm etwas sagen zu wollen, das er nicht verstand.
Die Türschotten des Turboliftes glitten vor ihm beiseite und gaben ihm den Blick auf die Brücke frei. Und genau im selben Augenblick glitten die Barrieren in seinem Kopf beiseite und gaben ihm den Blick auf die übersehenen Dinge frei: Die Rettungskapsel war makellos. Aber konnte das sein? Eine Rettungskapsel, die ohne Notfall benutzt wird, musste auffallen. Und dann hätten die Adrac garantiert Gegenmaßnahmen ergriffen. Wahrscheinlich hätten sie das Feuer eröffnet. Aber selbst wenn sie die Kapsel nicht hatten zerstören können, musste es Spuren auf der Außenhülle geben. Oder die Adrac hätten ein Schiff hinterhergeschickt, um den Flüchtigen aufzubringen, und dann wäre er sicher nicht entkommen, dazu war eine Rettungskapsel nicht schnell genug.
Aber anscheinend war nichts von dem geschehen. Was wurde hier gespielt?
„Captain, Mr. Sohral meldet sich soeben“, riss Nerre ihn aus den Gedanken.
„Legen Sie das Gespräch auf die Wissenschaftsstation“, wies er die Kommunikationsoffizierin an. Dann nahm er an Sohrals Station Platz und wartete bis Nerre die Schaltungen durchgeführt hatte.
Auf dem kleinen Bildschirm der Wissenschaftsstation erschien der Vulkanier. „Captain, die Daten sind ausgewertet.“
„Und?“ forderte Sanawey ihn auf.
„Sie sind sehr informativ.“
„Kommen Sie zur Sache“, drängte der Captain ungeduldig.
„Wir haben die Koordinaten des Planetoiden. Nicht sehr weit von hier. Der Planetoid ist kaum befestigt. Er verfügt über minimale Verteidigungssysteme. Zwischen zwanzig und fünfzig Soldaten. Genauere Angaben sind aus den gegebenen Daten nicht möglich. Es gibt auch keine stationierten Schiffe. Diese Mine scheint für die Adrac nicht wichtig zu sein.“
„Halten Sie das für möglich?“ Skepsis lag in Sanaweys Stimme. Ihm kam es etwas zu einfach vor.
„Ganz eindeutig befinden wir uns hier am äußersten Rand des von den Adrac kontrollierten Raumes. Wenn die Mine nicht besonders ertragreich ist, dann kann es durchaus sein, dass die Adrac sie nicht für wert genug halten, um sie stärker zu verteidigen.“
Sanawey nickte. Damit war seine Erkenntnis vor wenigen Augenblicken wertlos. Offenbar war es der Rettungskapsel doch möglich gewesen ohne Spuren zu entkommen. Und wenn Sohral das nicht mal erwähnte, dann schien es auch nicht von Bedeutung zu sein.
„Halten Sie eine Intervention für durchführbar?“ vergewisserte sich Sanawey.
„Sie wissen, dass die Sternenflotten-Generalorder Nr.1 das nicht gestattet?“ entgegnete der Vulkanier und es klang eher wie eine Feststellung, denn eine Frage.
„Die Oberste Direktive soll eine Einmischung in die kulturelle Entwicklung eines Volkes vermeiden. Ich denke, dass sie hier nicht greift.“
„Captain, dieser Auslegung der Obersten Direktive kann ich nicht zustimmen.“
„Ich benötige Ihre Zustimmung auch nicht“, sagte Sanawey schnell, um Sohral zu unterbrechen, bevor dieser weitere logische Argumente bringen konnte. Die Direktive war ihm in dem Fall egal, denn hier ging es darum Leben zu retten. Und das stand für ihn über irgendwelchen Gesetzen. „Ich will nur wissen, ob die Befreiung des Lagers möglich ist, ohne uns in eine Gefahr zu begeben, mit der wir nicht fertig werden können.“
„Das Lager zu befreien dürfte nach den vorliegenden Daten nicht besonders schwierig sein. Sie sollten sich aber über die Konsequenzen im Klaren sein“, mahnte Sohral.
„Ich weiß“, nickte Sanawey. „Es könnte als Kriegserklärung der Föderation an die Adrac gewertet werden.“
„In der Tat.“
„Ich will hier keinen Krieg auslösen. Aber wie kann ich weiter diese Uniform anziehen, wenn ich aus politischen Gründen meine moralischen Grundsätze und die der Föderation missachte?“
Sohral wusste, dass es keine an ihn gerichtete Frage war, sondern Sanawey sie sich selbst stellte. Er lebte lange genug unter Menschen, um ihre inneren Konflikte zwischen dem logischen Teil ihres Verstandes und dem Emotionalen zu kennen.
„Captain, ich übermittle Ihnen die Koordinaten der Mine. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“ Sohral empfand es als unbefriedigend dem Captain nicht mehr helfen zu können, darum fuhr er ungefragt fort, was sonst nicht seine Art war. „Laut Statuten der Sternenflotte ist der Fall klar. Wir werden nichts tun. Aber die Föderation wurde auf gegenseitiger Hilfe und Vertrauen errichtet. Wenn wir hier eingreifen, könnten die Völker, die von den Adrac unterdrückt werden, das als gutes Zeichen bewerten. Wir könnten hier Freunde und Verbündete finden, auch wenn wir nichts erreichen.“
„Danke, Mr. Sohral“, sagte der Captain.
Der Vulkanier nickte nur, obwohl er den Eindruck hatte, dass Sanawey ihm gar nicht zugehört hatte.
Sanawey deaktivierte den Bildschirm, starrte jedoch weiterhin auf die nun dunkle Scheibe. Er stand vor der schwierigsten Entscheidung seiner bisherigen Karriere. Vielleicht löste er hier einen furchtbaren Krieg aus. Einen Krieg, der die Konflikte mit den Romulanern und den Klingonen in den Schatten stellen konnte.
„Captain.“ Nerre war aufgestanden und hinter ihn getreten. Leise sprach sie ihn an. „Ich weiß, dass Sie jetzt entscheiden müssen, was wir tun. Aber ich würde Ihnen gerne etwas mitteilen, bevor Sie sich entscheiden.“ Sie legte eine Pause ein, offenbar nicht sicher, ob sie ihm Ratschläge erteilen durfte. Doch Sanawey war im Moment froh über jede weitere Meinung. Deshalb wandte er sich um und sah sie direkt an. „Sprechen Sie.“
„Ein Grund, weshalb ich zur Sternenflotte gegangen bin, ist deren Politik anderen Völkern zu helfen. Die Mizari-Flotte vertritt nur die Interessen unseres Planeten. Und ich wollte anderen helfen. Auch wenn das ein Risiko für mich bedeutet. Aber das ist es wert, wenn man anderen damit hilft. Die Sternenflotte bot für mich die optimale Lösung, da sie ohne Gegenleistung oder Eigennutz hilft. Zeigen Sie mir, dass ich mich nicht getäuscht habe.“
Sanaweys Blick ging durch sie hindurch. Mit seinen Gedanken schien er ganz woanders zu sein. Er spürte die Belastung, die auf ihm ruhte, die Verantwortung. Aber er hatte immer gewusst, dass das eines Tages auf ihn zukommen konnte. Dass er folgenschwere Entscheidungen treffen musste. Trotzdem hatte er sich für eine Karriere in der Sternenflotte entschieden.
Nerre hatte nicht ganz Unrecht. Die Sternenflotte sollte Lebewesen in Not helfen. Doch durfte er dafür einen totalen Krieg riskieren? Läge die Schuld eines möglichen Krieges überhaupt bei ihm? Immerhin hatten die Adrac zuerst angegriffen, indem Sie die Mandela zerstörten.
„Mr. Remog“, wandte er sich schließlich an den Steuermann und spürte dabei die erwartungsvollen Blicke, die auf ihn gerichtet waren. „Setzen Sie Kurs auf diesen Planetoiden. Warp 4.“
„Aye, Aye, Sir“, bestätigte das Reptilwesen brummend.
Nerre nickte dem Captain dankend zu. Auch in den meisten anderen Gesichtern konnte er Erleichterungen feststellen. Teilweise wegen seiner Entscheidung, teilweise, weil es jetzt wenigstens überhaupt eine Entscheidung gab. Jedoch er selbst war nicht ganz überzeugt von der Richtigkeit der Entscheidung. Doch nun gab es ohnehin kein zurück mehr, wenn er das Vertrauen seiner Crew nicht verlieren wollte.
„Mrs. Nerre, senden Sie dem Sternenflottenkommando einen Situationsbericht mit unseren aktuellen Koordinaten und denen der Mine. Und meine Entscheidung in dieser Angelegenheit.“
„Ja, Captain. Aber bis zu einer Antwort können einige Stunden vergehen“, gab sie zu bedenken.
„Ich weiß“, erwiderte Sanawey ernst. Wenn eine sofortige Antwort möglich wäre, müsste er nicht alleine entscheiden. Dann könnte er diese Entscheidung an die Admiräle weiterleiten. Aber sie waren so weit von der Erde entfernt, dass selbst eine Subraumübertragung in die Heimat über zehn Stunden benötigte. Und so lange wollte er nicht warten. Da wollte er die Admiralität lieber vor vollendete Tatsachen stellen. „Ach ja, und schicken Sie die Meldung auch an Commander Jackson“, wies er sie noch an. „Sie sollte darüber Bescheid wissen, dass das Team noch einige Tage länger ohne uns auskommen muss.“ Dann stand er langsam von der Wissenschaftsstation auf und ging zum Kommandosessel hinüber.
Nerre sah ihm nach und sie bemerkte wie schwer die Last dieser Entscheidung auf ihm lag. Und seine Vertrauensperson, Chefingenieurin Brooks, war nicht an Bord. Da musste er ohne sie durch. Außerdem hatte er ja noch seine Tochter, die ihm sicherlich helfen konnte.
Nonac verschlief auch den ersten Nachmittag, den er an Bord verbrachte. So hatte er trotz seines bereits vierundzwanzigstündigen Aufenthalts auf der Republic
noch nichts vom Schiff gesehen, außer der Krankenstation und dem Konferenzraum. Am Vormittag hatte er den Führungsoffizieren von seinen Erlebnissen erzählt. Das Ganze war für ihn so anstrengend gewesen, dass er erschöpft auf seine Liege zurückgekehrt war. Der Computer überwachte nach wie vor seine Lebenszeichen, deren Ergebnisse auf einem Monitor am Kopfende der Liege angezeigt wurden. Diese Überwachung war weiterhin notwendig. Zwar befand er sich nicht mehr in akuter Lebensgefahr, doch noch immer war er sehr schwach. Ein Ausfall lebenswichtiger Funktionen war inzwischen zwar unwahrscheinlich, aber noch immer nicht ganz auszuschließen. Die schwierigste Phase hatte er jedoch überstanden. Sein Zustand stabilisierte sich und die Prognosen sahen gut aus. Wenn er erwachte, würde er ohne Hilfe aufstehen können, vielleicht sogar für kurze Zeit die Krankenstation verlassen können. Größere Kraftanstrengungen waren auf absehbare Zeit jedoch noch nicht möglich.
Der Captain hatte inzwischen entschieden, dass von Nonac keine Gefahr ausging und daher das Sicherheitsteam von der Krankenstation abgezogen. Eine Entscheidung über die Dr. Williams ganz froh war. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn bewaffnete Sicherheitsoffiziere in der Krankenstation herumstanden. Sie fühlte sich dann bei ihrer Arbeit gestört, selbst wenn die Offiziere still im Eck standen und sich nicht rührten.
„Alle Werte sind nun wieder im normalen Bereich“, las Dr. Kasatsu, Williams‘ Stellvertreterin, die Werte ab. Sie schien zufrieden mit dem Genesungsverlauf.
Williams stand in der Türe zum Büro und lehnte am Türrahmen. „Im normalen Bereich nach unseren Werten“, gab sie zu bedenken.
Kasatsu nickte. „Das ist richtig. Aber bisher hat sich der Vergleich mit den menschlichen Werten als absolut richtig erwiesen.“ Und damit hatte Kasatsu recht. Sie hatten Nonac nach menschlichen Maßstäben behandelt und die Behandlung war gut angeschlagen. Es gab keinen Grund an der Nachhaltigkeit der Wirkung zu zweifeln.
Langsam bewegte Nonac den Kopf. Offenbar hatte ihn der kurze Wortwechsel geweckt. Kurz öffnete er die Augen, schloss sie dann aber sofort wieder. Nach ein paar Sekunden versuchte er es erneut und blinzelte vorsichtig in die Helligkeit.
„Wo bin ich?“ stotterte er und versuchte eine Abwehrhaltung einzunehmen.
„Keine Sorge, Sie sind in Sicherheit. Sie sind auf der Krankenstation“, versuchte Kasatsu ihn zu beruhigen. Ihre dunklen Haare schienen Nonac aber nicht ganz so schnell zu beruhigen, wie es Williams‘ Engelshaare geschafft hatten.
Nach und nach schien Nonac seine Umgebung wahrzunehmen. Und langsam lockerte er seine angespannten Muskeln. Er schien sich zu erinnern wo er war. „Darf ich aufstehen?“ fragte er die Ärztin. Dr. Williams hatte er noch gar nicht wahrgenommen.
„Ja, natürlich“, nickte Kasatsu. „Wie fühlen Sie sich?“
Nonac richtete sich schneller auf, als man es ihm hätte zutrauen können. „Ich fühle mich ganz gut. Nur, ich habe Hunger.“ Ein Grummeln aus der Magengegend unterstrich seine Worte.
„Ich denke, dem können wir Abhilfe leisten“, lächelte Kasatsu. „Ich werde etwas zu essen kommen lassen.“
„Gibt es hier nichts, wo man zum Essen hingehen kann?“ erkundigte sich Nonac. Offenbar hatte er genug von der Krankenstation und suchte einen Vorwand, gehen zu können.
„Wir haben einen Speisesaal“, sagte die Ärztin stirnrunzelnd. „Ich weiß aber nicht, ob Sie schon fit genug dafür sind.“
„Ich fühle mich fit genug“, gab er selbstbewusst zurück.
Kasatsu lächelte wieder. „Na schön. Dann gehen Sie.“ Sie blickte kurz zu Williams‘ hinüber, um ihr Vorgehen abzustimmen.
Williams nickte zustimmend. „Aber kommen Sie nach dem Essen wieder hier her. Sonst lassen wir Sie vom Sicherheitsdienst suchen“, sagte sie amüsiert. Dann wurde sie wieder ernst. „Und falls Ihnen nicht gut ist, dann melden Sie sich sofort.“
„Vielen Dank“, nickte Nonac und machte zwei schnelle Schritte nach vorne. Dann blieb er wieder stehen und blickte an sich hinab. Er trug noch immer ein weißes, langes Hemd, die Krankenkleidung.
„Wir haben Ihnen frische Klamotten auf die Liege neben Ihnen gelegt“, lächelte Williams. „Kommen Sie, Mrs. Kasatsu. Lassen wir Mr. Nonac sich umziehen.“ Sie verließen den Raum und gingen ins Büro nebenan.
Nonac hob langsam die Klamotten hoch und schaute sie erst einmal genau an. Es waren gute Sachen. Aus Stoffen, die er nicht kannte, aber sie waren gut, das sah er sofort. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Es war ein so erhebendes Gefühl wieder richtige Kleidung zu tragen, dass er gegen seine Tränen kämpfen musste, die ihm in die Augen stiegen. Endlich konnte er sich wieder als echte Person fühlen. Wie wenig dazu schon ausreichte, wenn man gar nichts mehr hatte.
Wenige Minuten später schritt Nonac frisch eingekleidet mit leuchtenden Augen an den beiden Ärztinnen vorbei zur Tür hinaus. Ihm war direkt anzusehen, wie sehr er sich über die neuen Klamotten freute, nachdem er sich in seiner Zeit als Sklave nur mit diesen Stofffetzen hatte kleiden können.
„Sie haben ihn elegant eingekleidet“, stellte Kasatsu anerkennend fest.
„Ich dachte, das passt am besten.“ Sie selbst war auch zufrieden, als sie sah, wie gut Nonac die Klamotten standen. Man konnte fast übersehen, dass er nur noch aus Haut und Knochen bestand.
„Woher haben Sie diese Klamotten?“
„Ich habe sie in den Datenbänken des Computer gefunden und dann repliziert“, erklärte Williams ihrer Kollegin. „Es ist ein Anzug wie man ihn um die Jahrtausendwende auf der Erde getragen hatte.“
Nachdem Nonac die Krankenstation verlassen hatte lief er durch die Gänge des Schiffes und wusste erst nicht genau, wohin er sich wenden sollte. Er hatte vergessen zu fragen, wollte aber jetzt auch nicht mehr zurück, da er nicht riskieren wollte, dann womöglich doch noch auf der Krankenstation essen zu müssen. Mit großen Augen sah er sich um und erntete damit ein paar verwunderte Blicke von Crewmitgliedern, die ihm entgegen kamen. Es sprach ihn aber niemand an und er vermied ebenfalls allzulangen Blickkontakt mit anderen. Schließlich erkannte er, dass eine der Türen, durch die einige Personen kamen, zu einem Aufzugssystem führen musste. Vorsichtig betrat er den Lift und sah sich um. Hinter ihm schloss sich die Türe und er war eingeschlossen. Panik wollte in ihm aufsteigen und er musste sich beherrschen, um ihr nicht zu verfallen. Es gab nirgendwo Knöpfe oder eine andere Bedienkonsole. Keinen Hinweis darauf, wie der Aufzug funktionierte. Er kam sich vor wie eine Maus, die arglos in eine Falle getreten war. Nur machte eine Falle keinen Sinn, sie hätten ihn doch auch auf der Krankenstation festhalten können. Dann kam ihm eine Idee. Er hatte mitbekommen, dass die Beleuchtung auf der Krankenstation mit Stimmenkommandos gesteuert wurde. Und vielleicht war das bei diesem Aufzug auch so.
„Speisesaal“, sagte er laut und deutlich, kam sich dabei aber etwas lächerlich vor.
Doch zu seiner Überraschung setzte sich die Aufzugskapsel tatsächlich in Bewegung. Und noch größer war seine Überraschung, als er feststellte, dass dieser Lift nicht nur auf und ab fuhr, sondern sich auch noch seitlich bewegte. Die Fahrt dauerte keine Minute, dann öffneten sich die Türen bereits wieder. Schnell trat er hinaus, nicht dass sich die Türen vor ihm wieder schlossen. Der Rest des Weges war nicht schwer zu finden. Er hörte bereits das Klappern von Geschirr und ein Stimmenwirrwarr.
Als er den Raum betrat war ungefähr die Hälfte aller Tische besetzt. Bevor er aber an einem der Tische Platz nahm, sah er sich erst einmal um. Der Boden bestand aus Holz, ebenso die Wandverkleidung. Bilder hingen an den Wänden und luden mehr zum Schauen als zum Essen ein. Es gab zwar keine Fenster, aber die Beleuchtung wirkte fast natürlich. Wenn man nicht darüber nachdachte, dann konnte man hier vergessen, dass man sich auf einem Raumschiff befand. Langsam setzte er sich und sah sich dabei weiter um. Vor allem ein Bild war ihm aufgefallen. Es war das Gemälde einer Blume, die so tief rot leuchtete und so realistisch gemalt war, dass sie beinahe echt wirkte. Die Blumensorte war ihm fremd, aber sie gefiel ihm. Er hatte nicht damit gerechnet, jemals wieder eine Blume zu sehen. Oder andere leuchtende Farben der Natur. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihm das gefehlt hatte. Und er spürte den unbändigen Wunsch, über eine Wiese zu laufen und das Gras an den Beinen zu spüren. Er wusste, das wäre das erste was er machen würde, wenn er Suri wieder in seinen Armen hatte.
So blieb er sitzen und versank im Anblick des Bildes, während er darauf wartete, dass jemand kam und ihm das Essen brachte. Er konnte nicht wissen, dass jeder seine Speisen an den aufgestellten Replikatoren selbst holen musste. Und so blieb er einfach sitzen.
Erschöpft von ihrem Dienst ging Karja durch den Gang in Richtung der Messe. Ihre Schicht war gerade zu Ende und es waren noch drei Stunden, bis Danny sie zum Essen abholen würde. Da sie aber den ganzen Tag noch nicht zum Essen gekommen war hatte sie jetzt einen solchen Hunger, dass sie unbedingt eine Kleinigkeit essen musste. Drei weitere Stunden hungern würde sie nicht mehr aushalten.
Sie betrat den Speisesaal und das erste, das sie sah, war Nonac an einem leeren Tisch sitzen. Er sah aus, als ob er auf etwas warten würde. Offenbar hatte ihm niemand gesagt, wie er etwas zu essen bekommen konnte.
Eigentlich wollte sie alleine schnell etwas essen und sich nicht weiter mit jemandem unterhalten. Aber wie er so alleine da saß erweckte er ihr Mitgefühl. Sie hatte von Danny erfahren, was Nonac über seine Zeit bei den Adrac berichtet hatte. Und er tat ihr aufrichtig leid. Es war mit einem normalen Menschenverstand kaum nachzuvollziehen, was er erlebt und mitgemacht hatte. Und nun saß er hier wie ein Fremdkörper und wusste nicht weiter. Daher ging sie zu ihm hinüber.
„Hallo, Mr. Nonac. Mein Name ist Karja“, stellte sie sich erst einmal vor. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich würde gerne etwas zu essen bestellen“, sagte er und hielt sie offenbar für die Bedienung. „Was können Sie mir den empfehlen?“
Im ersten Moment war Karja etwas verwirrt und wusste nicht recht, was er von ihr wollte. Dann aber dämmerte es ihr und sie musste lachen. „Da scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Sie müssen sich hier Ihr Essen selbst holen“, erklärte sie ihm. „Dort hinten an der Wand stehen Nahrungsreplikatoren. Sie können dort jede bekannte Nahrung replizieren. Jede uns bekannte Nahrung“, schränkte sie wieder ein. Nicht, dass er etwas von seinem Heimatplaneten haben wollte.
„Verstehe“, nickte Nonac langsam, aber Karja war sich nicht sicher, ob er es wirklich verstand.
„Können Sie mir das zeigen?“ bat er sie.
Karja verspürte wenig Lust dazu, doch sie konnte ihn ja kaum vor den Kopf stoßen. Also nickte sie und gemeinsam traten sie zum Replikator. „Nennen Sie dem Computer einfach Ihren Wunsch und hier erscheint dann das Gewünschte“, zeigte sie auf das Ausgabefach.
„Einfach hier mit dem Gerät reden?“ hakte Nonac verwundert nach.
„Ja“, erwiderte die junge Indianerin mit erzwungener Geduld. Sie musste wieder daran denken, dass Nonacs Planet erst kurz vor der dem Durchbruch zur interstellaren Raumfahrt gestanden hatte, als er besetzt worden war. Und selbst das war schon vor Nonacs Zeit gewesen. Die Adrac hatten ihre Technologie sicherlich nie geteilt. Für ihn musste die Technik der Republic
daher unvorstellbar weit fortgeschritten sein.
„Und was können Sie mir empfehlen?“ fragte er noch einmal.
Karja seufzte. Was sollte man jemandem empfehlen, den man nicht kannte? Zumal Nonac überhaupt noch kein Gericht der Erde kannte. Und Karja wusste nicht, wie das Essen auf seinem Heimatplaneten schmeckte. Wie also sollte sie da seine Frage beantworten? Dann aber dachte sie, der Mann hatte seit Monaten, vielleicht seit Jahren oder gar noch nie etwas Richtiges zu essen bekommen. Da war es fast egal, was sie ihm empfahl. „Wissen Sie, das hängt vom Geschmack ab“, begann sie vorsichtig. „Ich esse sehr ausgewogen und kalorienarm. Sie sollten jedoch wieder etwas zulegen. Sie brauchen etwas Nahrhaftes und trotzdem nichts, das Ihren Magen jetzt überfordert.“ Sie dachte kurz nach. „Wie wäre es mit einem Fisch?“
Nonac zuckte nur mit den Schultern. Er konnte sich darunter nichts vorstellen.
„Na schön. Computer, ein Seebarschfilet mit Salzkartoffeln und Salat“, bestellte sie dann für Nonac. „Und als Dessert eine Portion mousse au chocolat.“ Sie zwinkerte Nonac zu. „Das ist gut für die Nerven. Und für die Hüften.“
Natürlich verstand Nonac den Scherz nicht, aber der Replikator schien ihn ohnehin mehr zu interessieren. Das Gerät fing an zu Summen und in der Ausgabeöffnung schimmerte ein Energiefeld auf, das sich zu dem gewünschten Gericht formte. Der Duft nach frisch gebratenem Fisch stieg ihm in die Nase und er nahm ihn genüsslich auf. „Es ist lange her, dass ich etwas so herrliches gerochen habe“, sagte er entzückt.
Karja sah ihn mitfühlend an. Sie konnte es ihm nicht verübeln, dass allein der Duft einer guten Mahlzeit ihn so kindlich erfreute.
„Sie sollten es auch probieren“, meinte sie schließlich, nachdem sie der Meinung war, Nonac hatte es nun genug betrachtet.
„Oh ja. Natürlich.“ Eilig lief er mit dem Tablett zum Tisch und fing an zu essen. Das hieß, eigentlich stopfte er es geradezu in sich hinein. So, als ob er Angst hätte, jemand würde es ihm gleich wieder wegnehmen.
Langsam folgte ihm Karja zurück zum Tisch. Sie hatte sich nun doch nichts zu essen geholt. Irgendwie war ihr der Appetit vergangen. Vermutlich hatte sie einfach zu viel an Nonacs Erzählungen denken müssen. Als sie sah wie Nonac aß, schüttelte sie leicht den Kopf. „Mr. Nonac, Sie können sich Zeit lassen mit essen“, erinnerte sie ihn.
Peinlich berührt hielt er in seiner Bewegung inne, sah sie an und schluckte. „Entschuldigung“, meinte er dann. „Das ist etwas, das man sich in einem Arbeitslager angewöhnt. Man weiß nie, ob das Essen nicht gleich wieder weggenommen wird und wann es das nächste Mal etwas gibt.“
Karja nickte nur und sie fühlte, wie ein kalter Schauer ihre Nackenhaare aufstellte. „Aber hier sind Sie unter Freunden. In Sicherheit“, erwiderte sie. Es klang zwar ein wenig abgedroschen, aber ihr fiel nichts Besseres ein. Sie hoffte, es klang trotzdem glaubwürdig.
„Danke“, lächelte Nonac, aber das Lächeln wirkte traurig. „Sie sind sehr schön, Karja. Und Sie sind sehr nett, was noch viel wichtiger ist.“ Traurig schüttelte er den Kopf. „Ich wünschte, wir hätten uns unter besseren Umständen kennen gelernt. Es tut mir leid. Wirklich. Aber ich hatte keine Wahl.“ Er stand auf, obwohl er noch nicht einmal die Hälfte gegessen hatte. „Bitte verzeihen Sie mir“, sagte er noch, dann wandte er sich um und verließ den Raum, noch bevor Karja etwas erwidern konnte.
Verwirrt schaute sie ihm nach. Sie hatte nicht verstanden, was Nonac ihr damit sagen wollte. Seine Worte ergaben überhaupt keinen Sinn. Oder hatte auch sein Verstand unter der Gefangenschaft gelitten, so dass er nun wirres Zeug redete? Aber davon hatte sie bisher noch nichts gehört gehabt. Und sie hatte auch nicht diesen Eindruck gehabt. Er schien völlig normal. Wofür entschuldigte er sich? Er hatte doch nichts angestellt. Hatte er etwas vor? Nein, das war völlig abwegig. Er war viel zu schwach und stand unter ständiger Beobachtung, als dass er etwas unbemerkt tun konnte.
„Hallo Karja“, hörte sie eine Stimme hinter sich und fuhr herum. Danijela Sircelj, eine junge Offizierin, mit der sie ab und zu zusammenarbeitete, stand hinter ihr. „Sie wirken so bedrückt. Schlechte Nachrichten?“
Nachdenklich sah Karja wieder zur Tür. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie leise. „Vielleicht.“
„Captain, wir haben das System erreicht und sind unter Warp gegangen“, meldete Reed. „Wir erreichen den Planetoiden in zehn Minuten.“
„Schiffe?“ erkundigte sich Sanawey knapp.
„Negativ“, erwiderte Sohral. „Die Sensoren können keine Schiffe entdecken.“
„Da draußen ist es verdammt leer“, sagte Reed laut. „Zu leer. Ich kann den Planetoiden nicht finden“
„Wie bitte?“ Sanawey fuhr aus dem Kommandosessel auf.
„Da gibt es keinen Planetoiden mit einer Mine“, wiederholte Reed seine Aussage. „Da gibt es nicht einmal einen Planetoiden ohne Mine. Da gibt überhaupt keine erwähnenswert großen Steine.“
„Ich muss Mr. Reed recht geben“, sagte Sohral ruhig. „Die Sensoren können an den angegebenen Koordinaten keinen Planetoiden entdecken.“
Sanawey lief es eiskalt den Rücken hinunter, als er neben den Vulkanier an die Wissenschaftsstation trat. Sein seltsames Gefühl war wieder da. Irgendetwas passte hier nicht zusammen. „Was ist los? Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht“, gab Sohral zu. „Dazu habe ich nicht genug Daten.“
„Könnten die Adrac den Planetoiden gesprengt haben, um Beweise zu vernichten, nachdem einer ihrer Gefangenen entkommen konnte?“ spekulierte der Captain auf der Suche nach einer Antwort.
„Es gibt keine Rückstände, die vom Einsatz eines Sprengkörpers zeugen“, machte Sohral diese Theorie gleich wieder zunichte. „Außerdem wären in einem solchen Fall Trümmerstücke des Planetoiden vorhanden. Deshalb schließe ich diese Möglichkeit aus.“
„Vielleicht hat Nonac auch einfach nur gelogen“, rief Reed von seiner Station her über die Brücke.
„Haben Sie nichts zu tun, Commander?“ erwiderte Sanawey barsch. Er duldete kein solches Verhalten auf seiner Brücke. Schon gar nicht in einer solchen Situation. Aber wenn Reed recht hatte, dann konnte dies eine Falle sein. Aber von wem? Nonac hatte sicherlich keine Verbindungen, die solch eine Falle einfädeln konnten. Und von den Adrac kam er, das war sicher. Sein Körper war ein eindeutiges Zeichen dafür. „Mr. Nonac hätte uns nicht anlügen können. Dazu hätte er die Daten der Sonde fälschen müssen. Ich bezweifle jedoch, dass ihm dies in seinem Zustand gelungen wäre. Außerdem hätte er kein Motiv dafür.“ Er sah Sohral an und hoffte auf eine Bestätigung, doch der Vulkanier hob nur seine rechte Augenbraue – was immer das auch heißen mochte.
Sanawey beschloss auf alles vorbereitet zu sein. „Schilde aktivieren und Waffen scharf machen“, befahl er grimmig, während er wieder zum Kommandosessel ging. „Mr. Sohral scannen Sie das gesamte System nach Anomalien. Ich will wissen, was passiert ist. Und Mrs. Nerre, rufen Sie Mr. Nonac auf die Brücke. Ich glaube, er ist uns eine Erklärung schuldig.“
„Aye“, kam von allen Seiten die Bestätigung.
Der Blick des Captains schweifte über die Brücke. Entschlossenheit sah er jedem einzelnen an. Entschlossenheit aufzuklären, was hier vor sich ging. Jeder wollte es wissen, jeder war neugierig. Und das erfüllte ihn mit Stolz und gab ihm das Gefühl, alles überstehen zu können. Mit einer solch motivierten Crew musste einfach alles gelingen.
Langsam ließ er sich im Kommandosessel nieder, als plötzlich eine solch heftige Kraft das Schiff erschütterte, dass er beinahe wieder heraus gefallen wäre.
„Bericht“, bellte er über die Brücke.
„Drei Schiffe haben uns umzingelt“, erwiderte Sohral ruhig und seine Stimme schien nicht zum ersten Mal völlig fehl am Platz zu sein. Er hatte es irgendwie geschafft schon wieder an seiner Station zu sitzen.
„Schilde runter auf sechzig Prozent“, rief Real. Erstaunen und Furcht schwang in seiner Stimme.
„Ausweichmanöver“, rief Sanawey. „Mr. Real, feuern Sie nach eigenem Ermessen. Mrs. Nerre rufen Sie die Schiffe.“
Ein weiterer Treffer ließ das Schiff heftig erzittern. Dann hörte Sanawey, wie die Republic
einige Phaserschüsse abgab. Irgendwie zweifelte er jedoch an deren Wirkung. Wenn alle drei Adrac-Schiffe die gleiche Feuerkraft besaßen, stand es schlecht um die Republic
. Dann hatten sie keine Chance. Auf einmal hatte er das Gefühl einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben, doch welchen Sinn machte diese Erkenntnis jetzt noch?
„Schilde sind auf dreißig Prozent runter und fallen weiter“, rief Real.
„Keine nennenswerten Schäden an ihren Schiffen“, meldete Drake Reed. Er war trotz der schlechten Situation bemerkenswert ruhig und arbeitete sehr routiniert.
„Captain, die Struktur der Schiffe ähnelt sehr stark dem abgestürzten Wrack, das wir gefunden haben. Demnach müsste es sich um Adrac-Schiffe handelt“, wusste Sohral noch zu berichten.
Sanawey interessierte das nur bedingt. Nun wussten sie, wer sie angriff. Aber machte das einen Unterschied? Der Kampf war entschieden, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte. Sanawey war sich dessen bewusst und machte sich auch keinerlei Illusionen über den Ausgang des Kampfes. Er empfand es einfach nur als ungerecht. Aber irgendwann musste ihn das Glück ja mal verlassen. Bisher war er aus jedem Kampf steht’s erfolgreich hervor gegangen, auch wenn es nicht allzu viele gewesen waren. Und er hatte auch nur wenige Verluste verantworten müssen. Das würde er dieses Mal wohl nicht mehr schaffen.
Er selbst hatte eigentlich ein ganz gutes Leben geführt war er der Meinung. Er konnte sich mit dem bevorstehenden Ende irgendwie arrangieren. Aber er musste an die jüngeren Crewmitglieder denken, insbesondere an seine Tochter. Sie war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Sie hätte ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt. Und nun sollte es enden?
„Mrs. Nerre?“ fuhr er zur Kommunikationsoffizierin herum. Im Hintergrund hörte er, wie die Phaser weitere Salven abgaben.
„Keine Reaktion, Captain“, kam die verzweifelte Antwort.
Verdammt, dachte Sanawey und schlug mit der flachen Hand auf die Sessellehne. Sie wurden hier einfach abgeschlachtet, ohne dass der Gegner eine Kapitulation einforderte.
Ein weiterer Treffer lies das Schiff erbeben und diesmal dauerte es länger, bis die Trägheitsdämpfer die Turbolenzen abfangen konnten. Eine Plasmaleitung auf der Brücke brach und ließ die technische Station explodieren. Der Ingenieur, der dort saß, wurde zurückgeworfen und blieb mit zerfetztem Oberkörper tot am Boden liegen. Flammen schlugen aus der Konsole an der er gesessen hatte. Rauch nebelte die Brücke ein, da die Luftreinigungssysteme ausgefallen waren. Durch das gedämpfte Licht der Brücke und durch den Qualm wirkten die pulsierenden roten Alarmlichter fast geisterhaft.
Sanawey wusste wie es stand, noch bevor er den Bericht von Reed vernahm. „Schilde sind ausgefallen. Brände auf den Decks 10, 14, 22 und 23. Die Feuerlöschsysteme arbeiten nicht. Hüllenbruch auf Deck 18. Schiffsweites versagen der Kommunikation. Warpantrieb, sowie Impulsantrieb und Manövrierdüsen sind ausgefallen. Keine Navigation mehr möglich. Elektrische Überladung der Transportersysteme. Ausfall der Waffensysteme.“ Reed schluckte einmal, dann wandte er sich um. „Weitere Meldungen sind nicht möglich. Die inneren Sensoren sind ausgefallen.“
Langsam stand Sanawey auf. Das war es dann wohl. Der nächste Treffer würde sie in Millionen kleinster Teile zerreißen. Es war nicht mehr zu vermeiden. Sie konnten dem Feind nicht mehr sagen, dass sie aufgaben, obwohl er sich auch nicht sicher war, ob dieser überhaupt zuhören würde. Auch hatte er keine Möglichkeit mehr noch einmal Kontakt zu seiner Tochter herzustellen. Er hätte sie gerne noch einmal gesehen oder wenigstens gehört.
„Mrs. Nerre, senden Sie einen Notruf an das Sternenflottenhauptquartier. Mit unseren Koordinaten“, befahl er und merkte dabei, dass er erstaunlich ruhig war, trotz der äußeren Umstände.
„Das ist nicht möglich, Captain.“ Ihre Stimme klang resigniert. „Die Adrac verhindern jegliche Kommunikation.“
Damit war es fraglich, ob jemals jemand etwas über die Vernichtung der Republic
erfahren würde. Sie befanden sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Territorium der Adrac. Dort würde wohl kaum ein Schiff der Föderation nach ihnen suchen. Es war nur zu wahrscheinlich, dass die Republic
ein weiteres vermisstes Schiff werden würde, dessen Akten irgendwann im Archiv verschwanden mit einer großen Aufschrift: „Nicht abgeschlossen.“ Vielleicht würden Historiker in zwei- oder dreihundert Jahren den Fall klären können.
Sanaweys Blick fiel wieder auf den flimmernden Bildschirm. Das Bild war noch da, auch wenn es von Rauschen und Rieseln durchzogen war. Die drei Adrac-Schiffe hatten die Republic
umstellt. Sie waren weitaus kleiner als das Sternenflottenschiff, aber auch weitaus wendiger und schneller. Ihre Größe und ihr pfeilförmiges Design musste ihnen eine beeindruckende Manövriermöglichkeit geben, auch unter atmosphärischen Bedingungen. Dagegen wirkte die Republic
fast schwerfällig und plump, auch wenn Sanawey das nie so empfunden hatte. Und die drei fremden Schiffe waren trotz ihrer geringen Größe äußerst stark bewaffnet. Eigentlich waren es mehr fliegende Waffen, die nur dem Zwecke der Zerstörung dienten.
„Was ist los?“ fragte Sanawey nach einigen Minuten. „Worauf warten sie noch?“ Fragend blickte er zu Sohral hinüber. Die Angreifer blieben reglos im All liegen, so als ob sie es genießen würden zuzusehen, wie ihr Opfer langsam starb.
„Unbekannt“, antwortete Sohral und fing an, seine wenigen noch brauchbaren Instrumente einzusetzen. „Ohne Sensoren ist es schwer Informationen zu sammeln“, sagte er, obwohl er überzeugt davon war, dass der Captain das wusste.
„Versuchen Sie es trotzdem. Mr. Real“, wandte er sich an den Sicherheitschef. „Gehen Sie in den Maschinenraum und versuchen Sie sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Anschließend kehren Sie hierher zurück und erstatten Bericht. Vielleicht ist doch noch nicht alles zu spät.“ Hoffnung keimte in Sanawey auf und er spürte wie seine Motivation zurückkehrte.
„Aye, Captain“, bestätigte Real und stand auf.
In diesem Moment öffnete sich der Turbolift und Nonac betrat langsam die Brücke. Sein Blick ging zum Bildschirm und Angst schimmerte deutlich in seinen Augen. Er war blass und zitterte ein wenig. Offenbar hatte er die Schiffe als Adrac-Schiffe erkannt.
Wenigstens der Hauptlift funktioniert noch, dachte Sanawey während Real den Aufzug betrat. Dann fiel sein Blick auf Nonac. „Was geht hier vor?“ funkelte er ihn wütend an. „Diesen Planetoiden gibt es gar nicht. Stattdessen werden wir angegriffen. Machen Sie gemeinsame Sache mit den Adrac?“ Die Worte sprudelten nur so aus dem Captain heraus, und erst als er sie ausgesprochen hatte merkte er, was er da gesagt hatte. Die Möglichkeit, die er bisher so kategorisch abgelehnt hatte, warf er Nonac nun an den Kopf.
Nonac’s verängstigter Blick wechselte zwischen Bildschirm und Sanawey hin und her. „Bitte Captain, Sie müssen das verstehen. Ich... ich...“, brachte er mühsam hervor.
„Verdammt, jetzt langt es aber“, brüllte Sanawey ihn an. Er war mit seiner Geduld am Ende und fühlte sich von Nonac hintergangen. Dieser Mann hatte sein Vertrauen erschlichen, sein Mitgefühl erbettelt und ihn dabei die ganze Zeit nur belogen. Und am Ende hatte Nonac ihn hintergangen und in eine Falle geführt. Jetzt wollte er wenigstens den Grund dafür wissen, bevor er starb.
„Captain, die Schiffe nähern sich“, mischte sich Sohral ein und verhinderte somit, dass Nonac antworten konnte. „Es deutet alles darauf hin, dass sie die Enterung der Republic
vorbereiten.“
„Ihr Schiff ist kampfunfähig“, meldete der erste Waffenoffizier seinem Vorgesetzten. „Sie können keinen weiteren Widerstand mehr leisten.“ Begeisterung lag in seiner Stimme. Was nicht sonderlich verwunderlich war. Er war noch sehr jung und dies war sein erster Kampfeinsatz, den er gleich mit Bravur gemeistert hatte.
„Zügeln Sie Ihre Emotionen, Resoc“, mahnte der Kommandant. „Dieses Schiff war leicht zu besiegen.“ Mit seinen Krallenhänden deutete er auf den Bildschirm, der die steuerlos treibende Republic
zeigte. Mehrere Feuer brannten auf der Außenhülle, genährt durch ausströmenden Sauerstoff. „Es war nicht annähernd so gefährlich, wie es geheißen hatte. Ein Schiff alleine hätte ausgereicht, um es aufzubringen.“
Kolar Nabac betrachtete grimmig die Darstellung seiner zwei Begleitschiffe. Es war ein viel zu leichter Sieg gewesen. Und den musste er sich auch noch mit zwei weiteren Kommandanten teilen. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Zwar war er Oberbefehlshaber bei dieser Mission, aber der Ruhm wäre weitaus größer gewesen, wenn er alleine das Schiff besiegt hätte, das die Götter als so gefährlich eingestuft hatten. Vielleicht hätte man dann als Belohnung einige Schiffe unter sein Kommando gestellt und ihn zum Flottenkommandanten ernannt.
„Kolar Nabac“, riss eine Stimme ihn aus seinen Gedanken.
„Was gibt es, Nuric?“ wandte er sich sofort dem Mann zu. Wenn Nuric sich zu Wort meldete musste es wichtig sein, denn ansonsten zog es der Wissenschaftsoffizier vor zu schweigen. Er war viel zu schüchtern und loyal, um von sich aus das Wort zu ergreifen. Eine Tatsache, die Nabac sehr schätzte. Es war ein potentieller Gegner weniger, der nach seinem Posten trachtete.
„Die Sensoren registrieren etwas mehr als vierhundert Lebewesen an Bord des fremden Schiffes. Weit mehr als uns gesagt wurde“, berichtete Nuric besorgt. Er schätzte es nicht, wenn es unliebsame Überraschungen gab, die so nicht eingeplant waren.
Nabac wusste was das hieß. Sie hatten insgesamt nur Platz für knapp zweihundert Personen. So gesehen war es doch gut, dass sie mit drei Schiffen hier waren. Sonst wäre ihre Ausbeute noch geringer ausgefallen. „Wir werden wohl einige Lebewesen auf dem Schiff zurücklassen müssen“, entschied er dann. „Wir werden uns nur die Besten und Stärksten heraussuchen. Es wird eine einmalige Auswahl an Sklaven sein, die wir nach Hause bringen.“ Er war begeistert. Diese Auswahl würde ihn reich machen. Und berühmt. Die Götter würden zufrieden mit ihm sein.
„Wir könnten das Schiff abschleppen“, schlug Resoc vor.
„Auf Ihren Posten, erster Waffenmaat“, bellte Nabac ihn an. Wie konnte dieser Jungspund ihm auf der Brücke vor allen anderen Offizieren einen Vorschlag machen? Unter Adrac war das ein absolutes Tabu. Allein seine Jugend und der momentan noch nicht beendete Einsatz bewahrten ihn vor der sofortigen Exekution. Und weil Nabac noch große Pläne mit ihm hatte.
Kein Adrac würde es je wagen, seinem Kolar einen Ratschlag zu geben. Dies würde den Anschein erwecken, dass man den Kommandanten des Schiffes für unfähig hielt und seine Entscheidungen in Frage stellte. Es kam einer Herausforderung gleich und konnte nur mit dem Tod einer der beiden enden. Denn ein Kolar war unfehlbar, sonst wäre er nicht zum Kolar ernannt worden.
„Dieses Schiff war lange nicht so mächtig wie wir dachten, daher ist diese Technologie für uns nicht von Bedeutung. Und sie ist die Verschwendung von Ressourcen nicht wert, die das Abschleppen verursachen würde. Und zweihundert weitere Sklaven sind es ebenso wenig“, erklärte er aber dennoch, um der Crew zu beweisen, dass er natürlich an alles gedacht hatte. So konnte er eventuelle Zweifler sofort wieder von seinen Führungsqualitäten überzeugen.
Resoc nickte eifrig, um dann schnell und wortlos zu seinem Posten zurückzukehren. Ihm war sein Fehler bewusst geworden. Nur aufgrund der guten Laune seines Vorgesetzten war er mit dem Leben davon gekommen und er war nicht gewillt es noch einmal zu riskieren.
„Teilen Sie den anderen Schiffen mit, dass wir mit der Enterung beginnen“, befahl Nabac stolz.
Sein Befehl wurde ausgeführt. Langsam näherten sich die drei Schiffe der Republic
. Eine Gangway wurde ausgefahren, dessen vorderes Ende sich durch die Hülle der Republic
bohrte und den Bruch dann luftdicht verschloss, so dass ein risikofreier Durchgang zwischen beiden Schiffen entstand. Die Enterung konnte beginnen.
„Sie haben an drei Stellen die Außenhülle durchbrochen“, rief Reed aufgeregt. „Ich vermute, dass sie nun Entermannschaften schicken.“
Sanawey stand noch immer vor dem Kommandosessel. Grimmiger Zorn stand ihm ins Gesicht geschrieben. Auf keinen Fall würde er es zulassen, dass die Adrac sein Schiff in die Hände bekamen. Niemals. Schon allein der Versuch würde sie teuer zu stehen kommen. Er würde sie bezahlen lassen für diese Anmaßung.
„Wir warten noch einige Sekunden, bis ihre Truppen an Bord sind“, sagte Sanawey mehr zu sich selbst. Zornig beobachtete er den Bildschirm, der die Angreifer zeigte. Noch ahnten diese nicht, was sie erwartete. Und wenn sie es merkten, dann würde es zu spät sein. Da die Kommunikation ausgefallen war konnte er nicht einmal ein paar Sicherheitsleute zu den Eindringlingen schicken, um sie aufzuhalten. Es gab somit nur einen Weg die Angreifer aufzuhalten.
Die Zeit schien nicht zu vergehen zu wollen. Die Sekunden zogen sich dahin. Zumindest kam es Sanawey so vor. Dann entscheid er, dass der geeignetste Zeitpunkt gekommen war. „Computer“, hob er seine Stimme. Identifizierung. Captain Sanawey.“
„Identifikation bestätigt“, erwiderte der Computer monoton.
„Zerstörungssequenz eins, Code eins, eins A.“
„Bestätigt.“
Sanawey wandte seinen Blick seinem momentanen Stellvertreter Drake Reed zu. Er musste nun ebenfalls den Befehl zur Selbstzerstörung des Schiffes eingeben. So sehr er manchmal gegen Protokolle und Vorschriften rebellierte, er war doch Offizier genug, um zu erkennen, dass es für sie keinen Ausweg mehr gab. Und nun galt es vor allem zu vermeiden, dass Daten und Technologie des Schiffes dem Feind zufielen.
Er schluckte noch einmal. „Computer, Identifizierung Lieutenant Commander Drake Reed.“
„Identifikation bestätigt.“
„Zerstörungssequenz zwei, Code eins, eins A, zwei B.“ Reeds Stimme war fest und er war sich der Unausweichlichkeit bewusst.
„Bestätigt.“
Nun fehlte noch der Befehl eines weiteren Offiziers. Sanawey sah sich auf der Brücke um. Remog und Nerre kamen nicht in Frage. Sie verfügten nicht über die Berechtigung die Selbstzerstörungssequenz zu starten.
„Mr. Sohral“, bat er den Vulkanier.
„Computer, Identifikation Lieutenant Sohral.“ Es war dem Vulkanier nicht anzusehen, was er dachte, ob er etwas fühlte. Der Rest der Crew sah dem nahen Tod mit gemischten Gefühlen entgegen, was man ihnen auch ansah. Nur Sohral wirkte so ruhig wie immer. Man konnte meinen er würde eine absolut harmlose Tätigkeit durchführen, etwa so, als bestelle er in einem Restaurant etwas zu essen.
„Identifikation bestätigt.“
„Zerstörungssequenz drei, Code eins B, zwei B, drei.“
„Bestätigt.“
Die Zerstörungssequenz war nun aktiviert. Es lag jetzt an Sanawey durch einen letzten Befehl die Selbstzerstörung zu starten. Ein letzter Befehl. Es würde der letzte sein, den er jemals geben würde. Sanawey sah nochmals auf den Bildschirm. Er wollte wissen wie weit die Adrac schon im Schiff waren. Denn er wollte alle mitnehmen. Auch die drei Schiffe würden von der Explosion erwischt werden. Sanawey hoffte, dass sie nicht nur beschädigt sondern mit zerstört werden würden. Aber eine Garantie gab es dafür nicht.
Seufzend holte er noch einmal tief Luft. „Code null, null, null. Zerstörung. Null.“
Es war geschehen. Ihr Ende war besiegelt. Aber nicht nur ihres, auch das der Adrac. Ein schwacher Trost, aber immerhin ein kleiner. Wieso er in diese Falle gegangen war, diese Frage schoss ihm noch einmal durch den Kopf und dann die Erinnerungen an seine Tochter, die er noch nicht sehr lange kannte. Schade, er würde sie nie besser kennen lernen.
„Start der Zerstörungssequenz nicht möglich“, erklärte der Computer schlicht.
„Was?“ fuhr Sanawey schockiert zu Sohral herum. „Was ist passiert?“
Der Vulkanier sah ihn nur an. Ohne Sensoren war er von der Brücke aus machtlos. Der Fehler konnte irgendwo in den Eingeweiden des Schiffes stecken. Es war völlig unmöglich ihn jetzt noch zu beheben.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des linken Turboliftes und bewaffnete Adrac-Truppen stürmten die Brücke. Sanawey musste hilflos mit ansehen, wie seine Brückencrew zusammengetrieben wurde und die Adrac sein Schiff übernahmen.
Sicherheitschef Real hatte von der Brücke aus den rechten Turbolift in der Absicht betreten, in den Maschinenraum zu gelangen. Captain Sanawey wollte einen Lagebericht vom leitenden Ingenieur. Und nach dem Ausfall der Kommunikation war ein Botengang der einzige Weg irgendetwas aus anderen Teilen des Schiffes in Erfahrung zu bringen. Er war sich allerdings nicht sicher, ob das Sinn machte. Auf diese Weise ging einfach zu viel Zeit verloren. Bis der Captain wusste, was im Maschinenraum vor sich ging konnte sich die Situation schon wieder entscheidend verändert haben.
Dass er im Maschinenraum noch jemanden antreffen würde stand für ihn außer Frage. Das Schiff war zwar stark beschädigt, die letzten Sensorendaten hatten aber keinen Grund zu der Vermutung gegeben, dass im Rest des Schiffes alle tot waren. Zumindest noch nicht. Real selbst hatte sich schon darauf eingestellt gehabt zu sterben. Und wenn es normal gelaufen wäre, dann wären sie jetzt auch schon alle tot. Aber die Adrac hatten aus unerfindlichen Gründen das Feuer eingestellt. Diese Aktion war so überraschend gewesen wie der Angriff selbst. Und Real bereitete das mehr Unbehagen als die Aussicht zu sterben. Denn da wusste er wenigstens was passieren würde. So hatte er wie alle anderen keine Ahnung was auf sie zukam. Und diese Ungewissheit war äußerst belastend. Sie waren auf Gedeih und Verderb dem Feind ausgeliefert und er konnte mit ihnen Katz und Maus spielen, gerade wie es ihm beliebte.
Gedankenverloren hatte er auf die pulsierenden Lichter an der Kabinenwand gestarrt, die bei jedem Deck, das er passierte, kurz aufleuchteten und dann wieder verblassten. Er hätte nicht mehr sagen können an was genau er in jenem Moment gedacht hatte. Sie waren so schnell in diese Situation gekommen und standen dem Tod so plötzlich gegenüber, dass der Verstand das gar nicht so schnell begreifen konnte.
Aber plötzlich wurde die Liftkapsel heftig geschüttelt. Real wurde zuerst gegen die Wand und dann zu Boden geschleudert. Es krachte und ächzte im Stahl des Schiffes, dann war alles still.
Mühsam hob Real den Kopf und stöhnte. Seine linke Gesichtshälfte brannte und auch die linke Hüfte schmerzte. Ohne die Chance sich irgendwie abzufangen war er mit seiner linken Körperhälfte gegen die Wand gekracht. Da der Lift keine scharfen Kanten hatte, hatte er auch keine äußerlichen Verletzungen davon getragen. Aber mögliche innere Verletzungen, die man von außen nicht sah, bereiteten ihm ohnehin mehr Kopfzerbrechen. Da er aber kein Arzt war und sich einigermaßen bewegen konnte, ohne sich vor Schmerzen krümmen zu müssen, beschloss er sich keine Gedanken machen zu müssen. Mit einer schnellen Bewegung rollte er sich erst auf die rechte Seite und dann auf den Rücken. Eine leichte Übelkeit erfasste ihn und er musste für einen Moment still liegen bleiben. Daher starrte er zuerst an die Decke, dann an die Wand. Das Licht pulsierte nicht mehr sondern leuchtete gleichmäßig matt. Die einzige Lichtquelle, die die Liftkapsel erhellte. Das eigentliche Licht war ausgefallen. Das bedeutete, der Lift bewegte sich nicht mehr. Er steckte fest.
Aber was war geschehen? Hatten die Adrac das Feuer wieder eröffnet? Das war ziemlich unwahrscheinlich. Die Republic
hätte einen weiteren Treffer nicht mehr ausgehalten. In dem Fall müsste er jetzt tot sein. Vielleicht war aber auch im Schiff etwas explodiert und hatte die Energieversorgung unterbrochen. Oder die Enterung des Schiffes stand an. Es gab viele Erklärungen, aber nur einen erneuten Angriff konnte er definitiv ausschließen.
Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden was passiert war. Er musste hier raus. Und zwar so schnell wie möglich. An der Decke der Kapsel gab es eine Notausstiegsluke. Die musste er erreichen, dann konnte er den Aufzugsschacht hinaufklettern und durch eine der Aufzugstüren auf den Gang hinauskommen.
Er wollte aufstehen, aber ein plötzliches Schwindelgefühl ließ ihn wieder zurückfallen. Offenbar hatte sein Kopf doch mehr abgekommen als er gedacht hatte. Sein Körper machte nicht das was er sollte. Auch seine linke Körperhälfte tat nach wie vor weh. Das Schwindelgefühl machte ihn ein wenig benommen. Übelkeit stieg in ihm auf und er musste die Zähne zusammenbeißen und seine ganze Konzentration aufwenden, um dagegen anzukämpfen. Nur ganz langsam ließ die Übelkeit nach, aber sie verschwand nicht ganz. Trotzdem versuchte er es erneut. Doch auch der zweite Versuch aufzustehen endete ähnlich erfolglos. Die Übelkeit kehrte mit Macht zurück und er konnte sich gerade noch auf die Seite rollen bevor er sich übergeben musste. Der Zusammenstoß seines Kopfes mit der Wand war doch schlimmer gewesen als er zuerst vermutet hatte. Vor seinen Augen drehte sich alles und er wusste nicht mehr wo oben und unten war. Schwer atmend lag er da und versuchte wach zu bleiben. Doch er schaffte es nicht. Vor seinen Augen wurde es langsam dunkel, dann verlor er das Bewusstsein.
„Das Föderationsschiff ist in unserer Hand“, meldete Resoc stolz. „Es gab keinen nennenswerten Widerstand. Keiner unserer Leute wurde verletzt. Ein Erfolg auf der ganzen Linie.“
„Ja“, erwiderte Nabac nur. In ihm wollte sich einfach kein Triumphgefühl einstellen. Der Sieg war viel zu einfach gewesen, die Gegenwehr geradezu lächerlich. So etwas brachte keinen Ruhm ein. Wäre er der Captain des fremden Schiffes gewesen, er hätte nicht so schnell aufgegeben. Aber vielleicht war die Technik der Föderation den Adrac ja wirklich weit unterlegen. Wenn das der Fall sein sollte, dann sollten die Götter so schnell wie möglich einen Angriff befehlen. Es würde ein lohnender und erfolgreicher Krieg werden. Und wenn es nach ihm ginge, würde dieser Krieg besser heute als morgen starten. Doch ihm stand es nicht zu, den Göttern einen solchen Vorschlag zu machen. Niemand durfte das. Die Götter in ihrer Weisheiten wüssten was zu tun wäre.
Nabac versuchte sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Er wollte sich diese Menschen einmal anschauen. Bisher hatte er noch keinen gesehen. Er hätte von ihnen gehört, wenn die Kontaktpersonen zu den Göttern von ihnen gesprochen hatten. Die Götter scheinen großen Respekt vor dieser Spezies zu haben. Und er hatte von den Menschen des anderen Föderationsschiffes gehört, das vor Monaten aufgebracht worden war. Auch sie hatten nicht viel Gegenwehr geleistet. Dafür waren sie als Sklaven umso widerspenstiger gewesen. Egal welche Strafe man angewandt hatte um sie zu disziplinieren, es war zwecklos gewesen. Daher waren alle verkauften Sklaven wieder zusammengetrieben und in die Minen gebracht worden. Dort konnten sie keinen Schaden mehr anrichten.
Einen Kontakt zu den Menschen hatte Nabac allerdings schon gehabt, doch nur schriftlich. Eine seltsame Form der Kommunikation, aber dieser Mensch hatte darauf bestanden. Und er hatte ihm einen Deal vorgeschlagen, den er nicht ablehnen konnte. Nur deshalb hatte er sich auch dazu herabgelassen, mit einem Menschen zu sprechen. Denn eigentlich lag ein Gespräch mit einer minderen Spezies unter seiner Würde.
„Ich werde hinüber gehen und mit dem Commander des Schiffes sprechen“, gab er der Crew seine Absichten bekannt. Sie sollten die Gänge auf dem fremden Schiff schützen, um kein Attentat auf sein Leben zuzulassen. Obwohl er bezweifelte, dass die Menschen im Moment dazu in der Lage wären.
„Aber es sind Sklaven“, protestierte Resoc empört. „Mindere Geschöpfe, die bestimmt sind für uns zu arbeiten. Sie sind es nicht wert, dass Sie sie ansprechen.“
„Bis vor wenigen Augenblicken waren es noch unsere Gegner im Kampf und keine Sklaven“, entgegnete Nabac mit gepresster Stimme. Die ständigen Widerworte Resocs dufte er nicht mehr lange tolerieren, wenn er seine Autorität nicht verlieren wollte.
Resoc blickte noch immer finster, zog es aber vor erst einmal zu schweigen. Für ihn blieben es mindere Geschöpfe, egal ob sie Gegner oder Sklaven waren. Es gab nur eine wahre Rasse und das waren die Götter und deren auserwählten Helfer, die Adrac. Aber jedes weitere Wort gegen den Kolar konnte seinen Tod bedeuten, darum fügte er sich. „Wollen Sie ihnen Verhaltensregeln für den Sklavenmarkt beibringen?“ fragte er aber dennoch und er konnte einen leichten höhnischen Unterton nicht vermeiden.
„Ich bezweifle, dass wir sie auf dem Sklavenmarkt verkaufen können“, erwiderte Nabac nachdenklich. „Erinnern Sie sich nur an unsere Erfahrungen mit dieser Spezies. Sie ist aufrührerisch und rebellisch. Und extrem aggressiv. Sie können sich nicht in ihr Schicksal fügen. Als Minenarbeiter könnten sie nützlich sein, aber sonst wohl zu nichts.“
Resoc neigte seinen Panzerschädel ein wenig zur Seite. „Verzeiht mir, Kolar Nabac“, sagte er unterwürfig. „Sie haben wie üblich bereits an alles gedacht.“
Natürlich hatte er das. Er durfte sich schließlich auch keine Unsicherheit erlaubt. Ein Kolar täuschte sich nie. Er war über jeden Zweifel erhaben und unfehlbar. Und diesen Eindruck galt es zu wahren.
In Gedanken musste Nabac lächeln. Aber nur in Gedanken. Ein echtes Lächeln war ihm aufgrund seiner Physiologie gar nicht möglich. Das konnte kein Adrac. Nur laut und herzhaft lachen, was ziemlich schaurig klang. Aber auch das stand einem Kolar im Dienst nicht zu. Und da er immer im Dienst war lachte er auch nie.
Resoc war ein exzellenter Waffenoffizier. Er war noch jung und sehr neugierig. Eine gute Voraussetzung, dass er es in seinem Leben noch weit bringen konnte. Wobei Nabac ihn fördern wollte, ohne großes Aufsehen zu erregen. Es war immer gut im Alter noch Beziehungen zu etwas jüngeren Offizieren zu haben. Trotzdem durfte er dabei kein Risiko eingehen. Wenn er Resoc zu viel Freiraum ließ, konnte dieser sich eines Tages gegen ihn stellen. So weit durfte es nicht kommen.
„Wollen Sie mich begleiten?“ bot er seinem ersten Waffenoffizier an.
„Es wäre mir eine Ehre“, erwiderte Resoc.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ Nabac das Kommandodeck. Resoc folgte ihm sofort. Schweigend liefen sie durch das Adrac-Schiff, bis zum Durchgang, der die Schiffe verband. Der Korridor war nicht sehr stark beleuchtet und die Wände in einem schlichten grau gehalten.
Umso größer war das Entsetzten bei Nabac und seinem Begleiter, als sie das Föderationsschiff betraten und es sie in strahlend hellem Weiß und einer geradezu verschwenderischen Beleuchtung empfing.
„Wie können die Menschen nur in einer solch hellen Umgebung leben? Das tut ja in den Augen weh“, klagte Resoc. Die Fassettenaugen der Adrac waren völlig ungeschützt. Ihnen fehlte das Gegenstück eines Augenliedes. Deshalb blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Helligkeit einfach zu ertragen.
„Hören Sie auf zu jammern“, mahnte Nabac streng. „Das ist eines Adrac nicht würdig.“
„Ich wollte Sie nicht beleidigen“, sagte Resoc schnell. „Ich wollte nur mein Entsetzen über dieses Schiff zum Ausdruck bringen.“
„Kommen Sie, bringen wie es hinter uns.“
In der Nähe des Durchbruches stand ein Posten als Wache. Er sollte vermeiden, dass ein Mensch, der ihrer Enterung entgangen war, auf das Adrac-Schiff gelangte. Es wäre ja immerhin möglich, dass die Menschen auch das Gefühl der Rache besaßen und das Adrac-Schiff sabotieren wollten.
„Führe uns zur Brücke“, befahl Nabac der Wache.
Dieser nickte nur kurz und ging dann voraus. Er hatte einen Befehl erhalten. Und er befolgte ihn blind, auch wenn nun keiner mehr den Durchgang bewachte. Aber daran hatte der Kolar sicherlich gedacht. Deshalb war er ja Kolar.
Sie betraten die Brücke durch den linken Turbolift. Vor Nabacs Blick tat sich ein geräumiges rundes Deck auf. An der Wand entlang waren verschiedene Konsolen angebracht, nur unterbrochen durch zwei Turboliftzugänge und den großen Bildschirm. Der Raum besaß in der Mitte noch ein Unterdeck, das zwei Stufen tiefer lag. Dort befanden sich ebenfalls zwei Konsolen, die auf den Bildschirm ausgerichtet waren und dahinter, exakt in der Mitte des gesamten Raumes, der Kommandosessel. Die Gestaltung des Raumes war sicherlich effizient, auch wenn Nabac es nie zulassen würde, dass jemand hinter ihm arbeitete.
Die gesamte Brückencrew war auf dem Unterdeck zusammen getrieben, während die Adrac-Krieger auf dem Oberdeck standen und ihre Waffen auf die Menschen richteten.
Einer der Menschen, ein etwas älterer Mann mit rotbrauner Hautfarbe und langen, silbergrauen Haaren trat vor, als Nabac die Brücke betrat. Demnach musste er etwas wichtiges sein.
„Ich bin Captain Sanawey“, sagte der Mensch mit fester Stimme, die keineswegs eingeschüchtert klang. „Ich verlange mit dem kommandierenden Offizier der Adrac sprechen zu dürfen.“
Einer der Adrac kam näher und hielt Sanawey die Waffe direkt vor die Nase. Nabac hob seine Krallenhand und sofort zog sich die Wache einige Schritte zurück.
„Was bedeutet Captain
?" fragte Resoc neugierig.
„Ich kommandiere das Schiff“, erwiderte Sanawey finster.
„Also das Pendant zu einem Kolar“, stellte Resoc interessiert fest.
Nabac hörte einfach nur zu. Auf diese Art kam er zu Informationen, ohne dass er auch nur eine Frage stellen musste. Was seinem Ansehen als unfehlbarem und allwissendem Kolar nur zugutekam.
„Sie sind aber nicht der Befehlshaber Ihrer Schiffe?“ wandte Sanawey sich an Resoc, da dieser bisher auch das Wort geführt hatte, aber es klang wie eine deutliche Feststellung.
„Nein, ich bin nicht der Kolar“, wehrte Resoc sofort ab. Auf keinen Fall wollte er den Eindruck einer Anmaßung vor seinem Vorgesetzten entstehen lassen.
„Dachte ich mir. Sie sind es, nicht wahr?“ wandte sich der Mensch nun direkt an Nabac.
Dieser war etwas überrascht, was man ihm jedoch nicht ansah. Zumindest ein Mensch konnte das nicht sehen. „Wie kommen Sie darauf?“ wollte er wissen.
„Sie haben nur mit der Hand ein Zeichen gegeben und Ihr Crewmitglied zog sich zurück. Aber ich werde hier bestimmt kein Rätselraten mit Ihnen anfangen.“ Sanawey war sauer und er wollte alles tun, um wenigstens seine Crew zu retten. Für sich selber machte er sich keine großen Hoffnungen.
Beeindruckend, dachte Nabac. Offenbar waren auch zwei einfache Augen im Stande Kleinigkeiten zu sehen. Bisher war er überzeugt gewesen, Facettenaugen wären die Krönung der Evolution. Oder aber dieser Captain war einfach außergewöhnlich klug und scharfsinnig für einen Menschen. „Ja“, bestätigte er dann stolz. „Ich bin Kolar Nabac. Ihr Schiff wird hiermit konfisziert. Sie und Ihre Crew sind ab sofort Eigentum des Adrac-Empire. Sie werden tun, was Ihnen befohlen wird, ansonsten werden wir Sie angemessen bestrafen. Und Sie werden nur noch auf eine Aufforderung hin sprechen“, verkündete er laut, so dass jeder es hören konnte.
„Das ist ja wohl lächerlich“, brach es aus Reed heraus.
Sofort kam ein Adrac-Krieger näher und schlug Reed mit seiner Waffe kräftig gegen den Kopf. Bewusstlos brach Reed zusammen und blieb regungslos am Boden liegen. Nerre wollte sich um ihn kümmern, wurde aber von dem Adrac unsanft daran gehindert.
Gerade als Captain Sanawey dagegen protestieren wollte, öffneten sich die Türen des linken Turboliftes und hinderten Sanawey daran etwas zu sagen. Ein weiterer Adrac-Krieger trat ein und hielt Nonac mit seinen Krallenhänden fest. Offenbar hatte sich dieser während des Überfalls schnell wieder von der Brücke verzogen, obwohl das niemandem der Brückencrew aufgefallen war.
„Er hat verlangt Sie zu sprechen“, meldete der Krieger und trat dann einige Schritte zurück.
„Ich habe Ihnen die Republic
gebracht“, legte Nonac sofort los. Vor dem Adrac versuchte er möglichst energisch aufzutreten, aber seine Stimme zitterte. „Damit habe ich meinen Teil der Vereinbarung eingehalten. Und jetzt sind Sie dran.“
Sanaweys Blick schweifte zwischen Nonac und Nabac hin und her, während sein Gehirn die Informationen verarbeitete. Nonac hatte tatsächlich mit den Adrac zusammengearbeitet. Es war eine wohl angelegte Falle und Nonac war der Köder gewesen. Die Adrac hatten offenbar gewusst, dass die Sternenflottenoffiziere sich bei dieser Geschichte nicht zurückhalten konnten. Sie hatten den humanitären Gedanken der Sternenflotte ausgenutzt. Und Nonac hatte dabei auch noch mitgespielt, obwohl er die Misshandlungen tatsächlich erlebt hatte. Sein Körper sprach eine deutliche Sprache. Welche Teile seiner Geschichte stimmten? Vermutlich kaum welche. Und welchen Vorteil hatte er von der Sache?
Es war einfach zu unglaublich für Sanawey. Nonac hatte ihn vollkommen überzeugt gehabt. Er hatte nicht den geringsten Verdacht gehegt. Dazu hatte Nonac viel zu ehrlich gewirkt. Und auch seine Verletzungen trugen als überzeugendes Argument bei. Es hatte an ein Wunder gegrenzt, dass er noch am Leben war, als sie ihn gefunden hatten. So viel hatte er durch die Adrac erleiden müssen, es schien so völlig abwegig, dass er diesen Teufeln helfen könnte. Doch nun wurden sie eines besseren belehrt.
Nabac sah Nonac nur an und sagte kein Wort. Nichts deutete darauf hin, was in dem Adrac vor sich ging. Er stand da wie eine Statue. Und verunsicherte Nonac damit völlig. Seine eben noch so fordernde Haltung brach völlig in sich zusammen.
„Sie haben mir meine Freiheit versprochen. Und die Suri’s ebenfalls“, brachte Nonac nun sichtlich eingeschüchtert hervor.
Und Sanawey kannte nun Nonac’s Motiv. Er konnte es sogar ein wenig verstehen. Wenn man ihm einen solchen Auftrag erteilen würde und im Gegenzug seiner Tochter nichts geschehen würde, wäre es für ihn als Vater auch schwer eine Entscheidung zu treffen. Jedoch hatte er eine Ausbildung in der Sternenflotte genossen. Daher wusste er, dass er auf eine solche Bedingung niemals eingehen durfte. Auch wenn das den Tod seiner Tochter bedeuten würde.
Nabac sah Nonac noch eine Weile schweigend an, dann meinte er langsam: „Ihre Belohnung bekommen Sie sofort.“ Ohne ein weiteres Wort zog er seine Waffe und schoss.
Tödliche Energie traf Nonac am Bauch. Er schaffte es gerade noch einen erstickten Schrei von sich zu geben, dann löste er sich auf. Übrig blieb nur noch atomarer Staub.
Reflexartig trat Sanawey einen Schritt vor. „Was soll das?“ protestierte er. „Hat das sein müssen?“
Ein Adrac-Krieger versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, dass er zurücktaumelte. Aber er blieb stehen. Blut lief ihm aus der Nase. Nach einem kurzen Abtasten war er sicher, dass sie nicht gebrochen war.
„Ich sagte doch, Sklaven reden nicht“, drohte Nabac ruhig, betonte aber jedes Wort. „Das sollten Sie lernen, wenn Sie überleben wollen.“
Sanawey wollte erneut dagegen protestieren, aber Sohral hielt ihn zurück. Mühsam unterdrückte der Captain seinen Zorn. Sohral hatte recht. Sie waren nun in der Hand der Adrac und ihnen ausgeliefert. Und im Moment gab es keine Möglichkeit das zu ändern. Sie mussten ihre Kräfte für einen besseren Zeitpunkt bewahren. Es ergab keinen Sinn sich für eine nutzlose Aktion verletzen oder gar töten zu lassen. Widerwillig fügte Sanawey sich seinem Schicksal. Zornig sah er Nabac in dessen Facettenaugen, schwieg aber.
Nabac wunderte sich nur über Sanawey. Warum regte der Mensch sich so sehr auf, wenn ein anderer getötet wurde? Ihn hätte es nicht interessiert. Ihn konnte man auch nicht erpressen, indem man seine Crew bedrohte. Die war ihm doch egal. Er brauchte sie um seine Ziele zu erreichen, aber interessieren tat ihn die Mannschaft nicht. Jeder war sich selbst der nächste. Sollte seine Crew doch sterben, wenn es ihm zum Vorteil gereichte. „Bringen Sie die neuen Sklaven in unsere Schiffe.“
Resoc nickte knapp und gab dann den Kriegern Anweisungen zum Abtransport.
„Waffenoffizier Resoc?“ erwiderte einer der Krieger.
„Was gibt es?“ fragte Resoc barsch.
„Ich habe ihren Computer durchgesehen. Auf diesem Schiff leben mehr als vierhundert Sklaven.“
Resoc blickte kurz zu Nabac. Doch dieser reagierte nicht. Er hatte wohl nicht die Absicht seine Pläne zu ändern, auch wenn Resoc damit nicht einverstanden war. Für ihn war dies eine Verschwendung von Sklaven. Sie sollten alle mitnehmen. Aber Nabac war der Kolar und seine Befehle mussten eingehalten werden, wenn man weiterleben wollte. Darum befahl Resoc den Kriegern nur die Hälfte mitzunehmen. Die Führungsoffiziere und die stärksten Wesen. Die Krieger sollten alle Sklaven durchsehen und die besten mitnehmen.
Aus Resocs Sicht war das geschickt gelöst, musste Nabac anerkennend feststellen. Denn wenn es hinterher Ärger mit einem Sklaven gab, war Resoc nicht schuld. Er hatte die Sklaven schließlich nicht ausgesucht, sondern das den Soldaten überlassen. „Nehmen Sie alle im Maschinenraum befindlichen Personen mit. Es dürfen keine Ingenieure zurückbleiben“, ergänzte Resoc seinen Befehl noch.
Nabac stand weiter unbeweglich da und beobachtete das Szenario. Dabei gewann er wichtige Kenntnisse. Er hatte Resoc nur erklärt, er wolle die Hälfte der Sternenflottencrew mitnehmen. Dieser war damit nicht einverstanden, aber klug genug nicht weiter darauf einzugehen. Jetzt gab er Befehle weiter, die er so nicht erhalten hatte. Er mischte sich in die Auswahl der Sklaven ein. Eigentlich hätte er zuerst fragen müssen, welche Sklaven mitgenommen werden sollten. Der einzige Grund, warum Nabac ihn nicht bestrafte war, dass seine Befehle genauso gelautet hätten wie die Resocs und weil es für die Crew so aussah, als hätten sie sich vorher schon abgesprochen. Es schadete seinem Ansehen also nicht. Doch wusste er nun, dass er sich vor seinem ersten Waffenoffizier in Acht nehmen musste.
Das System der Turbolifte machte Nabac gedanklich zu schaffen. Er zog übersichtliche Gänge und Treppensysteme vor. Vor allem beim Umgang mit Sklaven. Wie sollte er nun die Brückencrew in sein Schiff bekommen? Das war ein kleines logistisches Problem. Wenn er alle Gefangenen auf der Brücke in den Lift brachte hatten seine eigenen Leute keinen Platz mehr und müssten voraus gehen oder folgen. Doch die Sternenflottenoffiziere wären dann kurz ohne Aufsicht und dieses Risiko wollte er auf keinen Fall eingehen. Und wenn zwei seiner Krieger mit im Lift wären, wären diese in der Unterzahl und im Falle eines Kampfes unterlegen.
„Wir bringen diese Sklaven hier auf unser Schiff“, befahl Nabac dann und deutete auf die Brückencrew. „Jeder einzelne von ihnen bekommt einen Krieger zur Bewachung. Haltet ihnen das Messer zwischen die Rippen. Bei einer falschen Bewegung, tötet sie. Aber nur dann“, fügte er mahnend hinzu.
Die Krieger hatten verstanden. Auf eine mutwillige Beschädigung der Sklaven würde eine harte Strafe folgen. In der Regel war das der Tod. Und dieses Risiko wollte niemand eingehen.
Sie zogen ihre Messer und jeder griff sich einen der Gefangenen. Dann betraten sie den Turbolift.
„Kolar Nabac?“ Resoc stand vor dem rechten Turbolift und betätigte mehrmals die Anforderungstaste. Doch es tat sich nichts. „Der Turbolift scheint defekt zu sein.“
Nabac sah ihn nur kurz an und meinte dann: „Das soll uns nicht weiter stören. Das funktionierende Liftsystem reicht uns völlig aus.“
Mit einem leichten Nicken bestätigte Resoc, dass er verstanden hatte. Mit den restlichen Kriegern und Gefangenen betrat er den linken Lift und ließ Nabac allein auf der Brücke zurück.
Dieser ließ seinen Blick langsam über die Brücke schweifen. Dieses Schiff war so groß und doch so wehrlos. Das konnte er absolut nicht verstehen. Wieso hatten die Erbauer nicht mehr Waffensysteme berücksichtigt? Das Schiff hätte eine schwebende Festung werden können, gegen die niemand auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte. Für ihn war das ein weiterer Beweis dafür, dass die Menschen keine Gefahr darstellten und so schnell wie möglich erobert werden sollten. Es war völlig unverständlich für ihn, warum die Götter damit so zögerten.
Langsam trat er neben den Kommandosessel. Seine Krallenhand strich vorsichtig über die Lehne. Dann setzte er sich in den Sessel und ließ einen seufzenden Grunzlaut von sich. Nun hatte er das Schiff richtig unter Kontrolle. Und es fühlte sich herrlich an, obwohl der Sessel absolut unbequem war. Viel zu weich. Eben so, wie die Sternenflotte selbst.
Sein Blick fiel auf den Bildschirm und er konnte die Sterne sehen. Er konnte es fühlen, wie dieses Schiff nun in seinen Händen lag. Schade nur, dass ihn der frühere Captain dieses Schiffes jetzt nicht sehen konnte.
ACHT
Unruhig schritt Sylvia Jackson durch das Gras nahe der Siedlung, die sie für die Wissenschaftler aufgebaut hatten. Sie konnte nicht genau sagen, was sie so unruhig werden ließ, aber das Gefühl saß tief in ihrem Inneren und ließ nicht locker.
Die Dämmerung hatte eingesetzt. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden. Die letzten Sonnenstrahlen leckten noch über die entfernten Baumwipfel und tauchten den Himmel und die vereinzelten Wolken in ein Farbenspiel aus allen nur erdenklichen Rottönen. Es war ein Bild wie aus einem Märchenland. Und doch hatte Jackson keinen Blick dafür. Sie konnte nur an die Republic
denken und wünschte sich ganz dringend dorthin zurück, ohne genau zu wissen, warum eigentlich. An ihrer Arbeit hier lag es nicht. Es machte ihr sogar Spaß die Wissenschaftler und die Ingenieure zu dirigieren und die Arbeiten zu koordinieren. Aber irgendetwas zog sie zurück zum Schiff.
Die letzten Tage waren ruhig verlaufen. Die Wissenschaftler waren noch immer mit ihren Analysen und Untersuchungen beschäftigt. Sie kamen anscheinend gut voran. Nur konnte Jackson das überhaupt nicht beurteilen. Dazu kannte sie sich in dieser Thematik zu wenig aus.
Die Ingenieure um Wendy Brooks herum waren jeden Tag mit einem der beiden Shuttles aufgebrochen, um zum Wrack des abgestürzten Schiffes zu fliegen. Sie führten dort die Untersuchungen wieder fort und hatten auch schon einiges Interessantes herausgefunden. So zum Beispiel, dass diese kleinen Schiffe, trotz ihrer geringen Größe, über einen leistungsfähigen Warpantrieb verfügten. Außerdem war das Schiff mit so vielen Waffen ausgestattet, wie nur hineingepasst hatten. Über Schutzschilde verfügte das fremde Schiff zwar nicht, doch die Panzerung der Außenhülle war so stark, dass es leicht mehrere Treffer wegstecken konnte. Das war auch der Grund, weshalb das Schiff den Absturz nahezu unbeschädigt überstanden hatte. Für Jackson ergaben die ganzen Erkenntnisse keinen Sinn. Keine der bekannten Rassen baute solche Raumschiffe. Nicht einmal die Romulaner oder die kriegerischen Klingonen stopften ihre Schiffe dermaßen mit Angriffswaffen voll und vernachlässigten gleichzeitig die Verteidigungssysteme. Gab es überhaupt noch ein raumfahrendes Volk, das keine Schutzschilde benutze? Es war gerade so, als zählte bei diesem Volk nur der Sieg, die Höhe der Verluste schien dabei keine Rolle zu spielen. Wie bei einem Ameisen- oder Bienenstaat. Am Ende kam es nur auf das Ergebnis an. Das einzelne Individuum spielte dabei keine Rolle.
Das Gras neben Jackson wurde knirschend niedergetreten. Sie sah sich um und entdeckte Wendy Brooks, die neben sie getreten war.
„Alles in Ordnung?“ wollte Brooks wissen. „Sie sehen so nachdenklich aus.“
Jackson sah kurz zum langsam verblassenden Farbenspiel am Himmel auf. „Ich habe das Gefühl, wir sollten zur Republic
zurückkehren“, sagte sie dann.
Wendy sah sie groß an. „Zur Republic
? Aber die ist noch nicht wieder hier“, erinnerte sie ihre Vorgesetzte.
„Dessen bin ich mir bewusst“, erwiderte Jackson ernst und wandte sich dann ganz der Ingenieurin zu. „Aber sie sind schon lange weg. Zu lange für meinen Geschmack.“
„Ja“, sagte Brooks einfach. Sie konnte durchaus verstehen, was Jackson meinte.
„Ursprünglich sollten es drei Tage sein“, fuhr Sylvia Jackson fort, ohne Brooks‘ kurze Antwort zu beachten. „Dann hat uns der Captain die Nachricht geschickt, dass sie diese Sklavenmine befreien wollten. Aber auch das ist schon vier Tage her. Und seither haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Irgendetwas ist schief gelaufen“, sagte sie und war sich dabei sehr sicher, dass dem auch wirklich so war.
Brooks setzte ein Lächeln auf, das zuversichtlich wirken sollte. „Sie sollten den Captain nicht unterschätzen. Und eine Sklavenmine zu befreien wird eben seine Zeit brauchen. Schätze ich. Ich habe da leider keine Erfahrungswerte. Die letzte Befreiung von Sklaven dürfte einige Jahrhunderte her sein. Und damals war ich nicht dabei gewesen.“
Ein kleines Lächeln umspielte Jacksons Lippen. „Sie haben recht“, sagte sie dann, schon etwas entspannter. „Ich bin trotzdem der Meinung, wir sollten uns vergewissern. Wir werden morgen früh aufbrechen und der Republic
folgen“, entschied Jackson.
„Der Republic
folgen?“ wiederholte Brooks ungläubig. „Das kann Tage dauern. Ich meine, wir haben die Koordinaten der Mine, aber nur eines unserer Shuttles verfügt über einen Warpantrieb. Und das ist eines von insgesamt zehn Testshuttle. Noch niemand ist mit einem Shuttle soweit in den Raum vorgestoßen wie wir das dann tun müssten.“ Eigentlich hätte Jackson das alles wissen müssen, nur war sich Brooks da nicht ganz sicher. Daher musste sie das einfach nochmal erwähnen.
„Und unser Shuttle erreicht maximal Warp Zwei“, ergänzte Jackson wissend. „Wir werden alleine vier Tage benötigen, um die Koordinaten der Mine zu erreichen und damit die Republic
einzuholen. Ja, dessen bin ich mir bewusst.“ Sie hatte bereits alles durchgeplant. Den ganzen Mittag über hatte sie sich damit beschäftigt. Nur so hatte sie einigermaßen ruhig bleiben können.
„Ja, genau“, nickte Brooks überrascht. Dass Jacksons Planungen bereits so weit gediehen waren hatte sie nicht mitbekommen. Sie schweigen eine Weile, ehe die Chefingenieurin fortfuhr. „Sie wollen das wirklich durchziehen?“
„Wenn die Republic
unsere Hilfe braucht, dann können wir nicht länger warten“, sagte Jackson bestimmt.
Dass sie mit einem Shuttle viel helfen konnten, wenn die Republic
wirklich in Schwierigkeiten war bezweifelte Brooks. Sie sagte aber nichts dazu. Stattdessen gab es noch andere Unklarheiten für sie. „Und wir sollen alle mitkommen? Ingenieure und Wissenschaftler?“
„Nein, dazu reicht der Platz im Shuttle auch nicht aus. Nur die Ingenieure, Sie und ich. Die Wissenschaftler können hier auch alleine weitermachen. Sie haben uns die letzten Tage ohnehin nicht gebraucht.
Wendy Brooks nickte. Das waren dann insgesamt sieben Personen. Für das Shuttle kein Problem, aber es würden trotzdem vier lange und enge Tage werden. Keine besonders tollen Aussichten.
Die Sonne hatte inzwischen auch ihre letzte Strahlkraft verloren. Es war dunkel geworden und vom Camp her leuchteten die Lichter der elektrischen Lampen. Wie jeden Abend saßen jetzt alle beieinander um zusammen zu essen. Es war ein schöner Brauch geworden. So konnte man sich gegenseitig vom Tag erzählen und zusammen noch ein wenig lachen. Die Anstrengungen des Tages konnten damit leichter abgeschüttelt werden. Und selbst die sonst so steifen Wissenschaftler tauten in dieser Runde regelrecht auf. Für jeden war das inzwischen der schönste Teil des Tages und die meisten freuten sich morgens beim Aufstehen schon darauf. Es machte sie zu einer eingeschworenen Gemeinschaft.
„Wir werden morgen aufbrechen“, stimmte Brooks dem Plan ihrer Vorgesetzten noch zu. „Aber lassen Sie uns jetzt den Abend noch genießen. Und informieren Sie die Leute noch darüber. Dazu ist jetzt die beste Gelegenheit.“ Sie wandte sich um, blieb aber stehen als sie sah, dass Jackson noch zögerte. „Kommen Sie“, forderte Brooks sie fröhlich auf.
„Ja. Bin schon da“, erwiderte Jackson und folgte dann. Sie hatte eine schwere Entscheidung getroffen, doch tief in ihrem Inneren war sie überzeugt davon, dass es die richtige Entscheidung war.
Leicht benommen schlug Georg Real die Augen auf. Sein Kopf dröhnte und der süßliche Geruch nach Erbrochenem ließ ihn würgen. Das schummrige Licht irritierte ihn. Außerdem musste er feststellen, dass er am Boden lag. In einem der Lifte. Und erst dann fiel ihm wieder ein, was passiert war. Hatte er tatsächlich noch das Bewusstsein verloren? Es sah so aus. Aber wie lange war er weg gewesen? Ein paar Minuten oder einige Stunden? Er wusste es nicht und die Uhrzeitanzeige des Liftes funktionierte nicht mehr.
Langsam versuchte er sich aufzurichten. Das Hämmern in seinem Kopf nahm dabei zwar etwas zu, doch das Schwindelgefühl blieb aus. Und auch die Übelkeit setzte ihm dieses Mal nicht so zu. Er verharrte dann auch erst einmal einige Zeit im Sitzen. Er wollte seinen Körper langsam wieder in Schwung bringen, um nicht noch einmal ohnmächtig zu werden. Der Geruch im Lift sorgte aber dafür, dass er sich nicht ganz so viel Zeit gönnte, wie er eigentlich wollte. Er brauchte dringend frische Luft, dann würde es ihm schnell wieder besser gehen. Und dazu musste er hier raus.
Mühsam rappelte er sich auf und blieb dann auf wackeligen Beinen an die Wand gelehnt stehen. Sein Atem ging schwer und für einen Moment schloss er die Augen. Es würde eine enorme Kraftanstrengung werden, hier herauszukommen, dessen war er sich bewusst. Aber es half nichts. Er konnte ja nicht hier bleiben.
Der Schmerz in seiner linken Hüfte kehrte mit dumpfem Pochen zurück und auch in seiner linken Schläfe spürte er die Schmerzen wieder. Er musste seine Kräfte einteilen und trotzdem musste er draußen sein, ehe seine Kräfte ihn endgültig verließen.
In Hüfthöhe befand sich an der Turboliftwand eine manuell herausklappbare Stufe. In Notfällen konnte man auf ihr stehend eine Luke im Dach der Kapsel öffnen und dann hinausklettern. Real kannte jeden Handgriff auswendig. Als Sicherheitschef des Schiffes führte er immer wieder Übungen mit der Crew durch, daher wusste er genau was zu tun war. Als er jedoch auf dem Dach der Kapsel stand und nach oben sah verdrehte er seufzend die Augen. Normalerweise bestand die Übung darin, die Notfallleiter nach oben zu klettern bis zur nächsten Turbolifttür, die dann offen stand. Doch das war jetzt nicht der Fall. Sie war verschlossen und wenn er sie nicht öffnen konnte, musste er eine Etage weiterklettern. Und wenn er diese ebenfalls nicht öffnen konnte, dann musste er wieder weiterklettern. Vielleicht bis ganz oben. Er wusste nicht, wie er das mit seinen Schmerzen schaffen sollte, doch hatte er keine andere Wahl. Die Luft in diesem Schacht war etwas besser als in der Kapsel. So wurde er wenigstens wieder etwas klarer im Kopf. Trotzdem würde es ein Kraftakt bleiben.
Bevor er die Notfallleiter erstieg lauschte er noch einige Minuten, konnte jedoch nichts hören. Was aber auch nichts zu bedeuten hatte. Die Turboliftröhre war schalldicht, um Lärmbelästigungen durch den Lift auszuschließen. Im Umkehrschluss drang aber auch kein Geräusch von außen hier herein. Er hatte also nach wie vor keine Vorstellungen davon, was im Schiff vor sich ging.
Er sah noch einmal nach oben. Das Ende des Schachtes verlor sich in dem schwachen Glühen der Notlichter. Aber er konnte auch nicht ewig hier stehen bleiben. Und es machte keinen Sinn das Unvermeidliche noch weiter hinauszuzögern. Also trat er an die Leiter heran und begann mit dem mühevollen Aufstieg. Stufe um Stufe stieg er nach oben. Bereits nach wenigen Stufen brach ihm der Schweiß aus. Sein Atem ging schnell und er musste eine Pause einlegen. Auf diese Weise würde es lange dauern, bis er in Sicherheit war.
Zu seinem Glück ließ sich aber gleich zwei Decks höher die Türe zum Gang hinaus öffnen. Die Notleiter lief links an der Tür vorbei. Mit einem großen Schritt hangelte er sich aus dem Schacht und rollte in den Gang hinaus, ohne zu wissen, was dort ihn erwartete. Wenn er Pech hatte, würde er mitten in eine Gruppe feindlicher Soldaten rollen. Dann wäre er verloren. Daher rollte er sich schnell weiter an die gegenüberliegende Wand, was seinem Wohlbefinden nicht gerade förderlich war.
Aber hier war niemand. Er war alleine und es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen. Der Gang wurde von Notlichtern nur schwach beleuchtet. Und es war kalt. Wenn die Lebenserhaltungssysteme nicht arbeiteten, dann kühlte das Schiff im eiskalten Weltraum schnell aus. Und dann hätte es ihm nichts genutzt, dass er bis jetzt überlebt hatte.
Dadurch, dass der Gang gebogen war und er an der falschen Seite saß, konnte er nicht sonderlich weit sehen. Aber es war totenstill. Nichts rührte sich, so dass Real zu dem Schluss kam, dass er wohl alleine auf diesem Deck war. Wenn er Pech hatte, dann war er sogar alleine auf dem ganzen Schiff. Trotzdem blieb er vorsichtig. Langsam lief er den Gang entlang, immer bereit in Deckung zu gehen falls sich etwas bewegte. Es blieb jedoch unverändert still. Nichts regte sich.
An der Turbolifttüre hatte er das Hinweisschild auf Deck Neun entdeckt. Hier gab es nur Frachträume und den Speisesaal. Dorthin musste er. Wenn auf diesem Deck noch jemand war, dann hatten sie sich vermutlich hierher zurückgezogen.
Einige Meter vor dem Speisesaal ging Real in Deckung. Vor ihm lag etwas auf dem Boden. Die schwache Notbeleuchtung machte es ihm unmöglich zu erkennen, um was es sich handelte. Deshalb war es vernünftiger einige Minuten in Deckung zu warten und zu beobachten was sich tat. Doch diese Geduld konnte er kaum aufbringen. Als Sicherheitschef war er verantwortlich für die Sicherheit des Schiffes. Und nun waren sie angegriffen worden und er wusste nicht einmal genau, was geschehen war. Er wollte, nein, er musste es herausfinden. Es war seine Pflicht. Und zwar so schnell wie möglich. Vielleicht kam es auf Minuten an, wenn er noch etwas retten wollte.
Mit einem energischen Schritt trat er aus der Deckung heraus. Wenn das Ding auf dem Boden ihn nun tötete war das immer noch besser, als sich zu verkriechen und zu warten. So forderte er wenigstens eine Entscheidung heraus. Doch es blieb alles ruhig. Schnell näherte er sich dem Objekt, blieb dann aber erschrocken stehen. Das Ding auf dem Boden - es war eine Leiche, die inmitten getrockneten Blutes lag. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Der rechte Arm endete am Ellenbogen und es sah so aus, als ob der Arm einfach abgerissen worden wäre. Der Körper zeigte mehrere Stichwunden, fast aufgerissene Löcher. Kein normales Messer würde solche Verletzungen anrichten.
Real bückte sich und schloss dem Mann die Augen. Er erkannte ihn. Es war Lieutenant Donnell, ein Offizier des medizinischen Labors. Er musste gerade im Speisesaal gewesen sein, als der Angriff erfolgt war. Nun bestand für Real auch kein Zweifel mehr daran, dass das Schiff geentert worden war. Dem getrockneten Blut nach musste das aber schon etliche Stunden her sein.
Sein Blick glitt langsam an dem Toten hinab. Die klaffenden Wunden in Brust und Bauch schockierten ihn. Seine Übelkeit kehrte zurück, doch er zwang sich hinzusehen. Vielleicht konnte er etwas Wichtiges entdecken. Er war zwar kein Arzt, aber die Todesursache festzustellen war in diesem Fall auch nicht so schwer. Das viele Blut im Gang sprach Bände und die Verletzungen sahen nicht so aus, als wäre sein Herz getroffen worden. Aber als Sicherheitschef kannte er sich mit Waffen aus. Und er konnte sich nur eine Stichwaffe vorstellen, die solche Wunden hinterließ: ein Messer mit vielen Widerhacken, die beim Herausziehen des Messers sämtliches umliegendes Gewebe zerfetzten. Aber er kannte niemanden, der ein solches Messer benutzte.
Wut stieg in Real auf. Wut auf diese unbarmherzigen Angreifer, die der Crew so etwas angetan hatten. Und Wut auf sich, da er nicht hier gewesen war, um den Angriff zu verhindern, wie es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre.
Der Speisesaal, fuhr es Real durch den Kopf. Sofort stand er wieder. Wenn er hier schon eine Leiche fand, was erwartete ihn dann dort? Ein Blutbad? Tote über Tote?
Schwer atmend ging er die letzten Meter. Die schrecklichsten Szenarios bildeten sich in seinem Kopf. Bilder aus den drei Weltkriegen, ermordete Zivilisten aus den kleinlichen Grenzkonflikten der Erde, das Massaker auf Kodos. Konnte dieses hier nun den Geschichtsbüchern hinzugefügt werden?
Die Tür funktionierte noch. Mit einem leisen Seufzen öffnete sie sich, als Real näher herantrat. So, als ob sie ein trauriges Bild frei geben wollte. Vorsichtig schaute Real in den Raum hinein. Sein Herz raste. Zwar hatte sein trainierter Verstand wieder die Kontrolle über ihn erlangt, doch gelang es ihm nicht, seine Angst ganz zu verdrängen. Schließlich war er kein Vulkanier.
Der Speisesaal bot ein furchtbares Bild. Stühle und Tische waren zertrümmert worden und die Überreste lagen wild verteilt. Die Einrichtung war größtenteils zerstört. Die Replikatoren waren nur noch Schrott und auch die Bilder an den Wänden waren fast alle beschädigt oder ganz zerstört. Die Holzverkleidung an den Wänden und der Decke hatte sich teilweise gelöst und hing nun herunter. Und zwischen den Trümmern lagen fünf weitere Leichen, die in einem ähnlichen Zustand waren wie der Tote auf dem Gang. Es sah ganz so aus, als ob die hier anwesenden Personen den Eindringlingen Widerstand geleistet hätten. Natürlich hatten sie keine Chance gehabt, denn auf Sternenflottenschiffen wurden keine Waffen getragen. Somit hatten sie den Angreifern auch nicht viel entgegenzusetzen.
Sein Blick schweifte durch den Raum. Nur langsam verarbeitete sein Gehirn diese Zerstörung. Doch plötzlich blieb er wie versteinert stehen. Völlig ungläubig starrte er in die Ecke des Raumes. Nein, das konnte nicht sein. Sein Verstand weigerte sich das Gesehene zu glauben. Es war einfach viel zu unerwartet. Während seiner kurzen Wanderung durch das Schiff hatte er darauf gehofft. Dieses Bild hatte er sehen wollen. Doch das kaum funktionierende Schiff, die Leiche da draußen und der zerstörte Raum hatten ihn davon überzeugt, das alles verloren war. Und dann das. Das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht stimmen.
„Mein Gott, Lieutenant“, riss ihn eine überraschte Stimme aus den Gedanken und holte ihn in die Realität zurück. In der Ecke saß eine kleine Gruppe Überlebender. Sechs oder sieben Personen. Jeder von ihnen wies kleinere Verletzungen auf, nichts Ernsthaftes. Sie saßen zusammengekauert auf dem Boden und versuchten möglichst leise zu sein. Schrecken und Angst standen in ihren Gesichtern. Eine Angst die sie lähmte und zu jeder Bewegung unfähig machte.
Aber einer von ihnen war aufgestanden und kam auf Real zu. „Es lebt noch jemand“, sagte er und die Erleichterung in seiner Stimme war deutlich herauszuhören. Er sah aus, als würde er in Real einen Engel sehen. „Wir dachten es wären alle tot oder verschleppt.“
Real sah ihn nur völlig entgeistert an. „Was ist passiert?“ wollte er dann wissen.
Nun war es sein Gegenüber, der entgeistert dreinschaute. „Soll das ein Scherz sein?“ In sein Staunen mischte sich Ärger. Ärger darüber, weil Real ihn scheinbar verhöhnte.
Endlich bekam Real sich selbst wieder in den Griff. Er konnte wieder einen klaren Gedanken fassen. Es gab noch andere Überlebende, nicht nur ihn. Vielleicht auf dem ganzen Schiff verteilt. Und vielleicht bestand die Möglichkeit das Schiff wieder Instand zu setzten. Hoffnung keimte in ihm auf. Doch zuerst musste er diesen Menschen hier helfen.
„Wie heißen Sie?“ wandte er sich an seinen Gegenüber.
„Carl Olsen.“
„Hören Sie mir zu, Mr. Olsen. Ich bin in einer Turboliftkapsel stecken geblieben. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich befreien konnte.“ Den Teil mit seiner Ohnmacht ließ er erst einmal weg. „Ich weiß nur, dass die Adrac uns angegriffen haben. Was ist dann passiert?“
Olsens Skepsis war durch die Erklärung wie weggeblasen. Vielleicht war er aber auch einfach nur froh jemand anderes zu sehen. „Sie haben das Schiff geentert“, erzählte er, während er Real zu den anderen führt. Dabei vermied er es, in Richtung der Toten zu blicken. „Wir waren hier um zu essen, als der Kampf begonnen hatte. Wir wollten sofort zu unseren jeweiligen Abteilungen zurück, aber die Türe ließ sich nicht mehr öffnen. Die Elektrik funktionierte noch, das war deutlich zu hören. Aber irgendetwas hatte die Tür blockiert. Wir waren hier drin gefangen. Einer der nächsten beiden Treffer muss die Blockade wieder entfernt haben, denn plötzlich öffnete sie sich wieder. Aber bis wir beim Turbolift waren funktionierte dieser nicht mehr. So haben wir uns wieder hierher zurückgezogen. Dann kamen plötzlich einige Adrac durch die Türe und haben uns unsanft aufgefordert in einer Reihe zu stehen. Dann haben sie elf Personen mitgenommen. Freunde von uns. Eine von ihnen war Rita Donnell. Daraufhin konnten wir uns nicht mehr halten und versuchten uns zu wehren. Das Ergebnis sehen Sie.“ Er zeigte um sich. „André Donnell, Ritas Mann, wehrte sich am stärksten. Verständlicherweise. Doch den Adrac hatte das nicht gefallen. Sie haben ihn mit Messern attackiert. Messern mit Widerhacken. Sie haben ihn vor unseren Augen zerfleischt. Vor den Augen seiner Frau. Als sie dann weg waren ist er ihnen noch hinterhergekrochen. Ich glaube aber nicht, dass er weit gekommen ist. Dazu waren seine Verletzungen zu stark.“ Olsens Stimme zitterte während er sprach und mehrmals drohte sie sogar ganz zu versagen.
„Lieutenant Donnell liegt vier Meter vor der Tür im Gang. Er ist tot“, berichtete Real knapp. „Wieso haben Sie nicht versucht Hilfe zu holen nachdem die Adrac weg waren?“ Real war es vollkommen unverständlich wieso diese Personen noch immer hier waren.
„Die Adrac erklärten uns, das Schiff sei unter ihrer Kontrolle. Wir sollten hier bleiben, ansonsten würden wir sterben. Und wir haben gesehen, was mit Donnell und den anderen passiert ist. Wir wollten nicht auf dieselbe Weise sterben.“
Real schüttelte nur ganz leicht den Kopf, sagte aber nichts. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Die Wunden der Toten sahen wirklich furchteinflößend aus. Und wahrscheinlich standen die Überlebenden auch noch alle unter Schock. Jeder von ihnen hatte die Grausamkeiten der Feinde gesehen und Freunde verloren.
„Warum haben die Adrac Crewmitglieder mitgenommen?“ überlegte Real laut.
„Ich weiß es nicht.“ Olsen ließ sich auf einen halb zertrümmerten Stuhl nieder.
Plötzlich fiel es Real wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Nonac hatte ihnen doch vom Sklavenhandel der Adrac erzählt. Deshalb war die Crew entführt worden. Sie sollten alle zu Sklaven gemacht werden. Ein furchtbarer Gedanke und doch gab es keine andere Erklärung. Entsetzt erinnerte er sich an Nonacs Gesundheitszustand. Der Crew drohte dasselbe Schicksal. Und irgendwie musste er das verhindern.
„Wie lange ist das jetzt her?“ Real brauchte ein ungefähres Zeitgefühl, damit er einschätzen konnte, ob die Adrac noch hier sein konnten oder nicht. Sonst würde ihr Wiederbelebungsversuch sehr schnell zu Ende sein.
„Ich weiß es nicht“, gestand Olsen verschämt ein und zuckte mit den Achseln. „Wir haben hier keine Uhr mehr und auch kein Zeitgefühl. Ich würde aber sagen, es ist bestimmt schon ein halber Tag vergangen. Auch wenn es mir viel länger vorkommt.“
Real vermutete, dass es schon länger als einen halben Tag her sein musste. Das Blut dort draußen war fast vollständig getrocknet, und auch er selbst war sicher nicht in ein paar wenigen Stunden wieder zu Kräften gekommen. Er musste länger bewusstlos gewesen sein. Und die Adrac waren höchst wahrscheinlich schon weg.
„Mr. Olsen. Wir müssen nach weiteren Überlebenden suchen.“ Er zog es vor, das mit den Sklaven vorerst für sich zu behalten. Die Moral war auch so schon niedrig genug. „Und wir müssen das Schiff wieder instand setzen.“ Er wollte die Adrac verfolgen und die Crew zurückholen.
„Was sollten wir damit erreichen?“ Olsen wirkte auf einmal sehr müde. Seine entfachte Hoffnung, als er Real gesehen hatte, war schon wieder erloschen. Vielleicht war ihm bewusst geworden, dass Real nicht als Retter kam, sondern ebenso ein Opfer war und genauso wenig wusste, sogar noch weniger. Jetzt war er wieder genauso niedergeschlagen wie der Rest der Überlebenden. Der Mut hatte sie verlassen. Real musste wohl zuerst etwas für die Motivation tun.
„Es gibt noch immer die Möglichkeit unsere Freunde und Kollegen zu befreien“, sagte er und versuchte zuversichtlich zu klingen. „Je schneller wir handeln, desto besser sind unsere Chancen. Wir sind Offiziere der Sternenflotte, wir werden kein Crewmitglied im Stich lassen.“
„Und wenn schon alle tot sind?“ wollte eine dunkelhaarige Frau wissen, die mit angezogenen Beinen im Eck kauerte.
„Ich glaube nicht, dass sie schon tot sind. Aber wenn, dann, bei Gott, werden wir sie bezahlen lassen für ihre Taten“, erwiderte Real grimmig und in seinen Augen blitzte es.
„Ja.“ Olsen stand wieder auf. Seine Stimme klang wieder ein weniger optimistischer. „Ja, sie werden dafür bezahlen.“ Er sah seine Mitüberlebenden an. „Zeigen wir diesen Schweinen, wen sie herausgefordert haben. Und wenn es das letzte ist, was wir tun.“
Zustimmendes Gemurmel war die einzige Reaktion. Die Angst vor den Adrac saß einfach noch zu tief in ihnen.
„Ich vermute das Schiff ist verlassen“, sagte Real. „Sie haben was sie wollten und sind wieder verschwunden.“
„Dann haben wir eine Chance“, sagte eine weitere Person nachdenklich und stand auf. „Wer werden uns rächen. Von mir aus können wir dabei auch alle draufgehen, aber ein paar Adrac will ich noch mitnehmen.“
„Ja“, stimmten die Restlichen mehr oder weniger zögerlich zu und erhoben sich ebenfalls. Die Aussicht, dass die Adrac von Bord waren, ließ sie wieder etwas mutiger werden. Solange nicht die Gefahr bestand in diesem beschädigten Schiff nochmal den Adrac zu begegnen, würden sie Real wohl folgen. Nur die Frau im Eck blieb weiterhin sitzen.
„Also gut, durchsuchen Sie die unteren Decks nach Überlebenden und erstatten Sie mir auf der Brücke dann Bericht über die Schäden“, entschied Real, dessen Begeisterung einen kleinen Dämpfer erhalten hatte. Purer Hass war keine gute Motivation und Rache wenig sinnvoll. Sie wollten schließlich nicht losziehen und wahllos Adrac töten, sondern die Crew retten. Und dazu brauchten sie einen kühlen Kopf und ein überlegtes Vorgehen. Er konnte nur hoffen, dass die Leute sich während der Instandsetzung des Schiffes wieder beruhigten.
„Aye, Sir“, erwiderten sie und verließen dann den Raum. Ein Anfang war gemacht. Nun würden sie Stück für Stück das Schiff wieder aufbauen. Und dann konnten sie auch wieder an ihre Freunde denken. Er hoffte nur, dass die Adrac das Schiff auch wirklich verlassen hatten, denn sonst hatte er die Personen gerade in den sicheren Tod geschickt.
Reals Blick fiel auf die Frau, die noch immer in der Ecke saß. Ihr Gesicht lag auf ihren angezogenen Beinen. Der Stress, die Anstrengung und die Angst der letzten Stunden spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder. Aus ihren Augen war jeglicher menschlicher Ausdruck verschwunden. Hätte Real schätzen müssen, er würde sie auf Mitte dreißig schätzen.
Langsam ließ er sich neben ihr nieder. „Wie lautet Ihr Name?“ fragte er sanft.
„Sandra Hill“, antwortete sie nach kurzem Zögern.
„Sie scheinen den Eifer Ihrer Freunde nicht zu teilen, Mrs. Hill.“ Real sprach die Worte sehr behutsam. Sie wirkte sehr verschreckt. Der Schock schien bei ihr tiefer zu sitzen als bei den anderen. Und im Gegensatz zu den anderen schien sie auch kein Gefühl der Rache zu verspüren. Wenn er sie ein wenig aus der Reserve locken wollte, durfte er sie nicht überrumpeln.
„Wozu? Es hat doch keinen Sinn. Wir sind verloren.“ Ihre Worte klangen mutlos und erschreckten Real. Sie hatte eine Sternenflottenausbildung hinter sich und durfte sich eigentlich nicht so gehen lassen. Aber keine Ausbildung des Universums konnte einen auf das Erlebte vorbereiten.
„Ich glaube nicht, dass wir verloren sind. Wir können das Schiff wieder flott machen. Wenn wir alle zusammenarbeiten. Es wird auf dem ganzen Schiff Überlebende geben. Wir können und wir werden es schaffen. Aber dazu brauche ich Ihre Hilfe.“ Real sah sie an. Sie war noch immer unschlüssig und kämpfte mit sich selbst. Die Angst konnte bisweilen ein mächtiger Gegner sein, darum wollte er ihr eine Aufgabe geben, die sie ablenkte. „Helfen Sie mir. Bleiben Sie an meiner Seite, bis alles überstanden ist. Als meine Assistentin, bis wir einen ranghöheren Offizier finden.“
Hill sah ihn groß an. Noch immer kämpfte es ihn ihr. Am liebsten wäre sie sitzen geblieben, hätte den Kopf in den Sand gesteckt und gewartet bis alles vorbei war. Doch die Offizierin in ihr erkannte, dass das die falscheste Entscheidung wäre, die sie treffen konnte. „In Ordnung“, sagte sie daher schließlich, auch wenn es nicht sonderlich überzeugt wirkte.
Nachdem er es geschafft hatte die Frau aus der Ecke herauszulocken musste der Rest ja ein Kinderspiel werden, dachte er und lächelte sie an. Doch sie erwiderte es nicht. Daran musste er wohl auch noch arbeiten.
Langsam, ganz langsam wich der erlösende Schlaf von ihm und gab sein Opfer wieder in die harte Realität zurück. Der zuckersüße Traum von Geborgenheit und innerer Ruhe zerplatzte wie eine Seifenblase im Wind. Stattdessen drang ihm der beißende Gestank nach Fäkalien und Erbrochenem in die Nase. Übelkeit kroch ihm den Hals hinauf. Sein Körper hatte das Bedürfnis, das wenige, das er noch im Magen hatte von sich zu geben. Aber er biss die Zähne zusammen und kämpfte dagegen an. Er durfte jetzt keine Nährstoffe verschwenden. Wer wusste schon, wann es wieder etwas zu essen gab.
Langsam schlug er die Augen auf und sah – nichts. Es war zu dunkel um irgendetwas zu erkennen. Nicht einmal schemenhafte Umrisse. Gar nichts. Aber er brauchte auch nichts zu sehen. Er wusste, dass sich zehn Zentimeter über ihm die Decke befand. Das hatte er gesehen, als er hier eingelagert wurde. Anders konnte man das nicht bezeichnen. Seine Hände und Füße waren mit Metallketten festgebunden. So kurz, das er sich nicht bewegen konnte. Das war zwar primitiv, aber wirkungsvoll. Auf mehreren Ebenen war so die Crew der Republic
untergebracht. Kalte Metallböden auf denen sie lagen, wenige Zentimeter darüber die nächste Ebene.
Schon im ersten Moment hatte er an eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Erde denken müssen. Die Sklaverei. Und die damit verbundene Verschiffung von Menschen rund um den gesamten Erdball, vor allem aber von Afrika nach Amerika. Ganze Dörfer waren damals von Sklavenhändlern eingefangen und verschleppt worden, nur um mit deren verkauften Leben reich zu werden. Ein Akt der Grausamkeit und Barbarei der Menschen untereinander, wie er im Universum fast einmalig war. Die weißen Kolonialmächte hatten sich aufgespielt wie Götter, die über Leben und Tod bestimmen konnten, ganz wie es ihnen beliebte. Selbst der einfachste Mann hatte sich auf einmal stark gefühlt, wenn er über einen Sklaven herrschen konnte. Und die Sklaven selbst waren weniger wert gewesen als Dreck. Und genau das passierte ihnen jetzt auch. Dies war ein Sklavenschiff. So brutal und unmenschlich wie vor fünfhundert Jahren. Und am Zielort würden sie wahrscheinlich meistbietend verkauft werden.
Irgendwo weinte jemand leise vor sich hin. Er konnte es dieser Person kaum verübeln. Das war selbst für ihn das Härteste, das er je in seiner langen Laufbahn bei der Sternenflotte erlebt hatte. Wenn sie das überleben sollten brauchten sie vermutlich einige Monate, wenn nicht Jahre psychologische Betreuung. Im Moment ließ es sich aber nicht ändern und sie mussten versuchen, so lange wie möglich durchzuhalten. Verbittert musste er den Adrac zugestehen, dieser Transport war die perfekte Methode, auch noch den Willen der Sklaven zu brechen, denn nach dieser Behandlung hatte wohl jeder ein Trauma.
Außer dieser einen weinenden Person war es fast still. Jeder schien noch unter Schock zu stehen und außerdem Angst davor zu haben, etwas zu sagen. Wer wusste schon, was diese teuflischen Adrac mit jemandem machten, der zu viel Aufmerksamkeit auf sich zog.
Wie lange war er schon hier? Wie lange ging das schon so? Er wusste es nicht. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Demonstrativ räusperte er sich und fragte dann: „Wie lange sind wir schon hier?“ Hoffentlich hatte er in kein Wespennest gestochen. Denn wenn nun alle anfingen zu reden, wäre das Chaos perfekt. Und in dem niedrigen Raum wirkten selbst wenige leise Worte wie ein Donnern.
Doch zum Glück blieb es ruhig. Zu ruhig. Niemand antwortete. Dann antwortete eine Stimme neben ihm. „Achtzehn Stunden und vierundzwanzig Minuten, Captain.“
Sanawey atmete erleichtert durch. Die ruhige Stimme des Vulkaniers drängte seine kurz aufsteigende Panik zurück. Er war ihr Captain. Seine Crew würde sich auf ihn verlassen. Sie würden darauf hoffen, dass er einen Ausweg aus der Situation fand. Aber dazu musste er möglichst ruhig sein. Panik behinderte nur das Denkvermögen. Sohrals ruhige Anwesenheit half ihm dabei selbst etwas ruhiger zu werden. So unlogisch sich das auch anhören mochte.
„Captain, wie geht es Ihrem Kopf?“ fragte Nerres sanfte Stimme von der anderen Seite. Und erinnerte ihn damit an die unangenehme Begegnung mit der Adrac-Waffe. Aber wenigstens wusste er jetzt wieder, woher die Kopfschmerzen kamen.
„Ganz gut. Danke der Nachfrage“, erwiderte er etwas knapp. Sein Gesundheitszustand tat hier nichts zur Sache. Es war nur hinderlich sich darüber auch noch Gedanken zu machen. „Es geht mir schon wieder besser“, fügte er sanfter hinzu.
Es kam keine Reaktion mehr. Sanawey war sich nicht ganz sicher, ob er Nerre beleidigt hatte. Er kannte keine Mizari und wusste auch recht wenig über diese Welt. Jetzt tat es ihm fast leid, sie so kurz abgefertigt zu haben. Doch für Bedauern hatte er jetzt keine Zeit. „Mr. Sohral. Wie ist Ihre Situationsanalyse?“ Er hoffte inständig, dass der Vulkanier etwas Positives zu berichten hatte. Gute Nachrichten konnten sie jetzt brauchen.
„Wenn Sie auf eine Fluchtmöglichkeit anspielen, Captain: Derzeit sehe ich keine realistische Möglichkeit zur Flucht. Die Adrac haben ein außergewöhnlich effizientes Sicherheitssystem. Offenbar haben sie schon Erfahrungen mit physisch wesentlich stärkeren Wesen.“
Ein plötzlich einfallender Lichtschein unterbrach Sohral. Irgendwo hatte sich eine Tür geöffnet. Die Schritte schwerer Adrac-Krieger drangen an Sanaweys Ohr. Dann wurden plötzlich Lichter im Raum aktiviert. Direkt über den Gesichtern der Gefangenen. Das grelle Licht blendete Sanawey. Tränen schossen ihm in die Augen, da er es nicht geschafft hatte, sie rechtzeitig zu schließen. Blinzelnd versuchte er wieder einen klaren Blick zu bekommen und gleichzeitig mit dem grellen Licht fertig zu werden.
Die Adrac sagten kein Wort. Sie gaben keine Befehle, erklärten auch nicht, was sich jetzt tat. Sie ließen ihre Gefangenen völlig im Unklaren darüber, was jetzt passierte. Ähnlich wie bei einem Viehtransport, bei dem den Tieren ja auch nicht gesagt wurde, was als nächstes geschehen würde. Für die Adrac war dieser Sklaventransport wohl nichts anderes. Zudem demoralisierte es die Sklaven noch weiter und das war denn auch das Ziel.
Sanawey strengte sein Gehör an so gut er konnte und versuchte irgendetwas von dem Gehörten richtig zu interpretieren. Was sich als gar nicht so einfach erwies. Jede Menge Kratz- und Schleifgeräusche, dazwischen immer wieder ein unterdrückter Schrei. Dann wieder Schritte, aber nicht nur von den Adrac. Waren sie am Zielort angekommen? Wurden sie von Bord gebracht? Und wohin? Was passierte mit ihnen? Fragen über Fragen schossen Sanawey durch den Kopf, doch er kannte keine Antwort. Er empfand es als überaus frustrierend und spürte, wie Panik in ihm aufstieg und er nichts dagegen tun konnte. Die Adrac waren dabei ihr Psychospiel gegen ihn zu gewinnen. Denn als Captain eines Schiffes hatte er normalerweise alle Fäden in der Hand. Er hatte den Überblick über alles, konnte Entscheidungen darüber fällen, wie es weitergehen sollte. Er wusste was vor sich ging. Doch hier war er ausgeliefert. Es wurde über seinen Kopf hinweg über ihn entschieden. Er hatte keinen Einfluss mehr. Er wusste nicht, was mit ihnen in genau diesem Moment passierte. Er wusste nicht, wie viele Crewmitglieder gefangen waren oder getötet wurden. Er wusste nicht, wie es um sein Schiff stand. Er wusste nicht einmal, was mit seiner Tochter geschehen war. Und die Unwissenheit war das Schlimmste an dieser Situation. Er trug die Verantwortung für all diese Personen und er hatte versagt. Er hatte sie in das schlimmste Schicksal geführt, das man sich vorstellen konnte. Es war nicht einmal klar, ob er jemals einen von ihnen wieder sehen würde. Vielleicht waren die vorher gewechselten Worte mit Sohral die letzten, die er je mit ihm sprechen würde. Das Entsetzen packte ihn so fest, dass er meinte wahnsinnig werden zu müssen. Aber vielleicht war Wahnsinn die einzige Möglichkeit diesen Irrsinn irgendwie ertragen zu können.
Unsanft wurde Karja von der harten Metallpritsche gezerrt und auf die Beine gestellt. Nur mühsam gelang es ihr stehen zu bleiben. Fast neunzehn Stunden war sie hier angekettet gelegen, zu keiner Bewegung fähig. Und jetzt wurde sie mit einem Ruck aufgestellt. Ihre Beine waren taub und sie mühte sich um einen wackeligen Stand. Auf keinen Fall wollte sie in die Knie gehen. Wenigstens so viel Stolz hatte sie noch in sich. Aber ihr Kreislauf drohte zu versagen. Schwärze trübte ihren Blick und wollte sie mit einer trügerischen Sicherheit umarmen. Doch schaffte sie es bei Bewusstsein zu bleiben. Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Für einen kleinen Moment schloss sie die Augen. Einen Moment der Ruhe.
Ein harter Schlag in den Rücken riss sie jäh wieder in die Realität. Sie stöhnte auf und wäre beinahe doch gestürzt, denn die engen Fesseln ließen kaum einen Ausfallschritt zur Stabilisierung zu. Sie konnte sich aber noch rechtzeitig wieder fangen. Der Adrac-Krieger, der neben ihr stand und schon zu einem weiteren Schlag ausholen wollte, sah, dass sie nun wieder ihr Gleichgewicht hatte und verzichtete dann darauf, sie nochmals zu schlagen. Er wollte die Ware ja nicht vorab beschädigen.
Karja zitterte am ganzen Körper. Sie hatte Angst und wusste nicht was mit ihr geschah. In der Zeit, die sie hier gelegen hatte, war die Phantasie mit ihr durchgegangen. Sie hatte sich alle möglichen Szenarios vorgestellt und mit jedem war es schlimmer geworden. Sie hatte sich so sehr in ihre Angst hineingesteigert, dass sie glaubte, verrückt werden zu müssen. Wie war sie nur in diese Situation gekommen? Sie war doch nur auf der Suche nach ihrem Vater gewesen, ursprünglich um ihm richtig die Meinung zu sagen. Aber dann hatte sich alles geändert und er war gar nicht das Schwein gewesen, für das sie ihn gehalten hatte. Im Gegenteil, er war absolut lieb zu ihr gewesen, auch während sie ihm all die Beleidigungen an den Kopf geworfen hatte. War das hier die Strafe, die sie nun für ihren ungerechtfertigten Hass erhielt? Führten die Geister ihrer Ahnen sie auf diese Prüfung, um ihr zu zeigen, wie furchtbar es war, wenn man andere ungerecht behandelte? Sie bezweifelte das, obwohl sie es gerne glauben würde. Denn jede Prüfung wäre irgendwann einmal zu Ende. Aber das hier würde wohl nicht so einfach enden. Wahrscheinlich war sie nur eine der vielen verlorenen Seelen im Universum, der niemand helfen konnte und die einfach irgendwo zwischen den Mächten aufgerieben wurde. Ein Einzelschicksal, das, wie so viele andere vor ihr, im großen Betrachtungswinkel der Geschichte einfach unterging.
Vor ihr wurden noch weitere Crewmitglieder auf die Beine geholt. Sie konnte es nicht genau sehen, aber es durften fünfzehn Personen sein. Alle wurden mit schweren Metallketten aneinandergebunden. Es war fast wie im Mittelalter. Wenn es nicht so real gewesen wäre, hätte man es für einen schlechten Traum halten können.
Ein Stoß von hinten ließ sie taumeln, doch die Ketten verhinderten ihren Sturz. Langsam setzte sich die Sklavenkarawane in Bewegung. Die Konzentration auf das Hier und Jetzt verhinderte, dass sie weiter nachdenken konnte. Damit wurde auch die Angst etwas in den Hintergrund gedrängt. Sie musste aufpassen was geschah, darauf kam es jetzt an. Nicht, weil sie an eine Fluchtmöglichkeit glaubte, sondern einfach nur, weil eine Unaufmerksamkeit eine Bestrafung zur Folge haben konnte, die sie gerne vermeiden wollte.
Sie verließen den Raum und der Weg führte zuerst durch einen fensterlosen Verbindungsgang aus dem Schiff hinaus, dann aber sofort wieder in einen zweiten langen, dunklen Gang. Er war gerade so breit, dass sie hintereinander hindurch passten. Ein Adrac-Krieger vorneweg, ein zweiter lief hinter der Gruppe her. Sie waren sich ihrer Sache sehr sicher, wenn sie fünfzehn Gefangene von gerade einmal zwei Kriegern bewachen ließen. Karja wusste, dass dieser Gang eine Chance war, die Adrac zu überwältigen. Immerhin waren sie in der Überzahl. Doch wie sollte sie das anstellen? Ihre Handgelenke waren aneinander gefesselt, ihre Füße hatten nur wenig Spielraum. Zudem war sie noch an ihren Vordermann angekettet. Die wildesten Gedanken schossen Karja durch den Kopf. Verzweifelt suchte sie nach einer Idee. Ihr musste etwas einfallen. Und zwar schnell, sonst hätten sie den Gang verlassen, ohne dass sie ihre Chance genutzt hätte. Eine weitere würde sie wohl nicht mehr bekommen.
Der Gang war stockdunkel und nervenzerfetzend lang. Karja wurde immer verzweifelter. Ihre wohl letzte Chance. Und sie ließ immer mehr Zeit ungenutzt vorüberstreichen. Nervös versuchte sie den Kopf nach hinten zu drehen, doch sie konnte den Adrac hinter ihr nicht sehen. Dazu war es zu dunkel. Und wenn sie einfach versuchte ihn anzugreifen? Sie wusste, das wäre nur eine Verzweiflungstat. Aber irgendetwas musste sie doch tun. So konnte sich doch nicht einfach so ihrem Schicksal fügen. Die Panik in ihr gewann allmählich die Oberhand. Es war dunkel und sie sah nichts, sie war in Ketten gelegt und lief einem furchtbaren Schicksal entgegen. Sie war mit ihren Nerven am Ende und sie konnte einfach nicht mehr vernünftig sein. Sie wollte sich ihrer Panik hingeben. Innerlich fluchend zerrte sie ein wenig an ihren Fesseln. Aber nur leicht, denn jedes Zerren musste ihrem Vordermann wehtun. Trotzdem, sie würde es gleich versuchen und die Wache hinter ihr angreifen.
Plötzlich kam von weiter vorne ein verzweifelter Schrei, dann ging ein Ruck durch die ganze Gruppe, der Karja nach vorne riss. Und mit einem Mal blieben sie alle stehen. Verwirrt klebte sie ihrem großen, kräftigen Vordermann im Rücken. Sie benötigte einige Sekunden um die Situation zu verstehen. Wenn sie den Adrac hinter sich jetzt angreifen würde....
Ein markerschütternder Schrei von vorne ließ sie zusammenfahren. Ihr Herz stockte und sie hatte das Gefühl ihr Blut würde gefrieren. Es war ein menschlicher, qualvoller Schrei, der so abrupt verstummte wie er aufgekommen war. Dann war es totenstill im Gang. Jeder hielt schockiert den Atem an. Karja hatte keine Ahnung was passiert war. Ihr Herz schlug wie wild und sie spürte wie sich die eiskalte Hand der Panik noch fester um sie schloss. Nur mühsam konnte sie ruhig bleiben. Die Schreie, die Dunkelheit, die Ketten, die Ungewissheit. All das verzehrte ihre Nerven.
Karja spürte, wie sich ihre Mitgefangenen vor ihr langsam wieder in Bewegung setzten. Die Ketten zerrten an ihr und zogen sie vorwärts. Sie war noch immer schockiert und trottete einfach nur langsam hinterher. Ihre Hoffnung, die Adrac zu überwältigen war mit einem Mal verflogen. Sie fühlte sich nur noch müde und erschöpft.
Ihre Füße stießen auf einmal auf etwas am Boden liegendes. Sie hatte weder die Chance ihm auszuweichen, noch es sich genauer anzusehen. Sie wurde unbarmherzig weitergedrängt. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als einen Fuß darauf zu stellen und darüber hinweg zu steigen. Das Ding gab unter ihren Uniformstiefeln ein wenig nach. Es war weich und ein wenig elastisch. Ein Schauer lief Karja über den Rücken. Ein entsetzlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf, aber sie ignorierte ihn. Doch als es unter ihr ein wenig knackte war es schreckliche Gewissheit. Sie lief über eine Leiche. Unter ihr lag ein Toter. Vermutlich der Offizier, der vorher so schrecklich geschrien hatte. Er musste den Adrac ganz vorne angegriffen haben und hatte das mit seinem Leben bezahlt. Übelkeit stieg in Karja empor als sie sich bewusst machte, was das bedeutete. Wenn dieser Offizier ihr nicht zuvorgekommen wäre, dann würde sie jetzt hier liegen. So schnell ihre Fußfesseln es zuließen, trat sie von der Leiche herunter. Doch das Ekelgefühl blieb und ließ sich nicht so leicht abschütteln. Dazu die Erkenntnis, dass sie dem Tod nur knapp entgangen war. Aber ob das ein Segen war musste sich erst noch herausstellen.
Mit einem Mal fiel grelles Licht in den Gang. Karja blinzelte und versuchte den Kopf wegzudrehen. Doch es gelang ihr nicht. Der ganze Gang vor ihr schien aus einer strahlenden Fläche zu bestehen. Tränen schossen ihr in die Augen und ihr Blickfeld verschwamm. Blinzelnd versuchte sie sich langsam an die Helligkeit zu gewöhnen. Tränen liefen ihr über die Wange. Sie hatte keine Chance ihre Augen irgendwie gegen das Licht abzuschirmen.
Die Gefangenen liefen trotz der extremen Helligkeit weiter. Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig. Nach einigen Metern blieben sie dann aber stehen. Das Licht wurde gedämpft. Fast etwas zu sehr. Aber nur fast. Karja empfand es nun als angenehm. Endlich konnten sich ihre überreizten Augen ausruhen. Sie hörte wie weiter vorne die Ketten gegeneinander schlugen, dann einzelne Schritte. Sehen konnte sie noch nichts. Dann war es still.
Langsam konnte Karja Konturen und Umrisse um sich herum erkennen. Sie waren in einem großen Raum, obwohl Karja keinen Ausgang oder Eingang erkennen konnte. Keine Tür. Aber es musste eine geben. Irgendwo waren sie hereingekommen. Und irgendwo waren die Adrac hinausgegangen.
Neue Energie schoss durch die junge Indianerin. Blitzschnell sah sie sich um. Tatsächlich. Es war kein Adrac mehr anwesend. Sie waren alle verschwunden. Das war die Gelegenheit, begriff sie sofort. Doch dann bemerkte sie, dass sie noch immer alle in einer Reihe standen. Keiner traute sich zu bewegen. Und sie waren immer noch aneinander gekettet. Aber vielleicht konnten sie es zusammen doch schaffen. Sie war die Tochter des Captains. Sie war sich sicher, die anderen erwarteten etwas von ihr.
Gerade als sie sich überlegte, wie sie ihre Idee klar und kurz formulieren sollte, öffnete sich eine verborgene Tür und drei Adrac betraten den Raum. Wortlos lösten sie die Fesseln des vordersten Gefangenen, packten ihn dann und schleppten ihn hinaus. Dann war es wieder still.
Einige Sekunden lang blieben alle reglos stehen. Keiner wagte es zu atmen. Vielleicht würde man übersehen werden, wenn man sich nicht rührte. Es war totenstill. Wie zu Säulen erstarrt standen sie da, Opfer ihrer eigenen Angst.
„Sie werden uns alle töten. Sie werden uns alle töten“, kreischte der Offizier, der nun ganz vorne stand, panikerfüllt. Eine Bewegung ging durch die Gefangenen. Jeder versuchte irgendetwas Vernünftiges zu tun um sich zu befreien. Doch die ganzen Einzelversuche verstärkten das Chaos nur. Jegliche Verhaltensregel, die sie auf der Sternenflottenakademie erlernt hatten, war vergessen. Die Adrac hatten mit ihren eingesetzten Mitteln ganze Arbeit geleistet. Sie hatten es geschafft ureigene Ängste in den Menschen zu wecken. Ängste, die schon längst vergessen schienen, die eigentlich längst überwunden geglaubt waren. Diese extremen Ängste brachen nun durch und beherrschten das Denken. Nur noch das eigene Überleben zählte. Einfach nur raus aus der Gefahr, egal wie. Wie ein Tier, das von Panik ergriffen einfach nur noch rannte, ohne nachzudenken, und damit erst Recht ins Verderben lief.
Auch Karja spürte, wie die panische Angst in ihr wieder emporkroch. Doch schaffte sie es ihr ein wenig zu widerstehen. Sie zerrte nicht wie wild an ihren Fesseln. Aber auch ihr Gehirn blockierte, so dass sie einfach nur da stand und wartete, was passierte. Jedes Mal, wenn die Adrac den Raum betraten wurde es wieder still. Und jedes Mal nahmen sie einen Offizier mit. Sobald sie den Raum wieder verlassen hatten brach die Panik erneut aus. Und jedes Mal stärker, hatte Karja das Gefühl.
Als sie nur noch zu zweit im Raum waren blieb der Offizier vor ihr still. Er sagte keinen Ton und rührte sich auch nicht. Auch Karja schwieg. Es war seltsam, dass es auf einmal wieder ruhig war. Sie hatte nach wie vor Angst, aber die Erkenntnis nichts tun zu können, hatte sie etwas ruhiger werden lassen.
„Wie heißen Sie?“ fragte Karja leise um ihn nicht zu erschrecken.
„Benjamin Since“, stellte er sich mit tiefer und leicht zitternder Stimme vor. „Aber alle nennen mich nur Big Ben.“ Trotz ihrer Situation musste Karja lächeln, als sie an den alten Glockenturm in London dachte. Es war zu paradox.
„Und wer sind Sie?“ wollte er im Gegenzug wissen.
„Karja“, antwortete sie. Sie hatte in ihrer jugendlichen Naivität vermutet, jeder in der Reihe wüsste das. Doch so wenig wie sie wusste, wer hier alles ihr Schicksal teilte, so wenig hatten das die anderen gewusst.
„Die Tochter des Captains“, stellte er fest. „Dann muss ich mich in Ihrer Nähe halten, um gerettet zu werden.“
„Mein Vater wird uns alle retten“, entgegnete Karja und versuchte optimistisch zu klingen. Dabei wusste sie noch nicht einmal, was mit ihm geschehen war. Vielleicht war er schon längst tot. Vielleicht war er es vorher im Gang gewesen, die Leiche auf dem Boden, über die sie laufen mussten. Sie hatte ihn seit dem Abend vor dem Angriff nicht mehr gesehen.
„Glauben Sie, man wird uns töten?“ fragte Since nach einer längeren Pause. Er wirkte einigermaßen gefasst und schien sein Schicksal angenommen zu haben.
Karja seufzte traurig. Was sollte sie ihm darauf antworten? Sie wusste es nicht. „Nein, ich glaube nicht“, entgegnete sie dann. „Die Adrac werden sich wohl kaum die Mühe gemacht haben, uns hierher zu transportieren, um uns anschließend zu töten. Das würde wohl keinen Sinn ergeben. Dann hätten sie es gleich tun können.“
„Das ist wahr“, sagte er wenig überzeugt. „Aber vielleicht tun die Adrac auch nur selten etwas sinnvolles.“
Wieder trat eine lange Pause ein. Die Worte des Offiziers erschütterten Karja. Was ist, wenn er recht hatte? Vielleicht wollten die Adrac sie auch nur langsam sterben sehen, in brutalen Spielen, wie bei den Römern früher. Aber Nonac hatte etwas von Sklaven erzählt, also war ihr Schicksal vermutlich schlimmer als der Tod. Doch das wollte sie Since jetzt nicht noch beibringen. Er würde es ohnehin früh genug erfahren.
Schließlich wurde der Offizier vor ihr abgeholt. Als die Adrac ihn zwischen sich nahmen und fortbrachen rief Karja ihm nach. „Viel Glück.“
„Leben Sie wohl“, erwiderte er.
„Wir sehen uns wieder“, rief sie noch. „Und dann gehen wir zusammen essen.“
Die Türe schloss sich hinter ihnen und Karja war nun völlig alleine. Sie fragte sich, ob sie Ben Since je wieder sehen würde. Oder ihren Vater. Oder Danny. Danny. Was wohl aus ihm geworden war? Sie hatte auch ihn seit ihrer Gefangennahme nicht mehr gesehen. Lebte er überhaupt noch? Sie hoffte es und sie hatte auf einmal mehr Angst um ihn als um sich selbst. Er musste einfach noch am Leben sein, ihre große Liebe durfte nicht tot sein. Sie hatte endlich jemanden kennengelernt, den sie an sich herangelassen hatte und der ihr Herz erobert hatte. So etwas Schönes hatte sie vorher noch nie erlebt. Wie könnte sie ohne ihn weiterleben? Das war unvorstellbar.
Ihre Fußfesseln hinderten sie daran schnell zu laufen. Selbst wenn sie einen Ausgang finden sollte, war eine Flucht somit fast unmöglich. Trotzdem lief sie langsam zur Wand. In diesem Halbdunkel konnte sie nicht sehr viel erkennen. Mit ihren Händen tastete sie vorsichtig die Wand ab. Vielleicht gab es ja einen Ausgang. An diese Hoffnung klammerte sich ihr Geist, obwohl sie genau wussten, dass eine Flucht wohl ihren Tod bedeuten würde. Sie würde mit Sicherheit erwischt werden. Und von den Adrac konnten sie keine Gnade erwarten, das hatte sie inzwischen auch begriffen. Langsam, wie zähflüssiger Brei, sickerte in ihr die Erkenntnis hindurch, dass die Panik sie nun doch noch übermannt hatte. Ihr Verstand konnte nichts mehr dagegen tun. Machtlos beobachtete ein Teil ihres Ichs wie sie der Panik nachgab.
Erneut öffnete sich die Tür und die Adrac traten ein. Sie zögerten kurz, als sie Karja nicht in der Mitte des Raumes vorfanden, gingen dann aber zielgerade auf sie zu und packten sie. Karja wehrte sich. Sie schlug um sich, versuchte die Adrac zu treffen. Doch sie hatte keine Chance gegen die starken Krieger. Völlig unbeeindruckt nahmen sie sie mit.
Karja wurde durch einen weiteren Gang in einen zweiten Raum gebracht. Dort saßen zwei Adrac hinter einem großen Tisch. Der linke bediente einen Computer, während der rechte einen Stapel Papier und irgendwelche Instrumente vor sich liegen hatte. Ansonsten war der Raum kahl. Das gedämpfte Licht und die olivgrauen Wände ließen den Raum Trist und abstoßend erscheinen.
Die zwei Adrac, die Karja gebracht hatten, stellen sie mitten in den Raum, so dass ihr Blick zum Tisch ging.
„Mensch“, stellte der Adrac fest, der hinter den Papieren saß. „Weiblich.“
Sofort begann der andere Adrac Daten in den Computer einzugeben.
Karja wehrte sich noch immer gegen ihre Peiniger, die sie festhielten. Dem Adrac-Bürokraten entging das nicht. „Minenarbeiter“, entschied er. Nur dort konnte sie keinen besonders großen Schaden anrichten. Dann nahm er ein Instrument und kam damit zu ihr. Sein Reptilkopf schien sie interessiert zu mustern, aber aufgrund der Facettenaugen war es unmöglich das genau zu sagen. Karja wich so weit vor ihm zurück, wie es ihr möglich war, wurde aber von den Wachen festgehalten. Sein modriger Atem wehte ihr entgegen. Am liebsten wäre Karja davongelaufen, doch hielten die Krieger sie noch immer fest.
Dann umschlossen die Krallenfinger des Bürokraten den Uniformärmel ihres linken Armes und riss ihn blitzschnell ab. Entsetzt sah die junge Frau ihn an. Sie wusste nicht, was der Adrac jetzt vorhatte und ihr Geist spielte schon alle Möglichkeiten durch.
Ungeschickt nahm der Bürokrat das Gerät, das er vom Schreibtisch mitgebracht hatte, zwischen seine drei Krallenfinger und setzte es an ihrem Oberarm an. Ein kleiner Stich und Karja spürte wie ihr ein wenig Blut abgenommen wurde.
Inzwischen war auch der Adrac hinter dem Computer aufgestanden und kam zu ihnen herüber. Obwohl das in den panzerartigen Knochenplatten schwer zu erkennen war, hatte Karja den Eindruck, als ob dieser deutlich älter wäre, als die anderen Adrac, die sie bisher gesehen hatte. Und er war dicker, das war ganz deutlich zu sehen. Während die Adrac sonst immer schlank und wendig waren und damit geschickt im Kampf, war dieser hier doch sehr behäbig. Vermutlich war er deswegen zu diesem Dienst abkommandiert worden. Er nahm dem Bürokraten das Instrument mit der Blutprobe ab und gab ihm ein neues. Dieser nahm es mit einem leisen Brummton entgegen. Dann wandte er sich Karjas Gesicht zu.
Als sie merkte, dass er mit seinen Krallen auf ihre Augen zuhielt versuchte sie auszuweichen. Aber sofort hielten die zwei Krieger neben ihr auch ihren Kopf fest. Der Bürokrat näherte sich ihr mit dem Instrument in der einen Hand und mit seinen Krallen der anderen Hand.
Erneut stieg Panik in Karja auf. Was hatte dieser Irre vor? Wollte er ihr die Augen ausstechen? Dieser Gedanke entsetzte sie immer mehr. Bisher hatte sie Angst davor gehabt, die Adrac könnten sie töten oder, schlimmer noch, versklaven. Mit einem Schlag wurde ihr jetzt bewusst, dass sie etwas ihrer Meinung nach noch viel Schlimmeres tun konnten. Sie konnten sie verstümmeln. Und dieser Gedanke lies ihren Rest an Disziplin zerbrechen. „Nein“, schrie sie laut und versuchte wieder sich loszureißen. „Ihr verdammten Bastarde, lasst mich los“, kreischte sie.
Doch die Adrac packten sie noch fester, bis sie sich nicht mehr bewegen konnte. Dann kam er mit seinem Instrument noch näher. Karjas Herz raste vor Panik. Sie beobachtete, wie sich die scharfen Krallen langsam näherten. Lange konnte sie diesen Stress nicht mehr aushalten.
Der Adrac öffnete mit seinen Krallen Karjas linkes Auge und führte einen Netzhautscann durch. Danach ließ er wieder von ihr ab und wandte sich dem runden Adrac zu.
Die Panik hatte den Adrenalinspiegel in ihr so hoch getrieben, dass Karja noch gar nicht richtig bewusst war, dass der Adrac nur einen Netzhautscann gemacht hatte. Nur langsam beruhigte sie sich wieder etwas. Und damit einher ging ein Gefühl der totalen Erschöpfung. Sie hatte viel mitgemacht in den letzten Stunden. Und sie hatte dabei immer hochkonzentriert bleiben müssen, trotz der vielen psychologischen Versuche der Adrac, sie zur geistigen Aufgabe zu zwingen. Doch nun verlangten ihr Körper und ihr Geist Ruhe. Die natürliche Konsequenz dieser Kraftleistung. Nur zur völlig falschen Zeit.
Eine erneute Berührung der Krallenfinger des Bürokraten ließ Karja zusammenschrecken. Sie war kurz unaufmerksam gewesen und hatte nicht gesehen, was er vorhatte. Nun spürte er wie er mit zweien seiner Krallenfinger an ihrer Uniform entlang fuhr. Ganz langsam vom Hals hinunter über ihre Brüste. Ein Ekelgefühl kroch Karja den Rücken hinauf. Doch sie konnte sich nicht wehren. Die zwei Adrac-Wachen hielten sie noch immer mit eisernem Griff fest.
Dann zog der Bürokrat seine Hand zurück und holte mit der anderen aus. Erst jetzt bemerkte Karja, dass er in dieser Hand ein weiteres technisches Gerät hielt. Doch es war bereits zu spät. Er drückte ihr das Gerät auf die Stirn. Karja schrie laut auf. Kleine Stromstöße brannten sich in ihre Haut. Ein wenig Rauch stieg auf. Die Indianerin hatte das Gefühl, dass ihr Gehirn verbrannte. Ungefähr so musste es gewesen sein, als im brutalen zwanzigsten Jahrhundert ein Mensch auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde. Nur dies hier war nicht annähernd so stark. Und doch hatte Karja das Gefühl, ihr Gehirn wäre vaporisiert worden, als der Adrac-Bürokrat ihr das Gerät wieder von der Stirn nahm. Karja hing nun völlig benommen in den Armen der Adrac. Ihr Körper gab auf. Mit blutunterlaufenen Augen sah sie den Bürokraten an. Doch der blickte nur die Krieger an, die sich daraufhin umwandten und Karja zu einer zweiten Tür schleppten. Karjas Füße schleiften hinterher, doch das war ihr nun völlig gleichgültig. Sie wehrte sich auch nicht mehr gegen die über ihr einbrechende Müdigkeit und gab sich völlig dem rettenden Dunkel hin.
Die Brücke der Republic
war leer und verlassen. Nur das Surren von ein paar wenigen Geräten unterbrach die Stille. Die Notbeleuchtung sorgte dafür, dass man wenigstens ein bisschen was sehen konnte. Noch immer hielt sich Rauch unter der Decke, der durch eine zerborstene Leitung entstanden war. Seine Schwaden zogen sich durch die spärliche Beleuchtung und wirkten als hätten sie ein Eigenleben. Wie Gespenster trieben sie langsam umher. Da die Lebenserhaltungssysteme nicht arbeiteten, konnte der Rauch nirgendwohin entweichen. Das machte die Luft auf der Brücke stickig und das Atmen schwer. Außerdem trübte es den Blick. Trotzdem sah Real auf den ersten Blick, dass nur die technische Station zerstört war. Alles andere schien unbeschädigt. Und vor der technischen Station lag die einzige Leiche auf der Brücke. Real wusste, dass der Mann bei der Explosion seiner Konsole getötet worden war. Das hatte er noch mitbekommen, bevor er die Brücke verlassen hatte. Weitere Tote hatte es hier bei der Enterung nicht mehr gegeben. Die Brückencrew hatte keinen weiteren Widerstand mehr geleistet. Das hätte auch keinen Sinn mehr gemacht. Wenn die Eindringlinge bereits die Brücke erreicht hatten war das Schiff ohnehin verloren.
Real hatte zusammen mit Sandra Hill die Brücke durch den linken Turbolift betreten. Zuvor waren sie aus dem Speisesaal drei Decks weit durch die Jeffriesröhren gekrochen, den schmalen Wartungsgängen, die sich durch das Schiff zogen. Auf Deck sechs hatten sie festgestellt, dass der Turbolift zur Brücke noch funktionierte. Und dann betraten sie die Kommandobrücke, so als sei nie etwas geschehen. Nur, dass hier eben niemand mehr war. Langsam gingen sie die Bedienkonsolen ab und verschafften sich einen Überblick darüber, was noch funktionierte. Auf den ersten Blick schien das entmutigend wenig zu sein.
„Mich wundert es, dass Captain Sanawey die Selbstzerstörung des Schiffes nicht ausgelöst hat“, dachte Real laut nach. Das wäre eigentlich der nächste Schritt gewesen, um zu vermeiden, dass das Schiff in Feindeshand gerät. Und er war überzeugt davon, Captain Sanawey würde vor so einem Schritt nicht zurückschrecken.
Hill sah ihn nur an. Der Gedanke, einer Zerstörung des Schiffes und damit ihrem eigenen Tod entgangen zu sein, schockierte sie nicht mehr. Denn dann hätte sie den Schrecken des letzten Tages nicht mehr erleben müssen.
„Helfen Sie mir bei der Auswertung der Computerdaten“, bat Real. „Vielleicht können wir rekonstruieren, was passiert ist.“
Erneut sah sie ihn nur mit leeren Augen an, nickte dann und ging zur Wissenschaftsstation. Real hatte den Eindruck, als sei ihr alles gleichgültig. Sie interessierte sich nicht mehr dafür, was mit ihnen geschah. Für sie stand bereits fest, dass sie sterben würden. Und vielleicht war es ihr auch ganz recht so, wenn sie dadurch von ihren seelischen Schmerzen befreit werden würde.
„In welcher Abteilung arbeiten Sie?“ fragte Real, als er sich zu ihr hinzugesellt hatte. Er musste irgendetwas mit ihr reden. Sie hatte nichts mehr gesagt, seit sie den Speisesaal verlassen hatten.
„Maschinenraum“, war die knappe Antwort.
Real rief einige Daten ab, von denen er wusste, dass sie ihnen weiterhelfen konnten. „Also sind Sie Ingenieurin?“ stellte er fest.
„Nein.“
Ihre kurzen Antworten brachten Real etwas aus dem Konzept. Verwirrt sah er zu ihr hinüber. Diese Art von Unterhaltung fiel ihm nicht sehr leicht. Er redete unter normalen Umständen schon nicht sonderlich viel. Und außerdem war er Sicherheitschef und kein Psychologe. Wenn sie nicht mit ihm reden wollte, dann wusste er nicht, was er dagegen tun sollte.
„Hier ist was Sie suchen“, sagte sie schließlich monoton und deutete auf einen kleinen Bildschirm. Real sah sich die Daten genau an. „Die Selbstzerstörung ist aktiviert worden. Aber sie scheint defekt zu sein und konnte nicht ausgelöst werden“, deutete Real die Daten, die er las. „Gute Arbeit, Mrs. Hill. Danke“, nickte Real und lächelte sie freundlich an, so dass kurz seine schneeweißen Zähne aufblitzten. Doch sie erwiderte es nicht. Real wusste nicht mehr, was er tun sollte um sie aufzumuntern.
Plötzlich öffnete sich links von ihnen die Turbolifttür mit einem leisen Seufzen. Blitzschnell fuhren die zwei herum und starrten zur Tür. Real griff automatisch an seine Hüfte. Und musste feststellen, wie leichtsinnig er gewesen war. Er hatte sich nicht einmal bewaffnet. Seine Hand griff ins Leere, wo er eigentlich seinen Phaser finden müsste. Innerlich verfluchte er sich für diese Nachlässigkeit. Bisher war er einfach davon ausgegangen, es wäre kein Feind mehr an Bord. Jedoch war das nur eine Vermutung gewesen, denn er hatte keine Beweise. Und diese Vermutung konnte sie jetzt das Leben kosten.
Ein Fuß kam aus dem Lift heraus, und Real atmete tief durch, als er Sternenflottenstiefel erkannte. Ein Offizier, dem sie seit dem Überfall noch nicht begegnet waren, betrat die Brücke. Sein Blick fiel auf die zwei. Zuerst fuhr er erschrocken zusammen, dann stieß er einen Freudenschrei heraus. „Dem Himmel sei Dank. Zwei Lebende.“ Er stürmte auf sie los und umarmte Real. Er drückte ihn an sich, als wolle er sich vergewissern, dass ihm seine Augen keinen Streich spielten. Hill trat einen Schritt zurück. Offenbar erwartete sie, der Mann würde im nächsten Moment auch sie umarmen wollen, was ihr nicht behagte.
Real löste sich aus der Umarmung, hielt den Mann aber an den Schultern fest, damit er sich nicht abwenden konnte. „Beruhigen Sie sich, Lieutenant“, befahl er in mahnendem Tonfall. Zwar verstand er die Freude des Mannes, trotzdem mussten sie ihre Disziplin aufrechterhalten, wenn sie weiterkommen wollten.
Der Mann sah ihn kurz erstaunt an, riss sich dann aber zusammen und stand stramm vor Real. Immerhin war der Sicherheitschef ranghöher und somit ein Vorgesetzter.
„Stehen Sie bequem und erstatten Sie Bericht“, wies Real ihn an.
Der Offizier entspannte sich wieder leicht. „Lieutenant Sharks, Sir. Botanisches Labor“, begann er. „Wir waren gerade im Labor, als die Adrac das Schiff enterten. Ich konnte mich in einer Jeffriesröhre verstecken. Deshalb bin ich ihnen entgangen. Sie haben das Schiff nicht einmal richtig durchsucht, sonst hätten sie mich sicherlich entdeckt.“
Real nickte. Auch er hatte schon bemerkt, dass die Adrac nicht sehr gründlich vorgegangen waren. Wieso wurde ausgerechnet ein Teil der Leute im Speisesaal verschont und andere mitgenommen? Was hatten die einen, was die anderen nicht hatten? Es schien keinen Sinn im Vorgehen der Adrac zu geben. Warum eroberten sie das Schiff, wenn sie es dann mit einem Teil der Besatzung zurückließen? War es eine Falle? Aber wozu?
„Gut gemacht, Lieutenant“, wandte er sich wieder an den Offizier.
Unruhig trat dieser von einem Bein aufs andere, fast so, als sei ihm das Lob des Sicherheitschefs peinlich.
„Ist noch was, Mr. Sharks?“ fragte Real nach, wobei er sich beherrschen musste, um nicht ungeduldig zu klingen.
„Na ja, Sir. Es ist nur… nein, eigentlich…“ stotterte er herum.
„Raus mit der Sprache“, drängte Real nun doch.
„Es ist so... Ich habe es nicht gut gemacht. Fähnrich Lytal wollte sich ebenfalls in der Jeffriesröhre verstecken. Aber ich hab sie zurückgewiesen. Und ich hab die Luke vor ihr geschlossen. Ich hatte Angst, sie würde es nicht rechtzeitig herein schaffen und die Adrac würden mich dann entdecken. Die Adrac haben sie dann mitgenommen. Sie ist verschleppt worden, Sir, weil ich Angst hatte. Weil ich zu feige war“, jammerte der Offizier.
„Reißen Sie sich zusammen“, mahnte Real, doch dann wurde ihm bewusst, dass beruhigende Worte eher angebracht waren. Immerhin war der Mann Botaniker und kein Sicherheitsoffizier. „Niemand kann Ihnen einen Vorwurf machen. Und hätten Sie auf Fähnrich Lytal gewartet, wären sie vielleicht beide verschleppt worden. Das hätte niemandem genutzt.“ Er legte eine Pause ein, sah aber an Sharks‘ Gesicht, dass dieser noch nicht sonderlich beruhigt war. Eigentlich wollte er sein eigenes Erlebnis nicht erzählen, aber es konnte dem jungen Lieutenant helfen. Und das war im Moment wichtiger als falsche Eitelkeit. „Wir alle haben Fehler gemacht“, begann er langsam aber mit betont fester Stimme. „Ich selbst habe während des Angriffes in einem Turbolift festgesteckt und alles verschlafen. Verschlafen nicht gerade, ich hatte das Bewusstsein verloren. Ich wusste nicht einmal, dass wir geentert wurden.“ Deutlich spürte er, wie die zwei ihn mit großen Augen anstarrten. Es war ihm peinlich, doch versuchte er, sich das nicht anmerken zu lassen. Und er beschloss, nun genug gesagt zu haben. Er musste zum Schluss kommen. „Aber wenn wir uns zusammenreißen, können wir unsere Fehler wieder gut machen und die Crew retten.“
Sharks‘ Miene hellte sich ein wenig auf, als er nach kurzem Schweigen antwortet. „Ja, Sir. Sie haben recht. Was soll ich tun?“
Der Sicherheitsoffizier wusste nicht, was er als nächstes brauchte. Zunächst war die Bestandsaufnahme der Schäden wichtig. Vorher konnte er die Leute nicht einteilen. Da der Mann aber etwas tun musste, befahl er ihm: „Sie gehen zur Waffenkammer und holen uns ein paar Phaser. Bringen Sie etwa ein Dutzend mit zu Brücke.“
„Ja, Sir“, antwortete der Lieutenant sofort und Eifer kehrte in seiner Stimme zurück. Er machte auf dem Absatz kehr und lief zum Turbolift.
„Und wir haben hier noch einiges zu tun“, wandte Real sich an Hill. „Zuerst müssen wir die internen Sensoren wieder aktivieren, um einen Überblick über die Schäden zu bekommen.“
„Ja, Sir“, antwortete sie zu seiner Überraschung und ein kurzes Lächeln umspielte leicht ihre Lippen als sie leise sagte: „Verschlafen.“
Zuerst war es Real peinlich, dass sie seinen Fehler belustigend fand, aber dann konnte er sich ein leichtes, triumphierendes Lächeln nicht verkneifen.
Karja. Karja
. Der Name hallte immer wieder durch ihren Kopf wie aus weiter Ferne. Der Name kam ihr bekannt vor, als ob sie ihn kennen müsste. Aber er sagte ihr nichts. Karja
. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nur, dass es dunkel war. Es war so dunkel, dass man nichts erkennen konnte, nicht einmal die eigene Hand vor Augen. Wenn sie eine Hand gehabt hätte. Aber wenn sie an sich herunterschaute konnte sich nichts entdecken. Die Dunkelheit verschluckte sogar ihren Körper. Hatte sie überhaupt noch einen Körper? Sie konnte es nicht sagen. Karja
. Die Welt schien nur noch aus Schwärze zu bestehen, die nichts anderes neben sich zuließ. Sie war gefangen in dieser Schwärze, aber es fühlte sich nicht gefährlich an. Es war beruhigend. Karja
. Sie wünschte sich, diese Karja würde endlich reagieren, damit es wieder ruhig werden konnte. Denn die Stille hier war, mit Ausnahme dieser Stimme, vollkommen. Und es war so angenehm nichts hören zu müssen. Und sie fühlte sich federleicht. Sie fühlte sich so gut. Es gab keine Zwänge, keine Pflichten. Sie konnte sich der Dunkelheit hingeben und einfach nur sein. Wach auf
. Die Stimme sollte endlich schweigen. Sie war völlig fehl am Platz. Und was wollte die Stimme? Dass sie aufwachte? Wieso aufwachen? Das ergab doch gar keinen Sinn.
Eine Hand berührte sie an der Wange. Diese Berührung spürte sie wieder und sie vertrieb langsam die Dunkelheit um sie herum. Diese angenehme Dunkelheit. Sie wollte dort nicht weg, aber es zog sie fort. Ein leichter, pochender Schmerz auf ihrer Stirn führte sie direkt zurück in die Realität. Und erinnerte sie auf grausame Weise daran, dass sie sich in den Händen der Adrac befanden. Unter diesen Umständen hätte der Schlaf auch ewig andauern können.
„Karja. Wach bitte auf.“ Sie erkannte die Stimmte. Das war die ihres Vaters. War sie gerettet worden? Befand sie sich wieder an Bord der Republic
? In Sicherheit? Ihr Herz schlug freudig schneller. Sie riss ihre Augen auf. Doch anstatt der hellen Räumlichkeiten des Schiffes erwartete sie ein Halbdunkel. Irgendwo erhellten matte Lichter den Raum, doch reichte das kaum aus, um mehr als eine dämmrige Stimmung zu verbreiten. Ihr Vater hatte sich über sie gebeugt und sah sie besorgt an. „Karja, alles in Ordnung?“
„Was...?“ brachte sie mühsam hervor und versuchte sich etwas zu schnell aufzurichten, was sich sofort als Fehler herausstellte. Schwindel erfasste sie und ließ sie taumeln. Stützende Hände griffen nach ihr und bewahrten sie davor, dass sie mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug. „Vorsicht“ und „Langsam“ hörte sie besorgt aus allen Richtungen. Für einen kleinen Augenblick schloss sie die Augen. Dann war das Schwindelgefühl wieder vorüber. Als sie die Augen nochmals öffnete blickte sie erneute in das besorgte Gesicht ihres Vaters. Auf seiner Stirn sah sie ein abstraktes Muster, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es schien in seine Haut gebrannt zu sein und an den Rändern hatte sich eine kleine Blutkruste gebildet.
Er schien zu merken, wohin sie starrte, denn er erklärte ihr sofort, was es damit auf sich hatte. „Das haben alle hier. Scheint so eine Art Brandmal zu sein. Ein Erkennungszeichen, damit die wissen, wo wir hingehören. Aber keine Angst, in einer Sternenflottenkrankenstation bekommen sie das mit einem Hautregenerator wieder hin. Ohne Spuren zu hinterlassen“, versuchte er ihr aufkommendes Entsetzen gleich wieder zu beruhigen. Ihm war klar, dass keiner den Rest seines Lebens mit diesem Zeichen herumlaufen wollte. Falls der Rest ihres Lebens nicht äußerst kurz sein würde.
Karja umarmte ihren Vater und drückte sich ganz fest an ihn. Zuerst vergrub sie ihr Gesicht an seinem Hals. Sie wollte nichts sehen, einfach nur Geborgenheit spüren. Und sie wollte aus diesem Albtraum erwachen. Nur war es eben kein Traum, dessen war sie sich bewusst. Nach einer Weile zwang sie sich dazu, den Blick zu heben und sich der Realität zu stellen. Doch was sie sah, entsetzte sie zutiefst und löst ein erneutes Grauen in ihr aus, das schlimmer war als alles, was sie bisher verspürt hatte. Sie waren in einer Höhle gefangen, die kaum genug Platz für alle Anwesenden bot. Dicht an dicht drängten sich halb verhungerte Wesen verschiedenster Spezies. Entbehrung zeichnete ihre Gesichter, und ihre Körper waren übersäht mit kleineren und größeren Wunden. Wunden, die sie bei Unfällen während der Zwangsarbeit und bei Zusammenstößen mit den Wachen davongetragen hatten. Zum Glück konnte sie bei diesen Lichtverhältnissen nicht weit sehen, so dass ihr das volle Ausmaß des Leides erst einmal erspart blieb. Trotzdem konnte sie in den Augen der Wesen, die ihr am nächsten standen, das volle Elend, das sie erlitten hatten, erkennen. Kummer und Resignation zeigten sich da, vor allem aber Leere. Die meisten von ihnen funktionierten nur noch wie seelenlose Roboter, die ihre Arbeit verrichteten ohne nachzudenken, bis zum Ende. Der Überlebensinstinkt zwang sie dazu, doch in Wirklichkeit waren sie innerlich schon alle tot. Es war nur eine Frage von Tagen, bei manchen vielleicht Wochen, bis das tatsächliche Ende kommen würde. Hinzu kam das völlig perfekte Überwachungssystem der Adrac. Eine Flucht war damit unmöglich und jeder noch so kleine Funken Hoffnung im Keim erstickt. Und ohne Hoffnung konnten selbst die tapfersten Krieger zu willenlosen Arbeitern werden.
Karja konnte den Anblick nicht länger ertragen und wendete ihren Blick ab. Stattdessen bemerkte sie ihre Kameraden von der Republic
. Sie saßen über den Boden verstreut. Sorge und Angst lag in ihren Gesichtern, teilweise noch der Schock der Ereignisse. Verzweiflung und Hilflosigkeit breitete sich über ihnen aus. Es waren bestimmt an die zweihundert rote Uniformen zu sehen, die sich deutlich von den übrigen Gestalten hier abhoben. Die Adrac hatten es nicht für nötig gehalten, sie ihnen abzunehmen. Aber lange würden die Uniformen ohnehin nicht mehr halten. Bald würden sie alle so aussehen wie die anderen Gefangenen auch; zerrissene Klamotten, übersät mit Wunden, halb verhungert.
Panik tastete noch ihr, als ihr schlagartig das volle Ausmaß ihrer Lage bewusst wurde. Dies hier war schlimmer als der Tod. Dies hier war die Hölle.
Stirnrunzelnd las Droga den Bericht durch, den er in Händen hielt. Was da stand bereitete ihm echtes Kopfzerbrechen und bot Anlass zur Sorge. Er war so besorgt, dass ihm ein Stirnrunzeln gelang, obwohl das aufgrund seiner Physiologie gar nicht so einfach war. Seine leichte Stirnwulst spannte die Haut so, dass er sie kaum bewegen konnte. Nur wenn er wirklich besorgt war und sich alles in ihm anspannte, dann geriet auch die Haut auf der Stirn in Bewegung.
Es war ein Bericht des Geheimdienstes seines Volkes, der ihn so beschäftigte. Den Bericht hatte er bereits gestern Abend erhalten und er hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht. Trotzdem war er noch keinen Schritt weiter. Ihm war nach wie vor nur bewusst, dass der Bericht höchst brisant war und jede Menge Zündstoff beinhaltete. Laut diesem Bericht war ganz in der Nähe des von den Xindi beanspruchten Raumgebietes ein Schiff der Föderation angegriffen und schwer beschädigt worden. Danach war das Schiff geentert und die Mannschaft vermutlich verschleppt worden. Hier wurde der Bericht etwas vage. Die Quelle, die diese Informationen geliefert hatte, war sich in diesem Punkt nicht ganz sicher. Dazu hatte sie auch zu wenig mitbekommen. Ein Xindi-Frachter hatte aus einiger Entfernung diesen Angriff beobachtet und hinterher die Meldung gemacht. Demnach hatte sich der Frachter im äußersten Sensorenbereich befunden, als der Angriff stattgefunden hatte. Und sie hatten sich auch nicht näher herangewagt, um nicht selbst noch ein Opfer der Angreifer zu werden. Aber diese waren offenbar so mit ihrem Gegner beschäftigt gewesen, dass sie den Frachter nicht registriert hatten. Als sie schließlich von dem Sternenflottenschiff abgelassen und sich zurückzogen hatten, trieb das Schiff der Menschen steuerlos im All. Es war zu vermuten, dass an Bord niemand mehr am Leben war. Wer die Angreifer allerdings gewesen waren, dass hatte die Beobachter nicht sagen können. Die Bauart der Schiffe war ihnen unbekannt gewesen.
Es gab zwei Punkte, die Droga an diesem Bericht Sorge bereiteten. Zum einen, dass die Sternenflotte in den Vorfall verwickelt war. Und es war schon das zweite Föderationsschiff, das in dieser Gegend innerhalb eines Jahres angegriffen worden war. So etwas würde niemand einfach nur zur Kenntnis nehmen. Zwei solche Vorfälle, das rief geradezu nach einer ausführlicheren Untersuchung. Das hieße, die Gefahr, dass bald noch mehr Schiffe der Föderation hierher kamen um Nachforschungen anzustellen, war deutlich gestiegen. Keine angenehme Aussicht. Die letzte Begegnung mit dem interstellaren Völkerbund lag bereits über hundert Jahre zurück und war eher schwierig gewesen, milde ausgedrückt. Und seitdem hatte es keine weitere Begegnung mehr gegeben. Droga würde es gerne dabei belassen. Zumindest vorerst. Er wollte die Xindi zuerst einen und damit stärken, bevor sie sich wieder anderen Völkern zuwenden konnten. Das würde ihre Position stärken und für andere nicht so ein verlockendes Ziel darstellen. Denn einen starken Gegner anzugreifen überlegte man sich doch zweimal, während ein einfacher Widersacher, den man ohne große Verluste überrennen konnte, so nebenher kassiert wurde.
Der zweite Punkt waren diese Unbekannten, die diese Angriffe durchführten. Niemand wusste wer das war oder woher sie kamen. Allerdings führten sie schon seit Jahren Überfälle in diesem Raumgebiet durch. Und das immer häufiger und in immer kürzeren Abständen. Bisher war es dem Geheimdienst seltsamerweise noch nicht gelungen hinter die Identität dieser Spezies zu kommen. Droga war sich bewusst darüber, dass der Geheimdienst der Humanoiden-Xindi sicherlich nicht der Beste war. Aber so schlecht war er auch wieder nicht. Doch immer wieder warfen Unfälle und Schlampereien die Nachforschungen weit zurück, so dass sie wieder fast bei null anfangen mussten. Es hatte auch schon die seltsamsten Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Ergründung der Fremden gegeben. So waren einmal sämtliche zusammengetragenen Informationen über diese Spezies verschwunden. Einfach so. Und zwar mitsamt den Sicherungen und den Sicherungen der Sicherungen. Aber eben nur diese Daten. Alles andere war auf den Computern nach wie vor vorhanden gewesen. Und nicht einmal den Geheimdiensten der anderen vier Xindi-Rassen war bisher eine Identifizierung der Spezies gelungen. Es war, als handele es sich dabei um ein Geistervolk. Oder jemand wollte verhindern, dass sie mehr über dieses Volk erfuhren. Das aber würde bedeuten, sie hätten einen Maulwurf in ihren Reihen. Einen Insider, der sämtliche Daten manipulieren und sie am erfolgreichen Abschluss der Arbeit hindern konnte. Das aber war fast nicht zu glauben. Denn dann müssten alle fünf Geheimdienste der Xindi infiltriert worden sein.
Droga erkannte die Gefahr, die diese Fremden darstellten. Zwar schienen sie einen weiten Boden um die Xindi zu machen, ja sie geradezu zu meiden, doch lockten sie mit ihren Aktionen andere Völker an. Und das erhöhte den Druck auf die Xindi. Zudem konnte es nicht sein, dass sich eine fremde Rasse an den Grenzen des Xindi-Reiches ausbreitete, von der sie nichts wussten, die sie nicht einmal kannten. Zwar schien es so, als beträfe das in erster Linie die Grenzen zweier anderer Xindi-Rassen. Doch war Droga sich völlig im Klaren darüber, dass keine Xindi-Art für sich alleine stand, so sehr manche das auch betonten und sich wünschten. Letztlich würden sie alle dasselbe Schicksal teilen, denn sie waren, trotz ihrer teils extremen Unterschiede, ein Volk. Eine Spezies, die dieselbe Geschichte teilten, dieselben Vorfahren und denselben Heimatplanten hatten. Der Grundaufbau ihrer DNA war gleich. Das konnten nicht einmal die größten Unabhängigkeitsverfechter bestreiten. Sie waren so etwas wie Brüder und Schwestern, und das würde sich niemals ändern.
Sein Blick kehrte zu dem Bericht zurück. Er musste diesen Bericht unbedingt dem Rat vorlegen. Und er musste seinen Kollege davon überzeugen, dass es wichtig war, diesem Föderationsschiff zu helfen. Unauffällig und aus dem Hintergrund natürlich. Doch das Schiff musste samt seiner Crew wieder nach Hause zurückkehren. Denn dann würden nicht nur die Suchmannschaften ausbleiben. Es konnte sogar sein, dass diese Angriffe der Fremden so abschreckend wirkten, dass nie wieder ein Föderationsschiff hier auftauchte. Dann hätte die Angelegenheit sogar noch etwas Gutes gehabt. Doch soweit waren sie noch lange nicht. Er war sich bewusst darüber, dass es nicht leicht sein würde, den Rat zu einer Unterstützung überreden zu können. Niemand würde diesen Weitblick teilen, den er über die ganze Sache hatte. Seine vier Kollegen waren sehr skeptisch und wenig bereit anderen zu helfen. Selbst wenn es zum Vorteil des eigenen Volkes war. Denn meist weigerten sie sich, diesen Vorteil auch zu sehen.
Und wenn er es schaffen würde, den Rat zu überzeugen, so war dies erst ein Vorschlag, den die jeweiligen Regierungen noch annehmen mussten. Oder ablehnen konnten. Das machte die ganze Arbeit hier so unglaublich schwierig und frustrierend.
In Gedanken ging er noch einmal die Argumente durch, mit denen er seine Kollegen überzeugen wollte. Das Wichtigste war, sie dazu zu bringen, dass auch ihnen bewusst wurde, wie gefährlich eine andere Rasse so nahe an der Grenze sein konnte. Und wie gefährlich die Sternenflotte für die Xindi werden konnte. Es war nicht akzeptabel, dass fremde Völker so nahe am Xindi-Territorium Aggressionen begingen, die den Xindi angehängt werden konnten.
Und er musste seine Kollegen noch davon überzeugen, die Bemühungen zur Identifizierung der Fremden stärker voran zu treiben. Sie würden ihre Zusammenarbeit in dieser Angelegenheit vertiefen müssen, wenn sie erfolgreich sein wollten. Keine leichte Aufgabe, bei dem Argwohn, der zwischen den Xindi-Völkern herrschte.
Der Signalton zur Pause war längst ertönt und die meisten Gefangenen lagen bereits in der großen Halle, um zu schlafen. Auch die Crewmitglieder der Republic
hatten sich niedergelegt, wo man ihnen Platz gelassen hatte. Es war ihr erster Tag in der Mine gewesen. Und eine solch extreme körperliche Anstrengung war keiner von ihnen gewohnt. Sie waren alle wie erschlagen und konnten sich kaum noch bewegen. Darum störte sich auch keiner weiter daran, dass sie kaum Platz und keine Privatsphäre hatten. Im Moment wollten sie einfach nur noch ausruhen und schlafen und brachen einfach irgendwo zusammen, ohne sich danach noch groß zu rühren. Nur Karja lief noch unruhig umher und sah sich die schlafenden Gefangenen an. Hin und wieder wurde sie angegrunzt, wenn sie gegen einen der Schlafenden stieß. Aber nirgendwo fand sie eine Spur von ihrem Vater. Genauso fehlten Sohral und Nerre. Sorge spiegelte sich auf dem Gesicht der jungen Frau. War ihnen etwas zugestoßen? Waren sie gar tot? Wenn sie nicht bald auftauchen würden, dann hatten sie keine Überlebenschance. Denn wenn das Tor zu dieser Halle erst einmal geschlossen war, dann patrouillierten die Wachen durch die Minen um auf alles zu schießen, was sich bewegte. Die Adrac wollten unter allen Umständen vermeiden, dass sich Sklaven in den Minen versteckten und sich damit ihrer Autorität widersetzten.
„Karja, was ist los?“ wollte Danny Palmer müde von ihr wissen, als sie gerade neben ihn trat. Auch er war einer der Unglücklichen, die das Pech gehabt hatten, den Adrac in die Hände zu fallen. Auch wenn sie längst festgestellt hatten, dass nicht alle Crewmitglieder hier waren. Entweder waren nicht alle in dieser Mine oder die anderen waren einfach schon tot. Genau wusste das keiner. Karja war einerseits froh, dass Danny auch hier war, andererseits war es schwer zu sehen, wie auch er litt.
„Mein Vater ist noch nicht da“, sagte sie ein wenig panisch. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
„Der wird schon noch kommen“, erwiderte Danny leichthin. Er war fix und fertig und wollte nur noch schlafen.
„Aber die Tore werden gleich geschlossen. Wenn er dann nicht da ist…“ Sie sprach nicht weiter, weil sie die Konsequenz einfach nicht aussprechen konnte. Es war schon schlimm genug sie zu kennen. Aber es auszusprechen machte die Sache eben noch realer.
Danny brummte genervt. Er könnte schon längst schlafen, wenn der Captain hier wäre. „Dein Vater ist ein verdammter Egoist, wenn er meint, so auffallen zu müssen“, gab er böse zurück. „Er sollte sich seinem Schicksal fügen und uns alle nicht unnötig in Gefahr bringen.“
Karja glaubte, ihr Herz setze einen Schlag aus, so trafen sie seine Worte. Das hatte er doch wohl nicht ernst gemeint? Sie konnte es nicht glauben. Aber noch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte ließ eine Bewegung an der Tür sie aufmerksam werden. Zu ihrer Erleichterung betraten Sanawey und Sohral den Raum. Sie trugen die bewusstlose Nerre. Die Uniformen der Männer waren zerrissen und Blut war zu sehen. Es sah gefährlicher aus als es war, doch das Blut erschreckte Karja aufs Neue. Die beiden trugen Nerre weiter in den Raum hinein, weg von der Tür. Karja eilte ihnen besorgt entgegen.
„Was ist mit ihr passiert“, fragte Karja besorgt.
Vorsichtig legten Sanawey und Sohral die bewusstlose Mizari auf den Boden zu den anderen Offizieren. Williams kam herbei und prüfte den Puls von Nerre. Nach einigen Augenblicken sah sie erleichtert auf. „Ihr Puls ist normal. Sie ist nur ohnmächtig“, erklärte sie den Umstehenden. Dann versuchte sie Nerre zu wecken.
„Sie brach zusammen und eine der Wachen wollte sie dann auspeitschen“, berichtete Sanawey von den Geschehnissen. „Sohral und ich sind dazwischen gegangen und haben dafür dann die Strafe erhalten.“ Dabei blickte er auf die zerrissene Uniform des Vulkaniers. Sein Rücken war mit aufgeplatzten Striemen überzogen aus denen grünes Blut floss. Trotzdem verzog er keine Miene und wirkte kein bisschen anders als sonst. „Aber wir haben sie retten können“, fuhr Sanawey fort.
„Können Sie sie wecken, Doktor? Bevor die Adrac sie bemerken?“ wandte Sohral sich an die Ärztin und kam direkt wieder auf die aktuelle Situation zurück. Sie waren noch nicht außer Gefahr.
„Ich werde alles dafür tun“, erwiderte Williams knapp und setzte ihre Bemühungen fort.
Sie brauchte noch knapp zwei Minuten, dann schlug Nerre die Augen wieder auf. Sie wirkte verwirrt, doch sonst ging es ihr gut. Es war auch gerade noch rechtzeitig. Am Eingang zur Höhle erschienen zwei Adrac und ließen ihre Blicke durch den Raum schweifen. Die Offiziere gaben sich möglichst unauffällig, um die Adrac nicht auf die Idee zu bringen, ihr Werk fortzusetzen. Aber ihre Peiniger dachten offensichtlich nicht daran. Sie sahen, dass alles ruhig war und verschlossen dann rumpelnd das große Tor. Die Gefangenen waren wieder eingesperrt. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Sie waren immer eingesperrt. Aber der psychologische Effekt dieser zusätzlichen Türe auf die Gefangenen war nicht zu unterschätzen.
Als die Adrac weg waren wandte Sohral sich leise an Sanawey. „Captain, wir scheinen die einzigen Sternenflottenoffiziere hier zu sein. Nonacs Aussage, was die Gefangenen der USS Mandela
betrifft, stimmte demnach nicht.“
„Ich habe auch keine anderen Sternenflottenoffiziere gesehen“, sagte Sanawey nachdenklich. Nach den ganzen Lügen Nonacs war er davon aber nicht sonderlich überrascht.
„Wir sollten auch noch die Frau namens Suri suchen“, schlug Sohral vor. Trotz der Umstände war er immer noch Forscher und wollte Antworten auf die offenen Fragen finden.
„Und einen Fluchtweg“, warf Reed ein, der ihm wesentlich mehr bedeutete als irgendwelche Antworten.
„Auf beides kann ich Ihnen eine Antwort geben“, erklang eine sachliche Stimme hinter ihnen.
Sofort wandten sich die Offiziere um, neugierig darauf, wer sie belauscht hatte. Und allen war sofort klar, bei nächsten Mal mussten sie leiser sein, wenn sie nicht auffallen wollten.
Hinter ihnen lag ein magerer Mann, der nur noch wenige Fetzten um die Hüften gewickelt hatte. Wunden und Narben bedeckten seinen Körper, der trotz seines geringen Körpergewichtes noch immer einige Muskeln aufzuweisen hatte und kräftig wirkte. Die Wunden hatten sich teilweise entzündet, doch schien er das ertragen zu können. Seine langen dunklen Haare hingen in Zotteln am Kopf und auch sein Bart war lang und verwildert. Der ausgeprägte Knochenkamm auf seiner Stirn, der seine Spezies eindeutig verriet, war ebenfalls leicht blutig. Insgesamt war er in einem furchtbaren Zustand. Aber er konnte ohne Hilfe aufstehen.
„Ein Klingone“, entfuhr es Reed und er zuckte ein wenig zurück, als ob er einen sofortigen Angriff erwartete.
Der Klingone hob nur seine rechte Augenbraue kurz an, ignorierte aber seltsamerweise die entsetzte Bemerkung Reeds. Normalerweise hätte ein Klingone seinen Stolz und seinen Kampfeswille wenigstens in einer provokanten Erwiderung deutlich gemacht. „Ich kann Ihnen etwas über Suri erzählen“, sagte er stattdessen sachlich.
Sanawey sah ihn skeptisch an. Von klein auf war er gelehrt worden in den Klingonen Feinde zu sehen. Sie waren ein kriegerischer Haufen, die im Kampf ihr Seelenheil suchten und für die es nichts erstrebenswerteres gab, als in einem glorreichen Kampf zu sterben. Er traute ihnen nicht und begegnete ihnen mit Skepsis. Und doch musste er unter diesen Umständen dem Klingonen zuhören, wenn er mehr erfahren wollte. „Wer sagt uns, dass Sie die Wahrheit sagen?“ blieb er aber skeptisch.
„Niemand“, kam die einfache Antwort. „Sie müssen mir einfach glauben oder die anderen Gefangenen fragen. Sie werden von jedem das gleiche hören.“ Es lag überhaupt keine Aggression in seiner Stimme. Vielleicht hatte die Gefangenschaft ihn weich gemacht.
„Wo ist denn nun Miss Suri?“ hakte Sohral nach.
„Sie ist tot“, war die nüchterne Erwiderung. „Nachdem Nonac fort gebracht wurde, saß sie bis zum nächsten Morgen in der Mitte des Raumes und weinte. Sie ging auch nicht mehr in die Mine zurück. Sie blieb alleine hier sitzen und weinte. Bis die Adrac-Wachen kamen und sie mit den Elektropeitschen in die Mine treiben wollten. Doch auch da blieb sie sitzen. Die Adrac haben sie dann so lange ausgepeitscht, bis sie tot war.“
Sanawey sah ihn fassungslos an. Wie konnte dieser klingonische Bastard bei der Beschreibung dieser Grausamkeit nur so ruhig bleiben. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann würde er glauben, einen Vulkanier vor sich zu haben. Dieser Klingone hatte seine Emotionen viel zu gut im Griff. Vielleicht aber musste er das auch, um in dieser Hölle zu überleben. Denn das hier war selbst für Klingonen die Hölle. Und normalerweise hätte ein Klingone sich längst mit einem der Adrac einen Kampf auf Leben und Tod geliefert, um dabei heldenhaft zu sterben. Denn nur ein ehrenhafter Tod sicherte den Einzug ins Stovokor, den klingonischen Himmel.
„Überprüfen Sie seine Aussage“, wandte Sanawey sich an seine Offiziere. Auf keinen Fall wollte er sich nur auf die Worte eines Klingonen verlassen müssen.
„Und was den Fluchtweg anbelangt“, fuhr der Klingone fort. „Den gibt es nicht. Niemand ist jemals aus der Hand der Adrac entkommen.“
„Sie erlauben mir sicher, an Ihren Aussagen zu zweifeln.“ Unüberhörbarer Sarkasmus lag in Sanaweys Stimme.
Doch auch diese Beleidigung ließ den Klingonen kalt. „Wenn Sie eine Idee haben, sagen Sie es mir. Ich helfe Ihnen dann. Inzwischen kenne ich mich hier in der Mine ein wenig aus.“ Er wandte sich um und wollte in eine andere Ecke des Raumes gehen, aber Sanawey hielt ihn zurück.
„Wie ist Ihr Name?“ Sanawey wollte wenigstens noch wissen wie der Mann hieß.
Der Klingone sah den Captain noch einmal kurz über seine Schulter hinweg an. „Mein Name ist Tworek.“ Dann ging er.
„Tworek“, murmelte Sanawey leise. „Ein seltsamer Bursche. Was meinen Sie, Mr. Sohral?“
Der Vulkanier sah noch immer dem Klingonen nach. Lag Überraschung in den Zügen des Vulkaniers? Nein, das konnte nicht sein. Oder?
„Alles in Ordnung, Mr. Sohral?“
„Ja, Sir“, erwiderte er und offenbar mahnte er sich, innerlich in Zukunft seine Emotionen besser zu kontrollieren. „Sir, Tworek ist ein vulkanischer Name.“
Durch den schwarzen Weltraum glitt langsam und gemächlich ein langes, schwerfälliges Schiff. Es wirkte massig und grob, so als ob das Erbauervolk nicht den geringsten Sinn für Ästhetik hätte. Nur spielte Schönheit bei den meisten Schiffen keine Rolle. Es kam auf Effizienz an. Auf den Nutzen, den es bot. Und da die meisten Raumschiffe nicht durch die Atmosphären von Planeten flogen, musste auch auf die Aerodynamik keine Rücksicht genommen werden. Im Weltraum gab es keinen Luftwiderstand, der überwunden werden musste und der bremsend auf ein Schiff einwirken würde. Theoretisch könnte man auch würfelförmige Raumschiffe bauen, die, bei gleicher technischer Ausstattung, in ihren Möglichkeiten anderen Schiffen mindestens ebenbürtig wären. Vor allem bei Frachtschiffen spielte die Raumausnutzung eine entscheidende Rolle. Je besser sie war, desto mehr Fracht konnte befördert werden. Nur ging diese Raumausnutzung meist auf Kosten der Schönheit.
So war es auch bei diesem Schiff. Es war rein auf den praktischen Nutzen ausgelegt, denn so bot es den größten Innenraum und fast jeder Quadratmeter des Schiffes war so zugänglich, dass nicht erst die gelagerte Ware zur Seite geschoben werden musste, um an Dinge zu gelangen, die dahinter lagen. Das war ein enorm wichtiger Faktor bei Händlern, denn an Umschlagbasen ging die Abwicklung deutlich schneller. Und Zeit war ja bekanntlich schon immer Geld.
Die Zeichen auf dem Schiff wiesen darauf hin, dass es sich um einen Frachter einer kleineren Rasse handelte. Eine Rasse, die keiner der großen Imperien angehörte. Es gab nicht viele dieser Rassen, denn sie lebten in ständiger Gefahr von einer Großmacht angegriffen zu werden. Und meist waren diese Rassen technisch auch noch nicht so weit, dass sie sich gegen einen Angriff hätten wehren können. Die meisten dieser kleinen Völker hatten sich daher der Vereinigten Föderation der Planeten angeschlossen, da sie dort einen Großteil ihrer Souveränität behalten konnten, trotzdem aber unter dem Schutz der Gemeinschaft standen. Andere waren erobert und besetzt worden, meist von den Romulanern oder Klingonen. Es gab aber immer noch einige dieser kleinen Rassen, die sich über drei, vier Planeten verteilten und ganz gut alleine zurechtkamen.
Plötzlich fing hinter dem Schiff der Weltraum an zu flimmern und verdichtete sich dann zu einem Objekt. Einem Raumschiff. Ein klingonischer Bird-of-Prey enttarnte sich direkt neben dem Frachter. Das Schiff bestand aus einem langen, schlanken Rumpf, der beidseits mit mächtigen, schwingenartigen Auslegern versehen war. Sie glichen Flügeln und waren auf der Unterseite rot bemalt. Das erinnerte an einen auf der Heimatwelt der Klingonen lebenden Greifvogel. An den Enden dieser Flügel waren mächtige Disruptoren angebracht, deren Zerstörungskraft größer war als die von Phasern der Föderation. Da die Flügel nur an der hinteren Hälfte des Rumpfes befestigt waren, stand der vordere, schlankere Teil heraus, wie ein Adlerkopf. Dort vorne befand sich auch die Kommandobrücke des Schiffes. Das Aussehen des Schiffes hat ihm auch seinen Namen eingebracht, denn es erinnerte sehr stark an einen Raubvogel.
Die Flügel des Schiffes ließen sich um einige Grad bewegen und dieses hier hatte die seinen in Angriffsposition gebracht. Mit einigen schnellen Feuerattacken zerstören sie die Antriebssysteme und Schutzschilde des Frachters, noch ehe dessen Crew die Gefahr erkannte, in der sie nun steckte.
Dann war wieder alles ruhig. Der Frachter trieb steuerlos im Raum und der Raubvogel passte seinen Kurs an. Es sah aus als lägen sie sich regungslos gegenüber.
„Was war das? Was ist passiert?“ rief die Besatzung des Frachters durcheinander. Der Angriff hatte auch ihr Kommunikationssystem und den Bildschirm zerstört und nun trieben sie orientierungslos und blind im All. Sie wussten nicht einmal richtig, was geschehen war.
„Bericht“, rief der Captain verzweifelt über die Brücke und versuchte zu retten, was zu retten war. Die Crew musste sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrieren und musste etwas zu tun bekommen. Und sie mussten dringend herausfinden was passiert war. Waren sie angegriffen worden oder war es ein Unfall gewesen?
„Die Lebenserhaltung und alle anderen lebenswichtigen Systeme funktionieren noch“, meldete einer der Offiziere und studierte seine Anzeigen. Er schien schon wieder etwas beruhigter zu sein. Die Erkenntnis, dass es noch Luft zum Atmen gab, schien ihm zu gefallen. „Aber der Antrieb, die Schutzschilde und die Kommunikation sind zerstört.“
„Verdammt“, rief der Captain und auf seinen katzenartigen Ohren stellten sich die Haare zu Berge. Ohne Warpantrieb würden sie mehrere Jahrzehnte bis zum nächsten bewohnten Planeten benötigen.
„Die Sensoren haben vor ihrem Ausfall noch ein klingonisches Schiff entdeckt“, meldete der Offizier wieder höchst erregt. Und sie waren diesem Schiff nun schutzlos ausgeliefert.
Langsam stand der Captain auf. Er wusste, dass sie keine Möglichkeiten hatten, irgendetwas zu unternehmen. Sie konnten nicht mehr fliehen, kämpfen ohnehin nicht, da der Frachter keine Waffen hatte, und schützen konnten sie sich auch nicht mehr. Sie konnten nur noch darauf warten getötet zu werden.
Doch es passierte nicht. Worauf warteten die Klingonen noch? Sie konnten kurzen Prozess mit dem Frachter machen. Und normalerweise machten die Klingonen keine Gefangenen. Oder wollten sie sie hier sterbend zurück lassen? Aber auch das war nicht ihre Art. Sie machten keine halben Sachen und wenn es galt etwas zu zerstören, dann waren sie immer mit Übereifer dabei, bis nichts mehr übrig war.
Auf der Brücke des Frachtschiffes erschien plötzlich das rötliche Funkeln eines klingonischen Transporters und sechs Gestalten materialisierten sich. Aber nur einer von ihnen war Klingone.
Der Frachtercaptain war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Er hatte eine Horde Klingonen erwartet, die sich im Blutrausch auf seine Crew stürzen würden. Aber stattdessen blickte er in Waffen die er noch nie gesehen hatte. Nur der Klingone trug einen typischen Disruptor seines Volkes
Einer der Männer trat einen Schritt vor. Seine Rasse konnte der Frachtercaptain nicht einschätzen, denn so jemanden hatte er noch nie gesehen. Der Mann war groß und kräftig. Er hatte einen kahlen Schädel und dieser glänzte im Licht der Schiffsbeleuchtung. Er hatte ein kantiges Gesicht und blickte finster drein. Über seinen muskulösen Körper spannte sich ein schwarzes Shirt, das keine Ärmel hatte und den Blick auf muskelbepackte Arme zuließ. Der Mann sagte auch nichts, sondern starrte ihn einfach nur durchdringen an.
„Ich bin Captain Jen’Go“, fing der Frachtercaptain daher an. „Wer seid ihr? Wisst ihr, dass ihr ein Schiff der königlichen Hoheit von Kabran angegriffen habt?“ Er versuchte mit möglichst fester Stimme zu sprechen, aber das gelang ihm nicht. Die Angst schwang deutlich mit.
„Ich bin Captain Craigs von der Dark Devil
“, sagte der Mann mit tiefer Stimme, die im Raum dröhnte. „Das ist unser Schiff da draußen. Und es interessiert mich überhaupt nicht, welcher König jetzt ein wenig von seinem Reichtum verliert. Sag deiner Crew, sie soll sich still verhalten und keine Dummheiten machen, solange wir uns in den Frachträumen umsehen. Dann geschieht keinem etwas, das verspreche ich dir.“
„Ihr seid Piraten“, stellte Jen’Go geschockt fest. In den Grenzgebieten zwischen den großen Imperien des Universums trieben einige dieser Gestalten ihr Unwesen. Und sie waren schwer zu fassen, da sich so weit außerhalb der Kerngebiete der Imperien niemand um diese Plage kümmerte. „Ihr könnt uns nicht drohen“, fuhr der Frachtercaptain aufrührerisch fort. „Wir sind manövrierunfähig und können auch keine Hilfe holen. Wir werden ohnehin alle sterben.“
„Es ist besser, du bist jetzt still, sonst wirst du auf der Stelle sterben“, fuhr der Pirat ihn drohend an und hielt seine Waffe direkt unter Jen’Gos Nase. „Wir werden Hilfe für euch holen. Niemand wird sterben.“ Mit diesen Worten nickte er seinen Leuten zu, die daraufhin einen Befehl an ihr Schiff übermittelten.
Jen’Go sah Craigs genau an. In seinem Kopf arbeitete es. Schnell ging er die Rassen durch, die er kannte. Ein Romulaner war es nicht. Genauso wenig ein Adrac, ein Xindi war er auch nicht. Aber er hatte einmal etwas von einem großen Reich gehört, in dem es viele verschiedene Rassen gab. Die zwei Rassen, die er sich davon merken konnte waren Vulkanier und Menschen. Er beschloss, dass es sicherlich ein Vulkanier war, auch wenn er weder wusste wie Menschen, noch wie Vulkanier aussahen.
Noch während er nachdachte und Craigs sich seinen Leuten zugewandt hatte, zog einer der Frachteroffiziere seinen Phaser und schoss auf den Klingonen in der Gruppe. Der Schuss traf ihn an der linken Schulter. Zuerst wurde er vom Treffer zurückgeworfen, doch blitzschnell hatte er sein Gleichgewicht wieder und feuerte seinen Disruptor ab. Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, löste sich mit einem Schrei in seine einzelnen Atome auf.
„Aufhören“, rief Craigs und schlug den Arm des Klingonen zur Seite. „Keiner schießt mehr. Es reicht, Korak.“
Die Situation war noch immer sehr angespannt. Grimmig sahen sich die Piraten auf der Brücke um. Ihre Phaser zielten auf die Frachteroffiziere, die ihrerseits die Waffen auf die Piraten gerichtet hatte. Auf gar keinen Fall wollten sie sich kampflos ergeben. Zwar waren sie alle keine Kriegermentalitäten und die Angst in ihren Augen war deutlich zu sehen. Sie trauten sich aber auch nicht, einfach die Waffen zu senken. Die Situation war wie ein Pulverfass, dem nur noch der zündende Funke fehlte. Ein falsches Wort und alles konnte in einem Desaster enden, aus dem keiner lebend herauskam. Beide Parteien waren ungefähr gleich groß. Bei einer wilden Schießerei durfte keiner hoffen zu überleben. Craigs war sich dieser Situation bewusst. Aber Jen’Go auch. Er hatte eigentlich nichts mehr zu verlieren. Außer seinem Leben, was kein geringer Einsatz war. Andererseits konnte vielleicht er noch die königliche Fracht retten und als Held nach Hause zurückkehren.
„Ich denke, Sie sollten jetzt gehen“, sagte er zu Craigs. „Denn wir werden unsere Fracht verteidigen bis zum letzten Mann.“ Sein Ton klang wieder fester und zuversichtlicher.
„Dann werdet ihr alle sterben“, knurrte der Klingone Korak ihn an und fletschte die Lippen, so dass seine krummen und spitzen Zähne zu sehen waren.
„Es reicht jetzt“, rief Craigs und versuchte die Situation unter Kontrolle zu bringen. „Ihr werdet jetzt die Waffen senken und euch ergeben. Unsere Enterkommandos sind bereits im Frachtraum und nehmen sich, was wir brauchen. Und ihr habt ohnehin keine Chance, also fügt euch. Ihr habt sonst nicht mehr lange zu leben.“ Craigs Augen funkelten. Würde Jen’Go es noch einmal wagen etwas zu sagen, war Craigs Autorität bei seiner Crew in Gefahr. Viele waren ohnehin nicht sehr erfreut über seine Art, einen Überfall durchzuführen. Ihrer Meinung nach schonte er zu viele Leben. Aber bisher war jeder Überfall ein Erfolg gewesen. Und solange das so blieb, war er auch sicher. Darum konnte er es sich nicht leisten einen Moment der Schwäche zu zeigen. Wenn Jen’Go noch ein Worte sagte, dann musste er ihn töten. Doch das wäre dann wohl der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde.
Doch Jen’Go schwieg. Offenbar hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass er sich zwischen seiner Fracht und seinem Leben entscheiden musste. Er würde nicht beides retten können. Es war besser am Leben zu bleiben und der königlichen Armee einen ausführlichen Bericht zu bringen.
Er nickte seinen Leuten zu, worauf diese die Waffen senkten. Ein junger Offizier zögerte jedoch einen kurzen Moment. Es war sein letzter. Korak schoss auf ihn, worauf auch er sich auflöste.
Craigs kochte innerlich, sagte aber nichts. Die einzige Möglichkeit, wie er ganz ohne jeden Schaden an seiner Autorität aus dieser Situation herauskäme, war Korak jetzt ebenfalls zu töten. Aber das wollte Craigs nicht. Er brauchte den Klingonen noch. Sie waren ohnehin nicht genug für größere Überfälle. Und es war auch noch nicht so schlimm, dass er um sein eigenes Leben fürchten musste, auch wenn Korak nur schwer zu bändigen war. Wenn er dem Verhalten Koraks zustimmte, war das zwar nicht sonderlich gut für ihn, aber immer noch besser, wie wenn er ihn einfach nur belehren würde. Darüber würde der Klingone ohnehin nur lachen.
„Ich hoffe, das war euch eine Lehre“, fuhr Craigs den Frachtercaptain an und ignorierte Korak damit völlig.
„Euer Versprechen, dass nichts mehr passieren würde, war nicht viel wert“, erwiderte Jen’Go, ging dann aber auf die Knie zum Zeichen der Unterwerfung.
„Das galt nur bei einer Kooperation“, blaffte Craigs ihn an. „Aber ihr dachtet ja, ihr könntet hier die Helden spielen. Nur gibt es hier heute keine Helden.“
Das Piepsen eines Kommunikators unterbrach ihn. Wütend klappte Craigs ihn auf. „Was?“ brüllte er hinein.
„Wir haben was wir brauchen können“, erwiderte eine Stimme.
„In Ordnung. Verschwinden wir.“ Er änderte die Frequenz und gab den Befehl zum Zurückbeamen.
Kurz darauf war es wieder ruhig auf der Brücke. Nur die blinkenden Alarmlichter erinnerten an den Überfall.
Stumm stand die Crew da. Sie waren noch geschockt. Zwei ihrer Kollegen waren tot. Und die Ware verloren. Es hätte kaum schlimmer kommen können. Nur langsam fasste sich Jen’Go wieder. Die Crew erwartete Befehle von ihm.
„Steuermann, setzen Sie einen Kurs auf das nächste bewohnte Sternensystem“, befahl er mit noch zittriger Stimme.
„Aber Captain“, kam prompt Protest. „Wir würden Jahre benötigen, um dort anzukommen.“
„Tun Sie was ich sage“, gab Jen’Go unhöflich zurück. „Wir müssen wenigsten versuchen zurückzukommen, oder sollen wir hier warten, bis wir sterben?“ Etwas ruhiger wandte er sich den anderen Crewmitgliedern zu. „Ihr andern kommt alle mit in den Maschinenraum. Wir wollen mal sehen, was wir wieder in Stand setzen können.“
NEUN
Müde schleppte Karja sich durch die Mine zurück zu der Höhle, in der sie schliefen. Sie konnte kaum noch gerade laufen, aber sie musste durchhalten. Sie musste es einfach, auch wenn sie mit ihren Kräften völlig am Ende war. Vielleicht wurden sie ja bald gerettet. Eine vage, ja verzweifelte Hoffnung, dessen war sie sich bewusst. Doch wenn sie die Hoffnung darauf verlor, was würde sie dann noch am Leben erhalten? Dann würde sie genauso werden, wie all die anderen Sklaven, die schön länger hier waren und an nichts mehr glaubten. Und dazu war sie noch nicht bereit. Auch wenn es noch so schwer fiel weiter zu hoffen.
Eine Woche war bereits vergangen seit die Republic
in die Hände der Adrac gefallen war. Eine Woche befand sich die Crew bereits in den Händen der Adrac. Eine Woche, die jedem Vergleich einer mittelalterlichen Beschreibung der Hölle spottete. Zwar gab es hier kein Fegefeuer, doch die Qualen waren mindestens genauso schlimm. Es war nur eine Woche, doch den Gefangenen kam es bereits wie eine halbe Ewigkeit vor. Dabei war es nicht einmal mehr so sehr der Hunger, der sie quälte. Das hatten sie längst hinter sich. Es war die ständige Dunkelheit, die andauernden Bestrafungen, die damit einhergehenden Schmerzen, das Leid und Elend um sich herum, die Hoffnungslosigkeit. Es war der Anblick der Frauen und Männer und auch einiger weniger Kinder, die wahllos und nur zur Unterhaltung der Wachen gequält wurden, denen Verletzungen zugefügt wurden, um zu sehen, wie sie damit weiterleben konnten – oder ob überhaupt. Und es war diese Hilflosigkeit, nichts gegen dieses Unrecht tun zu können, dem Ganzen ausgeliefert zu sein ohne sich dagegen wehren zu können. Unter diesen Umständen zogen sich die Tage, ja sogar die Stunden endlos hin. Es war schier nicht mehr zu ertragen. Wie konnten diese Gefangenen hier nur so lange leben? Wie konnten einige ein halbes Jahr unter diesen Umständen überleben? Es schien unmöglich zu sein. Und jeder hier sehnte sich nach der Freiheit – oder dem Tod. Aber wenn sich die Gelegenheit zu sterben ergab, dann siegte doch wieder der innere Überlebensinstinkt. Und man kämpfte weiter. Für eine weitere Stunde, einen weiteren Tag. Ohne Hoffnung auf Flucht. Ohne Hoffnung, dass es jemals besser würde. Und doch kämpfte man. Es war ein Trieb, der den meisten Völkern in ihrer Geschichte schon des Öfteren zum Überleben und Weiterexistieren verholfen hatte, hier jedoch völlig fehl am Platz erschien.
Wieder erinnerte Karja sich an Suri und ihren Tod. Andere Gefangene hatten die Erzählungen des Klingonen bestätigt. Sie war wirklich von den Wachen zu Tode gepeitscht worden. Und sie hatte es einfach über sich ergehen lassen. Karja bewunderte ihre Tapferkeit. Aus Liebe zu Nonac hat sie einen qualvollen Tod auf sich genommen. Würde sie das auch tun, wenn Danny Palmer tot wäre? Sie konnte und wollte sich diese Frage nicht beantworten.
Geräusche hinter ihr ließen sie umschauen. Remog lief ein Stück hinter ihr. Auch er war gezeichnet von Begegnungen mit den Wachen. Aber die körperliche Belastung schien ihm weniger auszumachen, wie den anderen. Seine Spezies schien solche Strapazen besser bewältigen zu können. Er trug nur noch eine kurze zerrissene Hose, seine Füße und sein Oberkörper waren unbedeckt. Die Männer hatten teilweise ihre Uniformen abgelegt und den Frauen gegeben, deren Kleidung nach Zusammenstößen mit den Wachen zu zerrissen war, um noch als Körperbedeckung zu fungieren.
Remogs grüner Reptilkörper passte so gar nicht in die karge, graue Höhlenwelt. Ein Urwald wäre geeigneter gewesen, empfand Karja. Doch war er nicht mehr rein grün. Rotes Blut war aus verschiedenen Wunden gelaufen und auf seinem Körper angetrocknet. Dunkle Flecken wiesen auf Blutergüssen unter seiner Haut hin. Seine krallenbewehrten Füße waren zerschnitten, da sie nicht für den harten Boden geschaffen waren. Doch er ertrug es mit stoischer Ruhe.
Karja sah wieder nach vorne und schleppte sich weiter. Sie war zu erschöpft um ihn auch noch zu begrüßen. Aber es war gut, ihn hinter sich zu wissen. Wie überhaupt die Anwesenheit der anderen Crewmitglieder ein wenig Halt gab. Sie waren noch immer eine Mannschaft und sie teilten ein Schicksal. Sie würden sich gegenseitig unterstützen, wenn es sein musste bis in den Tod. Dieses Wissen trug mit dazu bei noch ein wenig durchzuhalten.
Am Boden lag eine nackte Frau. Sie bestand nur noch aus Haut und Knochen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und glasig. Sie war tot. Den Spuren auf ihrem Körper nach zu urteilen war sie an Elektroschocks gestorben.
Karja musste sich beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen. Verzweiflung machte sich immer mehr in ihr breit. Würde sie dieser Hölle jemals entkommen? Oder würde sie auch als namenloses Opfer hier sterben?
Weiter den Gang hinauf sah sie einen Adrac-Wächter stehen, der seine Elektropeitsche gezogen hatte und direkt vor Danny Palmer stand.
Nein, schrie sie in Gedanken, aber sie brachte keinen Ton hervor. Entsetzt beobachtete sie einfach nur die Szene. Sie war wie gelähmt und konnte nicht eingreifen. Sie hätte ohnehin nichts ausrichten können, aber sie hätte ihrer großen Liebe beistehen müssen, dessen war sich ein kleiner Teil ihres Verstandes bewusst. Doch sie konnte sich nicht bewegen.
Aber der Adrac schlug nicht zu. Er hielt seine Peitsche nur bereit. Stattdessen unterhielt er sich mit Danny. Es sah zwar mehr danach aus, als würde Danny auf ihn einreden, aber der Adrac hörte zu. Es war ein kleines Wunder. Die Adrac brachten ihren Sklaven nicht mehr Wertschätzung entgegen als den geringsten Nutztieren. Dass Danny nun mit einem Adrac redete, zeigte doch nur, wie überaus genial er war. Hoffnung keimte in ihr auf. Schaffte es ihr Schatz, sie hier rauszuholen? Aber wenn er nur sich und sie hier rausholen könnte, würde sie ohne ihren Vater gehen?
Als Danny sie sah winkte er ihr zu. Und er winkte sie zu sich heran. Langsam ging sie ihm entgegen. Die ganze Situation schien ihr völlig suspekt.
„Hallo Schatz“, begrüßte er sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Aber es wirkte so aufgesetzt. Mit einer Hand hielt er sie am Arm fest. Zu fest. „Na, was sagst du?“ fragte er an den Adrac gewandt.
Dieser sah sich Karja genau an. Mit seinen Krallenhänden fuhr er an ihrem Kinn entlang und musterte sie, wie man ein Stück Vieh musterte, das man kaufen wollte. Dann umschloss er ihren Uniformkragen und zerriss ihre Uniform und ihre Unterwäsche bis zum Bauchnabel hinunter.
Karja stand völlig unter Schock und es fiel ihr nicht mal ein, sich zu wehren. Was ging hier vor sich? Ihr Gehirn schrie, doch ihr Körper verweigerte seinen Dienst. Das Wesen fuhr mit seinen Krallen an ihrem Körper entlang und begutachtete sorgfältig ihre Brüste. Ihm schien zu gefallen was er sah, denn er wandte sich wieder an Danny. „In Ordnung. Hinter mir befindet sich eine Fluchttür für die Wachen. Sie ist für dich offen. Du kannst gehen. Oben wartet ein Schiff.“
„Was?“ stieß Karja hervor. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Was hatte das zu bedeuten?
Danny sah sich nicht einmal mehr zu ihr um. Er rannte zu der kaum erkennbaren Tür und verschwand.
Karja sah ihm mit halb offenem Mund nach und konnte es noch immer nicht verstehen. War Danny auf dem Weg nach draußen um mit Hilfe zurückzukommen? Hatte er einen Plan, wie er sie alle befreien konnte? Aber was hatte es dann mit ihr auf sich? Wieso stand sie nun halb nackt, nur noch mit einer Uniformhose und einer zerrissenen Jacke vor diesem widerlichen Wesen?
„Dein Freund hat sich einen Fluchtweg erkauft“, erklärte die Wache und freute sich sichtlich an ihrem geschockten Gesicht. „Er hat nicht gezögert, mich für seine Freiheit zu bestechen. Du bist das Zahlungsmittel.“ Er grunzte, was ein Lachen zu sein schien. „Aber keine Sorge, er kommt nicht weit. An der Oberfläche warten schon die Wachen auf ihn. In diesem Augenblick werden sie ihn in Empfang nehmen. Er wird eine nützliche Ergänzung für unser Labor werden. Und dich werde ich verkaufen. Die Ferengi oder das Orion-Syndikat werden sicherlich viel Geld für dich zahlen. Ein Sklave mehr oder weniger fällt hier drin nicht auf.“ Er packte sie am Arm und zog sie zu der geheimen Fluchttür.
Karja wehrte sich noch immer nicht. Verraten. Verraten von ihrem eigenen Freund. Von ihrem Danny. Von ihrer großen Liebe. Nicht nur im Stich gelassen, sondern benutzt und verkauft. Nur langsam setzte sich in ihrem Kopf die Erkenntnis durch, dass er ohne sie von hier fort wollte. Seine eigene Haut zu retten war ihm wichtiger. Und wenn er dazu seine eigene Freundin verraten musste spielte das wohl auch keine Rolle für ihn. Das schlimmste dabei war auch noch, dass sie aus Liebe zu ihm wahrscheinlich zusammen mit ihm in den Tod gegangen wäre.
Plötzlich traf den Adrac ein harter Schlag von hinten und warf ihn gegen die Felswand. Dabei lockerte er seinen Griff um Karjas Arm. Keuchend rang er nach Luft.
Karja sah Remog hinter ihr stehen. Seine Augen waren ruhelos und bewegten sich unabhängig voneinander, so als suchte er die Umgebung ab. Eine zweite Person riss Karja zur Seite und befreite sie aus dem Griff des Adracs.
„Verschwindet“, brummte Remog. „Ich halte ihn auf.“ Ein zweiter Schlag brachte den Adrac erneut ins Taumeln, so dass er nicht in der Lage war sich wieder zu seiner vollen Größe aufzurichten und zu kämpfen.
Ein Arm legte sich um Karjas Schulter und zog sie fort. Ohne Widerstand zu leisten lief sie mit. Sie war noch viel zu durcheinander, als dass sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann aber wandte sie doch den Kopf ein wenig und sah in das Gesicht eines großen starken Mannes, der auch noch richtig gut aussah, trotz der Umstände. Er war ein Crewmitglied der Republic
, aber er war Karja noch nie aufgefallen. Mit einem Mal war es ihr peinlich, dass ihr Oberkörper frei war. Ein in dieser Situation absolut unangebrachtes Gefühl. Sie schwebten noch immer in höchster Lebensgefahr und der Mann riskierte sein Leben, um ihres zu retten. Da spielten solche Dinge doch keine Rolle. Trotzdem kam sie nicht dagegen an.
„Ich bin Benjamin Since. Big Ben. Erinnern Sie sich?“ stellte er sich hastig vor.
Natürlich erinnerte sie sich. Der Mann, der vor einer Woche vor ihr gestanden hatte, als sie in Ketten durch den dunklen Gang gelaufen waren. Nur sein Gesicht hatte sie damals nicht sehen können. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Wie konnte sie das jemals vergessen? Diese düstere Erinnerung hat sich in ihr Gehirn gebrannt, so dass sie sie nie wieder vergessen konnte.
Ein dumpfer Schlag hinter ihnen ließ sie zusammenzucken. Karja dachte an Remog. Er kämpfte für sie. Musste sie ihm da nicht beistehen? Er hatte doch keine Chance. Aber Big Ben ließ das nicht zu. Er zog sie weiter. „Kommen Sie“, rief er ihr zu und rannte mit ihr weiter durch den Gang in Richtung der Gefangenenhöhle. Karjas Herz raste und die Panik schnürte ihr den Hals zu. Sie wollte nur noch rennen, weg, weit weg von diesem Ort, von dieser Hölle. Doch soweit sie auch rannten, es sah immer gleich aus. Erst vor der Schlafhöhle blieben sie stehen. Nachdem sie kurz nach Atem gerungen hatten, traten sie ein und versuchten möglichst unauffällig zu wirken. Die meisten Gefangenen waren schon anwesend und sahen sie nur kurz an, ignorierten sie dann aber.
Als Sanawey seine Tochter sah, ohne Uniformoberteil, wusste er sofort, dass etwas geschehen war. Schnell sammelte er ein paar Kleidungsstücke zusammen und brachte sie ihr. „Was ist geschehen?“ fragte er besorgt.
„Karja wurde von Danny Palmer ...“ begann Ben, dann stieß er einen Schrei aus und fiel nach vorne auf die Knie. Mit schmerzverzerrtem Gesicht tastete er mit den Händen auf seinem Rücken herum.
Sanawey sah sofort, dass in Bens Rücken ein Messer steckte. Wütend blickte er zur Tür. Dort stand ein Adrac-Krieger. Doch dieser hielt nicht seine Peitsche in der Hand, sondern eine Art Disruptor. Offenbar war ihm die Situation gerade ein wenig zu gefährlich und er ging auf Nummer sicher. Und er würde auch nicht zögern ihn einzusetzen.
Wütend sah der Captain ihn an. Er hätte ihn am liebsten mit bloßen Händen erwürgt. Doch er wusste, es wäre ein nutzloses Unterfangen. Er wäre tot, noch bevor er den Adrac erreicht hätte. Er sah wieder hinunter zu Since. Williams kniete inzwischen hinter Ben und versuchte das Messer herauszuziehen. Doch es widerstand und verursachte ihm starke Schmerzen. Bens Schreie dröhnten durch die Höhle und wurden als mehrfaches Echo wieder zurückgeworfen.
„Es geht nicht, Captain“, klagte Williams. „Ich vermute das Messer hat Widerhacken. Ich kann es nicht herausziehen, sonst reiße ich ihm ein faustgroßes Loch in den Rücken..“
„Gibt es eine andere Möglichkeit für ihn?“ fragte Sanawey leise. Die Waffen der Adrac entsetzten ihn immer mehr, auch wenn er gedacht hatte, das ginge gar nicht mehr.
Niedergeschlagen schüttelte die Ärztin den Kopf. „Nicht hier“, flüsterte sie. Sie wollte vermeiden, dass Since mitbekam, dass sie nichts tun konnte.
Karja setzte sich auf den Höhlenboden direkt neben Ben. Er lag auf dem Bauch und schien zu wissen, wie es um ihn stand. „Bitte, drehen Sie mich um“, keuchte er. „Ich will nicht mit dem Gesicht nach unten sterben.“
„Wer sagt denn etwas von sterben“, sagte Karja und versuchte zuversichtlich zu klingen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, der ihr fast die Stimme nahm. Sie kam seinem Wunsch aber trotzdem nach und drehte ihn mit Hilfe ihres Vaters auf die Seite. Weiter ging es nicht, da der Griff des Messers noch immer aus seinem Rücken ragte. So zu liegen schien ihm aber nur noch mehr Schmerzen zu bereiten, doch er weigerte sich, wieder auf den Bauch zu rollen. Karja nahm Bens Kopf in ihren Schoß. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und er zitterte am ganzen Körper.
„Schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind“, brachte er mühsam hervor.
„Wir werden uns noch kennen lernen.“ Karja versuchte zu Lächeln. „Schon vergessen, ich habe jetzt keinen Freund mehr.“
„Und Sie schulden mir noch ein Essen.“ Das Sprechen fiel Ben immer schwerer.
„Wir gehen noch essen. Nur wir zwei. Ganz fein. Wo ist es Ihnen lieber? Im Speisesaal? Oder vielleicht doch lieber Paris?“
„Paris. Ich nehme Sie beim...“ Heftige Schmerzen unterbrachen ihn. Seine Muskeln fingen an sich zu verkrampfen. Dann entspannte er sich plötzlich und blieb leblos liegen.
Mit tränengefüllten Augen sah Karja auf und erblickte ihren Vater. Eine stumme Frage traf ihn, auf die er keine Antwort wusste. Traurig und fassungslos senkte er den Kopf. Eine Träne lief Karja über die Wange und sie musste schluchzen, als sie Ben die Augen schloss. „Warum?“ stammelte sie. Sie konnte es noch immer nicht fassen. Dieser Mann war tot, weil er ihr geholfen hatte. Sie hätte ihn gern besser kennen gelernt, doch nun war er tot. Und ihr Freund hatte sie verraten. Und dafür vermutlich auch mit seinem Leben bezahlt. Um sie herum starben alle. Und es machte alles überhaupt keinen Sinn.
Sanawey beugte sich zu Karja hinunter und legte ihr die Arme um die Schultern.
„Hol mich hier raus, Dad“, schluchze sie.
Reed blickte zornig auf Bens Leiche hinunter. „Das war nicht das erste Opfer“, knurrte er und erinnerte damit an zwei Crewmitglieder, die bereits im Laufe der Woche gestorben waren. „Wenn wir nicht schnellstens hier herauskommen, dann werden noch weitere folgen. Und am Ende werden wir alle tot sein.“
Kurz darauf wurde die Tür zu dieser Höhle geschlossen. Die Sklaven waren wieder eingesperrt. Sanawey sah sich im Halbdunkel kurz um, dann fragte er sich laut: „Wo ist Mr. Remog?“
Niemand hatte Remog gesehen. So sehr sie ihn unter den Gefangenen auch suchten, sie fanden ihn nicht. Und ein Wesen wie er hätte sofort auffallen müssen. Denn selbst unter all diesen verschiedenen Wesen war er immer noch etwas Besonderes. Doch er war nicht in der Höhle. Er musste noch immer draußen in der Mine sein. Wenn das der Fall war, dann gab es keine Hoffnung mehr für ihn. Er hatte Karja geholfen, ihr das Leben gerettet und es mit seinem bezahlt, dessen war Sanawey sich sicher. Er konnte es kaum noch verarbeiten, was hier geschah. Gab es denn keinen Ausweg? Musste er miterleben, wie seine Crew nach und nach starb? Nur mit äußerster Mühe konnte er sich beherrschen. Er war der Captain. Für die anderen musste er ein Vorbild sein. Und das hieß: niemals aufgeben. Auch wenn es ihm noch so schwer fiel.
„Captain“, sprach ihn eine zittrige Stimme an.
Erschrocken fuhr Sanawey herum, er hatte nicht damit gerechnet angesprochen zu werden. Und es war auch niemand aus seiner Crew. Vor ihm stand ein hagerer, ja ausgemergelter Mann, mehr einem Skelett ähnelnd, denn einem Menschen. Er war dennoch eindeutig ein Mensch. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Die Haut spannte sich über die Wangenknochen und über den Kopf, auf dem sich nur noch wenige Haare befanden. Es gab ihm das Aussehen einer vertrockneten Mumie. Nur noch wenige Zähne zierten wie stumpfe Überreste seinen Mund. Seine Haut war rau und rissig, Narben und getrocknetes Blut bedeckten seinen Körper. Blut von den verschiedensten Wesen. Und es gab keine Gelegenheit, es abzuwaschen, sowie es hier keine Gelegenheiten gab sich überhaupt hygienisch zu versorgen. Nur einige Überreste von Kleidungsstücken, notdürftig zusammengeflickt, waren um seine Hüften gewickelt. Jede einzelne Rippe kam deutlich zum Vorschein. Und selbst ein Laie konnte mit bloßen Augen erkennen, dass zwei dieser Rippen gebrochen waren. Seine Hände zitterten und an der rechten Hand fehlte ihm der Zeigefinger. Es war wie bei Nonac, erinnerte sich der Captain. Offenbar verlor hier öfters jemand seine Finger. Kein Wunder bei der Höllenarbeit, die sie verrichten mussten. Die Wunde war nur Notdürftig verheilt, ganz ohne medizinische Hilfe. Eiter und Blut bedeckten den Stumpf. Er musste schreckliche Schmerzen erleiden.
Sanawey fühlte sich in eine grausame Vergangenheit der Erde zurückversetzt. Unwillkürlich musste er an die Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg denken. An die Bilder der Inhaftierten, die bei ihrer Befreiung auch nur noch aus Haut und Knochen bestanden hatten, wenn sie denn überhaupt noch lebten. Doch das war bereits mehr als dreihundert Jahre her. Es gab keine Zeitzeugen mehr, Dokumente waren das einzige, was aus dieser Zeit übrig war. Und die Menschheit hatte sich weiterentwickelt. Solche Grausamkeiten gab es auf der Erde nicht mehr und auch niemanden, der so etwas noch erlebt hatte. Doch dies hier war real. Dies hier war die Hölle. So musste es während des Tages des Jüngsten Gerichtes sein.
„Wer sind Sie?“ fragte Sanawey langsam, nachdem ihm die Kleidungsreste aufgefallen waren. Sah das nicht nach den Resten einer Sternenflottenuniform aus? Hatte dieser schwache Mann, der gerade noch sein Mitleid erregt hatte, etwa Mr. Remog auf dem Gewissen? Doch das konnte nicht sein. Dazu war er überhaupt nicht in der Lage. Außerdem waren die Stofffetzen bereits wesentlich älter.
„Mein Name ist Hibbert“, begann er. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. „Ich war der Erste Offizier der USS Mandela
.“
Diese Worte ließen Sanawey aufhorchen. Sie hatten tatsächlich einen Überlebenden der Mandela
gefunden. Er hatte schon an Nonacs Aussage gezweifelt, dass die Mandela
den Adrac in die Hände gefallen wäre. Doch wenn es stimmte, was der Mann sagte, dann war die Mannschaft durch dieselbe Hölle gegangen, die ihnen noch allen bevorstand. Doch sagte der Mann, der sich Hibbert nannte, auch wirklich die Wahrheit? Seit einer Woche waren sie hier und er gab sich ihnen erst jetzt zu erkennen? Das war schon etwas eigenartig.
Sanawey Zögern schien ihn verzweifeln zu lassen. „Sie glauben mir nicht?“ fragte Hibbert mit brüchiger Stimme.
„Nein, das ist es nicht“, sagte Sanawey schnell. „Aber die Mandela
ist bereits vor zehn Monaten verschwunden. Und wir sind seit einer Woche hier und Sie haben sich uns bis jetzt nicht zu erkennen gegeben.“ Er hoffte nicht allzu skeptisch zu klingen. Er wollte den Mann nicht zu sehr strapazieren. Wenn der Mann sich in dem Glauben, ein Sternenflottenoffizier zu sein, besser fühlte, dann war es auch recht. Es spielte hier drin auch keine Rolle. Aber Sanawey musste einfach die Wahrheit wissen.
„Ich...“ stotterte der Mann und sah hilflos um sich. Er war so mitleidserregend mit seiner ausgehungerten Gestalt und dem Grauen, das sich auf ihm abzeichnete, dass man ihm einfach aus Mitgefühl schon glauben wollte. Dann sah er Sanawey wieder an. Angst flimmerte in seinen Augen. „Zehn Monate? Schon so lange ist das her?“
„Ja“, bestätigte Sanawey seine Aussage. Er wusste nicht, was er weiter dazu sagen sollte.
„Unglaublich. Ich...“ Sein Blick reichte ins Leere. „Ich habe jedes Gefühl für die Zeit verloren. Ich weiß nicht mehr, seit wann ich hier bin. Aber wenn Sie das sagen…“ Er legte eine kleine Pause ein und versuchte seine Stimme zu regenerieren. Dann kehrte er in die Wirklichkeit zurück und sah Sanawey genau an. „Alle anderen sind um mich herum gestorben. Nur ich bin noch übrig. Ich bin der letzte Überlebende der USS Mandela
.“
Mit durchdingendem Blick sah Sanawey ihn an. Damit gab es niemanden, der seine Geschichte bestätigen konnte. Sie musste ihm glauben – oder auch nicht. Wie sollte man unter diesen Umständen die Wahrheit herausfinden können?
„Ich bin Commander Nathan Hibbert“, wiederholte er. „Von der USS Mandela
. Registernummer: NCC 1918. In Dienst gestellt im Jahr 2250. Das genaue Datum hab ich vergessen. Alte Constitution-Class. Unter dem Kommando von Captain Bogat. Was soll ich Ihnen noch erzählen?“ Er klang flehend. Er hatte jemanden gefunden, doch man glaubte ihm nicht.
Sanawey wusste nicht mehr, woran er war. Dieser Mann wusste ein bisschen was, aber das waren alles Daten, die er auch aus Erzählungen heraus kennen konnte. Und nach den Erfahrungen mit Nonac wollte er vorsichtiger sein. Er brauchte eine zweite Meinung.
Wie gerufen tauchte in diesem Moment Sohral neben ihm auf. Der Mann hatte einfach das richtige Zeitgefühl, dachte Sanawey. „Gibt es ein Problem, Captain?“ wollte der Vulkanier wissen.
„Hören Sie sich die Geschichte dieses Mannes an.“ Und zu Hibbert gewandt: „Erzählen Sie es ihm.“
Mühsam und mit zitternder Stimme wiederholte der Mann seine Geschichte. Während er redete wurde er immer leiser. Das viele Reden schien ihn anzustrengen. „Bitte glauben Sie mir“, flehte er dann. Langsam gaben seine Knie unter ihm nach. Noch bevor Sanawey oder Sohral reagieren konnten griff eine Hand von hinten unter Hibberts Arme und stütze ihn.
„Sie sollten ihn nicht so anstrengen“, meinte eine ruhige Stimme. Dann wurde das Gesicht dazu sichtbar. Lange dunkle Haare umrahmten ein kantiges Gesicht, auf dessen Stirn sich ein Knochenkamm abzeichnete. Es war Tworek, der Klingone mit dem vulkanischen Namen. „Er ist erschöpft und mit seinen Kräften am Ende. Er hat nicht mehr viel Zeit. Gönnen Sie ihm Ruhe.“
„Es könnte wichtig sein, einige Auskünfte von ihm zu erhalten“, entgegnete Sanawey und wollte Hibbert ebenfalls helfen.
„Was Sie ihn fragen wollen, können Sie genauso gut auch mich fragen. Ich weiß alles, was er weiß“, entgegnete Tworek und hielt Hibbert weiterhin fest. Der Atem des Menschen ging rasselnd und wirkte wie Sandpapier auf den Nerven der Umstehenden.
Sanawey und Sohral sahen sich an. Die ruhige Aura, die den Klingonen umgab, war wirklich seltsam. Sie passte so ganz und gar nicht. Weder zu dieser Umgebung, noch zu diesem Klingonen. Es war so unklingonisch. Sanawey kannte nur eine Person, die trotz der gegenwärtigen Situation so ruhig war wie Tworek, und das war der Vulkanier neben ihm. „Wie könnten wir einem Klingonen trauen?“ fragte Sanawey herausfordernd.
Doch Tworek hob nur seine rechte Augenbraue an und Hibbert kam ihm mit einer Antwort zuvor. „Sie können Ihm trauen, denn ich habe ihm auch vertraut“, keuchte er mühsam. „Er ist wie Sie.“
Sanawey blieb dennoch skeptisch und Sohral sprach seine Gedanken aus. „Sie könnten sich miteinander abgesprochen haben, um uns zu täuschen.“
„Glauben Sie das wirklich?“ fragte Hibbert mit zitternder Stimme.
„Glauben spielt hierbei keine Rolle. Es geht um Tatsachen“, erwiderte Sohral sachlich. „Und bisher gibt es noch keine Beweise, die gegen eine solche Theorie stehen.“
„Es gibt aber auch keine Beweise dafür“, erwiderte Tworek ebenso sachlich und ruhig.
Würde Sanawey Tworek nicht direkt vor sich sehen, er würde behaupten, dies wäre ein Schlagabtausch zwischen zwei Vulkaniern. Aber Tworek war eindeutig Klingone. Eigentlich hätte er zur Untermauerung seiner Argumente längst seine Wut und seine Fäuste gebrauchen müssen.
„Vertrauen Sie ihm“, bat Hibbert. „Das Schicksal der Mandela
ist nun in sicheren Händen und wird die Sternenflotte nun auch erreichen. Sie werden endlich erfahren, was mit dem Schiff passiert ist.“
„Wenn wir hier rauskommen“, entgegnete Sohral nur.
„Das werden Sie, ich weiß es.“ Hibbert ging trotz Tworeks Stütze in die Knie. „Erzähle ihnen alles“, wandte er sich an Tworek. „Ich werde es nicht mehr schaffen.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, doch Tworek schien ihn ohne Probleme zu verstehen. Der Klingone nickte nur ernst und half Hibbert dann, sich auf den Boden zu legen.
Tworek sah auf und blickte dem Captain in die Augen. „Ich kann von Ihnen nicht verlangen, dass Sie mir glauben. Aber respektieren Sie den Wunsch eines Sterbenden und hören Sie mich an.“
Irgendetwas an Tworek fand Sanawey faszinierend. Vielleicht seine seltsame Aura, die so gar nicht zu ihm passte. Außerdem fehlte es ihm an der Wildheit, die den Klingonen sonst in den Augen stand.
Nachdenklich blickte er Sohral an. Dieser nickte kaum sichtbar. Ein Zeichen der Zustimmung. Damit war für Sanawey klar, dass er Tworek wenigstens anhören würde. „In Ordnung. Erzählen Sie“, forderte er den Klingonen auf.
„Commander Hibbert war Erster Offizier der USS Mandela
. Dieses Schiff ist vor zehn Monaten und dreizehn Tagen den Adrac in die Hände gefallen. Ein Teil der Crew kam bei der Verteidigung des Schiffes ums Leben, der Rest wurde hierher gebracht, um hier zu sterben. Captain Bogat war während der Enterung getötet worden, so war Commander Hibbert der ranghöchste Offizier. Die Adrac verschonten sein Leben und hielten ihn während seiner Zeit hier sogar am Leben. Er sollte sehen, wie seine Crew um ihn herum litt und starb. Das war ihr Spiel, das sie mit ihm spielten. Nur deshalb ist er auch jetzt, nach dieser Zeit, noch am Leben. Aber er ist innerlich ein gebrochener Mann und keine Gefahr für die Adrac. Sie hatten ihn zu oft mitgenommen und ihn gefoltert und misshandelt. Er wusste, dass er keine Chance hatte zu sterben, solange noch ein Crewmitglied am Leben war. Dieser Gedanke war für ihn unerträglich. Aber jetzt scheint es mit ihm zu Ende zu gehen.“ Tworek erzählte das, ohne eine Gefühlsregung. Es war eine sachliche Abhandlung der Ereignisse.
Schweigsam hatte Sanawey zugehört. Diese Erzählung hörte sich nicht sehr gut an. Auf jeden Fall nicht für ihn. Wenn die Adrac dasselbe mit ihm machten, wie mit Commander Hibbert, dann stand ihm ein sehr langer Aufenthalt hier bevor. Ein Gedanke, den er nicht weiter verfolgen wollte. „Dieser fehlende Finger, was ist da passiert?“ fragte er stattdessen.
„Das waren die Adrac während einer Folter. Sie rissen ihm den Finger ab um ihn damit weiter zu quälen. Mehr stand nicht dahinter. Während der Folter stellten die Adrac ihm keine Fragen. Es ging für sie nicht darum Informationen zu gewinnen. Es diente nur der Erniedrigung ihres Opfers und der Demonstration ihrer Macht.“
Sanawey schauderte innerlich. Wie konnte der Klingone nur so ruhig bleiben? Vermutlich lagen Grausamkeiten einfach in der klingonischen Natur.
„Und wieso sollten wir Ihnen das alles nun glauben?“ Diese Frage brannte Sanawey unter den Nägeln. Was für eine Taktik fuhr der Klingone? Brauchte er Verbündete für einen Ausbruchsversuch? Oder versuchte er einen Aufstand aufzuwiegeln ohne dass er als Anführer dastand?
„Weil es die Wahrheit ist“, sagte Tworek nur.
„Das ist alles? Und woher wissen Sie das alles so genau?“ lies Sanawey nicht locker.
„Ich habe mit meinen Geist mit dem Mr. Hibberts verschmolzen.“
Diese Antwort brachte Sanawey völlig aus dem Konzept. Damit hatte er nun überhaupt nicht gerechnet. Zumal das vollkommen unmöglich war. Klingonen waren zu solch mentalen Dingen gar nicht fähig, genauso wenig wie Menschen. Es gab nur sehr wenige Völker im Universum, deren Geist so diszipliniert und weiterentwickelt war, dass sie PSI-Kräfte entwickeln konnten. Und das war die Voraussetzung für so etwas wie Gedankenlesen oder Geistesverschmelzungen. „Das ist unmöglich. Nur Vulkanier sind dazu in der Lage.“ Sanawey wollte gar keine Antwort mehr abwarten. Er hatte die Lügen des Klingonen satt und wandte sich schon um.
„Und manche Halbvulkanier“, hörte er Sohral sagen und blieb wie angewurzelt stehen.
Die Alarmsirenen heulten durch das Schiff und die dazugehörigen Lichter tauchten die Kommandobrücke in ein tiefrotes Licht. Es war fast so, als würde man durch einen Schleier aus Blut sehen, denn in dem Licht schimmerten auch die Bedienkonsolen rötlich. Captain Craigs schloss kurz die Augen. Es gab Dinge an diesem klingonischem Schiff, die ihn extrem störten. Und das Alarmsystem gehörte eindeutig dazu. Er war sich sicher, sich nie daran gewöhnen zu können. Aber ein Umbau hätte ihn zu viel Geld gekostet. Und das Schiff wäre dann für einige Tage an ein Raumdock gefesselt. So ein Risiko wollte er auf keinen Fall eingehen, so wichtig war das dann doch nicht. Nicht, dass die vorigen Besitzer des Schiffes die Gelegenheit nutzten und sie überfielen während sie festsaßen. Das war nicht ausgeschlossen, denn die Klingonen waren nicht sonderlich begeistert, dass ihnen eines ihrer Schiffe abhandengekommen war. Aber für die Piraterie war dieses Schiff wie geschaffen. Das äußere Design, das einem Raubvogel glich, wirkte furchteinflößend. Die Bewaffnung war für ein Schiff dieser Größe ungewöhnlich hoch und die Tarnvorrichtung ideal für plötzliche Überfälle. Und um danach gleich wieder zu verschwinden. Nur die Innenausstattung war wenig luxuriös. Klingonen mussten eine Haut aus Vollgummi haben, wenn sie sich hier wohl fühlten.
„Captain, wir haben das Schiff jetzt auf dem Schirm“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
Craigs sah auf. Auf dem Bildschirm sah er ein Raumschiff der Sternenflotte, das steuerlos im All trieb. USS Republic
stand groß auf der Hülle und neben dem b im Namen klaffte ein Loch, das wirkte, als sei es mit einer überdimensionalen Kralle gerissen worden. Der Anblick tat Craigs fast weh, denn er wusste, die Außenhülle eines Schiffes war das einzige, was die Crew vor dem Tod im All bewahrte. Jedes Mal wenn er ein zerstörtes Schiff sah, wurde ihm diese Verletzlichkeit wieder bewusst. Eine Verletzlichkeit, der sie alle unterlagen, wenn sie ins All starteten. Das Schiff drehte sich ganz langsam um die eigene Achse. Es wirkte, als sei es aufgegeben worden und nur noch Weltraumschrott.
„Lebenszeichen?“ fragte er und richtete sich gespannt im Kommandosessel auf. Er wusste, dass sie sich Zeit lassen konnten mit ihrem Vorgehen. Von diesem Schiff ging keine Gefahr aus. Zumal das Piratenschiff selbst ja auch noch getarnt war. Ob es auf dem Schiff noch etwas zu holen gab wusste er nicht. Aber trotzdem drängte es ihn, herauszufinden, wie es um das Föderationsschiff stand.
„Ungefähr einhundertfünfzig“, meldete ihm Lee Casey, der gerade die Sensorendaten überwachte. „Genaueres lässt sich wegen der Strahlungswerte an Bord nicht sagen.“ Er wirkte grimmig. Aber das wirkte er eigentlich immer, seit er in einem Zweikampf mit einem Nausicaaner ein Messer quer über das Gesicht gezogen bekommen hatte. Zwar war er damals mit dem Leben davongekommen, doch hatte es eine tiefe Narbe hinterlassen, die noch deutlich zu sehen war. Er konnte von Glück sagen, dass nicht mehr passiert war, denn die Nausicaaner kämpften normalerweise bis zum Tod.
Craigs pfiff leise durch die Zähne. Die Stammbesatzung eines solchen Föderationsschiffes zählte im Normalfall knapp über vierhundert Personen. Dass so wenige auf einem so beschädigten Schiff waren, konnte nur bedeuten, dass sie vor noch nicht allzu langer Zeit überfallen worden waren.
„Das macht es uns umso leichter das Schiff zu entern“, brummte der Klingone Korak, der wohl zu demselben Schluss gekommen war.
„Wir werden nichts dergleichen tun“, erwiderte Craigs scharf. Er wollte kein Schiff der Sternenflotte angreifen. Zum einen, weil er selbst einmal ein Absolvent der Sternenflotte gewesen war. Und so ganz ließ sich das dort erlernte eben auch nicht abschütteln. Der Hauptgrund war aber, dass er sich nicht mit der Sternenflotte anlegen wollte. Sie war zu stark und zu intelligent, um sie sich zum Feind zu machen. Wenn die Sternenflotte erst einmal nach ihnen suchen sollte, dann waren ihre Tage gezählt. So lange sie sich nicht mit ihnen anlegten, nahmen sie die Piraten vielleicht gar nicht wahr. Oder zumindest nicht so ernst.
Korak dachte nicht so weit. Er wollte Beute machen. „Das Schiff ist ein leichtes Opfer.“ Korak hatte sich dem Captain voll zugewandt und sah ihn grimmig an. „Wir sollten zusehen, dass wir nehmen, was wir kriegen können.“ Kampfeslustig sah er seinen Captain an. Bei Klingonen war es Tradition, dass sie einen führungsschwachen Vorgesetzten herausforderten und dann im Kampfe töteten, um seinen Platz einzunehmen. Und nachdem Korak, wie alle anderen hier auch, ein Gesetzloser war, galten diese Regeln erst recht für ihn.
Wut stieg in Craigs auf. Seit sie dieses Schiff gekapert hatten und sie zusammen an Bord waren, war es Korak, der immer wieder Ärger machte. Irgendwann würden sie noch aneinander geraten und Craigs war sich nicht sicher, wer dabei den Sieg davon tragen würde, denn der Klingone war mindestens so stark wie er selbst. Aber jetzt hatte er keine Zeit für diese Streitereien.
Korak stand nicht weit vom Kommandosessel entfernt. Auf klingonischen Schiffen wie diesem Bird-of-Prey hatte nur der Captain einen Platz zum Sitzen. Die Crew musste stehen. Das unterstrich die Sonderstellung, die der Captain hatte. Craigs gefiel das nicht, da er die Meinung vertrat, unter seiner Piratencrew seien alle gleich. Mehr oder weniger natürlich.
Langsam stand Craigs auf und wandte seinen Blick Korak zu. „Ich denke, es ist an der Zeit an Ihre Station zurückzukehren“, sagte er langsam aber betont und sah Korak finster an.
„Dieses Schiff zu entern wäre in seinem jetzigen Zustand ein Kinderspiel“, gab der Klingone zurück und stellte damit deutlich zur Schau, was er vom Captain hielt. Seine Nasenflügel bebten und sein mit Metall verstärkter, schwarzer Lederharnisch, die typische Kleidung eines klingonischen Kriegers, hob und senkte sich auf seiner Brust.
„Wenn es ein Kinderspiel ist, wo bleibt dann die Ehre?“ fragte Craigs herausfordernd und Korak zuckte deutlich sichtbar zusammen. Nichts war einem Klingonen heilige als seine Ehre.
„Dieses Schiff ist nur noch Schrott“, fuhr der Captain schnell fort, bevor Korak zu seinem Messer greifen konnte, dass er immer bei sich an seiner klingonischen Uniform trug. „Es hat nichts mehr von Wert für uns. Die Computer und Maschinen dürften zerstört sein. Wie sieht es mit den Lagerräumen aus?“ wandte er sich an Casey und ignorierte Korak damit bewusst, behielt ihn aus den Augenwinkeln aber im Auge. Auf keinen Fall würde er ihm jetzt den Rücken zukehren.
„Laut unserer Sensorenwerte sind ihre Lagerräume leer“, antwortete Casey schnell. Fast etwas zu schnell, aber Craigs war froh, dass Casey mitgedacht hatte und die richtige Antwort parat hatte. Casey war einer der wenigen an Bord, denen Craigs voll und ganz trauen konnte. Denn Casey hatte kein großes Interesse daran unter einem Klingonen zu dienen, wo ihnen mit Sicherheit ein baldiger Tod bevorstand. Wenn er gesagt hätte, die Lagerräume wären voll, dann hätte er damit Korak nur weitere Munition für seinen Kampf gegen den Captain gegeben.
„Damit ist alles klar“, sagte Craigs laut und deutlich. „Wir werden nichts tun.“ Demonstrativ setzte er sich wieder und betrachtete das Schiff auf dem Bildschirm.
Korak kochte vor Zorn, aber ihm war auch klar, dass der Captain der Crew gerade wieder seinen Mut und sein Verständnis für die Situation gezeigt hatte. Seinen Mut, indem er Korak die Stirn geboten hatte und ihn dann einfach ignorierte. Und seine Analyse der Situation und die Entscheidung, dass es hier nichts zu holen gab. Denn welcher Dieb würde schon alles für einen Angriff riskieren, wenn es nichts zu holen gab? Und auf diesem Schiff waren nun einmal alles Diebe und Piraten. Daher fauchte Korak den Captain nochmals an, ließ ihn dann aber in Ruhe.
Craigs wusste, dass es bald wieder zu einer Auseinandersetzung kommen würde. Doch vorerst war es vorbei. Er betrachtete das Schiff auf dem Bildschirm. „Schon erstaunlich was die Adrac mit diesem Schiff gemacht haben. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir diesem Schiff bald wieder begegnen“, murmelte er leise vor sich hin. Dann stand er schnell auf und ging zu Casey. „Wie ist der Zustand des Schiffes? Schaffen sie die Reparatur?“ fragte er so leise er nur konnte.
Anstatt einer Antwort tippte Lee Casey schnell einige Befehle ein und deutete dann auf den Bildschirm. Craigs studierte die Daten und lächelte dann. Den Angaben zufolge kam gerade ein Shuttle angeflogen und näherten sich der Republic
. Er konnte nur hoffen, dass es Hilfe sein würde. Der Tod im All war grausam und niemand sollte ihn erleiden müssen. Nicht einmal seine Opfer. Und schon gar nicht die Opfer anderer.
Craigs lächelte noch immer und sagte leise: „Na also.“ Doch sein Lächeln erstarb sofort, als er Caseys Sorgenfalten auf der Stirn sah. „Irgendwelche Probleme?“
„Sie haben zu wenige Dilithiumkristalle“, stellte Casey fest. „Auf der Republic
sind keine mehr. Die Adrac müssen sie mitgenommen haben. Und die Kristalle aus dem Shuttle dürften nicht reichen.“
Craigs ließ kurz den Kopf hängen. Dilithiumkristalle waren unverzichtbar für die Energiegewinnung aus dem Warpkern. Mit ihnen wurde der Zusammenfluss von Materie und Antimaterie kontrolliert. Ohne diese Kontrolle konnte entweder nicht genug Energie für den Antrieb erzeugt werden oder aber alle Energie wurde auf einmal erzeugt. Dann allerdings würde es das Schiff zerstören. Er dachte einen Moment nach, dann sah er Casey direkt an und schüttelte den Kopf. Casey nickte knapp. Er hatte das Zeichen verstanden. Schnell änderte er die Sensorenwerte und das Shuttle verschwand von der Anzeige.
Dem Captain war eine Idee gekommen, aber er hatte jetzt keine Zeit das zu erklären. Schnell ging er zur technischen Station und schob Kate Dolan, die Technikerin beiseite. Auch sie war eine Person, der er vertraute, deshalb hatte er nichts dagegen, als sie ihm über die Schulter sah.
Ihm war eingefallen, dass das letzte Schiff, das sie geentert hatten, Dilithiumkristalle an Bord hatte. Und diese lagen noch immer im Frachtraum der Dark Devil
. Jetzt war es an der Zeit sie weiter zu geben. Und zwar sie heimlich dem Shuttle an Bord zu beamen. Er durfte sich dabei nur nicht erwischen lassen. Weder von der Föderationscrew, noch von seinen eigenen Leuten, denn sonst war es wohl um ihn geschehen. Es war normalerweise nicht seine Art, etwas zu verschenken. Er war bestimmt kein moderner Robin Hood, der den Reichen etwas wegnahm und es den Armen gab. Ihm ging es darum möglichst viel Reichtum anzuhäufen, so dass er sich irgendwann zur Ruhe setzen konnte und ein feudales Leben genießen konnte. Ob das jemals so kommen würde wusste er nicht, denn ihm machte das Piratenleben einfach zu viel Spaß. Die Freiheit, sich niemandem untergeordnet durch das All zu bewegen und tun und lassen zu können, was immer ihm beliebte. Ab und zu ein Schiff überfallen, die erschreckten Blicke der Opfer genießen und etwas Wertvolles mitgehen zu lassen. Wichtig war dabei nur, das Risiko gering zu halten. Es durfte nicht alles um jeden Preis gestohlen werden. Er hatte vor, noch eine Weile zu leben. Und wenn seine Ahnung, was die Crew des Sternenflottenschiffes betraf stimmte, dann hatte er noch Pläne mit ihnen. Sie würden ihm helfen, etwas noch besseres zu bekommen. Dafür konnte man durchaus auch einmal etwas verschenken. Er sah es einfach als entwicklungsfähige Kapitalanlage an.
Schnell führte er den Transport durch und löschte dann die Transporteraufzeichnung. Nur um ganz sicher zugehen sperrte er dann das Transporterlogbuch des Tages noch mit seinem persönlichen Code. Nun konnte nur noch er selbst diese Daten aufrufen.
Gespannt starrte er auf die Datenkolonne, die vor ihm über den Bildschirm glitt. Das Shuttle zeigten keine Reaktion und auch die eigene Crew schien nichts bemerkt zu haben. Erleichtert stand Craigs auf. „Steuermann, verschwinden wir von hier“, befahl er sofort. Es wurde nun Zeit sich zu verziehen, bevor noch jemand der eigenen Crew auf das Shuttle aufmerksam wurde. Mit ernstem Ausdruck setzte er sich in den Kommandosessel. Doch innerlich lächelte er. Wenn sein Plan aufging, brauchten sie bald niemanden mehr zu fürchten.
„Commander Jackson“, rief Brooks erleichtert auf. „Wir haben die Republic
geortet. Etwa 1,3 Lichtjahre von hier entfernt. Ich habe die Koordinaten ermitteln.“
„Endlich, das wurde auch Zeit“, erwiderte Jackson, die neben der Ingenieurin saß und das Schiff steuerte. Sie war ebenso erleichtert.
„Was mag da passiert sein, dass sie so weit vom Standort der Mine abgekommen sind?“ überlegte Brooks laut. „Die Koordinaten der Mine lauteten anders.“
„Das werden wir in einigen Minuten wissen. Ich leite den Warptransit ein“, sagte Jackson zuversichtlich.
Seit einigen Stunden suchten sie nun schon nach der Republic
. Sie waren zu den in Sanaweys Bericht genannten Koordinaten der Mine geflogen. Dort sollte sich das Gefangenenlager der Adrac befinden. Vorsichtig und langsam hatten sie sich angenähert, um nicht von feindlichen Schiffen überrascht zu werden. Sie wollten die Möglichkeit zur Flucht haben, falls der Gegner zu stark sein sollte. Je näher sie gekommen waren, desto aufmerksamer waren sie geworden. Vor allem, weil sie trotz der geringer werdenden Entfernung keine Veränderung bei den Sensorendaten hatten. Als sie die Koordinaten schließlich erreicht hatten, mussten sie feststellen, dass es hier keine Mine gab. Genaugenommen gab es gar nichts. Keine Planeten, keine Planetoiden und kein Sonnensystem. Sie befanden sich einfach mitten im Nirgendwo.
Zuerst überlegten sie, was geschehen sein mochte. Aber sie konnten sich keinen Reim darauf machen. Wäre die Republic
weiter geflogen, hätten sie eine erneute Meldung abgesetzt. Und eine solche Nachricht an die Sternenflotte hätte das kleine Shuttle abgefangen. Da sie das nicht hatten, gab es nur die Möglichkeit, dass die Republic
dazu nicht mehr in der Lage gewesen war. Entweder musste sie überstürzt weiter oder sie waren angegriffen worden. Aber es gab hier auch keine Trümmer, die auf eine Zerstörung des Schiffes hingedeutet hätten.
Sie hatten nicht viele Möglichkeiten. Umzukehren, dazu reichte die Energie des kleinen Shuttles nicht mehr. Also blieb ihnen nur die Suche übrig. Die der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen glich. Das Schiff konnte in jede Richtung davongeflogen sein. Und es konnte schon Lichtjahre weit weg sein. Immerhin wollte die Republic
bereits vor sieben Tagen hier sein. Da konnte sie inzwischen weit außerhalb der Reichweite des Shuttles sein. Doch konnten sie hier in ihrem Shuttle nicht einfach auf den Tod warten.
Brooks verzichtete auf einen Vorwurf. Sie war zu Beginn wenig begeistert gewesen vom Aufbruch mit einem kleinen Shuttle. Sie wäre auf Vandros IV geblieben und hätte dort auf die Rückkehr der Republic
gewartet. Dort hatten sie genug Vorräte um im Notfall auch Monate auszuharren. Der Planet bot selbst Wasser und Früchte, sie wären auf keinen Fall verhungert. Hier draußen sah das schon anders aus. Trotzdem war Kritik nicht angebracht gewesen. Zum einen hatten sie dann gemeinsam den Aufbruch beschlossen, denn das war nun mal die Hierarchie. Und die Sternenflotte war eben eine militärische Einrichtung. Zum anderen half ihnen Kritik in dieser Situation auch nicht. Sie würden gemeinsam Erfolg haben oder gemeinsam sterben.
Nun aber hatten sie das Schiff gefunden. Nachdem sie wieder aus dem Warptransit gingen, schwebte das Shuttle neben der majestätischen Republic
, wobei das Schiff viel von seiner Erhabenheit eingebüßt hatte. Hüllenbrüche klafften wie große Wunden im Rumpf, durch austretenden Sauerstoff genährtes Feuer hatte Teile der schneeweißen Hülle schwarz gefärbt. Insgesamt befanden sich neben den Zerstörungen durch Waffen auch noch drei kreisrunde Löcher, die wie ausgeschnitten aussahen. Die Positionslichter waren teilweise ausgefallen und hinter den Fenstern brannten kaum noch Lichter. Das Schiff drehte sich vorwärts um die eigene Achse, was sie so aussehen ließ, als rolle sie langsam durchs All. Die Republic
sah aus wie ein stolzer, weißer Schwan, der durchs Feuer marschiert war.
„Mein Gott“, entfuhr es Wendy entsetzt. Sie dachte an die Crew. Sie dachte an Sanawey. So wie das Schiff aussah durften sie nicht erwarten, noch jemanden an Bord vorzufinden. Allerdings waren die Luken für die Rettungskapseln noch alle verschlossen. Die Crew war zumindest nicht auf diese Art von Bord gegangen. „Ob da noch jemand lebt?“ fragte sie skeptisch. Ihr fiel erst zu spät ein, dass sie solch demotivierende Worte besser für sich behalten sollte.
„Das werden wir gleich sehen“, erwiderte Jackson. Sie verlor keine Zeit und aktivierte die Funkverbindung. „Hallo Republic
. Hier ist Commander Jackson vom Shuttle Independence
. Kann mich jemand an Bord hören?“
Gespannt warteten alle an Bord des Shuttles auf eine Antwort. Die Ingenieure, die im hinteren Teil des kleinen Schiffes gesessen hatten, waren alle aufgestanden und drängten sich nun im Cockpit. Jeder wollte das Schiff sehen. Und jeder spürte dasselbe Entsetzen bei dem Anblick.
Aus den Lautsprechern war nur ein Rauschen und Knistern zu vernehmen, das an den Nerven der Wartenden zerrte. Und je länger dieses Rauschen andauerte, desto unerträglicher wurde die Beklemmung. Waren sie die letzten überlebenden Crewmitglieder? Diese Frage drängte sich geradezu auf. Und natürlich die Frage, ob sie auf diesem beschädigten Schiff überleben konnten, bis Rettung kam. Wenn das Schiff zu sehr beschädigt war, dann würde es auch ihr Grab werden.
„Hier ist Commander Jackson, ich rufe die USS Republic
“, wiederholte Jackson ihre Nachricht, allerdings schwang bereits deutlich weniger Hoffnung in ihrer Stimme mit. Auch sie befürchtete bereits, dass niemand die Geschehnisse überlebt hatte.
Während sie weiter auf einen Antwort warteten und dem Hintergrundrauschen in den Lautsprechern lauschten kam ihr Shuttle immer näher an das Schiff heran. Deutlich waren die Spuren eines Kampfes zu sehen. An einigen Stellen war die Hülle aufgerissen, so dass man hinein sehen konnte. Man sah die Einrichtung einzelner Quartiere, die Gänge. Einige Brüche waren so tief, dass auch gleich der Querschnitt über zwei oder drei Decks zu sehen war. Wenn sich in dem Moment, in dem die Hülle beschädigt worden war, eine Person darin aufgehalten hatte, dann war sie durch den plötzlichen Druckabfall ins All hinaus gezogen worden. Ohne eine Chance, sich irgendwo festzuhalten. Die eisige, luftleere Kälte im All ließ dann in wenigen Augenblicken die Lunge kollabieren, so dass man einen furchtbaren Tod starb.
„Vielleicht funktioniert auch einfach nur die Kommunikationsverbindung auf dem Schiff nicht mehr“, versuchte Brooks hoffnungsfroh zu klingen. Doch es gelang ihr nicht.
„Ich denke, wir werden versuchen müssen, so an Bord zu landen“, sagte Jackson schließlich. Sie versuchte, sich ihre Trauer und Niedergeschlagenheit nicht anmerken zu lassen. „Wir können nur hoffen, dass die Hangartore offen sind. Ansonsten müssen wir ein Andockmanöver versuchen.“ Das Shuttle hatte für diese Notfälle eine entsprechende Andockluke am Dach integriert. Und da die Republic
über eine Handvoll Luftschleusen verfügte, war das machbar. Es war jedoch kein leichtes Unterfangen und Jackson war sich nicht sicher, ob ihre Flugkünste dafür ausreichten. Doch was blieb ihnen für eine Wahl?
Das Shuttle flog einen Bogen um die Untertassensektion herum, um zurück zum Heck zu kommen. Dort am Rumpf lag die Shuttlerampe, ganz am Ende des Schiffes.
„Was war das?“ rief einer der Ingenieure und deutete mit der Hand wild fuchtelnd nach vorne. „Da hat sich etwas im Schiff bewegt.“
„Wo?“ fragte Brooks erregt nach.
„Hinter einem der Fenster.“ Aufregung hatte den Mann erfasst. „Wir sind schon vorbei. Wir müssen zurück.“
„Sind Sie sicher?“ wollte Jackson wissen.
„Ja.“ Der Mann wurde etwas ungeduldig. „Ja, ich bin mir sicher. Fliegen Sie zurück.“
„Nachsehen kann ja nicht schaden“, meinte Brooks, ohne ihre Vorgesetzte kritisieren zu wollen.
Jackson hatte ein Einsehen und steuerte zurück. Vor dem Fenster, das der Ingenieur ihr gezeigt hatte stoppte sie das Shuttle. Dann blickten sie alle wie gespannt darauf. Hinter dem Fenster verbarg sich ein dunkler Raum. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor wenigen Augenblicken jemand gewesen war. Und nichts tat sich. Die Enttäuschung war nach der kurz entstandenen Hoffnung nur umso größer.
„Entschuldigung“, murmelte der Mann kleinlaut.
„Schon gut“, erwiderte Jackson leise. Gerade als sie die Triebwerke wieder starten wollte, schrie Brooks auf.
„Da. Da ist jemand.“ Sie zeigte wieder zum Fenster und tatsächlich. Da stand ein Mann in einer Sternenflottenuniform und winkte wie wild. Er schien sich über das kleine Shuttle zu freuen wie ein Kind über den Weihnachtsmann. Er winkte und rief etwas, das sie natürlich nicht verstehen konnten.
„Was will er uns sagen?“ fragte Wendy Brooks verwirrt.
„Keine Ahnung“, zuckte Jackson die Schultern und ihre Stimme klang erleichtert. Erleichtert darüber, dass doch noch jemand an Bord war. „Aber wir sollten schauen, dass wir auch hinein kommen.“
„Ich glaube, das will er uns auch sagen“, meinte Brooks stirnrunzelnd und deutete damit seine Geste, die nicht mehr aus Winken bestand, sondern aus eindeutigen Zeichen. „Ich denke, er deutet in Richtung Shuttlerampe.“
„Na dann, nichts wie hin.“ Jackson aktivierte die Triebwerke und steuerte auf den hinteren Teil des Schiffes zu.
George Real empfing das Shuttle in der Hangarhalle. Er hatte sofort von der erfreulichen Nachricht erfahren und war hierher geeilt, um die Offiziere persönlich in Empfang zu nehmen. Neben ihm stand eine dunkelhaarige Frau, die ein Datenpad in der Hand hielt. Ihren Rangabzeichen nach war sie eine Assistentin im Maschinenraum.
Nachdem das Shuttle wohlbehalten gelandet und der Druckausgleich wieder hergestellt war, stiegen die Insassen aus. Entsetzt schauten sie sich um, da auch im Hangar nicht mehr alles dort war, wo es hingehörte. Schnellen Schrittes kamen sie auf Real zu, Jackson und Brooks vorneweg.
„Was ist hier geschehen?“ wollte Jackson sofort vom Sicherheitschef wissen.
„Die Adrac haben uns überfallen“, erwiderte Real und erklärte in knappen Worten was geschehen war. Erschrocken hörten die Neuankömmlinge sich die Schreckensnachrichten an. Mit jedem Wort schien sich ihr Entsetzen noch zu steigern. Sie wollten gar nicht glauben, was sie hörten, aber der Zustand des Schiffes war eindeutig und untermauerte Reals Worte deutlich.
„Und nun versuchen wir seit einer Woche, das Schiff wieder flott zu bekommen“, schloss Real seinen Bericht. „Was aber mehr als schwierig ist. Die Adrac haben alle Ingenieure mitgenommen. Wir haben noch drei Assistenten aus dem Maschinenraum, aber deren Wissen reicht bei weitem nicht aus. Das einzige, das wieder zuverlässig funktioniert, ist die Lebenserhaltung. Mit dem Rest sieht es eher mau aus.“
„Schilde sind bei 20 Prozent“, meldete die Frau neben Real. „Phaser sind noch außer Funktion. Ebenso die Photonentorpedos. Aber ein Torpedoschacht steht wieder zur Verfügung. Das energetische Niveau der Antimateriekammer ist immer noch bei 26 Prozent. Die...“
„Schon gut“, unterbrach Jackson sie. „Ich habe verstanden. Geben Sie die Liste Mrs. Brooks. Sie wird die Koordination jetzt übernehmen. Immerhin haben wir jetzt wieder ein paar Ingenieure.“
Real sah Brooks skeptisch an. Nicht, dass er ihr nichts zutrauen würde, aber mit der Chefingenieurin waren es gerade einmal sechs Ingenieure und Techniker, die an Bord gekommen waren. Sie brauchten aber mindestens das Zehnfache, um hier voranzukommen.
„Wir schaffen das“, sagte Brooks aufmunternd, als sie Reals Blick sah.
„Und die Hälfte der Crew ist…“ begann Jackson, brach dann aber ab.
„... gefangen oder tot“, vollendete Real den Satz. Er hatte nach der Woche weniger Skrupel das Offensichtliche auszusprechen. „Ja. Wir haben uns gedacht, wenn wir das Schiff wieder flott bekommen, dann werden wir einen Rettungsversuch unternehmen. Das hatte bei unseren Überlegungen oberste Priorität. Wir wissen, die Adrac sind Sklavenhändler. Und sie behandeln ihre Gefangenen nicht sehr gut. Wir müssen die Crew da so schnell wie möglich herausholen.“ Er klang entschlossen, aber auch sehr müde und erschöpft.
„Gute Arbeit“, nickte Jackson anerkennend. „Aber wir haben noch einiges vor uns, wenn wir die Crew befreien wollen.“ Sie war sich nicht einmal sicher, ob das funktionieren konnte. Obwohl sie natürlich auch den Wunsch verspürte.
„Sie haben die äußeren Bereiche des Schiffes evakuiert“, stellte Brooks fest, die bereits den Statusbericht studierte, den Hill ihr gegeben hatte.
Real nickte. „Wir dachten, dadurch könnten wir Zeit und Materialien sparen. Wir haben nicht genug, um alles zu reparieren. Diese Bereiche sind nicht wichtig. Und dort sind die Zerstörungen auch am größten“, erklärte er seine Überlegungen.
„Das ist gut“, bestätigte Brooks. „Richtig gut. Dadurch, dass hier schon alle Schäden aufgelistet sind, können wir sofort mit den Reparaturen beginnen“, erklärte sie Jackson.
„Sie haben gute Arbeit geleistet, Mr. Real“, attestierte diese dem Sicherheitschef.
„Die ganze Crew hat gute Arbeit geleistet. Wir zwei, Mrs. Hill und ich, haben das Ganze nur ein wenig koordiniert“, gab sich Real bescheiden.
Jackson nickte nur. Für banalen Smalltalk fehlte jetzt die Zeit. „Was ist mit der Navigation?“
„Außer Funktion“, sagte Real.
„Transporterstatus?“
„Außer Funktion“, erwiderte Hill.
„Sensoren?“
„Interne Sensoren sind offline. Externe Nahbereichssensoren dagegen sind online.“
„Na immerhin.“ Jackson war schon mit Kleinigkeiten zufrieden. „Die Kommunikationssysteme?“ Das Wichtigste ihrer Meinung nach. Denn damit konnten sie der Sternenflotte eine Nachricht zukommen lassen. Nicht, dass sie mit Hilfe rechnete. Dazu würde ein anders Schiff zu lange brauchen um hier zu sein. Aber wenn die Sternenflotte wusste was los war, dann war das ein beruhigendes Gefühl.
„Die Kom ist immer noch offline. Wir hatten keine Chance, das wieder instand zu setzten.“
„Nun gut. Dann ist ja noch einiges zu tun.“ Sie nickte Brooks zu. „An die Arbeit. Mit noch einmal so viel Ausdauer wie hier in den letzten Tagen schon aufgewendet wurde, sind wir bald wieder im Rennen. Und dann holen wir uns unsere Crew zurück“, sagte sie grimmig.
Langsam wandte Sanawey sich um und sah Sohral scharf an. „Wie war das eben?“ Er glaubte sich verhört zu haben. Verhört haben zu müssen, denn das war doch etwas zu unglaublich
Sohral lebte lange genug unter Menschen, um zu wissen was der Captain mit dieser Frage meinte. Er wollte eine Erklärung, keine Wiederholung der Worte. „Tworek ist Halbvulkanier“, erklärte er. „Das hatte ich schon vermutet, als er uns seinen Namen nannte, aber ich war mir dessen nicht sicher.“
Sanawey war fassungslos. Wieso hatte Sohral ihm das nicht schon längst gesagt? Die Antwort kannte er natürlich. Der Vulkanier würde nie aufgrund von Vermutungen zu einer Äußerung hinreißen lassen. Was manchmal sehr anstrengend sein konnte. „Wie kann das sein?“ Die Vorstellung einer Verbindung von Vulkaniern und Klingonen kam ihm völlig unvorstellbar vor. Zwei Spezies, die sich fremder waren als diese zwei konnte sich Sanawey nicht vorstellen. Die Klingonen, wild, aufbrausend und aggressiv oder kurz, extrem emotional. Die Vulkanier ruhig, besonnen und würdevoll – logisch. Das passte ungefähr so gut zusammen wie Feuer und Wasser. Also gar nicht.
„Vor 41 Jahren und zwei Monaten wurde ein vulkanisches Forschungsschiff von den Klingonen gekapert und die Crew gefangen genommen“, begann Sohral seine Erklärung. „Die Klingonen töteten einige Vulkanier und vergewaltigten die Frauen. Nach drei Monaten konnten die Vulkanier schließlich mit Logik den primitiven Klingonen entkommen.“ Es klang so, als schwinge Stolz auf sein Volk in seiner Stimme mit, aber das konnte natürlich nicht sein. „Sie kehrten nach Vulkan zurück. Allerdings waren elf Vulkanierinnen bei den Vergewaltigungen schwanger geworden. Diese Kinder wurden ausgetragen und großgezogen nach vulkanischen Lehren.“
„Die Logik empfahl die Kinder auf die Welt zu bringen, da die Kinder unschuldig an dem Geschehenen waren“, fuhr Tworek fort. „Sie wurden nach den Traditionen und Gesetzen der Vulkanier erzogen, auch wenn sie äußerlich alle mehr Klingonen ähnelten. Und sie lernten die Lehren der Logik. Und so wuchsen sie innerhalb der vulkanischen Gesellschaft auf. In ihren Herzen waren sie Vulkanier, auch wenn man das äußerlich nicht sah.“
„Und Sie sind eines dieser Kinder?“ vermutete Sanawey. Er konnte kaum glauben, was er eben gehört hatte. Dies war nie ein großes Thema innerhalb der Föderation geworden. Zumindest nicht, solange er zurückdenken konnte. Aber wenn das vor über vierzig Jahren geschehen war, dann war er zu der Zeit selbst noch ein Kind gewesen. Vielleicht hatte er es deshalb nur nicht mitbekommen. Allerdings vermutete er, dass die Vulkanier das in aller Stille unter sich geregelt hatten. Vielleicht wussten die anderen Föderationswelten noch nicht einmal etwas davon.
„In der Tat“, bestätigte Tworek die Vermutung des Captains.
„Und Halbvulkanier sind in der Lage Gedankenverschmelzungen durchzuführen?“ wunderte sich Sanawey.
„Nicht alle“, antwortete Sohral. „Aber die meisten, die die traditionellen vulkanischen Riten erlernt haben. Denken Sie nur an Mr. Spock von der Enterprise.“
Sanawey nickte. Gerne hätte er noch mehr über diese elf Kinder und ihr Schicksal erfahren. Doch das musste warten, hier war nicht der richtige Ort für solche Gespräche. Er wandte sich wieder an Tworek. „Was machen Sie hier? Meines Wissen nach, gibt es in der Sternenflotte keine klingonisch-vulkanischen Mischlinge.“
„Nein, ich war alleine unterwegs.“
Allein? Warum wagte sich jemand alleine ins All, und dann auch noch in unerforschtes und eventuell unsicheres Terrain? „Wieso?“ fragte er neugierig. „Ist das logisch?“
„Möglicherweise nicht. Für mich war es aber der einzige Weg, den ich gehen konnte. In der vulkanischen Gesellschaft fühlte ich mich nie so richtig wohl. Mir gelang es nicht hundertprozentig meine Gefühle zu beherrschen. Meine klingonische Ader kam immer wieder durch. Ich war immer ein Außenseiter, auch wenn die Vulkanier es mich nicht merken ließen. Und bei den Klingonen war ich sowieso nicht erwünscht. Für sie war ich nie Klingone genug, vergiftet mit vulkanischem Blut und Ideen. Ich stand immer zwischen zwei Welten. Deshalb zog ich es vor alleine zu bleiben. Ich erforschte das Universum, suchte nach neuen Orten und neuen Kulturen, die vielleicht zu meiner neuen Heimat werden könnten. Und dann bin ich von den Adrac gefangen genommen worden.“
„Allein durchs All? Ist das nicht unlogisch? Das ist eine enorme Gefahr, der Sie sich ausgesetzt hatten“, hakte Sanawey nach.
„Nein, durchaus nicht. Es ist nicht gefährlicher als Ihre Reisen. Ihr Raumschiff ist schwerfällig, mein Gleiter war schnell und wendig. Ich wäre Ihrem Schiff damit mit Leichtigkeit entkommen. Ebenso den Klingonen, Romulanern oder Tolanern. Es war ein kalkulierbares Risiko. Bis ich auf die Adrac traf. Sie haben es geschafft mich zu überwältigen.“
„Wieso sollten wir Ihnen glauben?“ Sanawey war zuerst von Tworeks Geschichte beeindruckt gewesen, doch jetzt kehrten Zweifel zurück. Zu deutlich war die List von Nonac noch in Erinnerung.
„Es ist die Wahrheit. Vulkanier lügen nicht“, gab er ruhig zurück.
„Sie sehen eher wie ein Klingone aus.“ Sanawey provozierte ihn weiter. Er wollte wissen, ob das Spiel von Tworek nur aufgesetzt war oder ob er sich tatsächlich im Griff hatte. Ein Klingone würde sich nicht lange provozieren lassen, bis er zuschlug.
„Mein Aussehen ist äußerlich und nicht von Bedeutung. Im Inneren bin ich Vulkanier.“ Tworek schlug seine Haare nach hinten, so dass die Ohren zu sehen waren. Sie liefen spitz zu. Genau wie die Sohrals.
Trotz allem war Sanawey etwas überrascht. Er hatte es nicht glauben wollen. Auch jetzt blieb ein Rest an Zweifel zurück. Er sah viel zu klingonisch aus, als dass er es einfach so akzeptieren konnte. Der Captain nickte Sohral zu, worauf beide ein Stück zur Seite traten.
„Was meinen Sie?“ fragte er leise.
„Es ist faszinierend. Von diesen klingonisch-vulkanischen Kindern lebt niemand mehr auf Vulkan. Sie haben den Planeten im Laufe der Jahre verlassen. Insgesamt gab es nach vulkanischen Unterlagen elf dieser Mischlinge. Ich habe jedoch noch nie einen gesehen.“
„Sagt er die Wahrheit?“ wollte Sanawey wissen. Nur darauf kam es jetzt an.
„Das ist schwer zu sagen. Unter diesen Umständen gibt es keine Möglichkeit das zweifelsfrei herauszufinden“, musste Sohral eingestehen.
„Dann könnte er auch halb Romulaner sein?“ spekulierte Sanawey. Die Romulaner waren schließlich Verwandte der Vulkanier, die sich vor circa zweitausend Jahren abgespalten und Vulkan verlassen hatten, um schließlich ein neues Volk zu gründen. Sie waren den Vulkaniern absolut ähnlich, mit dem Unterschied, dass sie ihre Emotionen weiterhin auslebten.
„Das denke ich nicht, obwohl ich die Möglichkeit nicht ganz ausschließen kann“, erwiderte Sohral. „Aber so wie er seine Gefühle beherrscht sieht es doch so aus, als ob er die Lehren Suraks seit klein auf gelernt hätte.“
„Was ist mit einer Gedankenverschmelzung?“ Der Gedanke sich mit einem Klingonen oder gar einem halben Klingonen und halben Romulaner einzulassen schmeckte dem Captain nicht so ganz.
„Es tut mir leid, Captain, dazu bin ich unter den Umständen der Gefangenschaft nicht mehr in der Lage.“ Er gab nicht gerne zu, dass auch ihm die Strapazen der Mine zusetzten, doch war es logisch, das dem Captain nicht zu verschweigen.
„Verdammt.“ Sanawey wusste nicht, was er nun tun sollte. Er wollte Tworek nicht vertrauen. Die Feindschaft zu den Klingonen saß zu tief. Und auch wenn er selber gerne glaubte, keine Vorurteile gegen andere zu hegen, so stimmte das nicht ganz. Das Misstrauen gegen Klingonen und auch Romulaner konnte er nicht abschütteln.
„Captain, wir sollten ihm vertrauen“, empfahl Sohral ihm. „Es ist ein weiterer Verbündeter. Und wir können hier jeden Verbündeten brauchen.“
Sanawey rieb sich das Kinn, so dass die Bartstoppeln kratzten. „Wenn Sie das meinen, dann werde ich darauf vertrauen, dass Sie sich nicht verschätzen.“ Sein Vertrauen in den Vulkanier war nahezu grenzenlos und er hoffte, dass es sich auch dieses Mal rechtfertigte.
„Wir haben nicht mehr viel zu verlieren“, gab Sohral zu bedenken.
„Ja, aber das was wir noch zu verlieren haben gibt mir zu denken.“
In diesem Moment öffnete sich das Tor und ein paar Adrac-Krieger betraten den Raum. Fünf Wachen blieben am Eingang zurück, während drei weitere sich einen Weg durch die davon weichende Menge bahnte.
Die Offiziere der Republic
sahen sich verunsichert an. Während der einen Woche, die sie bisher hier verbracht hatten, waren die Adrac noch nie innerhalb der vierstündigen Pause aufgetaucht. Was mochte geschehen sein? Im Halbdunkel wirkten die Adrac noch unheimlicher. Wie Fabelwesen oder wie Dämonen. Sie waren nur schemenhaft zu erkennen. Der vorderste Krieger trug zusätzlich zu seiner Waffe noch etwas anderes. Es war jedoch nicht zu erkennen.
Tief in Sanawey zog sich etwas zusammen, als er merkte, dass die Adrac geradewegs auf ihn zusteuerten. War er nun dran? Erging es ihm nun wie Commander Hibbert? Wurde er zur Folter abgeholt?
Der vorderste Krieger blieb vor Sanawey stehen und hielt ihm wortlos etwas entgegen. Sanawey sah es sich genauer an. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder. Deutlich spürte er die Kälte, die ihn packte. Schockiert taumelte er zurück. Übelkeit stieg ihn ihm auf. Er trat einen Schritt zurück und fiel über einen am Boden liegenden Gefangenen. Auf dem Rücken kam er zum Liegen und schnappte nach Luft.
Der Adrac hielt in seiner Krallenhand den Kopf eines Reptilwesens. Er sah aus, wie wenn er einfach vom restlichen Körper abgerissen worden wäre. Die Haut schimmerte noch ein wenig grün zwischen dem vielen Blut. Seine Augen waren ausgestochen und in den Backenknochen klaffte ein großes Loch. Mehrere Löcher im Kopf zeugten von Experimenten am Gehirn. Es hatte den Anschein, als ob die Adrac testen wollten, wie viel dieses Reptilwesen aushalten konnte und ob es eine Gefahr für sie wäre. Für das Opfer musste das einen grausamen Tod bedeutet haben. Sanawey war froh, dass er den restlichen Körper nicht sehen musste. Und irgendwo in den hintersten Winkeln seines entsetzten Gehirns registrierte Sanawey, dass es sich bei dem Unglückseligen um seinen Steuermann Remog handelte.
Real saß vor dem Bildschirm in seinem Quartier und betrachtete verschiedene taktische Darstellungen der Adrac-Kriegsschiffe. Die Sensoren hatten bei dem Angriff einige Daten aufgezeichnet bevor sie ausgefallen waren. Diese, zusammen mit den Erkenntnissen aus dem abgestürzten Schiff, studierte er nun. Es musste doch einen Weg geben, sie zu besiegen, bevor man selbst zerstört wurde. Jedes Schiff hatte einen Schwachpunkt, man musste ihn nur finden. Gegen eine solch gewaltige Feuerkraft wie die der Adrac-Schiffe hatten sie jedoch nicht viel entgegenzusetzen. Die Energiemenge dieser Waffen war so gewaltig, dass sie die energetischen Schilde mit nur wenigen Treffern überlasteten und damit die Generatoren zerstörten. So eine Waffentechnik hatte Real noch bei keinem Volk gesehen. So etwas kannte er noch nicht einmal aus der Theorie. Noch nie hatte sich bei der Sternenflotte jemand mit solchen Waffen beschäftigt. Doch wenn sie die entführte Crew aus der Übermacht befreien wollten, dann mussten sie einen Weg finden, den Gegner auszuschalten, bevor der seine Waffen einsetzten konnte. Ansonsten brauchten sie es gar nicht erst zu versuchen, dann konnten sie ihr Schiff auch gleich selbst sprengen. Das Ergebnis wäre so oder so das Gleiche.
Müde rieb er sich die schmerzenden Augen. Schon seit Stunden starrte er auf den Bildschirm ohne irgendeine Erkenntnis. Die Schiffe des Gegners waren fliegende Festungen. Gut bewaffnet, schnell und wendig. Dass sie über keine Schutzschildtechnologie verfügten, schien bei der starken Panzerung der Schiffe keine Rolle zu spielen. Bevor sie sich da durchgeschossen hätten, wäre die Republic
längst vernichtet worden. Ihm war klar, er würde heute auch keine Lösung mehr finden. Er brauchte Abstand und musste auf andere Gedanken kommen, dann würde ihm schon etwas einfallen. Aber darauf konnte er sich auf nicht verlassen. Nicht immer flog einem die Lösung zu, wenn man sich nicht mehr darauf konzentrierte. Konnte er sich daher wirklich eine kurze Pause leisten? Seine Hand bewegte sich in Richtung Bildschirmsteuerung, doch dann zog er sie wieder zurück. Nein, er konnte sich keine Pause erlauben. Von ihm hing die Rettungsmission ab. Als Sicherheitsoffizier musste er die Schwächen des Feindes ermitteln. Das war seine Aufgabe. Wenn er sich nun eine Pause gönnte und am Schluss er nicht rechtzeitig zum Ende der Reparaturen am Schiff fertig wurde, dann verzögerte sich die Rettung nur wegen ihm. Weil er sich eine Pause zu viel gegönnt hatte. Und das wiederum konnte das Leben eines Crewmitgliedes kosten. Oder auch mehrerer.
Deutlich spürte er den Druck, der auf ihm lastete. Er musste die Schwächen des Feindes ausfindig machen. Er ganz alleine. Eine Aufgabe, für die normalerweise ein ganzes Expertenteam zur Verfügung stand. Doch die Experten der Sternenflotte waren weit weg und derzeit nicht zu erreichen.
Seufzend stand er auf. Eine Pause konnte er nicht machen, aber eine Tasse Kaffee konnte er sich holen. Soviel Zeit durfte er sich leisten. Müde lief er zum Replikator hinüber. „Kaffee. Schwarz. So stark wie möglich“, befahl er dem Computer. Dann lehnte er sich erschöpft an die Wand, in die das Gerät integriert war. Die Spuren der letzten Woche hatten sich tief in sein Gesicht gegraben. Die Verantwortung auf einem fast zerstörten Schiff für so viele Überlebende hatte wie ein tonnenschweres Gewicht auf ihm gelastet. Er hatte ihr weiteres Überleben sicherstellen müssen und ihnen wieder eine Perspektive gegeben. Zwar war er der Meinung, das ganz gut geschafft zu haben, trotzdem war er froh, dass diese Verantwortung nun wieder bei Commander Jackson lag. Er hatte ihr, nicht ohne Stolz, ein Schiff übergeben können, das zumindest zum Weiterleben geeignet war. Und die Vorbereitungen für die Reparaturen waren so weit vorangediehen, dass Wendy Brooks mit ihrem Team sofort beginnen konnte. Trotzdem waren die ersten Tage hart gewesen. Sie hatten nicht genug Energie für die Replikatoren gehabt und mussten drei Tage hungern, ehe es endlich wieder etwas gab. Die Moral hatte trotzdem nicht weiter sinken dürfen. Zudem fanden sich in den ersten Tagen auch noch ständig Crewmitglieder, die sich irgendwo versteckt gehalten hatten. Die meisten waren unverletzt, doch gab es auch ein paar Verwundete. Meist waren es nur leichte Verletzungen gewesen, doch drei Crewmitglieder waren so schwer verletzt gewesen, dass sie es nicht geschafft hatten. Sie waren auf der Krankenstation gestorben. Mit der richtigen Ausrüstung hätten sie mindestens zwei der drei retten können, doch so hatten sie machtlos mit zusehen müssen, wie die drei starben.
Sein Blick schweifte durch den Raum, während er auf seine Bestellung wartete. Das Licht war abgedunkelt, so dass der Bildschirm die einzige Lichtquelle war, abgesehen vom fahlen Licht der Sterne, das durch das große Panoramafenster hereinfiel. Auf dem Sofa sah man die schemenhaften Umrisse einer Person, die dort lag. Sandra Hill, erinnerte sich Real an ihre Anwesenheit. Das hatte er vor lauter Arbeit fast vergessen. Sie hatte sich inzwischen schon wieder ganz gut gefasst, aber sie litt noch immer unter Albträumen und deshalb hatte sie darum gebeten an Reals Seite bleiben zu dürfen. Vorerst. Sie harrte hier aus, während er arbeitete. Doch inzwischen hatte der Schlaf sie überwältigt. Und sie schlief endlich mal ganz ruhig, deshalb wollte Real auch nicht riskieren das Licht zu aktivieren.
Neben ihm summte es und er erinnerte sich an seinen Kaffee, der jetzt im Ausgabefach erschien. Sofort griff er danach wie nach etwas ganz besonderem. Der Duft nach frischem Kaffee stieg ihm in die Nase. Genüsslich sog er ihn ein. Schon alleine das Aroma weckte neue Energien in ihm. Langsam trat er vor zur Couch und sah Sandra an. Er musste feststellen wie hübsch sie im Sternenlicht aussah. Ihr Gesicht wirkte jetzt so entspannt und friedlich. Jegliche Angst war aus ihr gewichen. Wie gern hätte er sich jetzt neben sie gesetzt und wäre ihre Stütze gewesen.
Real schüttelte leicht den Kopf und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Nein, er musste sich zusammenreißen. Er kannte Sandra ja kaum. Vielleicht wartete ein Mann auf der Erde auf sie. Oder vielleicht sogar auf dem Schiff. Sie hatte in der ganzen Woche nichts von sich erzählt, und so wusste er weiterhin nur, dass sie eine Assistentin aus dem Maschinenraum war. Das war auch schon alles. Und das war bisher auch in Ordnung gewesen. Doch jetzt bedauerte er es. Aber wahrscheinlich lag es einfach nur an den Umständen. Die Dauerbelastung, die Müdigkeit, die Ungewissheit. Da würde sich wohl jeder nach ein wenig Gesellschaft und Ablenkung sehnen.
Voller Vorfreude setzte er den Kaffee an und wollte ihn trinken. Aber nach einem kurzen Nippen an dem Getränk musste er heftig schlucken und mehrmals tief Luft holen. Ruckartig nahm er die Tasse wieder vom Mund. Der Computer hatte seinen Befehl genau befolgt. Der Kaffee war so stark wie nur irgendwie möglich. Wenn er das jetzt trinken würde, dann konnte er garantiert die nächsten zwei Wochen nicht mehr schlafen. Vorausgesetzt sein Kreislauf überlebte den Koffeinschock.
Vorsichtig stellte er den Kaffee auf dem Couchtisch ab. Er wollte jedes Geräusch vermeiden, um Sandra nicht zu wecken. Leise kniete er vor der Couch nieder, nur das Knacken in seinem linken Knie ließ ihn kurz in seiner Bewegung stocken. Einige Minuten lang saß er einfach nur da und beobachtete sie. Ihre Nasenflügel, die sich beim Atmen leicht bewegten, ihr entspanntes Gesicht, ihre weiche Haut. Eine Strähne ihres dunklen Haares hing ihr ins Gesicht. Und Real konnte sich nicht zurückhalten, seine Hand strich ihr die Strähne fort. Wie ein teilnahmsloser Beobachter kam er sich vor, der keine Kontrolle mehr über seine Handlungen hatte. Er konnte es kaum glauben, geschweige denn, es sich eingestehen, aber ihre Nähe machte ihn glücklich. Als ob er verliebt wäre. Er kam sich vor wie ein Teenager. Irgendwie lächerlich, aber gut.
Während er die Strähne fortstrich griff sie nach seiner Hand und zog sie an sich. Erschrocken wollte Real die Hand fortziehen, entschied sich aber schnell dagegen. Er war völlig verblüfft über sie. Ihr weiterhin regelmäßiges Atmen sagte ihm, dass sie noch immer schlief. Hoffnung keimte in ihm auf. Wenn sie das tat, obwohl sie schlief, hieße das nicht, dass sie sich auch zu ihm hingezogen fühlte? Reals Herz schlug ihm bis zum Hals. Glückshormone ließen seine Stimmung fast bis zur Euphorie steigen. Wie auf Wolke sieben. Er konnte es kaum fassen. Aber es fühlte sich verdammt gut an. Und er wollte es nie wieder missen.
Sandra räkelte sich und zog Reals Hand näher an sich. Der Sicherheitschef konnte es kaum fassen. „Sandra“, flüsterte er.
Hill seufzte und meinte: „Kevin.“
Kevin? hallte es entsetzt durch seinen Kopf. Er brauchte einige Sekunden, ehe er so richtig begriff, was sie gesagt hatte. Sein Magen krampfte sich zusammen und ein Stechen unter der linken Brust traf ihn. So schnell wie er im siebten Himmel gewesen war, so schnell und hart schlug er wieder auf dem Boden der Realität auf. Wie hatte er sich nur einbilden können, dass sie dasselbe für ihn empfand wie er für sie? Ausgerechnet für ihn. Sie waren Kollegen, durch die Ereignisse der letzten Tage waren sie vielleicht auch Verbündete des Schicksals, aber mehr nicht. Wie konnte er sich nur der Hoffnung hingeben? Natürlich wartete bereits jemand auf sie. Und er war ein verdammter Narr.
Kevin, wiederholten seine Gedanken. Was für ein Name. Was sich da wohl für ein Spießer dahinter verbergen mochte? Bestimmt so ein Möchtegern. So ein Nichtsnutz, der sich zu fein dazu war, irgendetwas zum Wohl der Gesellschaft zu tun. So ein schleimiger, schmieriger Schönling, der sich was einbildete auf sein Aussehen und wie toll er doch war.
Gefühle von Enttäuschung, Eifersucht und Wut wechselten einander ab. Enttäuschung über seine so plötzlich zerschlagene Hoffnung, Eifersucht auf einen Unbekannten und Wut auf alles. Auf sie, weil sie so war wie sie war, auf sich selbst, weil er sich Hoffnung gemacht hatte, auf das Schicksal, weil es so hart zu ihm war. Ein Wechselbad der Gefühle. Der negativsten und überflüssigsten Gefühle.
Mühsam versuchte er Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Er war zwar kein Vulkanier, aber Sicherheitsoffizier. Er hatte gelernt, dass er sich nicht von seinen Gefühlen verwirren lassen durfte. Sein Verstand musste stärker sein als sein Herz. Sein Verstand musste die Ordnung zurückbringen.
Real schloss die Augen und konzentrierte sich. Er hatte noch eine Aufgabe vor sich, die er noch zu bewältigen hatte. Fast hätte er es vergessen. Die Umgebung, die Situation, die ganze Gefahr in der sie sich befanden, hatte er völlig vergessen. Für einen Moment schien es als wäre die Zeit stehen geblieben. Aber nun tickte sie wieder. Und schneller als zuvor. Sie holte sich den vermeintlichen Stillstand zurück und rannte ihm davon.
Seufzend sah er Sandra an. Es hätte so schön sein können. Vorsichtig, ohne sie zu wecken, zog er seine Hand zurück. Als er ihre Haut nicht mehr spürte war es, als ob etwas fehlen würde. Doch dann gewann sein Verstand die Oberhand und wischte diese Gefühle fort. Jetzt befand er sich wieder hier, an Ort und Stelle wo er hingehörte, wo er gebraucht wurde. So schnell er konnte, ohne ein Geräusch zu verursachen, stand er auf und trat zum Terminal zurück. Er hatte hier noch eine Aufgabe zu vollenden.
Völlig erschlagen und am Ende seiner Kräfte kauerte Sanawey auf dem Boden der Höhle. Er wusste nicht wann und ob er sich schon jemals körperlich so erschöpft gefühlt hatte. Die Arbeit in der Mine war grauenhaft und mörderisch. Sie hatte bereits fünf Crewmitgliedern das Leben gekostet. Zwei von ihnen waren allerdings krank gewesen. Lieutenant Gibson hatte erst vor drei Wochen eine Herzoperation gehabt. Er war noch nicht wieder ganz genesen und sein Herz hatte die Anstrengungen nicht verkraftet. Und Fähnrich Sylla musste regelmäßig Medikamente nehmen, ohne die sie nicht leben konnte. Natürlich hatte sie diese Medikamente hier nicht bekommen. So musste Sylla elend ersticken, ohne dass sie etwas dagegen hatten tun können. Vor zwei Tagen schließlich waren Benjamin Since und Remog getötet worden, bestialisch ermordet von ihren Peinigern. Und das, weil sie Karja vor den Adrac gerettet hatten. Und auch Danny Palmer war tot, doch nach seiner Tat trauerte ihm niemand eine Träne nach.
Der Tod von Gibson und Sylla hatte die gefangenen Crewmitglieder noch wütender und zorniger gemacht, als sie ohnehin schon waren. Und Sanawey hatte diese Wut nutzen wollen, um irgendwie hier herauszukommen. Doch der Tod von Remog war wie eine Ernüchterung gewesen und hatte die Moral nachhaltig geschädigt. Nicht, weil er beliebter gewesen wäre als die beiden anderen. Dazu hatte er zu wenig Kontakt zur Crew gehabt. Sondern weil sein Tod so offensichtlich grausam war. Bei den beiden anderen hatten sie einfach Hilfe verweigert, bei Remog und Since aber waren sie aktiv tätig gewesen, mit einer Brutalität, die einfach nur schockierte. Damit konnte kaum jemand umgehen. Und nun hatte Apathie die Crew erfasst. Sie fügten sich fast widerstandslos in ihr Schicksal. Und unterschieden sich damit nicht mehr sonderlich von den anderen Gefangenen.
Zudem lag Remogs Kopf noch immer mitten in der Höhle. Die Adrac hatten ihn dort vor Sanaweys Füße fallen lassen. Und die Gefangenen waren von dem Kopf weggerutscht und mieden den nahen Kontakt. Seitdem lag er da und diente der weiteren Demoralisierung der Gefangenen. Mit Erfolg, wie Sanawey eingestehen musste. Auch in ihm regten sich allmählich Zweifel, ob sie hier je wieder herauskommen würden.
„Wir müssen hier raus“, sagte Sanawey leise zu Sohral, der neben ihm Platz genommen hatte. „So schnell wie möglich, bevor es zu spät ist.“
„Wie wollen Sie das erreichen?“ wollte Sohral wissen.
Sanawey blieb stumm liegen. So genau wusste er das selbst noch nicht. Genaugenommen hatte er nicht die geringste Idee. Aber er wusste, es musste jetzt passieren, denn sie würden immer schwächer werden. Und er wollte lieber bei einem Ausbruchsversuch sterben als hier auf den Tod warten.
„Sie könnten etwas Hilfe benötigen“, übersetzte ein kleiner Computer die Zisch- und Klicklaute, die plötzlich hinter ihnen ertönten. Dann tauchten auf einmal zwei Fühler über dem Captain auf.
Schneller als Sanawey denken konnte war er wieder auf den Beinen und starrte auf eine ihm fremde Lebensform. Sie hatten einen schmalen, zweigliedrigen Körper. Der Kopf bestand hauptsächlich aus zwei großen, dunklen Facettenaugen und einem großen Mund, dem bewegliche Klauen vorgelagert waren, wie bei einer Spinne. Das Wesen war ein Insekt. Es sah aus wie eine menschengroße Mischung aus einer Ameise und einer Gottesanbeterin. Auf seiner Stirn ragten die zwei nach vorne gebogenen, langen Fühler auf. Es hatte drei Krallenfinger an jeder Hand. Um den schlanken Insektenkörper trug es, wie alle anderen hier, nur ein paar Fetzen. Aber ob das Wesen abgemagert war oder sonst wie unter der Gefangenschaft litt war nicht zu erkennen. Sanawey hatte schließlich auch keine Ahnung, wie ein Mitglied dieser Spezies normalerweise aussah. Aber er fühlte sich an den Biologieunterricht an der High-School erinnert. Damals hatten sie unter dem Mikroskop eine Heuschrecke untersucht. Durch diesen Lupeneffekt mit der enormen Vergrößerung hatte das kleine Insekt so fremdartig gewirkt, als käme es von einem anderen Planeten. Und nun stand so ein Wesen vor ihm. Und es wirkte keineswegs weniger fremdartig als damals unter dem Mikroskop.
„Ihr wollt fliehen?“ klickte das Wesen wieder und wurde sofort übersetzt. Sanawey sah, dass es ein Halsband trug, in dem offenbar ein kleiner Übersetzungscomputer untergebracht war. Seltsam war nur, dass die Adrac ihm das Gerät nicht abgenommen hatten.
„Wer will das wissen?“ stellte der Captain eine Gegenfrage, ohne selbst eine Antwort zu abzugeben.
„Ich bin Tch’t‘ka“, stellte das Wesen sich vor. „Und ich kann euch helfen. Wenn ihr mir helft.“
Ungläubig sah Sanawey zu Sohral hinüber. Schon wieder ein neues Wesen, das helfen wollte. Zuerst Tworek und nun dieses Insekt mit dem unaussprechlichen Namen. Aber Sohrals Gesichtsausdruck blieb unverändert. Er war gerade keine große Hilfe. Daher wandte sich Sanawey wieder an das Insekt. „Wie?“ wollte er nur wissen. Ob er ihm vertraute, wollte er erst später entscheiden.
„Ich habe eine Taktik, die Erfolg verspricht. Wenn Ihr euch daran haltet, dann sind wir morgen schon wieder frei.“ Das Wesen klickte so schnell, dass die Übersetzung kaum hinterher kam. Während er zuhörte sah sich Sanawey um und merkte, dass inzwischen seine Crew näher heran gerückt war.
„Woher sollen wir wissen, ob Ihre Taktik nicht in eine Falle führt, die uns tötet?“ Sanawey musste das einfach fragen, obwohl es überflüssig war. Wenn es eine Falle war, würde Tch’t‘ka das wohl kaum zugeben. Und warum sollte er sie in eine Falle führen? Hier drin waren sie alle doch schon so gut wie tot. Eine weitere Falle machte da wirklich keinen Sinn.
„Weil ich hier genauso raus will wie Sie“, kam die Antwort. „Und ich habe die selben Augen wie die Adrac. Nur ich kann beurteilen wie sie sehen und wie wir daher vorgehen sollten. Wenn wir gegen die Adrac bestehen wollen müssen wir zusammenarbeiten. Sonst werden wir hier zusammen sterben“, betonte er noch.
Nachdenklich sah sich Sanawey um. Das Wesen selbst konnte er nicht anschauen. Aus dem Gesichtsausdruck konnte er sowieso nicht erkennen, ob es die Wahrheit sagte. Das Insektengesicht bot keinerlei Mienenspiel. Vermutlich war dieser Chitinkörper dazu auch gar nicht in der Lage.
„Captain, wir sollten die Möglichkeit nutzten“, sagte Reed leise. „Denn ich sehe selber keine Möglichkeit hier herauszukommen. Wir sollten für jede Hilfe dankbar sein und sie annehmen. Hinterher können wir uns immer noch Gedanken um die Konsequenzen machen.“
Sanawey schwieg. Ein solches Vorgehen, wie Reed es vorschlug, war nicht das typische Vorgehen der Sternenflotte. Und auch seines nicht. Aber egal was sie taten, die diplomatischen Verwicklungen würden dadurch keineswegs noch schlimmer werden können. Und er musste seine Crew hier herausbringen. So konnte er sich den Vorschlag wenigstens einmal anhören. Sie mussten ihn ja nicht befolgen, falls er ein zu hohes Risiko beinhaltete. Oder vielleicht nur das Ergebnis eines schon verrückt gewordenen Geistes war. „Okay“, wandte er sich wieder an das Insekt. „Wie sieht Ihr Plan aus?“
ZEHN
„Alle Mann auf die Kampfstationen“, befahl Jackson und nahm im Kommandosessel Platz. Entschlossenheit spiegelte sich in ihrem Gesicht. Sie war unter allen Umständen bereit die Crew zu retten. Ebenso wie die restlichen Überlebenden an Bord. Auch wenn die Angst, den Adrac doch noch in die Hände zu fallen, fast greifbar war.
„Phaser und Schilde sind bei 89 Prozent. Eine Photonentorpedorampe einsatzbereit. Die Shuttle sind dicht an backbord und steuerbord“, berichtete Real, der an der Waffenkonsole saß. Lächelnd sah er zu Jackson hinüber. „Wir können es schaffen“, sagte er beschwörend.
„Wir werden es schaffen“, betonte sie. Sie hatte sich auf ihn verlassen und am Ende Recht behalten. Er hatte eine Schwäche gefunden. Eine ganz logische und eigentlich auch klare, die nur nicht aufgefallen war, weil es gegen jegliche Regeln der Kriegsführung und Taktik verstieß. Und damit barg es auch ein nicht geringes Risiko. Die Adrac verfügten über keinerlei Schutzschilde. Dafür war die Außenhülle verstärkt. Die verhinderte aber nicht, so wie energetische Schilde, das Beamen. Vermutlich hatten die Adrac bei der Konstruktion ihrer Schiffe einfach nicht daran gedacht, da sie nicht über die Transportertechnologie verfügten. Und das war die Schwachstelle ihrer Schiffe. Damit war es der Crew möglich einen scharfen Photonentorpedo direkt an Bord der Adrac zu beamen. Die Gefahr ging jedoch damit einher. Sie konnten nur etwas von Bord wegbeamen, wenn sie dazu selbst die Schutzschilde senkten. Bei dem starken Waffenpotential der Adrac wäre die Republic
dann aber innerhalb von Sekunden zerstört. In dieser Zeit konnten sie maximal ein Adrac-Schiff zerstören, ohne selbst noch einen Nutzen davon zu haben. Und damit war diese Taktik sinnlos.
Doch Real hatte die Idee mit den beiden Shuttles. Während die Republic
das Feuer auf sich lenkte mussten sich die Shuttles möglichst unbemerkt den Adrac nähern und dann für einige Sekunden ihre Schilde senken und die Torpedos an Bord beamen. Während dieser Sekunden waren die Shuttles praktisch schutzlos. Ein einziger Treffer würde sie vernichten. Insgeheim rechnete Jackson auch nicht damit, dass die beiden Shuttles den Kampf überlebten. Dementsprechend schwer war es ihr auch gefallen die Piloten auszuwählen. Doch fast jeder der Restcrew hätte sich für diesen Einsatz freiwillig gemeldet. Es war die einzige Chance die Crew zu retten.
Und nun war auch Brooks mit ihren Ingenieuren soweit, dass sie das Schiff wieder im Griff hatten. Sie hatten während der letzten Tage schier unmögliches geleistet. Und natürlich gab es immer noch vieles, das nicht funktionierte. Aber das war in erster Linie unnötiger Luxus. Darauf konnten sie erst einmal verzichten. Die Außenhülle war ebenfalls noch so beschädigt wie an dem Tag, an dem sie mit dem Shuttle hier eingetroffen waren. Das ließ sich auch erst in einem Raumdock reparieren. Aber der Antrieb, die Navigation und ein Teil der Waffen funktionierten wieder. Ebenso wie die Schilde. Und Jackson wollte auf keinen Fall noch länger warten. Sie spielten sonst mit den Leben der anderen.
Entschlossen sah sich Jackson auf der Brücke um. „Kennt einer von Ihnen das Sprichwort: Das Glück ist immer auf Seiten der Mutigen! Heute werden wir sehen, was da dran ist.“ Sie lehnte sich zurück und versuchte möglichst viel Ruhe auszustrahlen. Sie wollte die berühmte Ruhe vor dem Sturm herbeiführen. Die Crew durfte sich jetzt nicht verausgaben und musste sich ihren Zorn für die Schlacht aufheben, der sie sicherlich nicht entgehen konnten. „Steuermann. Nehmen Sie Fahrt auf und folgen Sie dem Kurs, den die Adrac eingeschlagen haben. Ich vermute, sie werden die Gefangenen auf direktem Weg in die Mine gebracht haben, von der Nonac erzählt hat. Warp 3.“
Der Steuermann reagierte und gab den Kurs ein.
Jackson sah noch einmal zu Real. Dieser nickte. Daraufhin wandte sie sich wieder an den Steuermann: „Beschleunigen.“
Wie jeden Morgen wurden die Tore zur Höhle geräuschvoll aufstoßen. Mit einem unangenehm lauten und durchdringenden Ton wurde über äußerst starke Lautsprecher die saalähnliche Höhle beschallt. Das Echo wurde mehrfach und verzerrt zurückgeworfen, was zu einer Kakofonie an Tönen wurde, die niemanden mehr schlafen ließ und für ein Klingeln in den Ohren sorgte. Überall rappelten sich mühsam die Gefangenen auf. Wie automatisch folgten sie dem gewohnten Ablauf. Niemand zögerte, obwohl die Nacht wie immer zu kurz war, um sich von den Strapazen wirklich erholen zu können. Aber alle hatten Angst vor den grausamen Wachen. Niemand wollte ihnen einen Anlass geben, ihre schier unendliche Wut an sich auszulassen. Möglichst unauffällig in der Masse mitbewegen. Nur das bot einen gewissen Schutz. Wie eine Herde Tiere, die von Löwen bedroht wurde.
Durch die Menge hindurch sah Sanawey den klingonischen Lockenkopf von Tworek. Er schien sich ohne größere Mühen zu erheben. Vermutlich halfen ihm dabei sein robuster Körperbau sowie sein vulkanisch disziplinierter Geist. Noch kniend schüttelte er den mageren Mann neben sich. Dieser hatte sich offenbar durch den schrillen Ton nicht wecken lassen. Für Sanawey unverständlich, denn der Ton ging einem durch Mark und Bein. Er sah, wie Tworeks Schütteln kräftiger wurde. Dann drehte er den Mann auf den Rücken und griff sanft in sein Gesicht. Für einen Momente verharrte Tworek andächtig mit geschlossenen Augen. Dann stand er auf und ließ den Mann liegend zurück. Sanawey konnte noch einen Blick auf das Gesicht des Toten werfen und meinte in ihm Commander Hibbert erkennen zu können. Bevor er sich aber sicher sein konnte, wurde ihm der Blick von anderen Gefangenen versperrt, die sich langsam in Richtung des Ausganges bewegten.
Der Captain schloss sich dieser fließenden Bewegung an und ließ sich mittreiben. Heute wäre es soweit. Heute wollten sie es wagen. Zwei Tage lang hatte Sanawey mit seiner Führungscrew über Tch’t‘kas Fluchtplan beraten, das für und wider abgestimmt und gestern Abend dann entscheiden, dass sie es machen wollten, bevor sie zu schwach dazu wären. Der Plan des Insektenwesens war erstaunlich detailliert gewesen und mit einigem Insiderwissen ausgestattet. Woher er das hatte, wollte er nicht genau erklären. Aber spielte die Herkunft eine Rolle, wenn es ihnen half aus dieser Hölle hier zu entkommen? Sohral hatte ihre Chancen auf 2,876 Prozent berechnet. Nicht sonderlich vielversprechend. Aber wenn sie es nicht versuchten lagen ihre Chancen bei null und das war denn doch noch eine Spur schlechter.
Die Masse bewegte sich durch den Stollen und jeder strebte seinem ihm zugewiesenen Posten entgegen. Die aufmerksamen Blicke der Wachen verfolgten sie und die Gefangenen schlichen an ihnen vorbei wie Tiere, die sich auf dem Weg zur Schlachtbank befanden.
Tworek trat an Sanawey Seite. Er hatte sich durch die Menge hindurchgearbeitet, sah den Captain aber nicht an. „Wollen Sie das wirklich riskieren?“ fragte er leise. Auch er war in die Pläne der Crew eingeweiht worden. Er konnte eine Hilfe sein und davon konnten sie so viel brauchen, wie sie kriegen konnten.
„Ja“, entgegnete Sanawey ernst und sah dabei aber auch nur gerade aus. Auf keinen Fall wollte er den Wachen zeigen, dass hier eine Unterhaltung stattfand. Denn dann hätten sie sofort eingegriffen.
„Sie riskieren unser aller Tod“, hielt Tworek ihm ruhig entgegen. Es war kein Vorwurf, nur die Feststellung von Tatsachen.
Sanawey sah ihn kurz ernst an, blickte dann aber wieder nach vorne. Er musste an Hibbert denken. An seine Erzählungen und an seinen Zustand. An den Zustand all der anderen Sklaven. Bei einem Fluchtversuch würde es Tote geben, das war ihm durchaus klar. Und es belastete schon jetzt sein Gewissen. Doch hatten sie eine Wahl?
„Commander Hibbert ist tot?“ Es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage von ihm.
„Ja“, bestätigte Tworek knapp. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Sanawey nickte. Hibbert hatte die Mine vor ihnen verlassen, auf die einzige Weise, wie es ihm noch möglich gewesen war. Seinen Frieden hatte er dabei hoffentlich gefunden.
Vorsichtig sah Sanawey sich um. Überall sah er leere Gesichter und tote Augen. Und er dachte wieder an Tworeks Worte von eben. Er riskierte den Tod aller. Aber war das noch ein großer Unterschied zum jetzigen Zustand? „Wir sind doch schon alle tot“, sagte er dann langsam und er wusste nicht, ob es Tworek gegolten hatte oder zur eigenen Beruhigung diente.
Tworek aber verstand und nickte nur. Der Captain hatte recht. Und da kam wieder die klingonische Seite in ihm zum Vorschein. Lieber wollte er aufrecht und ehrenvoll sterben als hier einen langsamen und qualvollen Tod zu erleiden. Er dachte an die anderen Sklaven. Sie bestanden zum größten Teil aus lebenden Toten, die man nur noch leicht anstoßen musste, schon fielen sie um und rührten sich nicht mehr. Seine klingonischen Vorfahren hätten ihre Erfolgsaussichten sicher als beste Voraussetzung für einen ehrenvollen Tod bezeichnet. Heute ist ein guter Tag zum Sterben
, war ein geflügelter Spruch bei den Klingonen. Und heute traf das bestimmt zu. Er blickte auf und sah in die Facettenaugen einer Wache. Tausende Gedanken, Erinnerungen und Gefühle schossen ihm durch den Kopf. Die entbehrungsreiche Zeit, die Qualen, die Leiden, der Tod unzähliger Mitgefangener. Dieser Tag würde endlich eine Entscheidung bringen. Entweder waren sie dann frei oder tot. Er rechnete mit dem Letzteren. Aber es schockierte ihn nicht, denn das versprach die lang ersehnte Erlösung.
Mit müden Augen überprüfte Craigs nochmals die Sensorendaten bevor er sich für ein paar Stunden aufs Ohr hauen wollte. Schlaf war zwar riskant, denn jemand wie Korak konnte diese Chance nutzen, um das Kommando an sich zu reißen. Aber irgendwann musste auch er einmal schlafen, das ließ sich leider nicht vermeiden. Und die Anzahl loyaler Personen an Bord war immer noch größer als die seiner Feinde. Was aber nichts heißen musste. Die Leute waren nur dann loyal, solange er sie erfolgreich anführte. Sollte es einige Fehlschläge geben oder sie der Meinung sein, ein anderer könnte es noch besser, dann würden sie sich von ihm abwenden und sich einen neuen Captain suchen. Und er wäre dann mit Sicherheit ein toter Mann.
Aber bis jetzt lief alles gut. Auch seine Crew wusste, ganz ohne triftigen Grund konnten sie nicht einfach meutern. Denn sonst würden sie im Chaos versinken. Und sie hatten genug Feinde außerhalb des Schiffes, da durften sie sich nicht auch noch hier drin zerfleischen. Denn außer den großen Imperien, in deren Grenzgebieten sie operierten und deren Frachter sie überfielen, gab es auch noch einige andere Piraten und Räuber, die sich hier tummelten und auf Beute aus waren. Da jagte man sich, wenn es denn klappte, auch mal gegenseitig die Beute ab. Jeder war sich selbst der Nächste. Das galt besonders für Diebe. Aber außer ihnen verfügte keiner über eine Tarnvorrichtung, was sie zu den heimlichen Stars hier machte. Und zu einem verlockenden Ziel, dessen Aufbringen Ruhm und Ehre und Reichtum versprach.
Craigs liebte das Gefühl, Jäger und Gejagter zugleich zu sein. Es hielt die Sinne wach und sorgte ständig für einen berauschenden Adrenalinschub. Für ihn ein Gefühl frei zu sein. Und nicht ganz unbedeutend. Auch einer der Gründe, weshalb er das Piratenleben inzwischen vorzog. Bei der Sternenflotte hatte er es bis zum Lieutenant gebracht. Bis zum Lieutenant Junior Grade, genauer gesagt. Er wurde mit Befehlen herumgeschubst und musste gehorchen. Wäre er bei einem Gefecht ums Leben gekommen, man hätte ihn durch einen anderen unbedeutenden Kerl ersetzt, ihm posthum einen Orden verpasst und es wäre weitergegangen. Hier dagegen war er wer. Sein Name war seinen Gegnern ein Begriff. Er war dabei, der größte Pirat seiner Zeit zu werden. Ein Mann, den man auf der einen Seite fürchtete, auf der andern aber auch nicht nur als brutalen Schlächter sah. Das gefiel ihm. Das war viel besser, als nur irgendein unbekannter Sternenflottenoffizier zu sein.
Sicher, das Leben, so wie er es führte, war gefährlicher. Unzählige Male hatte er dem Tod schon direkt in die Augen geschaut, um ihm im letzten Moment dann doch noch zu entkommen. Was er aber nicht als schlimm empfand. Denn es gab kein besseres Gefühl, als dem Tod doch noch von der Schippe zu springen. In diesen Momenten fühlte er sich besonders lebendig. Wenn er dem Tod kein Schnippchen mehr schlagen konnte, dann war es nur richtig, dass er starb. Denn dann wäre er zu langsam geworden und hätte ein Weiterleben auch nicht verdient. Auch wollte er dann nicht mehr leben. Denn wer zu langsam war, musste sich anderen unterordnen und wäre dann wieder ein Niemand. Das Leben mit der ständigen Gefahr machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, man lebte dann viel intensiver. Zumindest kam es ihm so vor.
Craigs hatte die ersten Jahre seines Lebens auf Hiden verbracht. Ein Planet, der nicht gerade zu den beliebtesten innerhalb der Föderation gehörte. Es gab hier zu wenig Arbeit für zu viele Menschen. Das sorgte dafür, dass jeder versuchte irgendwie durchzukommen, auch mit nicht legalen Mitteln. Auch sein Vater hatte solche Geschäfte gemacht, wenn auch nicht sonderlich erfolgreich. Und genau das hatte ihm eines Tages richtig Ärger eingebracht. Er hatte es gewagt, einer organisierten Gang das Geschäftsfeld streitig zu machen. Eine fatale Entscheidung. Denn eines Nachts waren sie gekommen. Die Killerkommandos. Und sorgten dafür, dass die Konkurrenz nicht mehr weiter bestand. Sie töteten seinen Vater und auch seine Mutter. Und sie hätten sicherlich auch ihn getötet, wenn sie ihn gefunden hätten. Aber er hatte sich so gut versteckt, dass er ihnen entkommen war. Den Rest seiner Kindheit verbrachte er dann in einem Waisenhaus auf Hiden, das, wie alles auf diesem Planeten, nicht zu den Besten gehörte. So wuchs er auf, ohne dass ihm viel zugefallen war. Er hatte um alles kämpfen müssen.
Nachdem er alt genug war, ging er, wie viele andere Waisenkinder, zur Sternenflotte. Die Flotte hatte unter den Kindern einen fast schon mythischen Ruf. Dort konnte man alles erreichen, was man sich erträumte. Ganz einfach. Es wäre das Paradies. Und zu Beginn war es das auch. Alles auf der Erde war anders, besser, schöner. Da bildete die Sternenflotte keine Ausnahme. Das Essen war besser als im Heim, das Bett bequemer. Es war eine tolle Zeit gewesen. Doch Craigs hatte sich dort nie ganz wohl gefühlt. Zu Beginn verdrängte er das Gefühl einfach. Er ignorierte es und redete sich ein, mit der Zeit würde das vergehen. Es war doch alles so viel besser als auf Hiden. Aber das Gefühl verging einfach nicht. Auch nicht nach Abschluss der Akademie. Auch nicht als er zum Lieutenant befördert wurde. Es war immer da und war immer drängender geworden.
Bei einer Aufklärungsmission, die er mit seinem Vorgesetzten in den Grenzgebieten der Föderation unternehmen musste, war er dann schließlich in die Hände von Gesetzlosen gefallen. Sein Vorgesetzter war getötet worden, er aber hatte den Schusswechsel überlebt. Die Gangster hatten ihn als Geisel gefangen genommen und verschleppt. Sie wollten ein Lösegeld erpressen, auf das sich die Sternenflotte aber nicht einließ. Denn die Sternenflotte verhandelte nicht mit Terroristen. Und eine Befreiungsaktion scheiterte. So lebte er knapp ein Jahr bei dieser bunt zusammengewürfelten Truppe aus Ausgestoßenen. Nach und nach freundete er sich mit den Entführern an, empfand Sympathien für sie und ihr Leben. Da er schon immer sehr groß und stark gewesen war, wurde er des Öfteren zum Zweikampf herausgefordert. Meist waren dies Ring- oder Faustkämpfe, die er in der Regel auch gewann. Dies verschaffte ihm immer mehr Anerkennung und in der Folge gewährten sie ihm immer größere Freiheiten. Ehe er es sich versehen hatte, gehörte er dazu. Er schickte der Sternenflotte sein Austrittsgesuch und damit war die Sache für ihn erledigt gewesen. Auf eine Antwort hatte er nie gewartet.
So verbrachte er ein paar Jahre mit diesen Leuten, führte mit ihnen gemeinsam Überfälle durch und liebte den dazugehörigen Nervenkitzel. Ganz langsam war er auch in der Hierarchie gestiegen. Eines Tages hatte er den Anführer herausgefordert und ihn dann im Kampf getötet. Seitdem führte er die Mannschaft an. Es hatte auch immer wieder Veränderungen innerhalb der Crew gegeben, denn ab und zu wurde ein Mitglied gefangen genommen oder auch getötet. Doch gab es immer wieder neue Gauner, die die leeren Plätze einnahmen.
Vor zwei Jahren schließlich waren sie in einer Bar auf Beta Agnia mit einer Gruppe Klingonen aneinander geraten. Die Typen hielten sich für die besseren Kämpfer und reizten Craigs so sehr, dass er schließlich auf die Herausforderung einging und gegen den Kommandanten der Klingonen in einem Zweikampf antrat. In einem ehrenvollen Kampf hätte er wenige Chancen gehabt, doch seine Crew reagierte trotz des hohen Alkoholanteils im Blut einfach super auf seine versteckten Anweisungen. Oder vielleicht trauten sie sich auch nur wegen des Alkohols zu ihrer Tat. Sie schossen die überraschten Klingonen einfach über den Haufen. Da diese damit nicht gerechnet hatten, war das Blutbad schnell erledigt. Und die Piratencrew im Besitz eines klingonischen Schiffes mit Tarnvorrichtung. Dass er dazu einen ehrenhaften Zweikampf mit einem Klingonen ziemlich unehrenhaft beendet hatte, belastete Craigs nicht weiter. Das Ergebnis zählte.
Nachdem er drei Stunden geschlafen hatte, begab sich Craigs wieder zurück auf die Brücke. Ihm war es wichtig, regelmäßig seine Präsenz zu zeigen, damit niemand vergaß, wer der Captain war. Ein Blick auf den Bildschirm zeigte ihm, dass sie der Republic
folgten. In einigem Abstand und getarnt. Das Sternenflottenschiff hielt immer noch direkten Kurs ins Adrac-Territorium. Für ihn war das ein gutes Gefühl, weil er sich sicher war, dass seine Crew von den kommenden Ereignissen noch profitieren würde. Aber wenn sein Plan funktionieren sollte, dann musste er etwas nachhelfen, und das wiederum gefiel ihm gar nicht. Gegen die Adrac wollte er nicht kämpfen. Er wusste, dass die Gefahr einfach zu groß war, gegen diese starken Schiffe anzutreten. Zumal sie niemals alleine unterwegs waren.
Aber nicht alle aus seiner Crew waren einverstanden mit dem, was er tat. Das lag vor allem daran, dass keiner wusste, was er vorhatte. Hätte er die Crew in seine Pläne eingeweiht, hätte man ihn sicherlich wegen Größenwahns sofort erledigt. Seiner Crew fehlte einfach die Weitsicht, die er hatte. Sie hätten es nicht verstanden. Daher ließ er sie lieber im Ungewissen. Wenn es klappte war er hinterher der Held und saß noch fester auf seinem Posten. Wenn nicht, spielte das keine Rolle mehr. Dann wären sie ohnehin alle tot.
„Es wäre so einfach gewesen“, motze Tanar und die blauen Antennen des Andorianers, die durch sein schneeweißes Haar ragten, zuckten. „Wir hätten zuschlagen sollen, solange das Schiff schwach war.“
„Und einen Sieg über eine besiegte Beute erlangen?“ erwiderte Craigs verächtlich. „Dort gab es ohnehin nichts mehr zu holen.“ Mehr wollte Craigs dazu nicht sagen. Dieses Thema hatte er bereits mit Korak diskutiert und die ganze Crew hatte es mitbekommen. Jeder wusste, dass der Klingone das Duell verloren hatte, aber es wusste auch jeder, dass der Klingone gegen seinen Captain aufbegehrte. Und dieser schwelende Konflikt würde nun bald entschieden werden. Korak würde diese Situation nicht länger mitmachen. Und wenn er eine Entscheidung mit Gewalt herbeiführen musste. Es wurde also Zeit, sich auf eine entsprechende Seite zu schlagen. Und je besser die Aussichten auf Erfolg für eine Seite wurden, umso größer wurden die Unterstützer. Es war also auch in Craigs Interesse möglichst kampfbetont aufzutreten.
„Mr. Tanar, setzten Sie einen Kurs in Richtung des Königreiches von Kabran. Soviel ich weiß findet dort gerade eine Flottenübung statt.“
„Sie wollen eine ganze Flotte angreifen?“ fragte Tanar überrascht zurück. Das war nicht ganz das, was er erwartet hatte.
Ein Lächeln umspielte Craigs Lippen. „Ich bin doch nicht verrückt. Die Flotte selbst interessiert mich nicht. Aber wenn alles klappt, sind wir bald alle Sorgen los.“
Verständnislos sah seine Crew ihn an, befolgte aber seine Befehle. Noch gehorchten sie ihm und die Aussicht, bald alle Sorgen hinter sich lassen zu können, hielt sie noch bei der Stange. Aber der Erfolg durfte nicht mehr lange ausbleiben, das wusste Craigs sehr genau.
Metall knirschte, als einer der Sklaven die Hacke in den Fels schlug. Einige Steine fielen polternd zu Boden. Kleine Steine, kaum des Aufwandes wert. Die ausgehungerte Figur hob die Hacke erneut. Seine Haut spannte sich über die Knochen und die Sehnen darunter zeichneten sich deutlich ab. Erneut schlug er zu und die Metallspitze prahlte klirrend gegen den Stein, brach aber wieder nur kleine Splitter ab. Der Mann war einfach nicht mehr stark genug, um dem Fels große Brocken zu entreißen. Trotzdem machte er weiter. Eilige Hände zogen die gelösten Steine fort und warfen sie in einen bereitstehenden Grubenwagen. Dann konnte am Ende aus den Steinen das wertvolle Erz gelöst werden.
Wieder schlug der Mann zu und erneut lösten sich Steine. Sicher, mit großen Maschinen wäre es weitaus effektiver gewesen, aber die kosteten Geld, während es Sklaven ja praktisch in großer Anzahl und fast umsonst gab. Das vergrößerte am Ende den Gewinn, den eine Mine abwarf.
Mühsam und fast unter der Last der Hacke zusammenbrechend hob er sie erneut, doch noch bevor er zuschlagen konnte, umfasste eine starke Hand seinen Arm und hinderte ihn daran irgendeine Bewegung zu machen.
„Gib mir die Hacke“, sprach eine feste Stimme hinter ihm. „Ich kann sie sinnvoller einsetzten als du.“
„Ich darf nicht...“ stotterte der Mann ängstlich. „Die Adrac… sie bestrafen mich…“
„Die Zeit der Strafen ist vorbei.“ Mit einem Ruck hatte ihm der Fremde die Hacke aus der Hand gerissen.
„Nein“, klagte der Mann mit dünner, zitternder Stimme. Er drehte sich herum und sah einen Mann vor sich, der noch relativ stark war. Er konnte noch nicht allzulange hier sein. Seine langen grauen Haare sahen mitgenommen und kaputt aus. Seine bronzene Haut hatte mehrere kleine Kratzer, aber noch nichts Schlimmes. Auf seinem Oberkörper hatte er einige Striemen, die Überbleibsel von Peitschenhieben, doch sie waren relativ gut verheilt. Und in seinen Augen stand eine solche Entschlossenheit, dass der Sklave nichts mehr zu sagen wagte.
„Keine Sorge, ich weiß was ich mache“, sagte der fremde Mann und ging mit der Hacke davon.
Der Ausgehungerte sah ihm hinterher. Wie sollte er nun graben? Die Adrac würden ihn dafür töten. Sie würden ihn auspeitschen bis er tot war. Aber gegen den Mann konnte er sich nicht wehren, dazu war er zu schwach und dieser Mann zu stark.
Sanawey, der nun eine Hacke besaß, lief zielstrebig auf einen der Adrac-Wächter zu. Hier und jetzt würde ein Schlussstrich unter diese Mine gezogen werden. Hier durften nie wieder Sklaven schuften müssen.
Als er sich dem Adrac näherte nahm er die Hacke herunter und zog sie hinter sich her. Er senkte den Kopf und versuchte möglichst erschöpft zu wirken. So näherte er sich der Wache, ohne Verdacht zu erregen.
„Beweg dich“, brüllte plötzlich eine düstere Stimme hinter ihm.
Sanawey fluchte innerlich. Nun hatte er es mit zwei Gegnern zu tun. Das entsprach nicht ganz seinem Vorhaben, doch er konnte jetzt nicht mehr zurück. Er zog die Hacke näher zu sich, damit er sie besser greifen konnte, und stütze sich auf sie, als ob er sich ausruhen müsste. Sofort traf ihn ein Elektroschock aus der Peitsche der Wache. Sanawey schrie auf und verbesserte dabei den Griff um die Hacke. Dann hob er sie und drehte sich mit voller Wucht um und rammte sie dem Adrac von der Seite her in den Brustkorb. Sofort warf er sich zur Seite, um der eventuellen Wut des Kriegers zu entgehen.
Doch dieser schnappte nur nach Luft und ließ seine Peitsche fallen. Er griff noch nach seinem Ärmel und knurrte etwas ins Kommunikationsgerät, dann brach er zusammen und fiel wie ein Stein zu Boden.
Die Sklaven um ihn herum starrte Sanawey nur fassungslos an. Wie konnte er das nur wagen? Wie konnte er nur einen Adrac angreifen und töten? Nun würden sich die Adrac an allen Sklaven rächen. Und sie alle würden sterben, wegen dieses Wahnsinnigen.
Der Adrac, auf den Sanawey zuerst zugegangen war, hatte inzwischen seine Peitsche an den Gürtel gehängt und richtete nun seine Strahlenwaffe auf den Indianer.
Sanawey sah sich kurz um und versuchte sich seiner Möglichkeiten gewahr zu werden. Doch es gab keine. Er lag unerreichbar weit von der Wache weg. Mit der Hacke konnte er nichts mehr ausrichten. Und einen Phaser besaß er keinen. Der tote Adrac hatte seine Strahlenwaffe noch im Gürtel stecken. Das war nur einen kleinen Schritt entfernt. Aber Sanawey lag noch immer am Boden. Er hätte sich aufrappelt und über den Toten springen müssen. Dazu hatte er keine Chance. Er wäre tot, noch bevor er auch nur die Hand nach der Waffe ausstrecken konnte. Doch was hatte er für eine Wahl?
Schritte von der anderen Seite drangen an sein Ohr. Langsam drehte er den Kopf. Und blickte in eine weitere Waffenmündung. Seufzend schloss er die Augen. Er wusste, sein kleiner Aufstand war beendet, noch ehe er richtig begonnen hatte. Und in wenigen Sekunden wäre auch er tot. Der Krallenfinger des Adracs hatte sich schon um den Abzug der Waffe gespannt.
Zehn große Zerstörer glitten im Formationsflug durch das All. Obwohl groß natürlich ein relativer Begriff war. Im Gegensatz zu den Schiffen der Föderation waren diese Schiffe kleiner und auch weniger stark bewaffnet, doch konnten sie im Kampf mit der richtigen Taktik durchaus gefährlich werden. Und für eine kleinere Rasse, die nicht so groß und mächtig war, waren diese Schiffe schon eine stolze Leistung. Zu diesen kleineren Rassen zählte auch das Königreich Kabran. Und diese zehn Schiffe waren der ganze Stolz dieses Volkes.
Kabran war ein kleines Volk, das sich über vier Planeten in zwei verschiedenen Sonnensystemen ausbreitete. Die Herrscherfamilie war sehr konservativ eingestellt, was, zusammen mit der Lage zwischen den Adrac und der Föderation, dafür sorgte, dass sich eine weitere Vergrößerung des Reiches als sehr schwierig gestaltete. Trotzdem wollten sie nicht einsehen, dass ihre kleine Flotte kaum in der Lage war, im Ernstfall das Königreich wirklich verteidigen zu können. Und offen an der Herrscherfamilie Kritik zu üben, das traute sich hier niemand. Dazu war die Macht des Königs zu groß.
Der Flottenkommandant saß zufrieden in seinem Sessel. Die Übung war gelungen und nun konnten sie heimkehren. Falls Gefahr drohen sollte waren sie vorbereitet. Das sollte der Herrscher so berichtet bekommen. Und das glaubte der Kommandant selbst auch. Innerlich lächelnd sah er sich auf der Brücke des Kommandoschiffes um. Alles war ruhig, die Crew routiniert.
Plötzlich heulten die Alarmsirenen auf. Erschrocken fuhr der Kommandant auf.
„Commander, ein Schiff enttarnt sich vor uns“, rief einer der Offiziere. Er tippte ein wenig auf seiner Tastatur herum und meinte dann: „Es ist das Piratenschiff, das schon mehrere unserer Frachter überfallen hat.“
Das Schiff erbebte heftig und man konnte deutlich hören, wie die Schutzschilde die tödliche Energie abfingen, die eigentlich für ihre Zerstörung vorgesehen war.
„Feuer erwidern“, rief der Captain laut und starrte auf den Bildschirm. Diese Piraten mussten verrückt sein. Sie griffen eine ganze Flotte an. Allein. Oder waren sie etwa gar nicht allein? Gab es noch mehr getarnte Schiffe in der Nähe?
„Treffer“, bekam er stolz gemeldet. „Sie drehen ab.“
Sie drehten ab? Nach einem solch kurzem Angriff? Zweifel keimten in ihm auf. Was war das Ziel dieses Angriffes gewesen? Waren sie etwa doch nicht allein? Die Aktion des Angreifers machte keinen Sinn. Selbst ein klingonisches Schiff hatte keine Chance gegen diese zehn Zerstörer. Sie hätten vielleicht drei oder auch vier Schiffe der Flotte zerstören können, aber spätestens dann wäre auch ein klingonischer Raubvogel zerstört.
„Achten Sie auf weiter Schiffe“, befahl er und versuchte nachzuvollziehen, was dieser Piratencaptain vorhatte.
„Keine weiteren Schiffe“, kam die Antwort. „Aber sie kehren zurück. Und greifen erneut an.“
Wieder wurde das Schiff durchgeschüttelt.
„Feuer erwidern und ihnen folgen“, entschied der Captain dieses Mal. „Aber die Flotte soll beieinander bleiben. Und achtete auf weitere Schiffe.“ Auf keinen Fall wollte er die Flotte auseinanderreißen. Wenn das der Plan des Gegners war, dann würde er nicht aufgehen. Denn der Zusammenhalt war die einzige Sicherheit der Flotte.
Widerstrebend setzte er sich wieder und beobachtete den Bildschirm. Das Piratenschiff erhöhte langsam die Geschwindigkeit. Offenbar war sich dessen Crew der Gefahr bewusst geworden, in der sie sich nun befanden. Und jetzt wollten sie nur noch entkommen. Wenn er zusätzlich zu einer guten Übung auch noch das gefährliche Piratenschiff als Beute mitbrachte, das der Königsfamilie bereits immensen finanziellen Schaden gebracht hatte, dann war er ein hoch angesehener Mann. Dann wäre er ein Held. Diese Idee begeisterte den Captain immer mehr, je mehr er sich hineinsteigerte. Er träumte bereits von einem großen Haus in der besten Gegend, von Reichtum, Unmengen an Essen und Wein, von Frauen, von Ruhm.
„Sie gehen auf Warpgeschwindigkeit“, meldete man ihm.
„Verfolgen Sie sie. Wir werden diese Piraten endgültig erledigen. Eine solche Gelegenheit kommt nicht wieder.“ Zumindest nicht für mich, dachte er noch, sagte aber nichts.
Sanaweys Blick glitt zwischen den zwei Waffenmündungen hin und her. Das einzige was er in diesem Moment noch empfand war bedauern. Bedauern darüber, seiner Crew nicht geholfen zu haben. Sie im Stich und einem grausamen Schicksal überlassen zu haben. Es war einfach nur ungerecht. Was hatte diese Crew getan, um ein solches Schicksal ertragen zu müssen? Doch er wusste, so lief das nicht. Das Universum war weder fair noch unfair. Es interessierte sich schlicht nicht für die Schicksale seiner Lebewesen. Und nur selten bekamen gute Menschen das was sie wirklich verdient hatten. Er hatte gewusst, dass es so kommen könnte. Der Plan war von vornherein riskant gewesen und ihre Chancen gering. Aber sie hatten keine Wahl gehabt, das wusste er. Das Frustrierende daran war nur, dass sie eigentlich nichts von ihrem Plan hatten umsetzen können. Wenn sie wenigstens die Hälfte erreicht hätten, dann hätten sie mit dem Wissen sterben können, weit gekommen zu sein. Und sie wären mit Hoffnung in den Herzen gestorben. Doch das würde sich nun nicht mehr erfüllen.
Wieder sah er in die Waffenmündung direkt vor sich. Worauf warteten diese widerlichen Wesen eigentlich noch? Wieso töteten sie ihn nicht einfach? Er hatte keine Chance mehr noch etwas zu tun.
Dann hob sich plötzlich die Waffenmündung vor ihm nach oben. Eine kleine blaue Energiekugel löste sich von der Waffe und schoss über Sanawey hinweg. Er brauchte einen Augenblick um zu verstehen, dass es nicht ihn getroffen hatte. Blitzschnell drehte er den Kopf und sah den zweiten Adrac mit rauchender Brust zu Boden gehen. Leblos fiel er ins sich zusammen und schlug hart auf dem Steinboden auf.
Mit offenem Mund blickte der Captain wieder zum Schützen und starrte ihn ungläubig an. Das war doch völlig unmöglich. Wieso hatte der Adrac ihm das Leben gerettet? Und nicht nur dass, er hatte seinen eigenen Artgenossen umgebracht. Er wusste nicht, was hier vor sich ging. Aber was immer es war, es schien zu seinen Gunsten zu laufen.
Ohne lange auf Sanawey zu achten wandte sich der Adrac um und zielte auf die nächste Wache, die den Gang entlang weiter unten stand. Erneut schoss er und auch diese Wache ging tot zu Boden. Das schienen jetzt auch die restlichen Gefangenen mitbekommen zu haben, denn überall standen die Sternenflottenoffiziere auf und schlugen mit Hacken und Steinen die Adrac-Krieger nieder. Gegen den koordinierten Ansturm der Gefangenen hatten diese keine Chance. Einigen gelang es zwar noch ihre Strahlenwaffen zu ziehen und damit um sich zu schießen. Doch letztlich wurden auch sie überwältigt. Die Teilnahmslosigkeit der Sklaven schlug plötzlich in unbändige Wut um und entlud sich ein einem entfesselten Ausbruch, der auch die letzte Angst vor den Wachen verdrängt hatte. Und das alles hatte weniger als eine Minute gedauert, seit Sanawey den ersten Adrac angegriffen hatte.
„Nimm die Waffe“, sagte der Adrac und deutete auf die Waffe des Toten. „Ich hoffe, du weißt was du tust. Denn deine Überlebenschance ist nicht sehr hoch. Sie werden den Tunnel mit Giftgas füllen. Und wir alle werden sterben.“ Er schien davon ziemlich überzeugt zu sein, auch wenn weder seine Mimik noch sein Tonfall irgendwie deutbar waren.
„Wenn du dir da so sicher bist, wieso hast du mir dann geholfen?“ Sanawey verstand noch immer nicht, was hier vorging. War das alles nur eine Falle der Adrac? Würden diese Wesen ihre eigenen Leute töten, um ihn in eine Falle zu locken? Doch wozu? Er war doch schon ihr Gefangener. Eine Antwort kannte er nicht. Er musste dem Adrac jetzt einfach vertrauen, denn in einem hatte er recht: Sie hatten eigentlich keine Chance. Dieser Adrac änderte dies vielleicht.
„Ich dachte, du hättest einen Plan“, knurrte er Sanawey an. „Aber ich fange schon an meine Tat zu bereuen.“
„Noch sind wir nicht tot“, gab Sanawey entschlossen zurück und schnappte sich die Waffe des Toten. „Zeige mir die Tunnel zur Oberfläche“, wies er den Adrac an. Er wusste, dass es diese Tunnel gab. Danny Palmer war durch einen dieser Tunnel geflohen, nachdem er Karja an einen Adrac hatte verkaufen wollen. Und es gab sicher nicht nur diesen einen Tunnel.
„Die Tunnel sind längst versiegelt“, erwiderte der Adrac. „Es wurde Alarm ausgelöst. Die Mine ist verschlossen. Eine andere Idee hast du nicht?“ Er schien das nicht glauben zu wollen.
Der Captain schwieg. Er wollte nicht preisgeben, was er alles wusste. Das Insektenwesen Tch’t‘ka hatte ihn mit einigen interessanten Informationen versorgt. Solange er sich nicht sicher war, ob er diesem Adrac trauen konnte, wollte er ihm das nicht gerade alles auf die Nase binden. Was, wenn er sie am Ende verraten würde? Aber andererseits konnten sie ihn auch nicht hier lassen, nachdem er sich für sie eingesetzt hatte. Denn dann war er mit Sicherheit ein toter Mann. Außerdem lief ihnen mit jeder Sekunde, die er zögerte, die Zeit davon.
„Du hast keine Idee, nicht wahr?“ vermutete der Adrac bitter. „Wie konnte ich nur denken, du schaffst es. Ich werde nun zusammen mit den Sklaven sterben. Ein ziemlich sinnloser Tod.“ Er schien bereits zu überlegen, wie er sich aus dieser Situation doch noch retten konnte, doch der Aufstand war bereits in vollem Gange. Er hatte keine Möglichkeit mehr, jetzt noch seine Loyalitäten zu wechseln.
„Was ist mit dem letzten Tunnel, ganz unten, am Ende des alten Stollens?“ gab Sanawey ein wenig von seinem Wissen preis. Er wollte den Adrac damit ködern.
„Was soll damit sein?“ erwiderte der Adrac aufgeregt. Entweder wusste er nichts von diesem speziellen Tunnel oder er gab es nicht zu. „Das ist ein Tunnel wie jeder andere.“
Sanawey sah ihn noch kurz an, dann deutete er mit einem Kopfnicken an, ihm zu folgen. „Gehen wir nachschauen. Karja“, wandte er sich an seine Tochter, die neben ihn getreten war. „Trommel alle Leute zusammen. Sie sollen den Gang hinunter gehen. In den alten Stollen.“
„Was geschieht hier?“ fragte sie verängstigt und verwirrt. Sie hatte von den Planungen nichts mitbekommen. Sanawey hatte sie da heraushalten wollen. Sie schien noch immer zu durcheinander von den Ereignissen um Remogs und Benjamin Sinces Tod zu sein. Außerdem wollte er die Anzahl der Eingeweihten möglichst gering halten, um die Gefahr eines Auffliegens ihrer Pläne zu minimieren. Nun bedauerte er diesen Schritt.
Er schüttelte nur den Kopf. „Beeil dich. Für Erklärungen haben wir keine Zeit.“ Dann rannte er den Tunnel hinunter in der Hoffnung, dass es dort einen Ausweg gab. Wenn das nicht der Fall war, dann wurden sie mit Sicherheit von der herandrängenden Menge zu Tode getrampelt.
Die dunkle Höhle machte das Rennen schwer und der unebene Boden tat sein übriges. Zudem standen die Sklaven etwas unschlüssig herum. Jetzt, da die Wächter tot waren, wussten sie nicht, wo sie sich hinwenden sollten. Daher musste sich Sanawey immer wieder einen Weg durch eine Gruppe von Sklaven bilden, die sich zusammengetan hatten und berieten, was sie nun tun sollten. Zwar gaben die eingeweihten Offiziere allen bekannt, wo sie hingehen sollten. Doch einige schienen das nicht glauben zu wollen. Sanawey konnte das durchaus nachvollziehen. Anstatt nach oben in Richtung Freiheit gingen sie nach unten, tiefer in den Planetoiden hinein. Zudem wurde der alte Stollen seit langer Zeit nicht mehr weiter ausgebaut. Dort drin kannte sich keiner von ihnen aus. Aber als Sanawey mit dem Adrac den Gang entlang rannte, folgten ihnen doch alle.
Am Ende des Ganges blieb Sanawey rätselnd stehen. Hier musste in den Felsen irgendwo eine Tür sein. Aber sie war genauso gut verborgen, wie die anderen Türen auch. Sie auf den ersten Blick zu erkennen, war unmöglich. Daher zählte Sanawey vom Gangende zehn Schritte ab und deutete dann nach links. „Dort ist die Tür. Hilf mir sie zu öffnen.“
Gemeinsam stemmten sie sich gegen den Fels, doch dieser gab nicht nach. Es war nicht einmal zu erkennen, dass hier überhaupt eine Tür war. Aber sie musste hier sein. Das Insekt hatte es gesagt. Wenn es diese Tür nicht gab, dann würde es hier bald die ersten Toten geben. Die Gefangenen, die unmittelbar hinter ihnen gewesen waren, waren zwar ebenfalls stehengeblieben, doch wurden sie von den nachfolgenden Personen immer weiter nach vorne geschoben. Jeder hoffte hier entkommen zu können.
„Was hoffst du da oben zu finden?“ wurde Sanawey von dem Adrac gefragt, während sie sich weiter gegen den Fels stemmten.
„Dort oben sollen Shuttles stehen. Ich hoffe, sie reichen für alle“, erklärte Sanawey keuchend.
„Du weißt ziemlich viel“, wunderte sich der Adrac.
„Ja. Hilf mir lieber“, erwiderte Sanawey unwirsch. Sie hatten keine Zeit um zu reden. Die Menge rückte immer weiter vor. Aber schließlich gab der Fels knirschend nach. Erst nur ein wenig, dann rutschte ein mannshoher und äußerst breiter Fels zur Seite. Sie hatten den Durchgang erreicht. Er bot allerdings nur zwei Personen nebeneinander Platz. Es würde vor der Tür zu einem Gedränge kommen. Er konnte nur hoffen, dass es keine Verletzten oder gar Toten gab. Und er konnte sich nicht selbst darum kümmern. Er musste weiter nach dem Fluchtweg schauen und die Menge anführen.
Hinter der Türe gab es einen weiteren Tunnel, allerdings gerade und mit ebenem Boden. Dieser Tunnel war eindeutig von Maschinen erschaffen worden. Er zog sich noch einige Meter in den Fels hinein. Dann führten steile Wendeltreppen nach oben. Offenbar wollten sich die Adrac in Krisensituationen nicht auf elektrisch betriebene Aufzüge verlassen. Dies war nun der Vorteil der Flüchtenden. Die Treppen konnte man nicht so einfach abschalten wie einen Aufzug, in dem man dann stecken würde wie eine Maus in der Falle. Allerdings ging es sehr viele Stufen nach oben. Keine leichte Sache für die erschöpften Sklaven.
Doch diese schienen mit der Aussicht auf Flucht neue Energien erhalten zu haben. Sie strömten nach vorne und rissen Sanawey einfach mit. Er wehrte sich nicht dagegen. Im Gegenteil, er arbeitete sich weiter nach vorne, um mit zu den ersten zu gehören, die zur Oberfläche kamen. Dort wollte er die Flut der Befreiten in die richtigen Bahnen lenken, um zu vermeiden, dass ihr Aufstand einfach nur verpuffte. Und er wollte dafür sorgen, dass die Shuttles so lange am Boden blieben, bis sie auch wirklich bis zum letzten Platz besetzt waren. Aber selbst so durfte die Anzahl an Shuttles kaum ausreichen, um alle Gefangenen sicher fort zu bringen. Gerangel und Schlägereien waren vorprogrammiert.
Der Adrac wich nicht von Sanaweys Seite. Auch nicht, als sie die karge Oberfläche des Planeten betraten. Sie sahen sich nur kurz um. Die Oberfläche des Planetoiden war rau und steinig. Sie war nie bearbeitet worden. Überall klafften tiefe Löcher und Spalten. Tödliche Fallen. Hier, an der Stelle, an der sie herauskamen, war allerdings eine riesige, ebene Plattform gebaut worden. Offenbar eine Art Landeplatz. Und über ihnen wölbte sich eine Kuppel, die verhindern sollte, dass die künstliche Atmosphäre ins All entwich.
Links von ihnen standen ungefähr zwanzig kleinere Shuttles. Dahinter stand ein großes Gebäude, offenbar Unterkunft und Verwaltung der Adrac. Wahrscheinlich waren dort der Computer und die technische Einrichtung untergebracht. Und damit auch die tödliche Maschinerie der Sklavenvernichtung im Falle des Aufstandes.
Im Kopf überschlug Sanawey kurz wie viele Personen sie wohl retten könnten. Bei Shuttles dieser Größe konnte er hoffen, dass er vielleicht dreißig Personen in ein Shuttle bekam. Bei zwanzig Shuttles waren dies sechshundert Personen. Nicht sehr viele, zumal seine anwesende Crew ja bereits knapp zweihundert Personen umfasste.
„Frauen und Kinder zuerst“, rief er laut und hoffte die Menge übertönt zu haben. „Und wartet mit dem Abflug bis die Shuttles voll sind.“
Doch diese von Panik erfasste Meute war nicht mehr zu kontrollieren und stürmte auf die rettenden Shuttles zu. Sie wollten nur noch weg hier und das so schnell wie möglich. Disziplin oder gar Rücksichtnahme gab es jetzt nicht mehr. Es herrschte das Recht des Stärkeren. Wer stürzte, wurde von den anderen gnadenlos niedergetrampelt.
Sanawey suchte in der Menge schnell einige Sternenflottenoffiziere zusammen und wies sie an, in die Shuttles zu gehen und wenigstens den verfrühten Abflug zu vermeiden. Sie konnten es sich nicht leisten ein nur halbvolles Shuttle starten zu lassen. Sie brauchten jeden Platz um so viele wie möglich retten zu können. Wer zurückblieb, dem drohte der sichere Tod.
Plötzlich heulten hinter ihm die Antriebe eines Shuttles auf und ehe er sich versah hob es langsam ab. „Nein“, rief Sanawey entsetzt, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht hören konnten. „Kommt zurück.“ Natürlich war es sinnlos. Und so gewann das Shuttle weiter an Höhe.
„Offenbar sind diese Völker ein relativ undisziplinierter Haufen“, meinte der Adrac neben ihm verächtlich.
„Das sind alle Völker, wenn sie in Panik geraten“, erklärte Sanawey geistesabwesend. Seine Blicke schweiften immer wieder durch die wildgewordene Menge. Offenbar versuchte er einen Überblick zu bekommen. Dann rannte er auf einmal los und umarmte eine junge Frau. Der Adrac sah ihm nur verwirrt nach.
„Alles in Ordnung?“ hörte er Sanawey fragen, obwohl für so etwas sicher keine Zeit war.
„Ja, Dad“, erwiderte die Frau.
„Wo sind die anderen?“ wollte Sanawey wissen, obwohl ihm klar sein musste, dass Karja unmöglich den Überblick über alle Crewmitglieder haben konnte.
„Ich weiß es nicht“, gestand sie denn auch ein. „Ein Teil war vor mir, andere hinter mir. Ich habe noch einer schwachen Frau helfen wollen, die auf der Treppe gestürzt war. Aber sie war zu schwer verletzt und hatte kaum noch Luft bekommen. Ich konnte ihr nicht mehr helfen“, erklärte sie mit zitternder Stimme.
„Schon gut“, sagte Sanawey. Er zog sie näher an sich heran, auch damit sie ihm in der Menge nicht verloren ging. „Komm, wir müssen uns beeilen, sonst gibt es keinen Platz mehr“, zog er sie vorwärts. Diese Worte lösten bei den Umstehenden jedoch noch mehr Panik aus und ließ sie noch energischer um einen Platz kämpfen.
Sanawey, Karja und der Adrac schafften es, sich zu einem Shuttle hin durchzukämpfen, wobei der Adrac eine große Hilfe war, denn, obwohl die Sklaven nicht mehr unter der Aufsicht der Adrac standen und deutlich in der Überzahl waren, trauten sie sich doch nicht so richtig den Adrac anzufallen. Sie hatten keine Spitzhacken oder andere Gegenstände dabei, daher fühlten sie sich ihm wohl unterlegen. So erreichten sie fast widerstandslos ein Shuttle. Unterwegs hatten sich ihnen noch drei Offiziere der Republic
angeschlossen.
Das Shuttle war schon fast voll, aber die kleine Gruppe kämpfte sich noch hinein. Dann schlossen sich die Luken hinter ihnen. Froh darüber, endlich in Sicherheit zu sein, amtete Sanawey erst einmal durch. Wie Ölsardinen zusammengepresst standen sie hier dicht an dicht zu keiner Bewegung mehr fähig. Trotzdem versuchten Sanawey und der Adrac sich durch die Menge zu kämpfen, um ins Cockpit zu gelangen. Eine fast unmögliche Aufgabe. Als sie es endlich geschafft hatten war das Shuttle bereits über der Oberfläche und wartete bis es an der Reihe war durch die Luke in der Kuppel zu fliegen. Ein Blick auf den Bildschirm zeigte Sanawey die Oberfläche des Planetoiden. Dort standen noch immer Hunderte von Personen und riefen ihnen verzweifelt hinterher. Sanawey erkannte auch die ein oder andere Sternenflottenuniform. Offenbar hatten es nicht alle geschafft.
„Wir müssen noch einmal zurückkehren“, sagte er leise und der Pilot, es war Lieutenant Jefferson, sah ihn nur entgeistert an. „Wir können sie nicht alle zurücklassen“, erklärte der Captain. „Wir werden sie retten müssen, das würden wir für jeden anderen von uns auch tun.“
Jefferson senkte nur betrübt den Blick und deutete auf einen anderen Bereich des Bildschirmes. Es war der Ausgang der Treppe, dort wo sie herausgekommen waren aus den Höhlen. Um den Bereich herum lagen viele Personen tot auf dem Boden. Alte, Frauen, Kinder. Auch eine rote Sternenflottenuniform war zu entdecken.
„Das Gas“, sagte der Adrac, ebenfalls leise, obwohl es gar nicht zu ihm passte. „Sie fluten die Gänge und durch den offenen Tunnel gelangt es an die Oberfläche. Bald wird die ganze künstliche Atmosphäre angereichert sein mit dem Gas. Niemand wird das überleben“, erklärte er das Geschehen. „Auch mein Volk nicht.“ Denn da das Gas nicht in der Mine blieb, würde es sich in der gesamten künstlichen Atmosphäre verteilen und jedes Lebewesen auf diesem Planetoid erreichen.
Bedrückt und wütend zugleich betrachtete Sanawey den Bildschirm. Er war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch noch mal zu landen und noch mehr Leute einzuladen und der Erkenntnis, dass das Shuttle voll war und jeder Versuch noch mehr zu retten in einer Katastrophe enden würde.
Er zwang sich den Blick vom Bildschirm abzuwenden und nach vorn zu schauen. Sie flogen nun auf die Öffnung in der Kuppel zu. Fasziniert stellte Sanawey fest, dass sich dort ein Kraftfeld befand, das den Sauerstoffaustritt verhinderte, aber ein Schiff problemlos hindurchgleiten ließ.
Kurz bevor ihr Shuttle das Energiefeld berührte flimmerte es kurz auf und brach dann zusammen. Offenbar ein Defekt bei den Generatoren. Ein kräftiger Sog erfasste das kleine Schiff. Die Atmosphäre strömte durch das nun entstandene Ungleichgewicht hinaus in das Vakuum des Alls. Der Sog war so gewaltig, dass es die Shuttles erfasste und ins Schleudern brachte. Das Shuttle, das den Durchgang gerade passierte, wurde so schnell ins All hinausgeschleudert, dass es unkontrolliert weiter trieb und der Pilot Mühe hatte, die Kontrolle wiederzuerlangen. Die nachfolgenden Shuttles, die an der Öffnung gewartet hatten, waren von der Plötzlichkeit des Vorfalles überrascht worden und kämpften nun gegen den Sog. Ein weiteres Shuttle schoss mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luke. Die Kuppel musste Belastungen aushalten für die sie nicht konstruiert worden war. Sie erzitterte heftig unter dem Sog, hielt ihm aber stand. Auch das nächste Shuttle schoss durch die Luke und streifte dabei die Kuppel. Die Seite des kleinen Schiffes wurde aufgerissen und nur einen Augenblick später explodierte es. Das gab auch der Kuppel den Rest. Rings um die Luke herum bildeten sich Risse in der Kuppel, dann lösten sich kleinere Teile und schließlich brach die Kuppel komplett. Die künstliche Atmosphäre schleuderte die Trümmer ins All hinaus. Die zwei letzten Shuttles flogen unkontrolliert hinterher. Ein großes Trümmerteil der Kuppel flog ungebremst durch ein Shuttle hindurch und hinterließ nur eine nachleuchtende Ionenwolke.
Sanawey saß inzwischen im Pilotensessel während Karja und die anderen Offiziere versuchten die eingepferchten Leute im hinteren Teil des Schiffes zu beruhigen. Eine Panik war das letzte, was sie gebrauchen konnten.
„Captain“, sagte der Adrac leise. „Wir sollten uns in eine sichere Entfernung begeben. Die Station auf dem Planetoiden wird überladen. In wenigen Minuten wird der Fels explodieren.“
Sanawey nickte nur. „Meldet das an alle Shuttles.“ Dann gab er einen Kurs ein, um als Führungsschiff vorauszufliegen.
Es dauerte einige Zeit bis wieder alle Shuttles um sie herum versammelt waren. Den umherfliegenden Trümmern des explodierten Planetoiden waren die verbliebenen Shuttles entkommen, nun galt es einen neuen Kurs zu setzen und zu verschwinden. Gegen Sanaweys Willen wurde beschlossen einen Heimatplaneten einiger Gefangener anzufliegen und dort um Hilfe zu bitten. Offenbar glaubte niemand mehr, dass die Republic
noch dort draußen war und fähig, sie alle aufzunehmen und zu verteidigen.
„In Ordnung“, hatte Sanawey schließlich seinen Widerstand aufgegeben. Dann musste es für seine Crew eben von dort aus weitergehen.
„Captain“, stieß der Adrac erschrocken hervor. „Da draußen kommen drei Adrac-Schiffe auf uns zu. Deshalb ging die Flucht so leicht. Es ist eine Falle.“
Konzentriert saß George Real an der Wissenschaftsstation der Republic
und beobachtete die Daten, die ihm die Sensoren lieferten. Viel war das nicht. Dort draußen befand sich kaum irgendetwas Interessantes. Schon seit Stunden suchten sie die entführte Crew, doch bislang ohne Erfolg. Dabei hatte es zu Beginn so günstig ausgesehen. Sie hatten die Richtung, in der die Adrac davongeflogen waren. Das hatte sich aus den Sensorendaten des Shuttle Independence
ergeben. Als Jackson und Brooks mit den Ingenieuren vom Planeten Vandros IV gekommen waren, hatten sie den Schauplatz des Überfalles passiert. Und die Sensoren hatten dort die Reste von Warpsignaturen aufgezeichnet. Die Adrac-Schiffe hinterließen so kräftige Signaturen, dass sie auch Tage danach noch messbar gewesen waren. Nur leider ließ diese hinterlassene Signatur mit der Zeit wohl nach. So als ob nur der Start einen solchen Energieaufwand benötigte und damit einen solch deutlichen Abdruck im Subraum hinterließ. Es war, als ob die Motoren erst warm laufen müssten. Doch wenn sie einmal warm waren, dann wurde auch die hinterlassene Subraumspur immer geringer. Und baute sich damit auch schneller wieder ab. Darum hatten sie die verfolgte Spur irgendwann verloren. Seitdem tappten sie im Dunkeln, ohne zu wissen, wohin sie fliegen mussten. Jackson hatte entschieden, weiterhin geradeaus Kurs zu halten. Denn es gab keinerlei Anzeichen, warum die Adrac nicht direkt zu ihrem Ziel hätten fliegen sollen. Sie mussten wohl kaum damit rechnen, dass ihnen die Republic
oder ein anderes Schiff folgen würde. Und wenn doch, dann gab es keinen Grund, warum die Adrac nicht auch damit fertig werden sollten. Und letztlich war dieser Kurs ihre beste Chance. Wo sollten sie sonst suchen? Wenn die Adrac allerdings doch noch ihren Kurs geändert hatte, dann war die Suche hoffnungslos.
Eine Veränderung der Daten ließ Real aufmerksam werden. „Commander“, rief er erfreut und erschrocken zugleich. „Die Sensoren haben eine große Explosion registriert. Direkt vor uns.“ Er sah auf. Hoffnung keimte in ihm auf. „Es könnte bei der Mine sein.“
„Hoffentlich nicht die Mine selbst“, erwiderte Jackson ernst. „Steuermann, bringen Sie uns näher ran.“ Dann stand sie auf und ging zu Real hinüber. „Können Sie genaueres in Erfahrung bringen?“
„Noch nicht. Dazu sind wir noch nicht nahe genug.“ Er tippte ein wenig auf der Konsole herum. Dann sah er wieder auf. „Einen Planetoiden oder etwas Ähnliches kann ich nicht erkennen, aber sehr viele Gesteinstrümmer. Und Schiffe. Das Hüllenmaterial der Schiffe stimmt mit Nonacs Rettungskapsel überein, daher nehme ich an, dass es sich um Schiffe der Adrac handeln muss. Einundzwanzig. Aber sie stehen sich gegenüber.“ Verwunderung lag in seiner Stimme. Dass sie sich gegenseitig bekämpften überraschte ihn. Er hatte einfach angenommen, dass sie nicht untereinander bekämpften.
Jackson sah stirnrunzelnd zum Bildschirm. Noch waren sie zu weit entfernt, als dass der Bildschirm schon etwas hätte anzeigen können. Was hatten die Adrac vor? Sie wollte auf keinen Fall in eine Schlacht zwischen zwei verfeindeten Adrac-Gruppen geraten. Das wäre sicher das Ende der Republic
.
„Ma’am, es sind Shuttles dabei“, stellte der Sicherheitsoffizier fest. „Und zwar achtzehn. Und drei Adrac-Kriegsschiffe, die sich den Shuttles zugewandt haben.“
Kriegsschiffe gegen Shuttles. Das stellte die Situation schon anders dar. Hier sollte ganz eindeutig jemand aufgehalten werden. Da konnte sich ein genauerer Blick durchaus lohnen. „Können Sie die Lebenszeichen an Bord der Shuttles erkennen?“ frage Jackson aufgeregt. „Sind Menschen dabei?“
„Schwer zu sagen“, erwiderte Real langsam. „Die Anzeigen sind verwirrend. Es scheinen zu viele Personen in den Shuttles zu sein.“
„Noch dreißig Sekunden bis zur Waffenreichweite“, meldete der Navigator. Zeitgleich wurden auf dem Bildschirm auch die Schiffe sichtbar. Obwohl das eine Kriegsschiffe waren, unterschieden sie sich in ihrer Größe und Form kaum von den Shuttles. Aber das bestätigte eigentlich nur, was sie bei dem abgestürzten Schiff schon entdeckt hatten. Kleine und wendige Kriegsschiffe, die aber über ein beeindruckendes Waffenpotential verfügten.
„Mr. Real, ich brauche Daten“, rief sie dem Sicherheitschef zu. „Wir können keinen sinnlosen Kampf führen.“
Real ging gar nicht auf ihre Bemerkung ein, sondern konzentrierte sich weiter auf seine Daten. Weitere wertvolle Sekunden verstrichen. „Eines der Schiffe scheint nicht so beladen zu sein. Ich erkenne alle möglichen verschiedenen Lebenszeichen. Alle weitgehend unbekannt. Aber keine Menschen.“ Die Enttäuschung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Es wäre auch zu schön gewesen, die Crew auf diese Weise wieder zurückzubekommen.
„Verdammt“, fuhr Jackson herum. Sie ging wieder zum Kommandosessel zurück. Die drei Schritte, die sie dafür benötigte, schenkten ihr die Zeit darüber nachzudenken, was sie tun sollte. Selbst wenn es nicht die Crew war, Flüchtlinge waren es auf jeden Fall. Konnten sie die Flüchtlinge einfach ignorieren und weiter fliegen? Oder sollten sie sich um diese Flüchtlinge kümmern und dann zurück zu Erde fliegen und die Crew einfach zurücklassen? Sie war sich sicher, die Crew würde es verstehen und auch Captain Sanawey würde dem zustimmen. Denn es gab eigentlich keine Möglichkeit festzustellen, wohin die Crew vielleicht weiterverschleppt worden war und ob sie überhaupt noch lebte. Und genau betrachtet war ein Rettungsversuch ein hoffnungsloses Unterfangen. Diese Mission vor Augen war gut gewesen für die Motivation der Crew, um das Schiff wieder instand zu setzten, doch Jackson war sich sehr wohl bewusst wie sinnlos es war. Diese Flüchtlinge dagegen waren wirklich in Not und brauchten Hilfe.
„Alle Mann auf die Kampfstationen“, befahl Jackson laut. „Alarmstufe rot. Vorbereitung zur Eröffnung des Feuers. Wir werden den Shuttles da draußen helfen.“ Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. „Melden Sie unseren Shuttles, sie sollen sich den Adrac unauffällig nähern.“
„Wir sind in Waffenreichweite“, meldete der Navigator etwas nervös.
Jackson konnte es ihm nicht verübeln. Alleine gegen ein Adrac-Schiff kämpfen zu wollen war nach ihren Erfahrungen schon verrückt genug. Aber alleine gegen drei Adrac-Schiffe war einfach nicht zu schaffen. Trotzdem konnten sie nicht einfach weglaufen. Nicht mehr. Denn die Adrac hatten sie bereits bemerkt.
Jackson betätigte eine Taste auf dem Armaturenbrett des Kommandosessels. „Maschinenraum. Es geht los.“
„Verstanden“, bestätigte Brooks. „Aber schütteln Sie uns nicht zu sehr durch. Hier wurde einiges nur provisorisch repariert.“
„Das kann ich nicht versprechen.“ Sie unterbrach die Verbindung und starrte zum Hauptbildschirm. Eines der Adrac-Schiffe drehte, um sich der Republic
zuzuwenden. Jackson wusste, sie mussten das Feuer auf sich lenken, damit die beiden Shuttles nicht entdeckt wurden. Nur dann hatten sie eine Chance. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Real bereits wieder an der taktischen Station saß, den Finger über dem Abschussknopf der Phaser schwebend. Sie mussten den richtigen Augenblick abwarten. Auf der Brücke herrschte Totenstille. Die Mannschaft blickte wie erstarrt auf den Bildschirm. So, als wäre die Zeit stehen geblieben. Niemand bewegte sich, niemand atmete.
Als das Adrac-Schiff seine Drehung fast vollendete hatte sprang Jackson auf. „Feuer“, rief sie die dabei und fast im selben Moment zuckten die Phaser durch das dunkle All. Nacheinander verließen auch die Torpedos die eine Abschussrampe, die sie noch hatten. „Feuern Sie aus allen Rohren, Mr. Real. Nicht aufhören“, wies sie ihn an.
Das Adrac-Schiff musste starke Treffer hinnehmen, schien davon aber unbeeindruckt. Es hatte sich nun ganz der Republic
zugewandt und erwiderte das Feuer. Der Treffer ließ die Republic
heftig erzittern und Jackson wurde in den Kommandosessel zurückgeworfen. Noch ein weiterer Treffer und all ihre Wiederherstellungsmühen wären wieder dahin. Doch wenn sie damit helfen konnten, dann sollte es recht sein.
Jacksons Blick ging wieder zu den beiden Föderationsshuttles. Sie waren inzwischen gleichauf mit dem Gegner und brachten sich in Position. Die Adrac hatten sie entweder noch nicht entdeckt oder einfach ignoriert. Welche Gefahr sollte schon von einem winzig kleinen Shuttle ausgehen? Doch das sollten sie ganz schnell lernen. Kaum hatten die Shuttles ihre Position erreicht, deaktivierten sie die Schilde und drehten nach wenigen Sekunden sofort wieder ab. Tödliche Energie leckte nach ihnen, als die Adrac die Gefahr jetzt doch erkannten und die Shuttles unter Beschuss nahmen.
Jackson sah den beiden Shuttles auf dem Bildschirm nach. Das Schiff backbord voraus wich dem Beschuss geschickt aus und konnte entkommen. Das rechte Shuttle bekam eine volle Breitseite ab und geriet ins Trudeln. „Republic
. Ich wurde getroffen“, meldete der Pilot panisch. „Meine rechte Antriebsgondel hat’s erwischt. Ich bin manövrierunfähig.“
In diesem Moment detonierten die Photonentorpedos und die darin enthaltene Antimaterie reagierte mit der Materie der Adrac-Schiffe. Sie zerstörte die Struktur der Schiffe und riss Löcher in die Außenhülle aus denen Feuer leckten. Die beiden betroffenen Schiffe neigten sich leicht nach vorne. Dann erreichte in einem Schiff die zerstörerische Kraft den Energiekern des Schiffes. Unter einer gewaltigen Explosion wurde das Schiff zerstört. Zurück blieb nichts weiter als ionisiertes Gas, das noch nachglühte. Einige wenige Teile des Schiffes, die nicht in ihre atomaren Bestandteile zerfallen waren, schossen von der Explosion angetrieben gefährlichen Querschlägern gleich davon. Das beschädigte Shuttle konnte nicht mehr ausweichen und eines der Teile schoss direkt darauf zu. Der Pilot schien es nicht mal zu merken.
„Shuttle Independence
, Ausweichmanöver“, schrie Jackson und schnellte auf. Doch es war zu spät. Ohne die kollabierten Schilde war das kleine Schiff schutzlos. Das Teilstück durchschlug das Schiff mit voller Wucht und zerstörte es. Eine kleine Explosionswolke waren die letzten Spuren des Shuttles. Und auf der anderen Seite der Wolke schoss das Teil wieder heraus und raste hinaus ins All. Alles geschah in Sekundenschnelle, ohne dass irgendjemand reagieren konnte.
Erst jetzt merkte Jackson, dass auch das zweite Republic
-Shuttle nicht mehr da war und auch ein Shuttle der Flüchtlinge fehlte. Das zweite Adrac-Schiff, das einen Photonentorpedo an Bord gebeamt bekommen hatte, trieb steuerlos im All, aber es war nicht zerstört. Feuer und kleinere Explosionen zerstörten die Oberfläche des Schiffes und es sah nicht so aus, als könnte das Schiff weiter am Kampf teilnehmen. Es stand also nur noch eins gegen eins. Aber das war nicht sehr viel besser, denn auch um die Republic
stand es nicht zum Besten.
„Schilde bei 20 Prozent“, rief Real entsetzt. Ihre Chancen waren trotz des Erfolges weiter gesunken.
Sofort war Jackson wieder im Hier und Jetzt. „Weiterfeuern“, befahl sie, obwohl sie merkte, dass das übrig gebliebene Adrac-Schiff kaum Schäden aufwies. Sie sah zu Real hinüber, doch der schüttelte nur den Kopf. Sylvia wusste, dass sie es nicht schaffen konnten. Und zum Umkehren war es ebenfalls zu spät. Ein weiterer Treffer und die verbliebenen Schilde würden Kollabieren. Danach wären sie schutzlos, falls der nächste Treffer sie nicht auch gleich noch zerstörte.
„Commander, ich habe ein Schiff auf den Sensoren“, rief Lieutenant Hill von der Wissenschaftsstation her. „Ein klingonischer Bird-of-Prey. Er ist bereits sehr nahe. Ich hab ihn erst jetzt entdeckt, da die Langstreckensensoren ausgefallen sind.“
Jackson sah zu ihr, konnte aber wegen dichtem Rauch aus einer gebrochenen Leitung hinter dem Kommandosessel nichts sehen. Was hatten die Klingonen hier zu suchen? Hatten sie einen Pakt mit den Adrac? Oder wollten sie mit ansehen, wie ein Föderationsschiff hier zerstört wurde?
„Sie schießen auf das Adrac-Schiff“, rief Real begeistert, obwohl er es selbst kaum glauben konnte.
Angestrengt sah Jackson auf den Schirm. Sie konnte das Klingonenschiff sehen. Und dahinter? War da nicht noch was? „Was ist hinter dem Bird-of-Prey?“ fragte sie laut.
Ein weiterer Treffer ließ das Schiff heftig erbeben, aber nicht so schlimm wie Jackson erwartet hatte. Offenbar war es nur ein Streifschuss gewesen.
„Schilde ausgefallen“, rief Real laut. Auch der Streifschuss hatte es noch in sich gehabt.
„Was ist hinter den Klingonen?“ wiederholte Jackson laut. Sie konnten ohnehin nichts mehr weiter tun, als zu hoffen. Hoffen, dass sie die Sache doch noch irgendwie überlebten. Sie hatten keine Schilde mehr und auch die Waffen schwiegen nun. Offenbar waren sie nicht einmal mehr in der Lage sich noch irgendwie zu wehren.
„Commander, eine Flotte unbekannter Schiffe taucht auf dem Schlachtfeld auf“, antwortete Hill. „Sie attackieren das Adrac-Schiff. Und die Adrac wenden sich von uns ab.“ Freude und Hoffnung kehrten in ihre Stimme zurück. Sie konnte es kaum fassen.
Erleichtert atmete Jackson auf. Wer auch immer diese Fremden waren, sie waren ihre Rettung. Falls sie die Schlacht gewinnen sollten. Und sich danach nicht auf die Republic
stürzten. „Steuermann, bringen Sie uns außer Waffenreichweite“, rief sie laut. Sie wollte nicht noch von einem Querschläger getroffen werden. Jetzt, da sie neue Hoffnung hatte, das Ganze doch noch zu überleben. Denn insgeheim hatte sie schon mit ihrem Leben abgeschlossen gehabt. Allerdings war die Gefahr noch nicht ganz vorüber. Und zudem war sie sich noch nicht sicher welche Rolle die Klingonen und die Fremden spielten.
„Commander, das klingonische Schiff hat sich getarnt und ist verschwunden“, meldete Real, der sich jetzt wieder auf die Sensoren konzentrieren konnte.
„Und die Fremden?“ hakte Jackson gespannt nach.
„Sie attackieren weiterhin die Adrac. Es sind zehn Schiffe. Teilweise schon schwer beschädigt. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, wer da gewinnen wird.“
Jackson sah zum Bildschirm, der die Schlacht übertrug, die vor ihnen tobte. Sie konnte nichts tun, außer hoffen, dass derjenige gewinnen möge, der ihnen gegenüber freundlich gestimmt war.
Craigs stand in Abwehrhaltung auf der Brücke des Bird-of-Preys und ihm gegenüber stand Korak mit einem klingonischen Messer in der Hand. Mit lauernden Blicken warteten sie darauf, dass der Gegenüber eine falsche Bewegung machte, bereit dann anzugreifen. Es ging um nicht weniger, als um die Vorherrschaft auf dem Schiff. Wer immer hier gewinnen mochte, der war Captain und würde zukünftig bestimmen, was getan wurde und wer angegriffen wurde. Die Situation war angespannt. Bisher hatte keiner der beiden Kontrahenten eine Übermacht erringen können. Der Ausgang war nach wie vor offen.
Vor einigen Minuten war Korak auf die Brücke gestürmt und hatte Craigs herausgefordert. Er wollte ihn direkt im Kommandosessel erstechen. Nicht sehr ehrenhaft, aber was konnte man von einem klingonischen Piraten schon erwarten? Craigs konnte den Angriff zwar parieren, war aber in dem Moment selbst unbewaffnet gewesen. Ein unverzeihlicher Fehler. Denn natürlich lag auch keine Waffe griffbreit. So musste er unbewaffnet kämpfen, während Korak ihn mit einem Messer in der Hand umrundete, bereit zum tödlichen Angriff anzusetzen.
„Sei kein Narr, Korak“, knurrte Craigs ihn an. „Wenn du noch ein bisschen wartest, dann wird mein Plan aufgehen und wir werden eine Beute an Bord haben, mit der wir niemanden mehr fürchten müssen.“
„Das Geschwätz eines Feiglings“, sagte Korak verächtlich und stieß zu.
Doch Craigs parierte den Hieb und gab Korak dafür einen Schlag in die Seite, der den Klingonen ein wenig ins Taumeln brachte. Blitzschnell hatte der sich aber wieder gefasst und umkreiste den Captain erneut.
„Es wird Zeit, dass wir das Theater beenden“, sagte Craigs. „Wir kämpfen schon seit ein paar Minuten und sind keinen Schritt weiter.“ Seit sie von den Kampfschiffen der Kabran verfolgt wurden, war die Stimmung gegen den Captain umgeschlagen, da kaum einer wusste, was er eigentlich erreichen wollte. Sie hätten sich tarnen können oder einfach die Geschwindigkeit erhöhen. Stattdessen flogen sie sichtbar direkt vor dem Gegner davon, so langsam, dass dieser ganz allmählich aufholte.
Craigs konnte dieser Zweikampf nur nutzen - wenn er ihn überlebte. Er wusste genau, je länger der Kampf dauerte, desto eher stand die Crew wieder hinter ihm. Denn wenn sie sahen, dass Korak so lange Zeit benötigte, um einen unbewaffneten Mann zu besiegen, dann konnte er auch kein sehr guter Captain werden. Aber andererseits wusste Craigs auch, dass der Klingone über mehr Kondition verfügte und diese kleinen Attacken den Menschen schwächen sollten.
„Achtung, Adrac-Schiffe voraus“, rief Casey erregt.
„Wir sollten den Kampf verschieben“, schlug Craigs vor. „Die Adrac sind jetzt erst mal unser gemeinsamer Gegner.“
„Feigling“, rief ihm Korak zu und dachte überhaupt nicht daran aufzugeben.
„Verdammt, du völlig bescheuerter Klingone, lass vom Captain ab“, schrie der Andorianer Tanar. Die Angst vor den Adrac ließ ihn sogar seine Furcht dem Klingonen gegenüber vergessen. „Da draußen sind Adrac. Wenn wir überleben wollen, dann müssen wir jetzt gegen sie kämpfen.“
„Und was ist, wenn ich euch sage“, hob Korak seine Stimme. „dass euer pikfeiner Captain einen Deal mit den Adrac hat!“ Ein triumphierender Ton lag in seiner Stimme und die Crew sah den Captain erstaunt und erschrocken an.
„Das ist nicht die ganze Wahrheit“, erhob auch Craigs die Stimme. „Wir hatten einen Deal, ja. Aber der ist geplatzt.“ Insgeheim fragte er sich, woher Korak das gewusst hatte. Niemand wusste davon.
„Und wie sah der aus?“ wollte Tanar wissen und seine Antennen neigten sich skeptisch nach vorne.
„Ich sollte Ihnen verraten, wie die Republic
am leichtesten zu ködern wäre. Dafür hatten sie uns eine ihrer Wunderwaffen versprochen.“ Das war eine verlockende Aussicht gewesen. Mit einer dieser starken Bordkanonen wären sie nahezu unbesiegbar geworden. Niemand hätte sich ihnen dann noch in den Weg stellen können. Die Crew schien dasselbe zu denken, denn die Ablehnung in ihren Gesichtern verschwand. „Aber sie haben sich nicht an die Abmachung gehalten“, fuhr Craigs fort. „Jetzt werden wir uns einfach holen, was uns gehört. Diese Schlacht da draußen wird jede Menge Trümmer zurücklassen. Da können wir uns holen was wir wollen.“
„Vorausgesetzt wir überleben den Kampf.“ Lee Casey wirkte nach wie vor skeptisch.
Craigs lächelte vielsagend. „Klar überleben wir den Kampf. Denn wir werden gar nicht teilnehmen.“ Sein siegessicheres Grinsen wuchs. „Wir haben jemanden im Schlepptau, der für uns kämpfen wird.“
Zuerst hatte es den Anschein, als ob die Crew nicht verstand, was er meinte. Doch dann dämmerte es ihnen und die Stimmung schlug in Begeisterung um. Korak merkte sehr schnell, dass er nun auf verlorenem Posten stand. Denn selbst wenn er gewinnen sollte, die Crew hatte er nicht mehr hinter sich. Doch noch wollte er nicht aufgeben und stach noch mal auf Craigs ein.
Doch auch diesen Hieb parierte der Captain, schlug Korak das Messer aus der Hand und ließ den Klingonen mit seinem Schwung, den er noch hatte, über sein ausgestrecktes Bein stolpern. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte er das Messer plötzlich selbst in der Hand. Er drückte sein Knie auf Koraks Schultern, der damit bewegungslos auf dem Boden lag.
Die Crew war noch immer im Freudentaumel über den bevorstehenden Sieg und von Koraks erneuter Attacke auf den Captain völlig überrascht worden.
„Verdammt, es reicht“, rief Tanar und wandte sich wieder seiner Konsole zu. „Wir sind in dreißig Sekunden in Waffenreichweite.“
„Töte mich“, brachte Korak zischend hervor. „Das ist der Lohn für die Niederlage.“
Craigs setzte ihm das Messer an den Hals und war bereits zuzustechen. Doch dann nahm er es wieder fort und stand auf. „Komm auf die Beine, Korak. Du sollst noch nicht sterben. Ich brauche dich noch.“
Widerwillig stand der Klingone auf. „Du beleidigst meine Ehre“, sagte er beschämt.
„Stell dich nicht so an“, erwiderte Craigs, der dieses Gefasel für Ehre durchaus verstand, aber dafür einfach keine Zeit hatte. Sein Blick fiel auf das Messer, dass er noch immer in der Hand hatte. Wenn er es behalten würde, dann nähme er damit wirklich Koraks Ehre. Das konnte er nicht riskieren, denn Korak würde dadurch noch unberechenbarer werden. Deshalb reichte er es ihm, den Griff voraus. Korak hatte nun leichtes Spiel. Ein schneller Stoß und Craigs hätte das Messer im Herz stecken.
Doch das konnte er nicht. Die Blicke der Crew sagten ihm deutlich, dass er dann nicht mehr lange genug zu leben hätte, um sich über den Sieg zu freuen. Deshalb nahm er es und nickte nur leicht. Dann ging er zurück zu seiner Station.
Craigs wusste, dass es, auf die Zukunft betrachtet, leichter gewesen wäre ihn zu töten. Nun bestand die Gefahr eines erneuten Konfliktes. Doch darüber konnte er sich dann immer noch Gedanken machen, wenn es weit wäre. Jetzt galt es erst einmal diesen Kampf gegen die Adrac zu überleben.
„Alarmstufe rot“, befahl er. „Fliegt so nah wie möglich über das noch kämpfende Adrac-Schiff hinweg. Und feuert dabei alles ab, was wir haben. Dann tarnen wir uns und beobachten den Kampf in aller Ruhe.“
Der Bird-of-Prey schoss über das Adrac-Schiff hinweg und verschwand dann für die Augen und Sensoren im All. Die Flotte, die ihnen auf den Fersen war, merkte nun, dass sie mitten in einen Kampf mit den Adrac geraten waren. Wie Craigs vorher gesagt hatte, war ihnen ein Rückzug nicht mehr möglich. Deshalb ließen sie von der Verfolgung ab und attackierten dafür die Adrac.
Höchst erfreut beobachtete Craigs das Geschehen auf dem Bildschirm. Bis jetzt war es so gelaufen wie geplant. Hoffentlich ging es so weiter und sie bekamen etwas Adrac-Technologie in die Hände. Sie wären die ersten, denen das gelingen würde.
„Captain, eines der Adrac-Schiffe ist schwer beschädigt und treibt steuerlos im All. Nur wenig Lebenszeichen. Es nimmt nicht mehr am Kampf teil“, berichtete Casey erfreut.
Na also, dachte Craigs. Es lief doch. „Tanar, bring uns an die Seite dieses Schiffes. Wollen doch mal sehen, was wir dort noch alles finden.“ Er stand auf und ging zu Casey hinüber. „Was sagen die Sensoren? Wie sieht es mit den Waffen des Schiffes aus?“
„Teilweise scheinen sie noch intakt zu sein. Ich vermute die Steuerung ist ausgefallen, denn sonst würde sie sicherlich noch blind ins All schießen, in der Hoffnung vielleicht doch noch etwas zu treffen.“
„Aber die Waffe an sich ist noch zu gebrauchen?“ hakte Craigs nach.
„Kann ich nicht sagen“, zuckte Casey mit den Schultern. „Das müssten wir uns anschauen.“
„Also hinüber gehen?“
„Ja.“
Craigs sah sich auf der Brücke um. Das hatte er eigentlich nicht vor gehabt. Schließlich war es ein wenig zu gefährlich während einer Schlacht auf ein fremdes Schiff zu gehen, denn es konnte im Eifer des Gefechtes ohne weiteres zerstört werden, auch wenn es gar nicht mehr am Kampf teilnahm.
Aber was blieb ihm anderes übrig, wenn er nicht ergebnislos wieder abziehen wollte.
„Okay, wir gehen rüber“, sagte er laut, damit die Brückencrew ihn auch hören konnte.
„Was?“ rief Tanar entsetzt. „Während dem Kampf?“
„Nein, danach“, erwiderte Craigs ironisch. „Aber dann können wir uns gleich der Föderation oder den Kabrani ergeben.“
„Ich werde auf keinen Fall da rüber gehen“, gab Tanar zurück.
„Ich dachte die Andorianer wären Krieger?“ spottete der Captain.
Von der anderen Seite kam ein höhnisches klingonisches Lachen, noch bevor Tanar etwas erwidern konnte.
„Wir sind Krieger, aber nicht lebensmüde“, sagte er schließlich etwas lahm.
„Wir können dort drüben eine Adrac-Waffe erbeuten, die wir vielleicht in unsere Systeme integrieren können“, sagte Craigs wieder an alle gewandt. „Damit haben wir in Zukunft noch bessere Karten und werden noch stärker werden.“
„Ich gehen trotzdem nicht mit“, blieb Tanar trotzig.
„Das musst du auch nicht“, sagte Craigs gelangweilt und ignorierte ihn dann. „Korak, Dolan, deSouza und Rodrigues werden mich begleiten. Gehen wir.“ Er wollte das so schnell wie möglich hinter sich bringen, bevor noch etwas unvorhergesehenes passierte.
Widerwillig stand Korak auf. Er wusste genau, warum er mitgehen musste. Craigs wollte es nicht riskieren Korak zurückzulassen. Er musste sonst befürchten, dass der Klingone die Abwesenheit des Captains nutzte und das Schiff unter seine Gewalt bringen würde. Und dann wäre das Außenteam dort drüben verloren.
Als sie sich auf dem Adrac-Schiff wiederfanden, mussten sie feststellen, dass es stärker beschädigt war, als die Sensoren das angedeutet hatten.
„Das Schiff wird nicht mehr lange durchhalten“, rief Kate Dolan laut, um das Zischen einer gebrochenen Leitung zu übertönen. „Der Tricorder zeigt überall Hüllenbrüche an. Und es werden mehr. Wir sollten uns beeilen, mehr als ein paar Minuten bleiben uns sicher nicht.“
„Alles klar“, erwiderte Craigs. „Wohin?“
„Geradeaus. Wir sind ganz in der Nähe.“ Etwas anderes hätte den Captain auch überrascht, denn schließlich war dieses Schiff nicht sonderlich groß.
Sie schritt voran, immer wieder über herabgestürzte Teile stolpernd und über am Boden liegende Tote. Die Gänge waren dunkel, da das Beleuchtungssystem ausgefallen war. Sie hatten zwar eigene Handlampen dabei, doch die Trümmer und abgerissenen Leitungen sorgten immer wieder für geisterhafte Schatten an der Wand, die leicht für Gegner gehalten werden konnten.
„Das dort ist es“, deutete Dolan auf etwas, das für Craigs aussah wie alles andere hier auch.
„Das ist riesig“, sagte er nachdenklich. „Können wir das alles mitnehmen?“
„Nein, wir brauchen nicht alles“, winkte Dolan ab. „Aber der Kern ist wichtig. Und einige Daten aus dem Computer, damit wir es auch richtig zusammensetzten können.“ Sie war die Technikerin und musste wissen was sie brauchten. Rodrigues und deSouza halfen ihr hin und wieder mit der Technik der Dark Devil
, aber konnten ihr bei weitem nicht das Wasser reichen.
Während Dolan sich an der Computerkonsole zu schaffen machte, fingen deSouza und Rodrigues an den Kern der Waffe auszubauen, teils mit roher Gewalt. Korak und Craigs blieb nichts weiter übrig als zu warten und auf die Umgebung zu achten.
Unruhig betrachtete Craigs die Wand und die Decke dieser Sektion. Sie mussten sich ganz außen am Schiff befinden, denn im Inneren wäre die Waffe sinnlos gewesen. Die Decke und die Wände zeigten bereits feine Risse. Offenbar war die Außenhülle an dieser Stelle noch intakt, denn wären die Risse durchgehend bis nach draußen gewesen, dann hätte das die Struktur bereits nicht mehr mitgemacht und die ganze Wand hinaus ins All gerissen. Noch aber hielt es. Doch wie lange? Es konnte jeden Augenblick alles zusammenbrechen.
Dann drang ein Geräusch an sein Ohr. Was war das? Nur kurz, noch bevor er es richtig gehört hatte, war es schon wieder weg. Und wieder. Jetzt näher. Auch Korak schien es gehört zu haben. Beide hoben sie ihre Phasergewehre und lauschten. Wieder. Es hörte sich an wie Schritte. Ja, es waren Schritte.
„Achtung“, rief Craigs laut und warf sich in Deckung. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz danach krachte ein Schuss direkt hinter ihm an eines der Geräte. Auch Korak hatte Schutz gesucht und nun feuerten sie zurück. Es war nicht ganz leicht, denn der breite Durchgang zum Waffendeck bot eine große Angriffsfläche und die Trümmer boten jede Menge Deckung. Craigs schätzte die Anzahl der Gegner auf ungefähr zehn. Dem konnten sie unmöglich lange standhalten.
„Dolan“, rief er laut.
„Fast fertig“, kam die Antwort. Sie musste erst den Download der Daten beenden, sonst wäre der ganze Ausflug umsonst gewesen.
Fluchend feuerte Craigs ein paar Schuss ab, bevor er wieder in Deckung ging. Sie mussten die Gegner unbedingt auf Distanz halten. Dann warf er einen schnellen Blick zu deSouza und Rodrigues. Sie waren so gut wie fertig. Aber eben nur so gut wie. Eines der Verbindungskabel löste sich nicht. Somit hing die Waffe immer noch fest. Gemeinsam zerrten sie daran. Doch plötzlich brach deSouza zusammen. Ein Schuss hatte sie genau in den Rücken getroffen. Als sie rund einen halben Meter von einer erhöhten Plattform stürzte, auf der sie gestanden hatte, sah Craigs ein Loch in ihrer Brust durch das man hindurchsehen konnte. Diese verdammten Adrac hatten eines seiner Crewmitglieder getötet.
Rodrigues hatte nur kurz erschrocken aufgeschaut, beschäftigte sich aber jetzt wieder mit dem Kabel. Mit seinem Disruptor zerschoss er das Kabel dann einfach.
Korak feuerte noch ein paar Mal auf die Adrac, doch Craigs konnte hören, wie die Adrac langsam näher rückten.
„Fertig“, rief Dolan.
Blitzschnell holte Craigs den Kommunikator hervor und rief: „Zurückbeamen. Sofort.“
Erleichtert atmete er auf, als er wieder den Boden des Transporterraumes seines Schiffes unter sich spürte. Sie hatten es geschafft. „Wo ist die Waffe?“ fragte er sich umschauend. Sie war nicht hier. War die ganze Arbeit etwa umsonst gewesen?
„Sie ist gerade auf dem Weg in den Maschinenraum“, erklärte der Mann hinter der Konsole.
„Gut.“ Schnell stand Craigs auf. „Geben Sie der Brücke durch, wir verschwinden. Und zwar schnell, bevor das Schiff da drüben noch weiter auseinander fällt.“
Fasziniert sah Sanawey zu, wie sich die fremde Flotte auf die Adrac stürzte. Sie trugen zwar schwere Schäden davon, doch sie schafften es das verbliebene Adrac-Schiff in immer größere Schwierigkeiten zu bringen. Erleichterung machte sich damit in ihm breit. Erst jetzt konnte er es wirklich glauben, dass sie es geschafft hatten. Und natürlich freute er sich auch darüber, dass die Republic
den Kampf überstanden hatte und sich nun in eine sichere Entfernung zurückzog. Die Schäden waren ihr zwar deutlich anzusehen, aber sie war noch in einem Stück, darauf kam es an.
„Es sieht gut aus“, sagte der Adrac neben ihm.
„Ja, sehr gut“, freute sich Sanawey. „Ich denke, das letzte Schiff hat keine Chance mehr.“
„Nein.“ Lag etwa Trauer in der Stimme des Adrac? Immerhin war es sein Volk, das auf den drei zerstörten Schiffen nun starb.
Sanawey sah ihn an. Was mochte in seinem Kopf jetzt vorgehen? War er froh über das, was er getan hatte, oder bereute er es bereits? „Wie heißen Sie eigentlich?“ fiel ihm jetzt ein, dass er nicht einmal seinen Namen kannte.
„Ich bin Terac“, stellte der Adrac sich mit knappen Worten vor.
„Vielen Dank, Terac. Für alles.“ Sanawey meinte es ernst. Ohne ihn hätten sie es nicht geschafft, auch wenn der eigentliche Plan von dem Instektenwesen Tch’t‘ka gekommen war. Sanawey hatte das Wesen auch seit dem Abend der letzten Vorbereitungen nicht mehr gesehen. Er wusste nicht, ob er es geschafft hatte oder ob er unter den vielen Toten war. Er hoffte es nicht, denn sie hatten ihm viel zu verdanken.
Terac nickte nur leicht. „Einige Tage, nachdem Sie und Ihre Crew in die Mine gekommen waren, ging einiges seltsames vor sich“, sagte er und schien das als Begründung für seinen Entschluss, ihnen zu helfen, als ausreichend anzusehen.
In Sanawey aber lösten die Worte ein Unbehagen aus, das er nicht erklären konnte. Sein Magen zog sich zusammen, als ob er einen Schlag bekommen hätte. „Wie meinen Sie das?“ hakte Sanawey düster nach.
„Zum Beispiel wurden die Schiffe abgezogen. Eigentlich waren hier, so nahe an der Grenze immer acht oder neun Schiffe stationiert. Aber nun waren es nur noch drei. Auch die Wachen und die Sicherheitsmaßnahmen wurden verringert“, erklärte er dem verblüfften Captain, dessen Augen dabei immer größer wurden.
Ungläubig sah Sanawey ihn an. Er brauchte einige Sekunden, um die Schlussfolgerung dieser Worte wirklich zu begreifen. „Wollen Sie damit sagen, unsere Flucht war kein Zufall?“ vergewisserte er sich.
„Ich weiß es nicht“, kam die ehrliche Antwort. „Wir einfachen Adrac-Wachen werden selten in die Pläne der Obersten eingeweiht. Nur wenige Auserwählte erhalten von unseren Göttern die Anweisungen, was zu tun ist. Die gewöhnlichen Soldaten bekommen die Götter nicht zu sehen. Wir dürfen uns ihrem Planeten nicht nähern. Darauf steht die Todesstrafe.“
Sanawey kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein Tag voller Überraschungen. Die Adrac glaubten an Götter. Das hätte er bisher nicht für möglich gehalten. „Ihre Götter leben auf einem Planeten?“ fragte er verwundert nach. So etwas hatte er bisher von noch keiner Spezies gehört. Normalerweise lebten Götter in irgendeinem magischen Land, von dem Niemand genau wusste, wo es war. Meist glichen Beschreibungen aber so Vorstellungen wie dem irdischen Himmel.
„Wo sollen sie sonst leben?“ fragte Terac verwirrt zurück.
Sanawey wollte es ihm erklären, aber er wusste nicht wie. Außerdem fiel ihm ein, dass die alten Griechen auch genau wussten, wo ihre Götter lebten. Der Göttersitz von Zeus war demnach der Berg Olymp, der in Griechenland liegt. Warum sollte also eine raumfahrende Rasse ihren Göttersitz nicht auf einen anderen Planeten legen?
„Und wo liegt dieser sagenhafte Planet?“ wollte er wissen. Vielleicht konnten sie den Göttern ja mal einen Besuch abstatten. Auch für die diplomatische Kontaktaufnahme konnte dieses Wissen von Nutzen sein.
„Das weiß ich nicht genau“, gab er zögernd zu.
Für Sanawey war das ein seltsamer Widerspruch. Auf der einen Seite durften die Adrac die Welt ihrer Götter nicht betreten, auf der anderen Seite wussten sie nicht einmal, wo sie lag. Wie konnten sie dann sicher sein, den Planeten wirklich immer zu meiden und nicht aus Versehen mal dort zu landen? Aber die meisten Religionen wiesen ein paar Widersprüche auf, warum sollte diese eine Ausnahme sein?
Ein schneller Blick auf den Bildschirm zeigte ihm, dass der Kampf noch nicht ganz vorüber war. Es war jedoch nur noch eine Frage von Minuten, bis die Adrac endgültig besiegt waren. Solange wollte er mit Terac weiterreden. Er musste das seltsame Gefühl in seinem Magen noch ergründen. „Erzählen Sie mir etwas über Ihre Götter“, forderte er ihn auf.
Zögernd sah Terac ihn an. Offenbar behagte es ihm nicht, einem Fremden solche Details zu erzählen. Dann aber begann er doch. „Es heißt, unsere Götter hätten unser Reich erschaffen. Und nicht nur das, es heißt auch, sie hätten uns Adrac erschaffen. Und zwar so wie wir heute sind. Wir Adrac waren einst ein kleines Volk, nur Tiere, die an der Spitze der Nahrungskette auf unserem Planeten standen. Wir besaßen kein Werkzeug oder etwas in der Art. Wir streiften in Gruppen über unsere Welt und erbeuteten Wild, wenn wir hungrig waren. Wir hatten ein Sozialverhalten entwickelt und konnten zum Angriff in den aufrechten Gang übergehen. Trotzdem waren wir nichts weiter als mindere Lebensformen, weit weg davon gar so etwas wie Intelligenz zu entwickeln. Dann kamen die Götter in ihren fliegenden Häusern. Sie kamen auf unsere Welt und besetzten sie. Sie gründeten Siedlungen und nahmen sich das Land. Die Adrac mussten immer weiter zurückweichen und wurden gejagt. Dann aber, so heißt es, hätten die Götter unser Potential erkannte. Sie verbesserten unsere genetische Struktur, manipulierten unsere DNA und machten uns zu dem was wir heute sind. Sie machten uns zu Kriegern.
Natürlich klingt das alles viel Poetischer, wenn es wahre Gläubige erzählen. Aber so hat es sich tatsächlich zugetragen. Unsere Augen zum Beispiel haben wir von den Göttern erhalten. Sie meinten, mit Facettenaugen wären wir anderen Spezies gegenüber im Vorteil.“ Er schüttelte leicht verhalten den Kopf. „Nur wenige Adrac kennen die Wahrheit. Denn die uns gegebene Intelligenz hält sich in Grenzen“, gestand er etwas verschämt ein. „Wir sollen den Göttern dienen und ihren Willen erfüllen. Dazu muss es reichen, aber auf keinen Fall um selbstständig zu denken. Nur hin und wieder kommt es vor, dass ein Adrac zur Welt kommt, dessen Gehirn weiter entwickelt ist und bei dem diese Propaganda der Götter nicht auf uneingeschränkten Glauben fällt. Aber diese Adrac leben in der ewigen Angst entdeckt zu werden. Den Göttern entgeht nicht viel. Und entdeckt zu werden, bedeutet den Tod.“
Er machte eine Pause und jetzt tat er Sanawey fast leid. Die Adrac waren das Opfer von Aggressoren. Von Genmanipulationen und Einmischung in die evolutionäre Entwicklung. Sie hätten noch Jahrmillionen Zeit gebraucht, doch sie waren so hingezüchtet worden, wie man sie gebraucht hatte. Ein katastrophaler Eingriff, der ihnen eine eigenständige Entwicklung und ein eigenständiges Leben verwehrt hatte. Die Föderationsgesetzte verboten so etwas, doch die meisten anderen Völker interessierte so etwas nicht. Und schon gar nicht, wenn es zum eigenen Vorteil gereichte. Sanawey wusste nicht, was er sagen sollte.
„Woher wussten Sie, dass der Fluchttunnel im alten Stollen nicht versiegelt war?“ kam ihm Terac mit einer Frage seinerseits zuvor. „Niemand wusste das. Ich auch nicht. Und woher wussten Sie, dass es Shuttles geben würde?“
„Einer der Mithäftlinge hat mir das erzählt“, gab Sanawey bereitwillig Auskunft.
„Wer?“ hakte Terac ohne zu zögern nach. „Eigentlich dürfte das keiner der Gefangenen wissen. Wer hat Ihnen das gesagt. Wie sah er aus?“
Unvermittelt kehrte die Skepsis in Sanawey zurück. Wieso wollte Terac das so genau wissen? Was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Diente dieser ganze Ausbruch etwa nur dazu, ein undichtes Leck zu finden über das Informationen an die Gefangenen gingen? Zugegeben, eine etwas drastische Methode, aber vielleicht gingen die Adrac ja genauso vor. Ein paar Opfer mehr oder weniger, das interessierte sie vielleicht gar nicht. Und mit einer tränenreichen Geschichte über ihre Götter und die arme Opferrolle der Adrac sollte er weichgekocht werden. Oder wurde er jetzt doch noch paranoid? „Ein Insektenwesen“, erwiderte er aber dennoch und versuchte in Teracs Gesicht irgendeine Reaktion feststellen zu können. Was sich aber als unmöglich erwies. „Aber ich habe es seitdem nicht wieder gesehen.“
„Groß?“ wollte der Adrac weiter wissen.
„Ja, so groß wie ich ungefähr. Und aufrecht gehend.“
„Xindi“ sagte Terac langsam. „Unsere Götter.“
„Wie bitte?“ Sanawey glaubte sich verhört zu haben. Die Xindi waren auch den Menschen nicht unbekannt. Aber sie waren ein Mythos. Niemand wusste, ob es sie wirklich gab. Allein Captain Archer hatte vor über 100 Jahren einmal Kontakt zu ihnen, der aber sofort wieder abgebrochen war. Seitdem war man diesem rätselhaften Volk nicht mehr begegnet. Und nun sollten sie die Götter der Adrac sein?
„Ja, die Xindi sind unsere Götter“, bestätigte Terac. „Sie geben uns ihre Anweisungen und wir dienen ihnen. Es heißt auch, die Götter hätten Brüder, die uns sehr ähnlich sein sollen.“
Sanawey hörte gar nicht mehr richtig zu. Seine Gedanken rasten. Wenn das alles stimmte, dann ließ es alles in einem völlig neuen Licht erscheinen. Er wollte etwas erwidern, wurde jedoch von den Ereignissen draußen daran gehindert. Das letzte Adrac-Schiff explodierte gerade in einem grell leuchtenden Feuerball. Damit war die Schlacht beendet. Es war geschafft. Dachte er. Aber er konnte ja noch nicht wissen, was die Mannschaft der fremden Schiffe mit ihnen vorhatte. Schließlich waren sie die eigentlichen Sieger. Die Republic
konnte sich gegen die verbliebenen sechs Schiffe nicht mehr zur Wehr setzten, dazu war sie viel zu beschädigt. Und die Shuttles konnten ohnehin nicht kämpfen. Sie waren also alle den Fremden ausgeliefert und auf ihr Wohlwollen angewiesen.
„Captain. Die fremde Flotte ruft uns“, sagte der Pilot, der das Shuttle steuerte.
„Okay. Dann auf den Bildschirm damit.“ Sanawey deutete auf den Monitor, auf dem sie bisher die Schlacht mitverfolgt hatten.
Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines älteren Mannes. Durch sein Gesicht zogen sich Sorgenfalten. Insgesamt wirkte er menschenähnlich, aber die Haare zogen sich bis zu seinen Augenbrauen herunter. Und an den Seiten zog sich ein Fellpelz über die Ohren, was ihm ein wenig ein katzenhaftes Aussehen gab.
„Ich bin Okirem, Kommandant der königlichen Flotte von Kabran. Identifizieren Sie sich und geben Sie den Grund Ihrer Anwesenheit an“, dröhnte er in gewohnt militärischem Ton.
„Ich bin Captain Sanawey, Captain des Föderationsraumschiffes Republic
. Wir waren Gefangen der Adrac, konnten aber fliehen.“
„Fliehen?“ wiederholte Okirem so, als wüsste er nicht, was das Wort bedeutet. Misstrauen lag in seinem Gesicht. „Niemand konnte je von den Adrac fliehen.“
„Wir haben es geschafft. Aber ohne fremde Hilfe schaffen wir es nicht weiter“, sagte Sanawey. Er wusste genau, worauf es jetzt hinauslaufen würde. Er musste Okirem um Hilfe bitten. Eigentlich wollte er nicht, dass sich ein unbekanntes Volk um die Flüchtlinge kümmerte, aber ihm bleib keine andere Wahl. Die Republic
war wohl kaum noch in der Lage alle zu versorgen.
„Captain, ich weiß nicht ob ich Ihnen trauen kann. Sie haben einen Adrac neben sich sitzen“, deutete er auch Terac. „Er könnte Sie zwingen zu sagen, was er will.“
„Das ist richtig. Aber dieser Adrac hat uns geholfen zu fliehen. Das ist vielleicht auch eine Erklärung dafür, weshalb wir entkommen konnten“, bemühte er sich die Sorgen des Kommandanten zu zerstreuen.
Aber Okirem schien noch immer nicht überzeugt. Er hatte wohl zu viele Begegnungen mit den Adrac erlebt und war jetzt auf der Hut. Sanawey war ihm deshalb nicht böse. Seine Crew war schließlich selbst erst durch den Notruf eines Flüchtlings in diese Lage geraten. Es schien bereits Jahre her zu sein, dass sie Nonac geholfen hatten.
Und auf einmal dämmerte es Sanawey. „Eine Falle“, entfuhr es ihm entsetzt. Es war alles wohl durchdacht. Sie waren der Köder und die Flotte von Kabran das Opfer. „Wir müssen weg und zwar sofort.“
Terac und Okirem sahen ihn an und verstanden offenbar nicht. Sie wirkten mehr verwirrt als besorgt.
„Das wäre eine schlechte Falle, wenn man drei Schiffe opfert“, erwiderte der Kommandeur der Flotte, inzwischen wohl ernsthaft an Sanawey zweifelnd.
„Es ist eine glaubhafte Falle“, beharrte Sanawey. „Es sieht alles nach einem Sieg aus. Wir sollen hier jetzt noch lange bleiben um zu entscheiden, was weiter geschehen wird. In der Zwischenzeit nähert sich eine Adrac-Flotte Ihrer Heimat. Die Kabran-Flotte ist hier. Nun stände einem Einmarsch im Kabransystem nichts mehr im Wege. Terac, Sie haben selbst gesagt, die Sicherheitsvorkehrungen und die stationierten Schiffe seien verringert worden. Uns hat man geholfen zu fliehen. Das klingt mir sehr danach, als ob hier etwas weit größeres gespielt wird, als nur unsere Flucht.“ Für Sanawey klang das nur allzu logisch und er konnte sich kaum vorstellen Unrecht zu haben. Dies alles hier war nur ein Ablenkungsmanöver, nichts weiter. Sie alle waren Bauernopfer, die gebracht werden mussten, um einen anderen Zug zu verschleiern.
Bedenken standen Okirem ins Gesicht geschrieben. Er schien zu überlegen, was er davon halten sollte. Aber die Angst um seine Heimat war wohl doch größer. „Na schön“, meinte er dann. „Ich gestatte es der Republic
und der Shuttleflotte uns zu folgen. Allerdings werden wir nicht ins Königreich Kabran zurückkehren.“ Er wollte auf Nummer sicher gehen.
„In Ordnung.“ Sanawey war es recht. Nur nicht hier auf dem Präsentierteller sitzen.
„Folgen Sie uns“, befahl Okirem und unterbrach dann die Verbindung.
Wenige Minuten später waren sie unterwegs. Sanawey merkte, dass sie sich vom Adrac-Territorium entfernten und auf die Föderation zuhielten. Er war erleichtert darüber. Jetzt konnte es nur besser werden. Vorausgesetzt, der König von Kabran gewährte ihnen die Freiheit. Doch in Anbetracht der Bedrohung durch die Adrac und einer eventuellen Unterstützung für ihn durch die Föderation, konnte er ihnen die Freiheit wohl kaum verwehren. Endlich würde alles wieder gut werden.
Nach zwei Flugstunden, die ihm in dem engen Shuttle wie eine Ewigkeit vorkamen, beendeten die Schiffe den Warptransit und kehrten in den Normalraum zurück. Kurz darauf schwenkten sie in die Umlaufbahn eines Klasse-M-Planeten ein. Sanawey war froh, dass dieser Flug vorbei war. Dicht an dicht standen die befreiten Sklaven im Shuttle. Sanawey hielt Karja im Arm und sie hatte sich zwei Stunden lang an ihn geschmiegt. Eine Bewegung konnte keiner machen. Doch das würde sich gleich ändern. Okirem hatte ihnen befohlen auf dem Planeten zu landen. Jetzt war die Enge bald vorüber.
Als sich die Tür des Shuttles öffnete strömte die Menge stöhnend nach draußen. Auch Sanawey war froh darüber und atmete tief durch, als er nach draußen trat. Er spürte frisches Gras unter seinen Füßen. Und die Sonne auf seinem Körper. Es war ein gutes Gefühl. Das Wissen, dass nun alles vorbei war. Die Sonne stand hoch am Himmel, doch wurde es nicht zu heiß. Die Temperatur musste sich so bei etwas über zwanzig Grad eingependelt haben. Sanawey war das nur recht. Die frische Luft erfüllte ihn und die anderen mit neuem Leben. Hitze hatte er in der Mine und im Shuttle genug gehabt. Erst jetzt, als er hier an der frischen Luft war, merkte er, wie schlimm die Luft in der Mine und im Shuttle gewesen war. Viele schwer arbeitende Personen, die seit Wochen und Monaten keine Gelegenheit für eine Wäsche mehr gehabt hatten, zusammengedrängt auf engstem Raum, das konnte nur für äußerst üble Luft sorgen.
Sein Blick schweifte über die baumlose Wiese. Überall waren die siebzehn übrig gebliebenen Shuttles gelandet und die Leute liefen über das Gras, tanzten und lachten. Sanawey sah aber auch Wesen, die einfach nur still in einer Ecke saßen oder weinten. Wieder andere übergaben sich erst einmal.
Sohral trat neben ihn. Sanawey musterte den Vulkanier. Er sah noch magerer aus als früher und Verletzungen zeichneten auch seinen Körper. Trotzdem wirkte er noch immer äußerst würdevoll. Er hatte nichts von seinem Auftreten eingebüßt.
„Es ist schön Sie wiederzusehen, Captain“, sagte er und es kam Sanawey so vor, als freue er sich. Aber das war sicher nur sein eigener Gemütszustand, der sein Urteilsvermögen trübte. „Nach den Kämpfen und den drei zerstörten Shuttles war ich mir nicht mehr sicher, in welchem Sie sich befanden.“
„Sie waren sich nicht sicher?“ ertönte eine Stimme hinter ihm. Es war Reed, der nun vortrat und Sohral angrinste. „Das kam sicher auch noch nicht vor, dass Sie sich unsicher waren.“
„Mr. Reed, es war zu erwarten gewesen, dass Sie überlebt haben“, erwiderte Sohral einfach, ohne das weiter zu erklären.
Sanawey konnte es nicht fassen. Sie waren frei. Sie waren wieder freie Menschen, die über ihr eigenes Schicksal bestimmen konnte. Und selbst so ein Streitgespräch zwischen Sohral und Reed war nichts anderes, als der Ausdruck der Freude, die sie auf ihre Weise auslebten.
Langsam teilten sich die Leute in einzelne Gruppen auf. Die verschiedenen Völker waren nun voneinander getrennt und unterhielten sich untereinander. Auch die Sternenflottencrew war nun wieder unter sich. Sanawey sah, dass seine Führungscrew noch vollständig war und das beruhigte ihn.
In der Mitte des Platzes, der nun leer war, materialisierte sich ein Außenteam der Kabran. Mit gezogenen Waffen traten sie auseinander und bildeten einen Kreis in ihrer Mitte. Dann erst, als die Umgebung gesichert war, kam Okirem. Langsam sah er sich die Menge an und es sah so aus als graute ihm vor dem, was er da sah. Nachdem sein Blick einmal über die ehemaligen Gefangenen gewandert war kam er auf Sanawey zu.
„Captain, Sie sehen aus als hätten Sie die Hölle gesehen“, sagte er langsam.
ELF
Sanawey ging durch die Straßen des Heimatplaneten von Kabran. Obwohl es schwer war zu sagen, welcher Planet der eigentliche Heimatplanet war. Selbst die Wissenschaftler von Kabran stritten darüber. Schon vor langer Zeit waren zwei Planeten im Heimatsystem besiedelt worden. Dann kam eine Dynastie äußerst konservativer Könige. Sie stellten jeden Fortschritt unter Strafe und so blieb die Entwicklung des Königreiches Kabran mehr als tausend Jahre stehen. Ein Umstand, der die Zukunftsfähigkeit des Volkes stark beeinträchtigte hatte, denn ohne diese Zeit würde das Königreich Kabran sicher zu den führenden Mächten im Universum gehören. So waren sie nur klein und unbedeutend. Die nachfolgenden Könige hatten immer größere und schönere Paläste gebaut, auf beiden Planeten. Kriege zerstörten immer wieder einen Teil und auch viel der Geschichte Kabrans, so dass heute selbst Wissenschaftler nicht mehr wussten, wie genau sich alles zugetragen hatte. Und wo der Ursprung ihrer Spezies lag.
Die Straßen waren breit und lichtdurchflutet. Überall befanden sich durchdacht angelegte Blumenbeete oder lockerten Bäume das Straßenbild auf. Die Häuser links und rechts wirkten gemütlich und einladend, und keines war in einem heruntergekommenen Zustand. Vielmehr fügten sie sich ins Gesamtbild der Straße, der Stadt und der Landschaft ein, als ob sie bei der Entstehung des Planeten schon vorgesehen gewesen wären. Die ganze Stadt bot ein so harmonisches Gesamtbild, wie Sanawey es noch nirgendwo, auf keinem Planeten gesehen hatte. Insgesamt schien es wie ein Paradies zu sein. Das Leben hier war freilich nicht ganz so paradiesisch, das hatte er inzwischen auch erfahren. Die Kabrani hatten strenge Gesetzte, die sie auch rigoros durchsetzten. Offenbar waren sie der Meinung, nur so dieses Paradies schützen zu können. Doch der harte und totalitäre Regierungsstil des Königs machte diese Welt wenig lebenswert. Die ständige Angst, die hier jeder empfand, war geradezu greifbar.
Die neue Uniform, die Sanawey trug, fühlte sich gut an. Nach den knapp zwei Wochen, die er als Sklave in der Mine verbracht hatte, waren die erste Dusche und die neuen Klamotten so unglaublich herrlich gewesen, als ob er das vorher noch nie erlebt hätte. Er hätte noch ewig weiter unter der Dusche stehen können, so grandios war das Gefühl des warmen Wassers auf der Haut gewesen. Diesen Moment und dieses intensive Gefühl der Erleichterung würde er wohl den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen. Nachdem er sich rasiert und neu eingekleidet hatte, fühlte er sich endlich wieder wie ein vollwertiger Mensch.
Leider stellte sich auch bald wieder das ernüchternde Gefühl der Realität ein. Denn alles weitere verlief nicht so wie es sollte. Vieles, was seit der Flucht aus der Mine passierte, lief gegen seinen Willen und wurde über seinen Kopf hinweg entschieden. Aber im Moment konnte er auch nichts dagegen tun. Er war, genau wie alle anderen, den Kabrani ausgeliefert. Sie bestimmten wie die nächsten Schritte aussahen und wie das weitere Vorgehen war. Und sie bestimmten was getan werden durfte und was nicht. Sie hatten die Bedingungen gestellt unter denen sie überhaupt helfen wollten. Hielt sich die Republic
-Crew nicht daran, war auch die Hilfe für all die anderen Flüchtlinge in Gefahr. Sie erpressten Sanawey, das war ihm durchaus bewusst. Und seine Wut darüber steigerte sich jeden Tag. Doch musste er sich unbedingt zurückhalten, denn auf keinen Fall wollte er riskieren, dass die anderen Flüchtlinge keine Unterstützung mehr erhielten. Aber trotz aller Kooperation, die sie bisher gezeigt hatten, waren ihnen die Kabrani keinen Schritt entgegengekommen. Die Republic
durfte laut ihren Anweisungen nicht repariert werden, die Flüchtlinge – bis auf die Sternenflottencrew – durfte den Planeten, den sie zuerst angeflogen hatten, nicht verlassen und so ging es gerade weiter. Bisher durfte noch nicht einmal ein Kontakt zur Föderation hergestellt werden. Das ging nun schon seit einer Woche so.
Bei ihrer ersten Begegnung hatte Okirem dem Captain die Bedingungen für die Hilfe erläutert und Sanawey war gar nichts anderes übrig geblieben, als darauf einzugehen. Denn die Kabrani drohten damit niemanden jemals wieder gehen zu lassen. Damit wäre dieser Planet zu einem neuen Gefängnis geworden. Zwar zu einem angenehmeren, als die Mine der Adrac, aber dennoch wäre es eine weitere Gefangennahme geworden. Wobei einige der Gefangenen darüber nicht sonderlich unglücklich gewesen wären. Besonders die, für die es keine Rückkehrmöglichkeit gab, weil die Adrac ihre Heimatwelt besetzt hatten. Doch viele wollten zurück auf ihre Heimatplaneten. Und die Sternenflottencrew hätte damit ohnehin nicht leben können. So wurde es der Crew gestattet, an Bord ihres Schiffes zu gehen und sie folgten der Kabran-Flotte ins Königreich Kabran zurück. Sanawey war, wie der Rest der Crew auch, froh wieder an Bord der Republic
zu sein. Er fühlte sich gleich eine Spur sicherer, obwohl das natürlich ein Trugschluss war. Die Republic
war viel zu sehr beschädigt, um die Crew wirklich schützen zu können. Und unter normalen Umständen hätte man sich zwischen all diesen Trümmern auch nicht wohl fühlen können. Für die Crew war es trotzdem eine Erleichterung und ein Gefühl der Heimkehr.
Trotz Verbots waren sie gleich ans Werk gegangen und setzten das Schiff nun wieder instand. Allerdings nur provisorisch. Richtig repariert werden konnte die Republic
ohnehin nur noch in einer Föderationswerft. Auf den Befehl des Captains blieben jedoch alle reparierten Geräte weiterhin ohne Energie. So sollten die abgestrahlten Energiewerte unverändert bleiben. Denn schließlich sollten die Kabrani von den Reparaturen nichts merken. Es hätte alle Bemühungen um eine Lösung der Affäre zunichte gemacht und nur noch strengere Auflagen zur Folge gehabt. Wendy Brooks fügte sich nur schwer dieser Anweisung. Sie wollte das Reparierte auch testen, nur um sicher zu sein, dass es auch alles funktionierte. Aber das konnten sie einfach nicht riskieren. Auch dem Rest der Crew fiel es schwer dies zu akzeptieren. Immerhin betrafen die Zerstörungen nicht nur die militärischen Bereiche des Schiffes. Auch Replikatoren, Ultraschallduschen und viele andere Kleinigkeiten, die das Leben an Bord angenehmer machten, waren funktionsunfähig und von dem Verbot der Benutzung betroffen. Wobei viele dieser Einrichtungen im Moment erst gar nicht repariert wurden. Dazu fehlte einfach das Material. Und die Prioritäten lagen woanders.
Die Krankenstation war nach der Rückkehr auf das Schiff gut besucht gewesen. Viele ließen sich ihre kleineren Wunden entfernen. Vor allem natürlich die Brandzeichen auf der Stirn. Einige jedoch mussten ernstlich behandelt werden und ein gutes Dutzend musste sich einer Operation unterziehen, bei denen der Ausgang ungewiss war. Mehr als sechzig Tote hatte die Crew zu beklagen, seit sie nach Nonacs Notruf auf die Adrac getroffen waren. Ungefähr die Hälfte starb beim Angriff auf das Schiff, die andere Hälfte in der Mine und bei der Flucht. Trotzdem wirkte das Schiff voller als früher. Etliche Sektionen im äußeren Schiffsbereich waren gesperrt worden, da es dort einige Hüllenbrüche gegeben hatte und die Bereiche noch immer zum Weltraum hin offen waren. Leben war in diesen Bereichen derzeit nicht möglich. In den inneren Sektionen war die Crew nun fleißig dabei, die Spuren der Verwüstungen zu beseitigen. Gänge wurden wieder passierbar gemacht, Trümmer zur Seite geräumt und zur Wiederverwertung gebracht. Insgesamt wirkte das Schiff wie ein großer Ameisenhaufen, doch alles musste geheim ablaufen. Nichts davon durften die Kabrani mitbekommen.
Nachdem sie im Kabran-System angekommen waren, musste Sanawey sofort vor den König von Kabran treten und ihm genau erzählen, was sich seit der Begegnung mit Nonac alles ereignet hat. Hin und wieder unterbrach der König ihn, um nach Einzelheiten zu fragen, das meiste hörte er sich jedoch wortlos an. Nach der Erzählung saß er einige Zeit schweigend da. Offenbar ging ihm das Gehörte doch ein wenig an die Nieren. Dann bedankte er sich, stand auf und verließ kommentarlos den Raum. Sanawey wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Schließlich kam ein Saaldiener und führte ihn wieder hinaus. Es wurde ihm nur gesagt, dass sich der König bei ihnen melden würde, dann stand er alleine vor dem Schloss. Das war jetzt eine Woche her. Trotz mehrmaliger Bemühungen irgendeine Antwort vom Palast zu erhalten, waren die Versuche alle erfolglos geblieben. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich der König bequemte, sich mit ihnen zu befassen.
Sanawey war fasziniert von dem Herrschaftssystem Kabrans, auch wenn er es für rückständig und wenig produktiv hielt. Das Volk konnte sich seinen Herrscher nicht selbst wählen, doch wenn es ein weiser König war, dann konnte das Land aufblühen, denn er musste nicht in Etappen von Wahl bis Wahl denken, sondern er konnte langfristige planen. War der König jedoch ein Tyrann, so konnte das Volk nichts tun außer hoffen, dass eine baldige Krankheit den König dahinraffte. Die derzeitige Dynastie jedoch herrschte seit mehreren hundert Jahren mit eiserner Hand. Die Wirtschaftsleistung ging zwar seither stetig bergauf, doch das Volk lebte in ständiger Angst. Die unteren Gesellschaftsschichten rieben sich bei der harten Arbeit geradezu auf, damit die Adligen ein Leben in Luxus und Prunk führen konnten. Was natürlich offiziell nicht der Fall war. Offiziell ging alles Geld in die Verteidigungsmaßnamen und das Militär. Immerhin musste mit der Bedrohung durch die Adrac gelebt werden.
Am Ende der Straße angekommen sah Sanawey hinaus aus dem Dorf, über Felder hinweg auf denen sich goldgelbe Getreidepflanzen im Wind wogten. Es sah alles sehr idyllisch aus. Sanawey konnte nur staunen über dieses Volk, dass trotz seiner geringen Größe den Adrac trotzte und bisher einen Einmarsch dieser Teufel verhindern konnte. Er hatte fast Verständnis dafür, dass sie so vorsichtig gegenüber der Sternenflottencrew waren. Aber eben nur fast, denn die Vorsicht ging so langsam ein wenig zu weit.
Es erwies sich nun als extremer Nachteil, dass er dieses Volk nicht kannte. Dass er nichts über dessen Regeln und Gebräuche wusste. Vielleicht erwarteten sie den nächsten Schritt von ihm. Aber was sollte er den noch tun, außer sich immer wieder zu melden? Hatte er nicht schon genug Kooperationsbereitschaft bewiesen? Terac hätte ihm vielleicht noch etwas über die Kabrani erzählen können, aber sicher war Sanawey sich da nicht. Denn immerhin waren die Adrac ja noch nicht hier gewesen. Aber vielleicht wussten sie trotzdem etwas von diesem Volk. Doch Terac war nicht hier. Er wollte freiwillig bei den anderen Gefangenen bleiben. Eigentlich hatte er keine Wahl gehabt, denn die Kabrani hätten ihn sowieso nicht in ihr System einreisen lassen. Aber das hatte er noch nicht gewusst, als er seine Entscheidung getroffen hatte. Sanawey hoffte, dass es ihm gut ging. Ganz sicher war er sich allerdings nicht. Immerhin war er ein Aufseher in der Mine gewesen und hatte mit Sicherheit einige Leben auf dem Gewissen. Und mancher der Überlebenden gehörte wohl auch zu den von ihm Gepeinigten. Jetzt war er alleine bei den ehemaligen Gefangenen und sie konnten sich an ihm rächen. Der Captain hatte sehr großen Respekt vor Teracs Entscheidung. Sich alleine seinen Opfern zu stellen, dazu gehörte einiges.
Der Kommunikator piepste. Sanawey zog ihn aus dem Gürtel und klappte ihn auf.
„Captain“, meldete sich Jackson. Sie war auf der Republic
, sowie die meisten anderen Crewmitglieder auch.
„Was gibt es?“ wollte Sanawey wissen. Er sah weiterhin auf die Felder hinaus und genoss den Anblick.
„Neuigkeiten“, war die schlichte Antwort. „Sie sollten besser rauf kommen.“
Sanawey seufzte. Das hörte sich nicht besonders gut an. „In Ordnung. Ich werde mich um einen Transport bemühen. Sanawey Ende.“ Er änderte die Frequenz, um die Raumstation der Kabrani im Orbit zu erreichen. Da auf der Republic
nichts reparieren durfte, war natürlich auch der Transporter weiterhin beschädigt. Transfers zwischen dem Planeten und dem Schiff mussten über Transporter der Kabrani stattfinden, da auch die Shuttles der Republic
beim Kampf mit den Adrac zerstört worden waren beziehungsweise das Shuttle Freedom
noch immer auf Vandros IV stand. Ihren Gastgebern war das nur recht, denn so hatten sie die Kontrolle darüber, wer und wieviele Personen sich auf dem Planeten befanden. Und sie sorgten dafür, dass immer so viele Sternenflottenoffiziere auf dem Planeten waren, dass die Republic
nicht plötzlich fliehen konnte. Was zwar aufgrund des Zustandes des Schiffes nicht möglich war, trotzdem sicherten sich die Kabrani auf diese Art weiter ab. Und auch wenn es offiziell von keiner Seite so genannt wurde, war es eine versteckte Geiselnahme.
„Kabran-Raumstation. Bitte eine Person an Bord der Republic
beamen.“ Ihm graute vor dem Gedanken, sich auf den Transporter einer fremden Rasse verlassen zu müssen über deren Technologiestand so gut wie nichts bekannt war. Aber was hatte er für eine Wahl?
Er spürte das Prickeln und die Desorientierung. Dieser Transporter war deutlich schlimmer als Föderationstransporter oder die anderer bekannter Rassen. Schmerzen plagten Sanawey jedes Mal, wenn er diesen Transporter benutzte. Und hinterher fühlte er sich schwindelig und Übelkeit stieg in ihm auf. Nach jedem Transport hatte er das Gefühl, dass nicht mehr alle seine Atome vorhanden waren, auch wenn Dr. Williams das nicht bestätigen konnte. Er war froh, als der Transporter ihn wieder frei gab. Schnell trat er von der Plattform und eilte durch die Gänge zur Brücke. Dort erwartete ihn schon seine Stellvertreterin.
„Captain, eine Nachricht vom Königshof. Wir sollen uns noch zwei Tage gedulden, dann bekommen wir noch eine Nachricht und dürfen dann auch gehen“, berichtete sie und die Zweifel in ihrer Stimme konnten kaum deutlicher sein. Es war eine leicht durchschaubare Hinhaltetaktik, der allmählich niemand mehr Glauben schenkte.
Sanawey nickte. Das war sicherlich nicht alles, denn ansonsten hätte Jackson ihn nicht an Bord zurückgeholt. Erwartungsvoll sah er sie an.
„Wir haben Werte mit den Sensoren aufgefangen, die recht ungewöhnlich sind“, fuhr Jackson fort. „Die Langstreckensensoren funktionieren kaum, deshalb sind genauere Werte nicht möglich.“ Sie führte Sanawey an die Wissenschaftsstation, an der bereits der Vulkanier saß und versuchte, aus den noch funktionierenden Geräten brauchbare Daten zu gewinnen. Neben ihm stand Tworek und half ihm, so gut er konnte.
„Was sind das für Werte?“ wollte Sanawey wissen.
„Unbekannt“, erwiderte Sohral. „Die Sensoren können damit nichts anfangen. Wir wissen nur, irgendetwas passiert bei dem Planeten, auf dem wir die befreiten Minenarbeiter abgesetzt haben. Es war auch nur für einige Minuten, dann war es wieder verschwunden.“
„Interessant. Wer treibt sich dort herum? Geht es um die befreiten Sklaven? Aber wer weiß überhaupt, dass sie dort sind?“ überlegte er laut. Sorge stieg in ihm auf. Und Wut. Wut über seine Handlungsunfähigkeit. Ihm waren im Moment die Hände gebunden, und das, obwohl die Befreiten vielleicht in Gefahr schwebten.
„Es kann so ziemlich alles sein“, antwortete ihm Tworek. Auch er war wieder in einem zivilisierten Zustand. Seine wilden, klingonischen Haare hatte er zu einem Zopf zusammengebunden, wodurch seine spitzen Ohren sichtbar wurden. Ein irritierender Anblick. Er trug zivile Kleidung, da er kein Mitglied der Crew war. „Von einem Schiff bis zu einer Täuschung der Sensoren. Vielleicht auch ein Naturereignis.“
„Spekulationen bringen uns nicht weiter“, mahnte Sohral ernst und Tworek schwieg sofort. Offenbar hatte Sohral sich vorgenommen, dem Halbvulkanier die vulkanische Logik wieder mehr in Erinnerung zu bringen.
Sanawey kam es auf einmal falsch vor, dass die Leute dort zurückgelassen wurden. Es war nicht nur ein Gefühl, es war Gewissheit. Es war ein Fehler. Sie schwebten in ernsthafter Gefahr und brauchten seine Hilfe, denn irgendetwas seltsames geschah dort.
„Captain.“ Sohral hatte sich wieder seiner Konsole zugewandt und überprüfte neue Daten. „Erneute Werte. Verschiedene. Sie nähern sich dem Planeten.“
Auch Tworek betrachtete die Daten. „Das sind Schiffe“, sagte er dann langsam.
Sanawey sah Sohral an und wollte Tworeks Aussage bestätigt haben. Er traute ihm immer noch nicht so ganz. Tworek sah einfach zu sehr wie ein Klingone aus. Und so sehr der Captain versuchte Vorurteile und Klischees zur Seite zu schieben, es gelang ihm nicht ganz.
„Es ist anhand der Werte nicht eindeutig zu sagen“, meinte Sohral nur.
„Es sind Schiffe“, beharrte Tworek auf seiner Aussage. „Ich habe öfters in meinem kleinen Schiff mit schlecht arbeitenden Sensoren auskommen müssen. Ich weiß wie ich die Daten interpretieren muss.“ Er sah Sohral an. „Eine Erfahrung, die man nur bekommt, wenn man jahrelang alleine durchs All reist.“
Sohrals Augenbraue kletterte nach oben, er sagte jedoch kein Wort.
„Den Anzeigen nach müssten es drei Schiffe sein“, sprach Tworek weiter. Er musterte die Daten noch genauer, dann fuhr er schnell auf. „Es sind Adrac-Schiffe.“
Eilig räumte Hill noch einige Kleinigkeiten weg, die überall herumlagen. Sie hatte jetzt zwei Stunden lang aufgeräumt und geputzt, so gut das unter diesen Umständen eben möglich war. Wie überall auf dem Schiff war auch hier in ihrem Quartier nichts mehr heil geblieben. Ein Teil der Wandverkleidung war aufgerissen worden, als eine Leitung dahinter explodiert war. Natürlich hatte das bisher noch nicht repariert werden können. Einzig die Wandverkleidung war abgenommen worden, denn die aufgerissenen Kanten waren in das Quartier hinein gestanden und eine Gefahr für die Bewohner geworden. Leicht hätte man sich daran auf Bauchhöhe lebensgefährliche Verletzungen holen können. So waren zwar nun die ganzen Leitungen und Kabel zu sehen, die in der Wand verliefen und auch die rußgeschwärzte, zerstörte Leitung, aber daran konnte man sich gewöhnen. Irgendwie. Auch wenn es einen ständig daran erinnerte, was alles geschehen war.
Sandra Hill bewohnte ein Doppelquartier, wie die meisten Crewmitglieder. Es lag im Schiffsinneren und hatte daher kein Fenster. Bisher hatte sie das immer ein wenig gestört. Zwar kam durch ein Fenster kaum Licht herein, da es im All ja dunkel war und das Licht der Sterne nicht der Rede wert war, was die Leuchtkraft betraf, trotzdem sorgte ein Fenster schon allein des Ausblickes wegen für eine angenehme Atmosphäre. Doch jetzt war die Lage des Quartiers ein Vorteil, da sie nicht umziehen musste, so wie die Kollegen, deren Quartiere außen an der Schiffhülle gelegen hatten. Das Quartier bestand aus einem Wohnraum und einem Schlafraum, in dem die beiden Betten standen. Doch seit dem Überfall wurde nur noch eines der Betten benötigt. Ihre Zimmerkollegin befand sich unter den Opfern, die den ersten Adrac-Angriff schon nicht überlebt hatten. Hill versuchte nicht daran zu denken. Obwohl das nicht einfach war. Überall lagen persönliche Gegenstände ihrer Mitbewohnerin herum. Sie hatten das Quartier gemeinsam eingerichtet und die Erschütterungen bei den Kämpfen hatten auch die persönlichsten Dinge der Bewohnerinnen durcheinander geworfen. Beim Aufräumen waren ihr so manche Sachen in die Hände gefallen, die sie den Tränen nahe gebracht hatten. Doch sie verdrängte es jedes Mal sofort wieder. Es war die einzige Möglichkeit, wie sie derzeit damit umgehen konnte.
Zu ihrem Glück – aber auch zu ihrer Verwunderung – hatte sie keine neue Zimmerkollegin zugeteilt bekommen, obwohl im Moment Platzmangel herrschte. Sie hatte sich aber darüber auch nicht beschwert. Sie zog es im Moment meist vor, alleine zu sein. Und außerdem war es dann einfacher, wenn Besucher kamen. Denn sonst musste immer einer der beiden Bewohner für die Zeit des Besuches irgendwo im Schiff eine Beschäftigung suchen.
Und heute Abend hatte sie Besuch. In wenigen Minuten wäre er da. Deshalb musste sie für Ordnung sorgen so gut es eben ging. Sie war noch immer nicht zufrieden, doch besser konnte sie es unter den gegebenen Umständen wohl kaum hinbekommen. Sie konnte nur hoffen ihr Besuch würde einige Augen zudrücken und einfach über das Chaos hinweg sehen.
Sie ging in die Knie um ein Bild aufzuheben, dass auf dem Kopf lag. Langsam hob sie an es. Das knirschende Geräusch von aufeinander reibendem Glas ließ sie seufzen. Der Bilderrahmen war zerbrochen und die Glassplitter lagen auf dem Boden verstreut. Jetzt konnte sie das Bild nicht aufstellen. Dabei war sie so stolz darauf, denn es war eines der wenigen schönen Bilder, das sie hatte. Sie betrachtete die Aufnahme und fuhr mit ihren Fingerspitzen darüber. „Ach, Kevin, du fehlst mir so sehr“, sagte sie langsam. Einige Sekunden blieb sie so sitzen und sah das Bild traurig an. Dann straffte sie die Schultern, stellte das Bild zur Seite und begann die Scherben einzusammeln. Das Bild im Bilderrahmen war an einem schönen Sonnentag auf der Erde aufgenommen worden. Ein kleiner weißer Hund, ein West Highland White Terrier, sprang fröhlich tobend über eine Wiese. Und mit ihm sprang eine noch einige Jahre jüngere Sandra Hill. Offenbar ein Bild aus ihren Jugendtagen.
Sie hatte die Glasscherben gerade weggeräumt, als der Türsummer meldete, dass jemand vor der Tür stand. Aufgeregt vor Freude atmete sie erst einmal tief durch, um dann ganz ruhig „Herein“ zu sagen.
Zur Tür kam George Real herein. Er trug seine Sternenflottenuniform, wenn auch inzwischen eine neue, saubere. Aber da die Krise noch nicht völlig überstanden war, konnte er jederzeit zur Brücke gerufen werden und da wollte er sich dann nicht erst noch einmal umziehen müssen.
Sandra begrüßte ihn mit einem Lächeln. Sie trug zivile Kleidung, wenn auch nicht gerade das, was man zu einem ersten Date anziehen würde. Die Zeit und die Umgebung waren im Moment einfach noch nicht richtige. Zuviel war in letzter Zeit geschehen. Zu viele waren gestorben, um jetzt schon wieder Feste zu feiern.
„Hallo“, begrüßte sie ihn. „Schön dass du da bist.“ Sie lächelte ihn an.
„Hallo“, gab er einfach zurück. Er lächelte kaum, wirkte sehr ernst. Er hatte ihr auch nichts mitgebracht. Was unter den gegenwärtigen Umständen auch kaum möglich war, ihr aber trotzdem auffiel. Sein Blick schweifte durch den Raum und er sah den Tisch. Sie hatte ihn gedeckt, um mit ihm dort zu essen. Es war etwas karg, aber für die Umstände doch recht hübsch. Auch eine Kerze stand dort. Insgesamt sah es erstaunlich ordentlich aus in dem kleinen Quartier. Sie hatte sich wirklich Mühe gegeben.
Real fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Irgendwie konnte er sich nicht entspannen. Und den Grund dafür kannte er auch. Die Situation mit den Adrac und Kabrani war noch nicht ganz überstanden. Den Gedanken konnte er natürlich nicht ganz loswerden. Aber der eigentliche Grund war die Nacht, als er eine Schwäche der Adrac gesucht hatte und Sandra bei ihm eingeschlafen war. Und dabei im Schlaf etwas gesagt hatte. Nur ein Wort. Aber das hatte gereicht.
Kevin.
Das ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder musste er daran denken. Er wusste zwar nicht, wer Kevin war, aber dem Namen nach konnte es sich nur um einen anderen Mann handeln. Und nun hatte sie ihn eingeladen. Was bezweckte sie damit? Wollte sie sich für die Zeit, die sie im All verbrachte, eine Beziehung suchen, eine Affäre? Eigentlich hatte er gar nicht kommen wollen, aber Sandra hatte ihn so nett gebeten, dass er nicht ablehnen konnte. Doch nun, als er hier stand und vor sich die Kerze sah, da bereute er seine Entscheidung bereits wieder. Er musste es ihr sagen. Und auch, dass er nicht so einer war.
„Was ist?“ fragte sie vorsichtig und kam auf ihn zu. „Nimm Platz.“ Sie nahm seinen Arm.
Real machte zwei Schritte zum Tisch, blieb dann aber stehen. Er konnte es einfach nicht tun. Nicht so. Er schloss beide Hände um ihre Oberarme und sah ihr direkt in die Augen. „Sandra. Wir müssen zuerst reden. Es ist wichtig.“ Er wusste nicht, wie er es ihr sagen sollte. Auf keinen Fall wollte er nur eine Affäre werden.
Sie nickte nur und sah ihn erschrocken an. Der ernste Tonfall hatte sie erschreckt.
„Es geht um diese eine Nacht, als du bei mir warst und auf dem Sofa geschlafen hast“, fing er an, wurde jedoch von den Lautsprechern des internen Kommunikationssystems unterbrochen.
„Alarmstufe Rot“, wurde laut und deutlich und mehrmals verkündet. Zeitgleich fingen die Sirenen an zu heulen.
Real verdrehte die Augen. Offenbar sollte er keine Gelegenheit bekommen mit Sandra zu reden. Entschuldigend hob er die Achseln. Ohne noch etwas zu sagen verließ er eilig den Raum.
Sandra sah ihm nach. Für sie brach gerade ein Traum zusammen wie ein Kartenhaus. Sie hatte es erkannt, als er sie ansah, als sie in seine ernsten Augen blickte. Ganz eindeutig empfand er nicht dasselbe für sie, wie sie für ihn. In dem Fall war es besser, dass er ihr es nicht direkt gesagt hatte. Der Anblick seiner Augen waren Erkenntnis genug, da brauchte sie nicht auch noch den endgültigen Schlag ins Gesicht.
„Adrac?“ wiederholte Sanawey aufhorchend und ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Was machen Adrac-Schiffe dort?“
Sohral hob die rechte Augenbraue. Natürlich lag die Antwort auf der Hand. „Sie werden sich wohl ihre Sklaven zurückholen“, sagte er nur.
Natürlich, das war Sanawey schon bewusst. Eigentlich war es nur eine rhetorische Frage gewesen. Wenn das wirklich die Adrac waren, dann mussten sie etwas tun. Sie konnten nicht einfach zulassen, dass die entflohenen Gefangenen wieder in die Gewalt der Adrac gerieten. Das war nicht richtig. Das Problem war nur, dass die Republic
einerseits nichts tun durfte, auf Anweisung der Kabrani, andererseits sowieso nichts tun konnte. Im Moment hatte die Republic
nur für einen Schrotthändler einen Wert. Im Kampf war sie wohl selbst einem Frachter unterlegen, und die waren im Normalfall unbewaffnet. Sie mussten sich also etwas anderes einfallen lassen. Und sie konnten erneut nur auf die Hilfe der Kabrani hoffen.
„Wenn die Adrac uns hier orten, dann besteht die Gefahr, dass sie auch in dieses System einfallen“, erklärte Sanawey. „Wir müssen die Kabrani warnen. Wir müssen ihnen sagen, in welcher Gefahr sie sich befinden.“ Sanawey war sich bewusst, dass sie das ihren Helfern schuldig waren, auch wenn diese sich bisher alles andere als entgegenkommend verhalten hatten.
„Sie werden die Adrac sicher auch schon entdeckt haben, wenn nicht sogar schon früher“, erwiderte Tworek ruhig.
Sanawey bedachte ihn mit einem Seitenblick. Gegen zwei Vulkanier hatte er wohl kaum eine Chance, selbst wenn der eine nur ein Halber war. Außerdem kam er sich neben den beiden irgendwie geistig minderbemittelt vor.
„Captain, wir werden gerufen“, mischte sich Nerre ein.
„Der Königspalast?“ fragte Sanawey hoffnungsvoll. Vielleicht hatten sie eine Erklärung zu den Sensorenergebnissen. Oder vielleicht zur Frage, was mit der Republic
geschehen sollte.
„Nein“, schüttelte sie verwundert den Kopf. „Es kommt aus dem All.“
Sanaweys Augenbrauen verengten sich. „Auf den Schirm.“ Er trat vor zum Kommandosessel und sah wie auf dem Bildschirm ein Mensch erschien, der jedoch keine Sternenflottenuniform trug. Stattdessen trug er schwarze, lederne Kleidung, die eng am Körper lag und zudem keine Ärmel hatte. Es waren Zivilklamotten, die jedoch auf der Erde niemand mehr trug. Das Auftreten war einfach zu radikal. Starke Oberarme waren zu sehen, der restliche Körper nach unten hin lag außerhalb des Erfassungsfokus der Kamera. Sein Gesicht war kantig, sein Schädel kahl rasiert. Er stand auf einer Kommandobrücke, soviel war zu sehen, auch wenn sie sich deutlich von den Kommandobrücken der Sternenflotte unterschied. Und das Licht um ihn herum hatte eine rötliche Färbung.
„Ich bin Captain Craigs von der Dark Devil
“, stellte er sich vor.
„Captain Sanawey“, erwiderte der Indianer zurückhaltend. Ihm war sofort klar, was für ein Schiff dieser Craigs kommandierte. „Was will ein Piratencaptain von uns?“ wollte er ablehnend wissen.
„Bitte nicht so verächtlich, Captain. Jeder von uns macht nur seinen Job. Aber für so etwas haben wir jetzt keine Zeit. Ich muss Sie warnen. Die Kabrani verraten euch. Sie haben mit den Adrac eine Vereinbarung getroffen, nur so können sie eine Eroberung durch die Adrac vermeiden. Sie und ihre Crew werden demnächst fortgeschickt, um dann von den Adrac abgefangen und zerstört zu werden. Es soll so aussehen, als seien Sie bei einem Fluchtversuch gestorben. Offenbar haben die Adrac eine entsprechende Anweisung von ihren Göttern erhalten. Die anderen befreiten Sklaven werden in diesem Moment bereits wieder in Gefangenschaft genommen. Und drei von ihren Kriegsschiffen sind bereits unterwegs um die Republic
…“ Der Ton wurde immer schlechter. Ein Rauschen überlagerte die Worte und das Bild verschwamm. Dann brach die Verbindung zusammen.
„Was ist passiert?“ fuhr Sanawey zu Nerre herum.
„Ich weiß es nicht. Ich empfange nichts mehr. Auf keinem Kanal“, erwiderte sie verzweifelt und betätigte ein paar Tasten. Doch nichts passierte. „Die Verbindung wurde gestört.“
„Von wem?“
„Ich weiß es nicht“, gab sie zu.
„Captain. Die Flotte der Kabrani nähert sich uns“, meldete Reed von seiner Station aus. „Ich weiß zwar nicht welcher Piratencaptain das gewesen sein soll, aber es ist wohl besser, wenn wir ihm glauben und uns jetzt über die Vereinbarung mit den Kabrani hinwegsetzten und verschwinden“, schlug er vor.
Sanawey zögerte noch kurz. Er wollte nicht riskieren den einzigen Verbündeten, denn sie jetzt hier, nahe am Adrac-Empire hatten, zu verlieren.
„Die Kabrani haben uns eine Nachricht geschickt“, meldete Nerre, froh darüber wieder etwas zu empfangen. „Sie sagen uns, wir sollen den Kontakt zu den Piraten unterlassen. Sie haben schon mehrere Schiffe von Kabran überfallen und deren Crews kaltblütig ermordet. Wir sollen uns ruhig verhalten und nichts weiter unternehmen.“
„Das passt mir gar nicht“, sagte Jackson missmutig.
„Mir auch nicht“, stimmte Sanawey ihr zu. Er musste eine Entscheidung treffen. Schnell. Aber dazu fehlten ihm die Fakten. Und ohne Messwerte war er wie blind. Es wurde Zeit, das zu ändern. „Mr. Sohral, bringen Sie Sensoren auf volle Leistung. Eine Erklärung für die Kabrani lassen wir uns hinterher einfallen.“
Mit einigen schnellen Schaltungen führte der Vulkanier den Befehl aus. Dann meinte er ruhig: „Der Pirat hatte recht. Die Flüchtlinge werden gerade von den Adrac abgeholt. Zudem nähern sich drei Adrac-Schiffe unserer Position.“
„Verdammt“, fluchte Sanawey. „Mr. Reed, setzten Sie einen Kurs fort von hier. Maximal mögliche Warpgeschwindigkeit.“
„Aye, Sir“, freute sich Reed und führte den Befehl aus.
Es brauchte nicht lange bis die Republic
beschleunigte. Offenbar hatte Reed schon alles vorbereitet. Zwar hatten sie einen kleinen Vorsprung, aber Sanawey war sich trotzdem nicht sicher, ob sie es schaffen würden. Die Republic
war viel zu beschädigt, als dass es eine Chance zur Flucht gab. Sie hatten nicht genug Zeit gehabt und nicht genug Ersatzteile, um das Schiff auch nur annähernd so weit wieder herzustellen, wie es für eine Flucht sein musste. Ihre Maximalgeschwindigkeit war immer noch geradezu lächerlich gering.
Langsam glitten sie an einem der zwei Monde von Kabran vorbei. Sanawey konnte die zerfurchte Oberfläche des Himmelskörpers erkennen. So ähnlich musste seine Stirn im Moment aussehen. Die eine Seite des geteilten Bildschirmes zeigte die Kabran-Flotte hinter ihnen, die andere Seite die Adrac-Schiffe, die sich auf Abfangkurs befanden.
Der Gefahr wegen für das Schiff wie auch für die Bewohner eines Sonnensystems konnte man in einem Sonnensystem nicht auf Warpgeschwindigkeit gehen. Eine kleine Unachtsamkeit und durch die Subraumverzerrungen des Schiffes konnte es leicht passieren, dass sich eine Subraumwelle ausbreitete, die nahegelegene Himmelskörper zerstören konnte. Im leeren Raum, in dem es nur Staubpartikel und kleinere Steine gab spielte das keine Rolle, aber wenn der Himmelskörper bewohnt war, sah das schon anders aus.
Sanawey wollte trotz des Verrates der Kabrani niemanden von ihnen verletzten oder gar töten. Der Großteil von ihnen war unschuldig und nicht an den Entscheidungen ihres Königs beteiligt. Und Unschuldige zu töten kam auf gar keinen Fall in Frage. Außerdem hatten sie ihnen das Leben gerettet. Auch wenn es nur aus Eigennutz geschehen war. Aber aus eigener Kraft hätte es die Republic
nicht geschafft vor den Adrac zu fliehen. Ob sie es diesmal schafften war dagegen nur allzu offen.
Am liebsten wäre Sanawey aufgestanden und hätte mit eigener Muskelkraft dafür gesorgt, dass das Schiff schneller flog. Aber das war ihm leider nicht möglich.
Langsam nur ließen sie den Mond hinter sich. Es ging zu langsam. Auf den anderen Teilschirmen sah Sanawey wie sich die fremden Schiffe langsam näherten. Vor allem die Adrac hatten gute Chancen die Republic
abzufangen. Wenn ihnen das gelang, dann war es um sie geschehen. Gegen drei Adrac-Schiffe hatten sie keine Chance. Außerdem kämen dann ja noch die sechs Kabranschiffe dazu, die von der Flotte noch übrig waren.
Innerlich stritt Sanawey mit sich selbst über die richtige Vorgehensweise. Es gab so viel abzuwägen und so viel zu berücksichtigen. Aber viel Zeit blieb ihm nicht mehr. „Steuermann, trauen Sie sich einen Warpsprung innerhalb eines Sonnensystems zu?“ Sanawey sah den Mann an. Es war seltsam, nicht Remog dort sitzen zu sehen.
Es kam aber nur ein zweifelnder Blick zurück. Zweifelnd an seinen Fähigkeiten und an Sanawey Verstand.
„Ich kann das“, trat Tworek vor.
Mit eindringendem Blick musterte Sanawey den Halbklingonen. Konnte er ihm trauen? Bisher hatte er nichts getan, was dagegen gesprochen hätte. Aber in letzter Zeit war einfach zu viel geschehen. Es hatte zu viele Verräter gegeben. Nein, ihm konnte er das Steuer nicht überlassen. Womöglich führte Tworek sie direkt in die Hand des Feindes. Vielleicht hatte er auch eine Absprache mit den Adrac, so wie Nonac gefühlte hundert Jahre vorher.
„Mr. Sohral?“ wandte Sanawey sich an den Vulkanier.
„Ich kann Ihnen die notwendigen Daten für ein solches Manöver berechnen“, erwiderte Sohral. „Aber ich bin kein Steuermann. Tworek dagegen hat allein ein kleines Schiff jahrelang durchs All gesteuert“, fügte er noch hinzu, als ob das schon ausreichen würde.
Sanawey seufzte. Er war nicht bereit Tworek ans Steuer zu lassen. Es musste einen anderen Weg geben.
„Captain, die Adrac sind in zehn Sekunden in Waffenreichweite“, rief Real ihm die Wirklichkeit ins Gedächtnis. Nur ein Treffer mit ihren Waffen würde ausreichen, um der Republic
den Rest zu geben. Und die Waffen des Sternenflottenschiffes funktionierten nicht.
Nun hatte das Schicksal wohl doch für Tworek gespielt. Jetzt hatte er die Gelegenheit zu zeigen auf welcher Seite er stand.
„Mr. Tworek, übernehmen Sie das Steuer und bringen Sie uns hier raus“, entschied Sanawey ohne weiteres Zögern.
Der Halbvulkanier hatte bereits neben der Steuerkonsole ausgeharrt und saß nun sofort. Blitzschnell flogen seine Finger über die Konsole und gaben Befehle ein. Der Captain vermerkte sich dies in seinem Hinterkopf. Tworek hatte mitgedacht. Und der Crew nun ein oder zwei wertvolle Sekunden geschenkt.
Sanaweys Blick hing am Bildschirm fest. Allein mit seinen Gedanken wollte er die Annäherung der Adrac noch um einige Sekunden verzögern.
Plötzlich fing das All vor den Adrac an zu flimmern und ein klingonischer Bird-of-Prey enttarnte sich bei voller Impulsgeschwindigkeit. Seine Flügel waren in Angriffsformation. Der Anblick erinnerte Sanawey an einen Raubvogel, der auf sein Opfer herabstieß. Und genauso verhielt sich der Bird-of-Prey. Seine Flügel eröffneten das Feuer auf das vorderste Adrac-Schiff. Und dann traute Sanawey seinen Augen kaum. Der Bird-of-Prey feuerte mit einer Adrac-Waffe. Mit einem Feuerball explodierte das vorderste Adrac-Schiff schon beim ersten Treffer. Das klingonische Schiff schoss durch die Feuerwolke hindurch und war dann verschwunden. Sanawey wusste natürlich, dass sie sich wieder getarnt hatten. Und dass sie nun in der Schuld dieser Piraten standen, denn sie hatten ihnen weitere Sekunden geschenkt.
Die Republic
beschleunigte nun ihrerseits und ging sofort auf Warpgeschwindigkeit. Damit hatten weder die Adrac noch die Kabrani gerechnet. Sie verloren das Sternenflottenschiff aus ihrem Sensorenbereich.
Kolar Nabac spürte wie die Spitze des Messers in ihn drang und seine Organe zerschnitt. Zuerst waren es ungeheure Schmerzen, aber dann ließen die Schmerzen nach. Es war als würde die Zeit still stehen. Völlig unbeteiligt sah er hinunter und sah das Messer in seinem Bauch stecken. Was war nur geschehen, dass es jetzt diese Wende gab? Es war doch alles so gut gelaufen.
Langsam ging er in die Knie. Ein wenig Blut lief die Wunde heraus. Nur wenig. Das Messer steckte noch in ihm und verschloss die Wunde. Aber er wusste, rausziehen konnte er es nicht mehr. Die Adrac-Messer besaßen Widerhacken, die es dem Opfer unmöglich machten, das Messer wieder zu entfernen, ohne sich damit weitere furchtbare Verletzungen zuzufügen. Nie hätte er geglaubt, selbst einmal das Opfer zu sein.
Erinnerungen stiegen in ihm empor. Die letzten Wochen liefen noch einmal vor seinem inneren Auge ab. Das Piratenschiff, das sich bei ihm gemeldet hatte, um ihm einen Handel vorzuschlagen. War dies bereits sein erster Fehler gewesen? Hätte er ihn noch korrigieren können? Der Handel erschien so einfach. Die Republic
gegen eine Adrac-Waffe. Es war ein perfekter Deal. Er hatte kaum Risiken. Und die Waffe hätte er ohnehin niemals übergeben.
Dann die Falle mit Nonac. Ein perfekter Köder. Die Republic
war ein leichtes Ziel. Aber die Zahl der Besatzungsmitglieder hatte nicht gestimmt. Dieser Pirat hatte gelogen.
Dafür wollte er ihn noch töten, fiel ihm wieder ein. Er musste das unbedingt noch erledigen.
Danach kam er mit den Sklaven heim. Doch anstatt eines triumphalen Empfanges wurde er von seinen Führern nur mit Schimpf und Schande bedeckt. Die Götter hätten diesen Einsatz niemals befohlen, sagten sie. Und dass ein treuer Adrac niemals ohne Anweisung der Götter handeln würde. Dann waren die Sklaven in die Mine geschickt worden und er war weiterhin ein einfacher Kolar geblieben. Und dann kam die Anweisung der Götter, den Menschen zur Flucht zu verhelfen, um sie dabei zu vernichten. Es sollte aussehen, als wäre das Föderationsschiff bei einem Zwischenfall im All zerstört worden. Es durfte keine Hinweise auf die Adrac geben. Ebenso wie die Republic
sollte das Piratenschiff zerstört werden. Manchmal gaben die Götter etwas seltsame Anweisungen.
Wieso gingen die Götter immer davon aus, dass die Piraten mit den Menschen unter einer Decke steckten? Nur weil der Piratencaptain selbst auch ein Mensch war? Eine Antwort darauf hatte er bis heute nicht gefunden. Aber es hatte sich gezeigt, dass die Anweisungen der Götter wie immer richtig waren, denn es wurde ein Erfolg. Zumindest fast. Die Piraten kamen den Menschen zu Hilfe, obwohl er die Beziehung zwischen den Piraten und den Sternenflottenoffizieren überhaupt nicht verstand. Was für eine Verbindung gab es da?
Darum musste er sich auch noch kümmern.
Doch anstatt Sternenflotte und Piraten zu vernichten entkamen alle. Und die Piraten erbeuteten auch noch eine Waffe. Kaum auszudenken, was geschehen würde, wenn sie diese an die Föderation weitergeben sollten. Dann würden diese wohl mit einer Flotte über die Adrac herfallen.
Er musste die Götter warnen.
Ein Glück, dass die Kabrani sich der Sache angenommen hatten. Die Sklaven waren wieder in die Hände der Adrac gefallen. Sie würden ihr restliches, jämmerliches Leben lang bereuen, dass sie überhaupt an Flucht gedacht hatten. Aber die Republic
-Crew war entkommen. Und der Verräter Terac. Das war eine schwere Schande. Doch irgendwann würde er sie alle erwischen und töten. Dann würde er als Held zu seinem Volk zurückkehren.
Aber zuerst musste er dieses Messer loswerden. Schließlich hinderte es ihn daran, sich richtig frei bewegen zu können.
Die Schwärze vor Augen wurde immer schlimmer. Er musste wohl müde sein. Vielleicht sollte er erst mal eine Weile schlafen und sich ausruhen, bevor er sich daran machte, seine bevorstehenden Aufgaben zu erledigen. Nur ein wenig hinlegen. Ein bisschen Schlafen. Ein kleines bisschen.
Seine Gedanken arbeiteten immer langsamer. Als ob er unter dem Einfluss von Drogen stehen würde. Er musste erst wieder einen klaren Kopf bekommen. Er brauchte erst etwas Ruhe. Etwas Schlaf.
Langsam, wie in Zeitlupe kippte er vornüber. Dann war er tot.
Im Besprechungsraum, ein Deck unter der Brücke, herrschte Schweigen. Die Berichte über die Verluste lagen auf dem Tisch, ein Bericht zu jedem Toten. Sanawey, Jackson und Real saßen um den Tisch und starrten die Pads an.
Seit einigen Stunden waren sie unterwegs. Die wichtigsten Systeme funktionierten wieder. Zwar war das Schiff noch immer feuergefährlich wie eine Ölraffinerie, aber wenigstens bewegten sie sich. Ihr Ziel war die Erde. Das Schiff benötigte eine komplette Überholung. Um die Wissenschaftler auf Vandros IV musste sich ein anderes Schiff kümmern. Die Republic
war dazu nicht mehr in der Lage. Und seit sie unterwegs waren arbeiteten die drei auch hier an ihren Berichten. Für die Akten und für die Angehörigen, die ja auch noch über den Tod ihrer Lieben informiert werden mussten.
Sanawey legte einen Bericht auf die Seite und rieb sich die müden Augen. Er war erschöpft, was nicht nur an dieser Tätigkeit lag. Die Strapazen der Gefangenschaft hingen ihm noch immer nach. Sein Gesicht war blass. Er wirkte ernster als sonst, was auch daran liegen konnte, dass er mit seinen kurzen Haaren ungewohnt und seriöser aussah. Seine langen Haare hatte er nach den unhygienischen Verhältnissen in der Mine nicht mehr retten können.
Die momentane Arbeit tat ihr übriges. Dies war das Schlimmste an seinem Job, darüber war er mit sich selbst einig. Und mit allen andern Captains der Sternenflotte. Es gab nicht grausameres, als Berichte für die Angehörigen zu fertigen, in denen der Tod ihrer Söhne, Töchter, Geschwister, Eltern oder Ehegatten erklärt werden musste. Denn jeder dieser Berichte stand für ein zerstörtes Leben, riss ein Loch in die Familien, das nie wieder ausgeglichen werden konnte.
Auch Jackson und Real lehnten sich erschöpft zurück.
„Es sind so viele Tote“, sagte Sanawey leise. „Und wozu? Wir haben die Sklaven nicht einmal retten können.“ Er war müde und frustriert. Und enttäuscht über die eigenen Leistungen. Sie waren bis an ihre Grenzen gegangen und darüber hinaus, und doch standen sie am Ende mit leeren Händen da. Ihre Leidensgenossen, mit denen sie geflohen waren, würden ein grausames Schicksal erleiden müssen, bis sie starben, dessen war er sich sicher. Ohne Hoffnung auf eine weitere Fluchtmöglichkeit. Die würde es wohl nicht mehr geben.
Mit einem leisen Seufzen glitt die Tür auf und Tworek trat ein. „Captain, ich habe etwas für Sie. Sohral hatte es in der Datenbank gefunden. Er dachte, es würde Sie interessieren.“
Nickend nahm der Captain das Pad entgegen. Es waren die Daten von Hibbert. Seine Lebensdaten, die bei der Föderation gespeichert waren. Geburtsdatum und Ort, die Schulen, die Ausbildung bei der Sternenflottenakademie, die Noten, die Schiffe, auf denen er stationiert gewesen war. Aber es waren nur Daten und Fakten. Nichts, das etwas über diese Person aussagte, wer er war, wie er gelebt hatte, was seine Träume gewesen waren. Es war eine ziemlich unpersönliche Zusammenstellung von Fakten. „Er war tatsächlich auf der Mandela
, als sie verschwunden war“, überlegte Sanawey laut. „Und seinen Daten zufolge war er tatsächlich so stark, sowohl psychisch als auch physisch, um in der Hölle der Mine lange überlebt haben zu können.“ Langsam sah er auf und blickte Tworek an. Sein wildes, klingonisches Aussehen stand in krassem Widersatz zu seinem völlig ruhigen Verhalten. „Ich wollte ihm nicht glauben. Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich hoffe er kann mir das verzeihen“, sagte Sanawey leise.
„Ich denke, das wird er“, erwiderte Tworek schlicht und ließ wieder ein wenig Emotionen durchblicken. Offenbar hatte er die doch.
„Captain, eine eintreffende Nachricht für Sie“, zerriss plötzlich Nerres Stimme die ehrfürchtige Stille, die im Raum herrschte.
„Schalten Sie sie hierher durch.“ Sanawey wandte sich langsam dem Bildschirm hinter sich zu. Dort erschien das Gesicht von Terac. Er war über einen Tisch gebeugt und hantierte mit irgendwelchen Geräten herum. Es sah so aus, als ob er eine Nachricht verschicken wollte, von der niemand auf seinem Schiff etwas merken sollte.
„Terac“, freute sich Sanawey sichtlich. Er war davon ausgegangen, dass er wieder in die Hände der Adrac gefallen und exekutiert worden war.
„Captain, wir haben nicht viel Zeit.“ Terac sprach leise. „Sie haben mein Leben gerettet, deshalb denke ich, haben Sie eine Erklärung verdient. Ich habe schon vor einiger Zeit Kontakt zu den Piraten von Captain Craigs hergestellt. Noch während ich eine der Wachen der Mine war. Das war gefährlich, aber meine einzige Chance dort herauszukommen. Ich erzählte Ihnen doch von den wenigen Adrac, die intelligenter sind als der Rest. Wie Sie sicher schon vermutet hatten bin ich einer von ihnen. Deshalb wollte ich weg. Ich wollte nicht nur ein willenloser Diener unserer Götter sein. Ich brauchte nur noch eine Möglichkeit von dem Planetoiden wegzukommen. Das waren Sie. Sie haben mir geholfen. Aber mein Ziel waren weiterhin die Piraten. Ich wollte nie mit Ihnen zu Ihrer Föderation, denn dort wäre ich nur ein Gefangener des Feindes gewesen. Und mein Volk verraten wollte ich nie, nur in Freiheit leben. Die Piraten gestatten mir das. Sie haben mich von dem Planeten der Gefangenen abgeholt, kurz bevor die Adrac gekommen waren, um sich ihre Sklaven zurückzuholen. Es gibt also keinen Grund für Sie, mich in Gefahr zu vermuten.“
Sanaweys Freude Terac wieder zu sehen wich immer mehr der Ernüchterung nur benutzt worden zu sein. Erneut stieg Zorn in ihm auf. Zu viel war in den letzten Tagen schief gegangen. Über zu viel hatte er die Kontrolle verloren, teilweise ohne es gemerkt zu haben. Von zu vielen war er manipuliert und benutzt worden. „Woher wissen wir, dass Sie die Wahrheit sagen und nicht zu dieser Aussage gezwungen wurden?“
„Es ist die Wahrheit. Akzeptieren Sie das. Ich habe aber noch eine Information für Sie. Die Piraten haben es geschafft den Adrac eine Waffe zu entwenden. Sie ist auf dem Schiff installiert worden. Und noch etwas. Captain Craigs kann Sie gut leiden.“
Dann brach die Verbindung ab. Sanawey starrte auf den dunklen Bildschirm. Dann schleuderte er das Pad, das er noch immer in der Hand hielt, wütend gegen den Bildschirm.
Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte heiß und erbarmungslos auf die baumlose Stadt nieder. Die Temperaturen waren so hoch, das es jeder vermied, sich im Freien aufzuhalten. Es war Hochsommer und das Thermometer kletterte jeden Tag auf neue Rekordhöhen. Droga hasste diese Hitze, die hier herrschte. Sie war eindeutig zu hoch für die humanoiden Xindi. Sie drückte einem den Schweiß aus allen Poren und ließ die Gedanken langsam werden. Ihm war nur zu deutlich bewusst, wieso sich der Rat ausgerechnet auf diesem Planeten befand. Diesen Planeten wollte keine der fünf Xindi-Spezies haben. Was auch kein Wunder war. Er bestand hauptsächlich aus Hitze, trockenem Sand und heißen Winden. Wer wollte hier schon freiwillig leben? Zum Glück waren die Gebäude klimatisiert und damit erträglich. Und normalerweise verließ niemand während eines so heißen Tages die gekühlten Räumlichkeiten.
Doch Droga hatte unbedingt raus gemusst. Raus aus dem Gebäude und an die frische Luft. Er hatte das Gefühl gehabt, die Wände würden ihn erdrücken und ihm den Atem nehmen. Zwar hatte er feststellen müssen, dass ihm dann die Hitze hier draußen noch deutlicher den Atem nahm, doch fühlte er sich trotzdem freier und leichter. Die Nachrichten, die er täglich erhielt, wurden einfach nicht besser. So hatte er immer noch keine Rückmeldung seiner Regierung zu seinen Dienstjahren hier im Rat erhalten. Das war ein andauernder Stachel in seinem Fleisch, gegen den er nichts tun konnte. Und dann war da noch dieses fremde Volk an den Grenzen des Xindi-Reiches. Endlich, nach vielen Jahren, war es ihnen gelungen, die Identität der mysteriösen Spezies zu ergründen. Er hatte fast nicht mehr zu hoffen gewagt, dass das noch passieren würde. Es war in jedem Falle ein Erfolg, wenn auch nur ein kleiner. Denn viel war es nicht, was der Geheimdienst in Erfahrung hatte bringen können.
Diese Spezies nannte sich selbst Adrac. Dabei handelte es sich um Reptilwesen, deren Besonderheit die Augen waren. Sie hatten Facettenaugen, ein eigentlich typisches Merkmal von Insekten. Es war eine ungewöhnliche Kombination der Eigenschaften. Ein Beweis für die Kreativität des Lebens und der Evolution. Doch damit endeten bereits ihre Erkenntnisse über dieses Volk. Sie wussten nichts von dessen Größe, deren Technologie oder deren Einstellung anderen Völkern gegenüber. Sie hatten nun einen Namen, mehr nicht. Und Namen waren Schall und Rauch. Sie waren kaum weiter als vor diesem Erfolg. Es war zum aus der Haut fahren.
Viel schlimmer als dieses erkenntnisreiche Nichts war jedoch die Tatsache, dass es während den Nachforschungen so extrem viele Pannen gegeben hatte. Die Untersuchungen dieser Pannen waren noch nicht abgeschlossen, doch erhärtete sich der Verdacht, dass die Xindi-Insektoiden die Nachforschungen absichtlich sabotiert hatten. Das wäre eine Ungeheuerlichkeit, sollte sich das bestätigen. Die Insektoiden waren eine der fünf Xindi-Spezies. Große, aufrecht gehende Insekten, relativ intelligent und ziemlich aggressiv. Sie hatten sich zeitgleich mit allen anderen Xindi-Spezies entwickelt, unterschieden sich aber trotzdem nicht nur äußerlich von den anderen Xindi-Rassen. Sie hatten mit einer Lebensdauer von knapp zwölf Jahren eine schnelle Generationenfolge und waren damit anpassungsfähiger als die anderen. Außerdem war bei ihnen der Glaube an die Individualität des Einzelnen nicht sonderlich hoch ausgebildet. Für sie stand das Volk an erster Stelle. Diesem galt es zu dienen und es zu erhalten. Wenn dabei einzelne Insektoiden geopfert werden mussten, dann war dem eben so. Sie bildeten einen Schwarm, ähnlich einem Bienenvolk. Ihr ganzes Handeln richtete sich danach. Wenn sie also wirklich die Untersuchungen sabotiert hatten, dann lag das nicht am Ehrgeiz eines Einzelnen, sondern dann schienen sie darin eine Notwendigkeit zu sehen, die das ganze Volk der Insekten betraf. Und das machte die ganze Sache noch mysteriöser.
Für Droga wäre die Bestätigung einer Sabotage auch ein persönlicher Rückschlag. Er hatte immer davon geträumt, die Xindi zu einen, sie in eine gemeinsame Zukunft zu führen. Doch wenn die Xindi nun schon untereinander Sabotage betrieben, dann war die Kluft zwischen ihnen größer als er gedacht hatte. Niemals hätte er eine solche Tat für möglich gehalten. Eine Zusammenarbeit zu verweigern, das war eine Sache. Den anderen aber auch noch mutwillig und vorsätzlich zu schaden, das war schon etwas ganz anderes. Wieder einmal befürchtete er, dass es wohl doch unmöglich war, die Xindi zu einen. Vielleicht waren sie ja wie Kinder, die zwar in einem gemeinsamen Nest geboren und aufgewachsen waren, die nun aber ihre eigenen Wege gehen mussten, jeder für sich. Unabhängig voneinander. Er hoffte es nicht, denn eine Trennung wäre ein Verlust für jede Spezies gewesen.
Doch es gab auch noch gute Nachrichten. Er hatte erfahren, dass die Menschen aus der Gewalt der Adrac hatten fliehen können. Sie waren mit ihrem Schiff in Richtung Heimat aufgebrochen. Vielleicht würden sie diesen Bereich des Alls zukünftig meiden. Damit wäre eine Konfrontation zwischen den Xindi und der Föderation vorerst vom Tisch. Und das war in jedem Falle eine gute Nachricht.
Vor dem Aussichtsfenster der erdorbitalen Raumstation stand Karja ganz alleine mit einem Sektglas in der Hand und starrte hinaus. Sie waren vor einigen Stunden auf der Erde angekommen. Bereits unterwegs waren ihnen erste Eskortschiffe entgegen gekommen. Ein Großteil der Crew war dann umgestiegen, um dort sowohl von Ärzten als auch von Psychologen weiter und besser betreut zu werden. Nur eine Restcrew war an Bord geblieben, um das Schiff bis zur Erde zurückzubringen. Sanawey hatte dies unbedingt selbst durchführen wollen. Er wollte nicht, dass eine Ersatzcrew das machte. Es war sein Schiff, er trug die Verantwortung dafür. Somit würde auch nur er es nach Hause bringen. Und Karja hatte es durchsetzen können, bei ihm zu bleiben.
Nun lag die Republic
schwer beschädigt im Raumdock und musste von Experten erst einmal untersucht werden. Es musste sich erst noch herausstellen, ob sich eine Reparatur noch lohnen würde. Sie hoffte es, obwohl sie selbst kein Mitglied der Crew war. Doch die Republic
war ihr in den wenigen Monaten so etwas wie eine Heimat geworden.
Über ihre Zukunft und wie ihr Leben nun weiter gehen sollte, hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Sie wusste nur, nach diesen Erlebnissen würde es nie mehr so sein wie früher. Und was kommen würde, das interessierte sie im Moment auch nicht. Die nächsten Wochen würde sie ohnehin in psychologischer Betreuung verbringen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Alleine konnte sie die Geschehnisse nicht verarbeiten.
In Gedanken ging sie jetzt für sich noch einmal die vergangenen Wochen durch. Es war die Hölle für sie gewesen und doch musste sie noch einmal alleine daran denken, bevor sie es mit Psychologen zusammen aufarbeiten konnte. Der Verrat ihres Freundes Rick Lescott. Sie konnte es noch immer nicht richtig glauben. Ihr eigener Freund, den sie so sehr geliebt hatte. Und der sie liebte, da war sie sich doch so sicher gewesen. Verraten und verkauft, im wahrsten Sinne des Wortes. Hätte Remog sie nicht errettet, sie wäre wohl verloren gewesen. Wer weiß schon in welchen Teil der Galaxie es sie verschlagen hätte, wenn sie verkauft worden wäre. Sie wäre wohl nie wieder frei gekommen. Und Remog hatte seine Tapferkeit mit dem Leben bezahlt. Ebenso wie Benjamin Since. An ihn musste sie am meisten denken. An den großen Offizier, der sie in Sicherheit brachte. Und der in ihren Armen gestorben war. Wegen ihr. Sie musste wieder an den langen dunklen Gang denken. Als er vor ihr ging. Big Ben. So nannten ihn seine Freunde. Und so stellte er sich ihr vor. Big Ben. Schade, dass sie ihn nicht besser kennen gelernt hatte. Das bedauerte sie wirklich. Wie gern wäre sie noch mit ihm essen gegangen, so wie sie es ihm versprochen hatte. Aber das war jetzt leider nicht mehr möglich.
„Ich danke dir, Big Ben“, sagte sie leise und mit Tränen in den Augen zu den Sternen. „Ich stehe für immer in deiner Schuld. Ich werde immer an dich denken.“
Sie hob ihr Sektglas und prostete damit den Sternen zu.
Das Ende der Zukunft
Teil 2
Das Ende vor Augen
EINS
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages leuchteten im Westen am Horizont. Der Himmel und die langsam dichter werdende Wolkendecke färbten sich blutrot. Das ganze westliche Firmament erstrahlte in den verschiedensten Rottönen. Fast konnte man das Gefühl bekommen, der Himmel habe seine Pforten geöffnet um all seine Weisheiten und seine Güte den Menschen zu offenbaren. Doch genauso schnell wie dieser berauschende Anblick an das Firmament gezaubert wurde verblasste die Illusion auch wieder. Die Farben verloren an Intensität. Die Dunkelheit kroch weiter auf den Horizont zu, um schließlich nur noch einen matten Schein der noch vor wenigen Minuten strahlenden Schönheit übrig zu lassen. Und mit der einsetzenden Dunkelheit kam kühler Wind auf, der sanft über die Straßen und Plätze wehte.
Es waren die ersten Frühlingstage, die den nahenden Wetterumschwung ankündigten. Die Tage waren bereits angenehm warm, doch sobald die Sonne untergegangen war merkte man wie es sofort kühler wurde.
Die letzten verbliebenen Blätter des Herbstes einer nahen Kastanie wurden über den Platz vor dem Hauptquartier der Sternenflotte geweht. Sie tanzten in den Windböen. Mal schien es als hingen sie wie Wolken in der Luft, leicht schaukelnd zu Boden tanzend, dann wieder wurden sie von kurzen Böen erfasst und ruckartig nach oben gezogen, nur um danach wieder sanft zur Erde zu fallen.
Ein leises Quietschen ertönte, als sich die Eingangstür zum Hauptquartier auseinander schob und zu erkennen gab, dass sie durchaus mal wieder einen Tropfen Öl vertragen konnte.
Sanawey, Captain des Raumschiffes Republic
, verließ das Gebäude eiligen Schrittes. Seine silberfarbenen, kurzen Haare schienen im Licht des Eingangsbereichs zu leuchten und bildeten einen auffälligen Kontrast zu seiner bronzenen Haut.
Nach einigen Metern blieb er unweit des Kastanienbaumes stehen, stemmte die Hände in die Hüften und atmete tief durch. Er spürte, wie sich die Uniform über seinen Brustkorb spannte. Mit einem geübten Griff lockerte er den obersten Knopf.
„Sieh an, brauchst du etwa auch frische Luft?“ hörte er eine vertraute Stimme. Er sah, wie sich eine Person aus dem dunklen Schatten des Baumes löste und auf ihn zukam.
„Hallo Wendy“ grüßte er sie, ohne sie anzusehen. Nochmal atmete er tief durch und spürte, wie die kühle Luft in seine Lunge strömte. „Wenn ich noch länger drin geblieben wäre, dann wäre ich geplatzt.“
„So schlimm?“
Schwang etwa Belustigung in ihrer Stimme mit? Sanawey wandte nun doch seinen Kopf zu ihr und sah sie an. Im Dämmerlicht konnte er zwar ihren Lockenkopf erkennen, doch wirkte er nun dunkel. Der Kupferstich ihrer Haare wurde bereits von der Dunkelheit verschluckt. Nur ihre Uniform ließ noch ein wenig die rote Farbe erkennen. Und die Rangabzeichen glänzten im schwachen Umgebungslicht.
„Wenn ich noch ein Seminar über moderne Führungsoffiziere besuchen muss, dann gibt es hier ein Massaker“ brummte er. Die kühle Luft strich ihm über die Haut und brachte wenigstens äußerlich seine Temperatur auf normal zurück.
„Als Captain musst du das aber alles wissen“ gab Wendy zurück und dieses Mal war die Spitze absolut nicht zu überhören.
Sanawey schnaubte. „Wenn ich mich so verhalte wie das diese sogenannten Experten sagen, dann bist du die erste, die sich beschwert.“ Er atmete nochmals tief durch, dann lächelte er und meinte: „Auf welchem Lehrgang warst du denn heute?“
Es war zwar schon dunkel, aber trotzdem konnte er fast sehen, wie Wendy das Gesicht verzog. „Risikomanagement.“ Ihre Stimme verriet ihre Verachtung dafür. „Wie kann ich Risiken in meinem Arbeitsumfeld erkennen und minimieren um damit die Effizienz zu steigern
“, zitierte sie die Kernaussage ihres Lehrganges. „Wenn ich so arbeiten würde, dann bräuchten wir keine Klingonen mehr, dann könnten uns selbst die Tellariten fertig machen. Was glauben die eigentlich?“ empörte sie sich. „Haben wir bisher alles falsch gemacht? So wie die Admiräle und ihre Berater sich aufführen, haben wir bisher nichts richtig gemacht. Wie können diese aufgeblasenen Möchtegerns uns sagen, wie wir unseren Job machen sollen? Diese Typen haben doch noch nie unser Sonnensystem verlassen. Die wissen doch gar nicht, wie es da draußen wirklich zugeht. Prozesse, wenn ich das schön höre. Was interessiert mich irgendein zertifizierter Prozess, wenn wir in der Klemme steckten? Das ist so lächerlich.“
Sanawey hörte schweigend zu. Er sagte nichts dazu. Was sollte er auch? Diese Diskussion hatten sie in den letzten Wochen schon des Öfteren geführt. Seine Chefingenieurin hatte recht, doch konnte er im Moment kaum etwas dagegen tun. Als sie nach ihrer Auseinandersetzung mit den Adrac zur Erde zurückgekehrt waren und er von diesen neuen Ideen zur Arbeitsoptimierung gehörte hatte, da wollte er etwas tun, um diese auch wirklich praxisorientiert zu gestalten. Er redete mit Verantwortlichen, mit Admirälen. Seine Befürchtung war, dass Akademieabgänger in Zukunft zu Fachidioten werden könnten, die in Krisensituationen nicht mehr reagieren und handeln konnten und somit ihr Leben und das ihrer Kollegen gefährdeten.
Doch niemand hatte seine Bedenken geteilt. Irgendwann hatte man ihm nicht einmal mehr zugehört. Die Sternenflotte wurde inzwischen von Bürokraten geführt. Risikomanagement, Qualitätsmanagement, Organisationsmanagement. Dies war wohl der Trend der Zeit und den Menschen, die das beherrschten, gehörte die Zukunft. Und wenn ihm das nicht gefiel, dann wurde er wohl zu alt für diesen Job.
„Nicht einmal Vulkanier sind so verbohrt und uneinsichtig“ fuhr Wendy fort. „Wann können wir endlich wieder aufbrechen und dieses Irrenhaus hinter uns lassen?“
„Über den Stand der Reparaturen solltest du am besten Bescheid wissen“, entgegnete Sanawey.
„In zwei Wochen ist die Republic
wieder einsatzbereit.“ Die Erleichterung war ihr deutlich anzuhören. Im Kampf gegen die Adrac hatte das Schiff deutliche Schäden einstecken müssen. Die Reparaturen und die Umbauten am Schiff auf den neusten Stand der Technik, der bei dieser Gelegenheit gleich mit erledigt wurde, dauerten nun schon zehn Monate.
„Es liegen aber noch keine Einsatzbefehle vor“, nahm ihr Sanawey die Hoffnung. „Offenbar haben wir noch nicht alle Fortbildungen durchlaufen.“
Wendy stöhnte auf. „Lass uns bitte nicht mehr darüber reden. Komm mit und lass uns lieber noch etwas trinken gehen. Ich lade dich ein. Das habe ich im Seminar Einschleimen bei Vorgesetzten
gelernt.“
Gemeinsam verließen sie das Gelände der Sternenflotte. Während sie durch die Straßen San Franciscos liefen unterhielten sie sich doch noch ein wenig über die verschiedenen Fortbildungen und Workshops, die sie in den letzten Wochen mitgemacht hatten. Wendy ließ ihrem Frust über die Programme freien Lauf während Sanawey sich zurückhielt. Sein kurzer Ärger war verflogen und nun ermahnte er sich wieder, dass er als Vorgesetzter nicht gegen diese Maßnahmen der Sternenflotte propagieren durfte. Es war ein Befehl von oben und die Sternenflotte war nun mal eine militärische Einrichtung, so dass er Befehlen gehorchen musste. Er musste seinen Untergebenen vermitteln, dass er hinter den Fortbildungen stand, auch wenn er ihren Sinn ebenso in Frage stellte. Dies konnte er zwar gegenüber seinen Vorgesetzten sagen, nicht jedoch vor seinen Untergebenen, selbst wenn sie sehr gute Freunde waren wie Wendy. Er musste auch gar nichts sagen, sie kannte ihn lange genug um zu wissen, was er dachte.
Als sie vor der Kneipe El Grecos
standen hatten sie schon einige Zeit nichts mehr geredet. Wendys Redeschwall wurde mit der Zeit weniger. Sie hatte sich genug aufgeregt, der Ärger war verflogen. Dazu kam, dass es mit zunehmender Dunkelheit immer frischer wurde, so dass nicht nur ihr Ärger verflogen war, sondern auch ihre innere Wärme.
„Lass uns schnell rein gehen“, sagte sie und hielt Sanawey die Tür auf. „Hoffentlich bekommen wir noch einen Platz.“
Sie traten ins Innere. Sofort schlug ihnen warme Luft entgegen. Karibische Klänge und die Stimmen vieler Gespräche stürzten sich auf ihre Ohren und hießen sie willkommen. Und natürlich war, wie um diese Zeit zu erwarten, jeder Tisch besetzt. Sie ließen ihre Blicke durch den Raum schweifen, in der abwegigen Hoffnung doch noch einen leeren Tisch zu finden. Als sich ihre Blicke wieder trafen meinte Wendy enttäuscht: „Tja, offenbar ist heute nicht gerade unser Glückstag.“
„Hallo“, sprach sie ein großgewachsener Mann an. Seine dunklen Augen leuchteten freundlich unter einem dunklen Lockenschopf hervor. Sein kantiges Gesicht wurde durchzogen von kleinen Lachfältchen. „Ihr seht aus, als könntet ihr einen Drink vertragen.“
Wendy drehte sich zu ihm um. „Hallo Raoul“, grüßte sie ihn und nahm ihn in den Arm. Nach den obligatorischen Küssen auf die Wange stellte sie ihn vor: „Sanawey, das ist Raoul, Besitzer dieser großartigen Kneipe. Und das ist Sanawey, mein Captain.“
„Der Sklaventreiber, von dem du schon öfters erzählt hast?“ Raouls Blick verfinsterte sich etwas. Und Wendys Lächeln gefror. Bevor sie etwas erwidern konnte grinste Raoul aber schon wieder sein äußerst charmantes Lächeln und hielt Sanawey die Hand hin. „Nichts für ungut, Captain, ich kann es einfach nicht lassen, sie auf den Arm zu nehmen. Willkommen in meinem bescheidenen Etablissement. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Ich habe schon sehr viel von Ihnen gehört. Und nur Gutes“, hob er beschwichtigend die Hand.
Wendy schlug ihm mit der Faust gegen seine Schulter. Und auch wenn es kein richtiger Schlag war, er war stark genug, dass auch Raoul verstand, sein Scherz kam bei ihr nicht an. „Du brauchst nicht gut Wetter bei ihm machen, du hast ohnehin keinen freien Platz mehr.“
„No, das ist nicht ganz richtig“, konterte er, ehe sie sich der Tür zuwenden konnte. „Wenn ihr nichts dagegen habt euch zu Anderen dazu zu setzen.“
Sie sah Sanawey an. Eigentlich hatte sie nach dem Seminar heute genug von der Gesellschaft anderer Personen.
„Es sind auch Sternenflottenoffiziere“, fuhr Raoul fort. Offenbar glaubte er, das wäre ein Argument doch zu bleiben. „Und ich glaube, sie sind von eurem Schiff. Wenn ich das richtig mitbekommen habe.“
„Crewmitglieder?“ Wendy verzog den Mund. „Das würde mit dem Captain ein ziemlich erzwungener Abend werden. Außerdem will ich ein paar andere Gesichter sehen, wenn ich schon mal auf der Erde bin.“
„Es ist eine äußerst attraktive junge Frau. Eine First Nation“, fuhr Raoul unbeirrt fort. „Und ein..“, er zögerte kurz „..Klingone. Ich wusste nicht, dass auch Klingonen in der Sternenflotte dienen.“
Wendy sah Sanawey unentschlossen an. Sie hätte sich gerne dazu gesetzt, war sich aber nicht sicher wie Sanawey dazu stand. Der meinte lächelnd: „Du wolltest unbedingt noch hierher. Und ich glaube, zu den beiden können wir uns dazu setzten.“
Sie nickte. „In Ordnung, Raoul. Zeig uns den Tisch. Ich habe sie nicht gesehen. Du etwa?“
„Nein“, schüttelte Sanawey den Kopf.
„Aber gerne.“ Raoul machte eine einladende Geste. „Folgt mir.“ Er führte die beiden durch den vollen Raum. Im Eck, halb hinter einer Säule versteckt, saßen die beiden Beschriebenen. Sie gaben ein ungewöhnliches Gespann ab. Sie, die grazile Indianerin, schön und anmutig. Er, der äußerst seltsame Mischling, äußerlich mehr Klingone als Vulkanier, mit den typischen Stirnhöckern und den langen Haaren. Diese hatte er geglättet und zusammen gebunden, so dass seine spitzen Ohren zu sehen waren, das einzige äußere Anzeichen auf seine vulkanische Seite. Die Schöne und das Biest, musste Sanawey spontan an den Klassiker denken. Die beiden waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie Sanawey und Wendy erst bemerkten, als sie direkt vor ihnen standen.
„Dad. Hallo“, brachte Karja etwas überrascht hervor. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet ihren Vater hier zu treffen.
Tworek erhob sich sofort. „Captain“, grüßte er.
„Bleiben Sie sitzen, wir sind schließlich nicht im Dienst“, winkte Sanawey ab. Er war sich jedoch bewusst, dass er noch immer seine Uniform trug und damit einen entsprechenden Eindruck machte.
„Hier gibt es keine anderen freien Plätze mehr“, erklärte Wendy freundlich. „Deswegen wurden wir hierher gelotst. Wir werden aber sofort wieder gehen, wenn es Ihnen unrecht ist.“
„Nein“, kam es von beiden zeitgleich.
„Setzen Sie sich“, lud Karja sie ein, während Tworek sich wieder auf seinen Stuhl niederließ.
„Wir haben uns gerade über unseren morgigen Tag unterhalten“, sagte Karja, als die beiden sich gesetzt hatten.
„Ist morgen etwas Besonderes?“ wollte Wendy Brooks wissen.
„Wir hatten heute unseren letzten Tag an der Akademie. Bis zu den Prüfungen in einer Woche haben wir nun frei. Und bevor wir mit den Vorbereitungen darauf beginnen, wollten wir uns morgen noch ein paar Sehenswürdigkeiten anschauen. Tworek war noch nie auf der Erde. Und auch ich war früher nur einmal drei Tage hier. Gesehen hab ich dabei nichts.“
„Und bisher hat das auch nicht geklappt?“ frage Wendy ungläubig. „Wir sind seit fast einem Jahr hier.“
„Unser Lehrplan hatte das nicht vorgesehen“, meine Tworek ruhig.
„Immerhin mussten wir unseren Sternenflottenabschluss in einem statt in drei Jahren machen“, ergänzte die Indianerin.
Bevor Karja fortfahren konnte kam Raoul zurück und brachte Sanawey und Wendy ihre Getränke. Danach verschwand er auch sofort wieder. Die Anzahl der Gäste ließ ihm keine Pause. Worüber Sanawey ganz froh war. Neben diesem muskulösen Mexikaner kam er sich etwas alt und untrainiert vor.
Als Raoul außer Hörweite war raunte Karja Wendy zu: „Er sieht ja verdammt gut aus.“
„Stimmt“, grinste die Chefingenieurin der Republic
zurück und ihre Augen leuchteten.
Sanawey verdrehte die Augen. Um das Gespräch von vorhin wieder aufzunehmen frage er: „Wo wollt ihr morgen denn überall hin?“
„Das hängt ein bisschen davon an, wie lange wir an den einzelnen Orten bleiben.“
„Karja wollte sich nicht an einen von mir erstellten Zeitplan halten.“ Es klang fast entschuldigend wie Tworek das sagte.
Jetzt war es Karja, die die Augen verdrehte. „Nein, will ich nicht.“ Dann wandte sie sich wieder an Wendy und ihren Vater. „Zuerst schauen wir uns die Halle der Unterzeichnung an, den Ort, an dem die Föderation gegründet wurde. Dann fahren wir nach Montana zum Zafran Cockran Denkmal. Dort machen wir das ganze Programm mit. Die Besichtigung des Raketensilos des ersten Warp-Schiffes, dann den Platz des ersten Kontaktes. Ich bin schon ganz aufgeregt. Danach geht’s nach Paris zum Sitz des Föderationspräsidenten und zum Eifelturm. Außerdem würde ich gerne noch nach Rom, an die chinesische Mauer und ins Smithsonian Museum.“
„Zur Phönix
?“ frage Wendy und bei den Erinnerungen an ihren ersten Besuch des Warp-Schiffes von Zafran Cockran lief ihr ein Schauer über den Rücken.
„Ja. Sie haben es schon gesehen?“
„Mehrmals. Das Schiff war der Grund, weshalb ich Ingenieurin wurde.“
„Das ist ein ziemlich ehrgeiziger Plan für morgen“, stellte Sanawey fest. „Das werdet ihr kaum an einem Tag schaffen.
„Ich weiß. Wir haben aber nur diesen einen Tag. Danach sollten wir uns auf die Prüfungen vorbereiten. Auch wenn wir bereits Praxiserfahrung haben, es wird sicher nicht einfach. Für mich nicht. Tworek wird das wohl im Schlaf schaffen. Ich weiß nicht, warum Vulkanier und Halbvulkanier überhaupt Prüfungen ablegen müssen.“ Sie stieß Tworek belustigt in die Seite.
Nachdem Sanawey und Wendy dazu gestoßen waren hatten sie etwas zusammenrücken müssen, so dass sie nun alle eng beieinander um den Tisch saßen. Während Sanawey sie nun so sah bekam er ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Seine Tochter und Tworek? Die beiden hatten in den letzten Monaten sehr viel Kontakt zueinander. Zwangsläufig. Sie waren die beiden einzigen Sternenflottenkadetten, die ihre Ausbildung in einem Jahr durchziehen mussten. Der Sternenflotte hatte es nicht sonderlich gefallen, dass auf der Republic
zwei in ihren Augen Zivilisten Dienst taten. Die Admiräle bestanden darauf, dass Karja und Tworek die Akademie durchliefen oder das Schiff verließen. Nach der Ausbildung wären sie, wie jeder andere Absolvent, auf irgendein Schiff versetzt worden. Aber weder Tworek noch Karja waren daran interessiert. Eher hätten sie der Sternenflotte den Rücken gekehrt und wären wieder als Vagabunden durchs All gezogen. Und Sanawey wollte seine Tochter nicht wieder verlieren. Er kannte sie ja eigentlich noch nicht lange. Mit viel Überredungskraft und dem Einfordern von diversen Gefallen hatte Sanawey es schließlich geschafft, die Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass die beiden eine verkürzte Ausbildung durchliefen, die mit ihren Praxiserfahrungen begründet wurde. Für die Prüfung selbst wurde zwar keine Sonderbehandlung vereinbart, doch nach Bestehen durften sie auf die Republic
zurückkehren. Diese Zusage hatte die Sternenflotte nur gegeben, weil der Zeitplan für die Reparatur des Schiffes genau das Jahr der Ausbildung umfasste. Zudem würden die ersten beiden Dienstjahre als eine Art Praxissemester angesehen werden. Erst danach waren sie offiziell Sternenflottenoffiziere.
Hatte dieses eine Jahr aus den beiden etwa mehr gemacht als Kollegen, die dasselbe Ziel hatten? Sie hatten eine Gemeinsamkeit, die sie sonst mit niemandem teilten. So etwas schweißte zusammen.
Aber selbst wenn es so wäre, wieso machte er sich darüber Gedanken, schalt er sich selbst. Karja war selbständig und alt genug, um zu wissen was sie tat. Er musste das akzeptieren. Und dass er gar Vorurteile gegen Tworek aufgrund seiner Andersartigkeit haben konnte schockierte ihn selbst. Vielleicht hatte er aber auch nur Angst Karja zu verlieren. Obwohl das lächerlich war.
„Mr. Sheppard gibt es noch?“ hörte er Wendy lachen als er sich von seinen Gedanken befreien konnte und wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrte. „Unglaublich. Der Mann war schon alt, als ich noch Kadett war.“
Sie verbrachten noch fast eine Stunde zusammen, dann brachen sie auf. Sanawey und Wendy wollten ohnehin nicht lange bleiben und Tworek und Karja planten morgen zeitig aufzustehen, um den Tag ausnutzen zu können.
Vor der Tür verabschiedeten sie sich. Tworek und Karja hatten ihre Wohnungen in der Nähe der Sternenflottenakademie, während Sanawey und Wendy über die Stadt verteilt wohnten, wie die meisten Offiziere es vorgezogen hatten. So konnte man sich auch einmal bewegen ohne immer die gleichen Personen zu sehen. Einige hatten sich auch außerhalb der Stadt eingemietet.
Karja küsste ihren Vater auf die Wange und verabschiedete sich von Wendy mit den üblichen Küsschen, während Sanawey und Tworek sich die Hand gaben. Es war frisch geworden. Als sie die Straße entlang liefen schlang Wendy ihre Arme um sich. Sie fror etwas, versuchte aber es sich nicht anmerken zu lassen. „Das war jetzt doch noch ein netter Abend“, begann sie mit einer Floskel.
„Ja. Und ich beneide die beiden um den morgigen Tag.“
„Kann ich mir vorstellen. Ich weiß zwar nicht, was für Termine du morgen hast, aber mit einem Ausflug kann das sicher nicht mithalten.“
„Nein, bestimmt nicht. In dem Meeting morgen geht es um die aktuelle Situation in der Sternenflotte und der Föderation. Das wird eine interessante, aber langwierige Besprechung. Aber vielleicht kann ich dann schon heraushören, welchen Auftrag die Republic
als nächstes erhält.“
„Das wäre doch was.“ Wendy gähnte herzhaft und blieb stehen. „So, ich bin da. Ich wünsche dir noch eine gute Nacht.“
„Danke, wünsche ich dir auch.“ Sie nahmen sich noch kurz in den Arm. In der Vergangenheit war das eine eher unübliche Geste zwischen ihnen gewesen, obwohl sie sich bereits seit vielen Jahren kannten. Aber auf dem Schiff, wo sie sich täglich sahen und zusammen arbeiteten, machte man so etwas nicht. Im letzten Jahr hatten sie sich nicht so häufig gesehen und so hatten sie es sich angewöhnt, allerdings nur, wenn sie noch privat unterwegs waren. Trennten sich ihre Wege bereits nach Dienstende, was die Regel war, dann blieben solche Gesten natürlich aus.
Sanawey wartete noch, bis sie in der Tür verschwunden war, dann lief er alleine weiter. Er sog die kühle, frische Luft tief ein. Oft würde er dazu keine Gelegenheit mehr haben. Die Reparaturen am Schiff waren so gut wie abgeschlossen, ihr Aufbruch lag nicht mehr weit. Und auch wenn er sich inzwischen an das ruhige Leben an einem festen Ort gewöhnt hatte, so freute er sich doch wieder auf die Weiten des Alls. So richtig zu Hause fühlte er sich einfach nur zwischen den Sternen.
Vor seiner Wohnungstür ging sein Blick nochmal nach oben. Direkt über ihm sah er das Sternbild des großen Wagens leuchten.
Der Himmel war klar. Die Sterne, die den großen Wagen bildeten, waren gut zu erkennen. Es war auch das einzige Sternbild, das er kannte. Und das einen Sinn für ihn ergab. Wenn man an die einfachen Handkarren von früher dachte, dann ließ sich das durchaus da oben sehen. Aber einen Bären? Oder Waage, Löwe und die anderen Sternbilder? Auch Krieger wie Orion gab es als Sternenbilder. Für ihn allerdings unmöglich zu erkennen. Selbst wenn auf einem Bild die Linien zwischen den Sternen gezogen waren, konnte er auch mit viel Fantasie die beschriebenen Objekte nicht erkennen.
Langsam ließ er den Blick sinken. Mit geschlossenen Augen führte er ein paar Kreisbewegungen des Kopfes durch, um die Verspannung im Nacken zu lösen, die durch das in den Himmel schauen entstanden waren.
„Drake?“ hörte er eine Stimme rufen, die er nur zu gut kannte. Es war seine Mutter, die offenbar nach ihm suchte. Sie war zwar noch ein ganzes Stück entfernt, aber für ihn im Moment bereits nah genug. Eigentlich wollte er ein wenig alleine sein.
„Drake?“ rief sie wieder. Schwang da etwa Angst in ihrer Stimme mit? Das war offensichtlich etwas, das sie nie los wurde, egal wie alt er sein würde.
„Ich komme gleich“, rief er zurück, um sie zu beruhigen. Als Kind hatte er sich einen Spaß daraus gemacht sie suchen zu lassen. Aber inzwischen war er längst kein Kind mehr. Und er konnte besser verstehen, dass man sich aus der Sorge anderer keinen Spaß machte.
Er stand auf den Hügeln außerhalb San Franciscos, unweit vom Haus seiner Eltern. Als sie vor einem Jahr zur Erde zurückgekommen waren hatten seine Eltern darauf bestanden, dass er sich für die Zeit des Aufenthalts bei ihnen einquartierte. Und sie waren so hartnäckig gewesen, dass er am Ende nachgegeben hatte. Obwohl er lieber eine Wohnung in der Stadt bezogen hätte. Im Laufe des Jahres hatte er auch immer wieder eine eigene Wohnung beziehen wollen, es jedoch irgendwie nie geschafft. Es war nicht so, dass er seine Eltern nicht mochte. Er liebte sie. Aber er schätzte eine gewisse räumliche Distanz. Seine Mutter konnte stur und sehr neugierig sein. Eigenschaften, die er schon früher als lästig empfunden hatte, besonders in Kombination. Dazu kam, dass sie ihn ständig wegen dem in ihren Augen lässigen Lebenswandel ihres einzigen Kindes ermahnte. Als ob er noch immer fünfzehn wäre. Nach ihrem Willen hätte er einen anständigen Handwerksberuf erlernen und irgendwo eine Familie gründen sollen. Am besten in der Nähe. Zu allem Überfluss kam noch dazu, dass seine Eltern es absolut nicht verstehen konnten, dass er gerne ins All flog. Sie waren ihrer Heimat so verbunden, dass sie die Erde erst einmal verlassen hatten. Und damals ging es auch nur für einen Kurzurlaub auf den Mond. Und das auch nur, weil er als aufmüpfiger Junge darauf bestanden hatte. Wir sind Menschen mit Beinen zum Laufen
, hatte er noch die Rede seiner Mutter im Kopf. Hätte Gott gewollt, dass wir fliegen und durchs All reisen, hätte er uns Flügel und Sauerstoffmasken wachsen lassen. Warum sollten wir auch ins All? Wir haben hier doch alles was wir brauchen
. Inzwischen hatte er auch verstanden, dass das nicht nur ein Spruch seiner Mutter war. Sie hatte diese Einstellung wirklich. Seine Eltern waren glücklich in ihrer kleinen Welt, mehr brauchten sie wirklich nicht. Nur vielleicht einen Sohn, der ihre Ansichten teilte.
Er grinste in die Nacht hinein. Diesen Sohn würden sie mit ihm nicht bekommen.
Eine frische Böe ließ ihn frösteln. Das hohe Gras rauschte im Wind. Vor ihm lag die Pazifikküste. Die Wellenkronen kräuselten sich im fahlen Licht des Mondes, der als schmale Sichel am Horizont hing. Das Rauschen der Wellen war hier allerdings nicht zu hören. Der Wind blies auf das Meer hinaus und damit auch die Geräusche fort.
Links konnte er einige Lichter der Vororte erkennen. Es war eine schöne Stelle. Von hier aus den Sonnenuntergang zu beobachten war unvergesslich. Er mochte diesen Ort. Und doch spürte er, wie es langsam genug war. Es zog ihn wieder fort. Ein Leben an einem festen Ort, das war nichts für ihn. Ihn zog es ständig weiter. Er musste immer etwas Neues sehen, brauchte neue Herausforderungen. Ein Leben, wie es seine Eltern führten, war nichts für ihn.
Er hörte Schritte, die das Gras niedertraten und schließlich neben ihn kamen. Seine Mutter war mit seiner Antwort wohl nicht zufrieden gewesen und hatte ihn gefunden. Eine Zeit lang standen sie schweigend nebeneinander. Der kühle Wind ließ sie zittern, doch sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Sie zog ihre Strickjacke enger und starrte auf das Meer hinaus. Dann hielt sie die Stille nicht mehr aus. „Es ist schön hier, nicht wahr?“ sagte sie wie beiläufig.
Drakes Brummen sollte eine Zustimmung sein, wenn auch keine Offensichtliche. Es war gemein, das wusste er. Doch er ließ sie zappeln. Und eigentlich war sie von ihm nichts anderes gewohnt.
Wieder schwiegen sie und beobachteten, wie unten an der Küste die Wellen anbrandeten.
„Es wird kalt“, versuchte sie es wieder. „Man merkt, dass wir noch keinen Sommer haben.“
Wieder nur ein zustimmendes Brummen, wobei es Drake immer schwerer fiel nicht zu lachen. Er wusste, seine Mutter wollte etwas bestimmtes fragen oder mitteilen. Aber wenn sie das wollte, dann musste sie es auch direkt sagen. Eine Aufforderung durch ihn würde sie nicht erhalten.
„Weißt du schon, wann ihr wieder aufbrecht?“ fragte sie schließlich.
Aha, nun kamen sie der Sache schon näher. „Nein, bisher wurde das noch nicht bekannt gegeben. Ich vermute aber so in einem Monat.“
„So bald“, sagte sie leise.
Bald ist gut, dachte Reed. Wir sind nun schon seit fast einem Jahr auf der Erde. Ein so langer Aufenthalt ist für einen Sternenflottenoffizier ungewöhnlich, wenn man nicht gerade einen Schreibtischjob im Hauptquartier hatte. Doch er sagte nichts.
„Wird es wieder so eine gefährliche Mission?“ Die Sorge in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Er wandte sich zu ihr und sah sie an. In der Dunkelheit der Nacht, in der die Konturen verschwammen, sah sie noch zierlicher und zerbrechlicher aus, als sonst. Wie ein Geist, so kam es ihm vor. Sie war einen Kopf kleiner als er. Er musste sich auch erst wieder daran erinnern, dass sie vor vier Monaten ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Sicher, das war kein Alter, die meisten Menschen wurden dank der medizinischen Verhältnisse knapp einhundertzwanzig Jahre alt. Und doch war es wohl ein Alter, in dem die Menschen anfingen sich über ihre Sterblichkeit Gedanken zu machen. Befürchtete sie gar ihn nie wieder zu sehen? Aber das war ja lächerlich. Natürlich würde sie ihn wieder sehen. Nach der nächsten Mission würde er wieder vor ihrer Tür stehen, ihr und Vater auf die Nerven gehen und sich bemuttern lassen. Aber war das sicher? Bisher hatte er sich darum nie viele Gedanken gemacht, irgendwie war das einfach so. Doch wie schnell konnte es gehen, wie oft hatte er einfach nur Glück gehabt und war dem Tod entgangen? Ein einzelner Treffer konnte bei zusammengebrochenen Schilden reichen um das ganze Schiff zu zerstören. Dann hätte er keine Chance. Und während der letzten Mission wurden sie ziemlich häufig beschossen. Offenbar war die Sorge seiner Mutter nicht ganz unberechtigt.
Er nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. „Es wird keine gefährliche Mission sein“, sagte er sanft und versuchte überzeugend zu klingen. „Mach dir keine Sorgen.“
„Ich mache mir keine Sorgen“, wehrte sie in einem Anflug aus Tapferkeit ab. „Ich wollte es einfach nur wissen. Du wirst mir sicher noch für genug graue Haare sorgen.“
Er lachte. „Deine Haare sind schon alle grau. Mehr geht nicht.“
Sie ignorierte seinen Einwand und sagte: „Komm mit ins Haus. Hier draußen wirst du noch krank. Außerdem musst du morgen zur Arbeit, da solltest du zeitig ins Bett gehen.“
Bin ich zehn? schoss ihm durch den Kopf, aber er sagte nur: „Ja, Mom.“ Und so trottete er hinter ihr her zurück ins Haus und wünschte sich dabei in sein Quartier an Bord der Republic
.
Mit pochendem Herzen schreckte Reed aus dem Schlaf. Der Wecker schrillte unbarmherzig neben ihm. Um ihn herum war es dunkel. Durch das Fenster drang das fahle Licht der Dämmerung herein und ließ nur farblose Konturen erkennen. Er brauchte einige Sekunden, bis er sein Zimmer erkannte. Sein altes Jugendzimmer bei seinen Eltern, das er zur Zeit bewohnte. Und wie immer, wenn er hier übernachtete, nutzte er den alten Wecker, der statt eines sanften und nervenschonenden Weckrufes einfach nur laut war. Normalerweise störte ihn das nicht. Es gab ihm das Gefühl zu Hause zu sein. Doch heute hatte er das erste Mal seit langem wieder einen Albtraum gehabt. Nach der Rückkehr der Republic
litten die meisten Crewmitglieder unter solchen Träumen. Ein Resultat der Gefangenschaft in den Sklavenminen der Adrac. Ein Team von Psychologen hatte danach die Mannschaft betreut und Therapiepläne entwickelt. Er selbst hatte lange und ausführlich mit Counselor McKormak gesprochen. Die regelmäßigen Sitzungen halfen ihm und nach und nach waren auch die Träume verschwunden. In letzter Zeit hatte er es mit den Terminen allerdings nicht mehr so genau genommen. Einen Rückfall hatte er nicht erwartet.
Er fixierte einen Punkt im Raum, einen kleinen Lichtfleck. Die Augen wollte er jetzt nicht schließen, um zu vermeiden, dass die Bilder wiederkamen. Er zwang sich, seinen Atem zu beruhigen. Blind tastete er nach seiner Decke, die beim plötzlichen Hochschrecken zur Seite gefallen war. Dann erst merkte er, wie verschwitzt er war. Sein Shirt war nass und er fror. Ihm wurde klar, dass seine Decke ihm so kaum Wärme bieten konnte. Außerdem sagte ihm sein Wecker ohnehin, dass er aufstehen musste.
Von bloßer Willenskraft angetrieben stand er auf und schleppte sich ins Bad. Das Licht dort brannte ihm erst einmal in den Augen. Doch nach dem ersten kalten Wasser im Gesicht ging es ihm schon etwas besser. Der Traum wich allmählich der Realität.
Nach einer ausgiebigen Dusche war der Albtraum nur noch ein Traum, der lange nicht mehr so bedrohlich wirkte. Durch die Fenster fielen nun die ersten Sonnenstrahlen und vertrieben den Rest des Schreckens.
Als er in die Küche kam wartete dort, wie inzwischen schon von ihm gewohnt, das Frühstück. Seine Mutter ließ es sich einfach nicht nehmen. Jeden Morgen stand sie noch vor ihm auf, um den Tisch zu decken. Er wollte ihr das ausreden, aber genauso gut hätte er versuchen können, den Sternen das Leuchten zu verbieten. Sie könne ohnehin nicht schlafen, war ihre Begründung. Also nahm er es inzwischen hin. Leider konnte er das Frühstück kaum genießen, da ihm die Zeit fehlte. Für ein Frühstück hatte er noch nie viel übrig. Lieber stellte er den Wecker so knapp wie möglich an den Dienstbeginn um länger schlafen zu können. Jeder Ernährungswissenschaftler würde darüber wohl nur den Kopf schütteln, aber ihm war der Schlaf eindeutig wichtiger.
Schnell aß er eine Schüssel Müsli auf, das seine Mutter ihm bereits zubereitet hatte. Wenn sie ihn so sehen könnte, sie würde auf jeden Fall mit ihm schimpfen. So zu schlingen, das wäre nur ungesund. Und außerdem könne man dann nicht wirklich etwas schmecken. Doch sie konnte nicht mit ihm schimpfen, da sie bereits wieder im Bett lag. Vor einem Jahr, als er gerade wieder zurück war, da wollte sie ihm morgens Gesellschaft leisten. Sie hatte aber sehr schnell gemerkt, dass er darauf nicht gut zu sprechen war. Er war kein Morgenmensch und es war besser ihn dann in Ruhe zu lassen. Und so zog sie es vor, für die Zeit während er frühstückte, wieder ins Bett zu liegen.
Nachdem er noch ein paar Schluck Kaffee getrunken und seine Zähne geputzt hatte verließ er eilig das Haus, um den nächsten Shuttlebus zu erreichen. Dieser verband die Vororte mit dem Zentrum. Von dort aus konnte er dann bequem den Rest des Weges laufen.
Um diese Zeit war der Shuttlebus bereits so voll, dass er nur noch einen Stehplatz bekam. Was nicht schlimm war. Aufgrund der Trägheitsdämpfer des Shuttles merkte er den Flug kaum. So konnte er relativ bequem stehen, ohne besondere Anstrengungen auf das Gleichgewicht zu verwenden.
Um ihn herum standen Menschen mit den unterschiedlichsten zivilen Klamotten. Auch einige rote Sternenflottenuniformen waren zu sehen. Was nicht verwunderte. Im Hauptquartier der Sternenflotte arbeiteten mehr als viertausend Menschen. Die meisten waren Offiziere. Nur wenige Zivilisten hatten dort einen Job.
Er sah aus dem Fenster hinaus und beobachtete die Landschaft, wie sie unter ihnen hinweg zog.
Nach der Landung lief er zusammen mit weiteren Sternenflottenoffizieren zum Eingang des Hauptquartiers. Er hatte hier einen geregelten Job mit festen Arbeitszeiten. Derzeit mussten sie eine neue Steuerkontrolle für Shuttles testen, die die Ingenieure entwickelt hatten. Das hieß, die meiste Zeit mit Testflügen im Simulator zu verbringen. Eigentlich liebte er solche Aufgaben. Doch im Moment empfand er es mehr als Fluch. Was vor allem daran lag, dass es Frühling wurde und ein Hoch derzeit für strahlenden Sonnenschein sorgte. Und im Simulator bekam er von der Sonne nichts mit. Dabei sollte das Wetter doch eigentlich noch genutzt werden. Wenn sie wieder an Bord des Schiffes waren, dann war es vorbei mit Sonnenschein. Und den hübschen Mädels, deren Klamotten mit steigenden Temperaturen immer knapper wurden und die gleichzeitig immer besser gelaunt wurden. Frühling war einfach eine herrliche Jahreszeit. Alles schien möglich zu sein.
Vor dem Abflug hatte er noch eine Woche Urlaub eingeplant. In der Woche musste er unbedingt nochmal einen drauf machen gehen, beschloss er, als er den Eingang des Hauptquartiers betrat. Dann galten seine Gedanken nur noch den bevorstehenden Tests. Der Albtraum der Nacht war inzwischen schon sehr weit weg.
Zusammen mit Sylvia Jackson, seiner Stellvertreterin, verließ Sanawey sein Büro im Hauptquartier, das er für die Zeit des Aufenthalts auf der Erde zugewiesen bekommen hatte. Hier konnte er seine anfallende Arbeit erledigen. Jacksons Büro lag in einem anderen Flügel des Gebäudes, was die Zusammenarbeit nicht gerade vereinfachte. Zum Glück hatte das die meiste Zeit keine Rolle gespielt, da sie verschiedene Aufgaben zugeteilt bekommen hatten. Nur zu Beginn hatten sie noch gemeinsam eine Menge Berichte und Formulare zu den Ereignissen der vorausgegangenen Mission und den damit verbundenen Geschehnissen abgeben müssen. Die Sternenflotte hatte ganz genau wissen wollen, mit was für einer Spezies sie es hier zu tun bekam. Außerdem gab es noch eine Untersuchung mit dem Ziel zu klären, ob den Captain oder den Mitgliedern der Führungscrew eine Mitschuld an der Enterung der Republic
traf und den vielen Toten, die es in der Folge gegeben hatte. Unzählige Gutachten wurden erstellt, eine Unmenge an Daten zusammengesammelt und auf etlichen Datenträgern gespeichert. Zum Schluss waren sie zu dem Ergebnis gekommen, das Sanawey und seine Crew richtig gehandelt hatten. Alle eventuell bis dahin schon formulierten Anschuldigen waren fallen gelassen worden. Seitdem ging ein Großteil der Mannschaft anderen Tätigkeiten nach, mit denen sie beauftragt worden waren, so dass Sanawey, zumindest dienstlich, nichts mehr mit ihnen zu tun hatte.
Mit Sylvia Jackson musste er erst wieder seit wenigen Wochen zusammen arbeiten. Sie machten sich daran die Crewliste durchzugehen. Zwar wurde in der Regel die Mannschaft von den Admirälen der Sternenflotte zugewiesen, gewisse Einflussmöglichkeiten hatte ein Captain aber trotzdem. So konnte er Anforderungen für bestimmte Personen erstellen. Ob diese dann auch berücksichtigt wurden war eine andere Sache.
Gemeinsam liefen sie durch den Gang zum Besprechungsraum. Normalerweise war um diese Zeit das wöchentliche Status-Meeting mit den Admirälen, die für die Reparaturen und die Raumdocks zuständig waren. Heute jedoch war ein Meeting mit dem gesamten Admiralstab. Ein monatliches Meeting, das immer die aktuelle Situation umfasste, um so alle auf demselben Stand zu halten. Das große Häuptlingstreffen, wie es schon manchmal genannt wurde. Viehauftrieb hatte Lieutenant Reed es einmal in einer seiner ihm eigenen Art genannt. Sanawey und Jackson wurden zu dieser Runde normalerweise nicht eingeladen. Möglicherweise würden sie daher heute etwas über die nächste Aufgabe der Republic
erfahren.
Als sie den Raum betraten liefen sie direkt Admiral Cartwright in die Arme. Er grüßte sie mit einem kurzen Händedruck. Dann eilte er schon weiter, um noch einige Worte mit anderen auszutauschen.
Sie begaben sich zu den zugewiesenen Plätzen und beobachteten von dort aus das Treiben der Würdenträger. Sanawey hatte noch nie viel übrig für diese Personen. Seiner Meinung nach waren die meisten viel zu weit von der Praxis entfernt. Und die wenigsten konnten auf eine Laufbahn auf einem Raumschiff zurück blicken. Der gängigste Karriereweg war das Durchlaufen der Stationen im Hauptquartier. Was daran liegen konnte, dass sich kaum ein Mensch, der die Weiten und Wunder des Alls kennen gelernt hatte, einen Schreibtischjob vorstellen konnte. Und die Praxisferne sorgte teilweise für Entscheidungen, die unter den Captains der Flotte Kopfschütteln und Unverständnis hervorbrachten.
Als alle Platz genommen hatten ergriff Admiral Cartwright das Wort. Er war der ranghöchste Offizier und Leiter der Sternenflotte. „Willkommen, Ladies and Gentleman. Wir haben dieses Meeting einberufen, um über die aktuelle Entwicklung im Sektor 859J zu reden. Ein Sektor, den wir bis vor kurzem noch als neutral eingestuft hatten. Keine Macht hatte hier einen Anspruch erhoben. Dies scheint sich nun geändert zu haben.“ Er faltete seine ebenholzfarbenen Hände auf dem Tisch. Sein Gesicht war ernst. „Wir können es noch nicht definitiv bestätigen, aber offenbar haben die Xindi den Sektor in Beschlag genommen. Das geht aus den Geheimdienstberichten hervor.“
Einige der Anwesenden zeigten sich überrascht, andere schienen bereits informiert worden zu sein. Sanawey und Jackson gehörten zu den Überraschten, auch wenn sich die Überraschung in Grenzen hielt. Nach der Begegnung mit dem Xindi in der Mine der Adrac war für die beiden klar gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis es wieder zu einer Begegnung kommen musste. Auch wenn sonst keiner der Verantwortlichen der Sternenflotte derselben Meinung gewesen war.
„Ist schon etwas über ihre Absichten bekannt?“ Admiral Kirk saß etwa in der Tischmitte. Offenbar hatte er schon erkannt, dass man sie nicht alle hier versammelt hatte, nur um ihnen das zu sagen. Dass ein bisher nicht beanspruchter Teil des Weltraums von einer Rasse oder Allianz besiedelt wird war an sich nichts Bemerkenswertes. Auch die Föderation wuchs auf diese Weise weiter. Interessant wurde es nur dann, wenn das entsprechende System irgendeine Besonderheit aufwies, die den anderen einen Vorteil gab. Oder wenn es sich um eine bis dahin unbekannte Macht handelte.
„Wir wissen, wie gesagt, noch nicht sehr viel“, beantwortete Cartwright die Frage. „Für näheres übergebe ich das Wort jetzt an Admiral Sanches, Abteilungsleiter des Geheimdienstes.“
Alle Blicke wandten sich Sanches zu. Er war ein großer hagerer Mann, Mitte fünfzig. Einst gehörte er zu den besten Agenten, die die Sternenflotte je hatte. So mancher Konflikt konnte durch seine Arbeit bereits vorab erkannt und geklärt werden. Für seine Leistungen war er mit Orden und Auszeichnungen geradezu überhäuft worden. Seine aktive Laufbahn endete jedoch jäh, als sich ein Klingone in einer Bar auf Quonos von ihm beleidigt gefühlt und nach einem kurzen Streit sein Messer in Sanches Knie gebohrt hatte. Zwar konnte Sanches trotzdem noch unerkannt das klingonische Reich verlassen, sein Knie wurde jedoch trotz mehrfacher Behandlungen nie wieder richtig gesund. Das klingonische Tahg, ein hinterhältiges Messer mit drei Klingen, hatte sein Knie vollständig zerstört. Daher wechselte er an den Schreibtisch und wurde vor acht Jahren mit der Leitung des Geheimdienstes betraut.
„Bevor ich mit den Ausführungen zur aktuellen Lage aufwarte, will ich zuerst noch etwas zu den Xindi selbst sagen, da sie für die meisten von uns nur ein Mythos sind.“ Sein tiefer Bariton sprach ruhig und sachlich und vermittelte eine ungeheure Kompetenz. „Tatsache ist, dass wir kaum etwas über dieses Volk wissen. Der größte Beweis für deren Existenz war der erste Kontakt, der allerdings nur mit einer ihrer Sonden stattfand. Wir alle kennen den Zwischenfall aus dem Geschichtsunterricht. Im April 2153 erreichte eine Xindi-Waffe die Erde. Sie schoss auf unseren Planeten und schnitt dabei einen Graben von Florida bis Venezuela, der sieben Millionen Menschen das Leben kostete. Die Sternenflotte schickte daraufhin das erste Warp-5-Schiff, die Enterprise
unter dem Kommando von Captain Jonathan Archer zu den Xindi, da weitere Angriffe zu befürchten waren. Auf den Logbüchern der NX-01 basiert unser gesamtes Wissen über die Xindi.
Die Enterprise
verbrachte vor mehr als hundert Jahren ein knappes Jahr in einem Raumgebiet, das als delphische Ausdehnung bekannt war. Danach gab es bis heute keinen weiteren Kontakt mehr zu den Xindi. Es gibt Historiker, die die Daten der damaligen Enterprise
inzwischen anzweifeln, mit der Begründung, dass damals der Weltraum etwas Neues für die Menschheit gewesen war und somit ihre Wahrnehmung anders geprägt war. Die Menschen waren leichter zu beeindrucken gewesen. Aufgrund der Darstellung der Xindi in den alten Aufzeichnungen wird auch schon angezweifelt, ob es die Xindi überhaupt gibt und ob Archer nicht eventuell einer Täuschung aufgesessen ist. Man suchte schon nach Beweisen, dass die Waffe von 2153 von einem anderen Volk kam.
Nun aber zu den Daten, die laut Captain Archer die Xindi beschreiben. Das Wichtigste ist wohl, dass die Xindi nicht nur ein Volk sind. Auf ihrem Heimatplanteten sollen sich angeblich sechs intelligente Rassen entwickelt haben. Die humanoiden Xindi, die uns Menschen ähnlich sehen sollen. Ein besonderes Augenmerk ist eine ausgeprägtere Stirnpartie. Die Xindi-Arboreale sind faultierähnliche Wesen, Baumbewohner, wie ihr Name schon sagt. Und wohl die diplomatischste Rasse unter den Xindi. Die Reptilianer bilden zusammen mit den Insektoiden den aggressiven Teil dieser Rasse. Der Beschreibung nach sind Sie, Captain Sanawey, vor einem Jahr in der Mine der Adrac einem dieser Xindi-Insektoiden begegnet. Oder einem ähnlichen Wesen. Die wohl ins Reich der Phantasie Captain Archers zu verweisende Spezies ist Nummer fünf, die Aquarianer. Sie sollen unter Wasser leben wie Fische. Um trotzdem durch das All reisen zu können sollen sie riesige mit Wasser gefüllte Raumschiffe besitzen. Das ist das einzige, das von dieser Spezies bekannt ist. Über ihre Einstellung oder mögliche Gefahren können wir nichts sagen. Und angeblich gab es einst noch eine intelligente Vogel-Rasse, die aber inzwischen ausgestorben sein soll. Ich denke, auch das können wir als Fabel einsortieren.
Zwischen diesen verschiedenen Spezies herrschte einst so viel Feindschaft, dass sie ihren Heimatplaneten Xindus während eines Krieges zerstörten. Um eine erneute derartige Katastrophe zu vermeiden wurde ein Rat gegründet, in dem die verbliebenen fünf Spezies gemeinsam die Interessen der Xindi wahrten.
Soweit die Daten, die wir von Captain Archer überliefert bekamen. Trotz aller Bemühungen ist es uns bisher auch nicht gelungen mehr über dieses rätselhafte Volk zu erfahren, noch deren Existenz überhaupt zu bestätigen. Doch irgendetwas scheint dort vor sich zu gehen. Wir erhalten seltsame Messwerte aus Sektor 859J. Keiner unserer Wissenschaftler konnte bisher etwas damit anfangen. Wir können bisher nur sagen, dass die Werte Ähnlichkeiten mit chronometrischer Strahlung haben.“
Ein Raunen ging durch die Anwesenden. Jeder war sich der Konsequenz dieser Aussage bewusst. Chronometrische Partikel wurden bei Experimenten mit der Zeit freigesetzt. Zumindest theoretisch. Damit sollte theoretisch eine Zeitreise möglich sein. Praktisch war dies allerdings mit dem derzeitigen Stand der Technik nur mit einem Energieaufwand verbunden, den nicht einmal die Materie-Antimaterie-Mischung aufbringen konnte. Somit fehlte bisher der tatsächliche Beweis für die Existenz chronometrischer Partikel.
Sollte sich nun herausstellen, dass die Xindi, oder wer auch immer, Experimente dieser Art durchführten, so konnte dies wohl nur eins bedeuten: Hier wollte jemand die bestehende Zeitlinie manipulieren. Und was auch immer das Ziel dieser Manipulation sein sollte, es galt sie um jeden Preis aufzuhalten. Die Zeit musste eine unverrückbare Konstante bleiben. Jeder Eingriff, so gut er auch gemeint war, musste zu einer Veränderung führen, deren Auswirkungen katastrophal sein konnten. Menschen würden aufhören zu existieren, so als ob es sie nie gegeben hätte. Eine derartige Manipulation musste vermieden werden.
„Da es sich nur um eine Ähnlichkeit handelt, könnte es durchaus sein, dass es kein Experiment mit der Zeit ist“, versuchte Sanches die Anwesenden zu beruhigen. „Aber um sicher zu gehen müssen wir es uns vor Ort ansehen. Wir müssen ein Schiff dorthin schicken.“
„Wird man das Auftauchen eines Sternenflottenschiffes nicht als kriegerischen Akt sehen?“ warf Admiral Noughi ein.
„Das Risiko müssen wir eingehen“, antwortete Cartwright. Er nickte Sanches zu. „Ich danke Ihnen für die Ausführungen.“ Dann wandte er sich wieder an alle. „Die Xindi haben schon einmal versucht uns zu vernichten. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie beim zweiten Mal Erfolg haben. Daher werden wir ein Schiff zur Erkundung der Situation in den Sektor 859J senden. Diese Aufgabe wird die Republic
übernehmen. Deshalb sind Sie heute hier, Captain Sanawey.“
Der Angesprochene bemühte sich, seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten. Dabei war er völlig überrumpelt worden. Damit hatte er nicht gerechnet. Zwar hatte er sich schon gedacht, etwas über die zukünftige Mission zu erfahren, mit den Xindi hatte er allerdings nicht gerechnet. Er hätte gerne früher davon erfahren, dann hätte er sich etwas vorbereiten können. So warf ihn das jetzt etwas aus der Bahn. „Ich dachte, wir würden uns um die Adrac kümmern“, sagte er daher einfach, auch, weil ihm auf die Schnelle nichts besseres einfiel. Zwar war er nichts besonders scharf darauf, den Adrac nochmal in die Hände zu fallen – die Erinnerungen an die Gefangenschaft in der Mine waren einfach noch zu präsent – doch war seine Neugier geweckt, was es mit diesem Volk auf sich hatte. Und diese Neugier war stärker als seine Befürchtungen. Und dieses Mal würden sie auch wissen, auf was sie sich da einließen. Sie würden diesem Volk nicht so unvorbereitet gegenübertreten, wie beim ersten Mal.
„Von den Adrac haben wir seit Ihrer Flucht nichts mehr gehört. Offenbar sind sie nicht sonderlich an uns interessiert“, winkte Cartwright das Thema schnell ab. „Das gibt uns die Zeit, das weitere Vorgehen abzustimmen und nichts zu überstürzen.“
„Aber…“ setzte Sanawey an, wurde jedoch sofort wieder unterbrochen.
„Im Übrigen ist unsere diplomatische Abteilung gerade noch dabei, die Scherben zusammenzukehren, die Ihre Flucht im Königreich Kabran hinterlassen hatte“, fügte der Admiral unnötiger Weise noch hinzu. Sein Tonfall konnte dabei das Gefühl vermitteln, er gäbe dem Captain die Schuld an den Geschehnissen. Allerdings sprach er es nicht direkt aus. „Sie werden sich um die Xindi kümmern.“ Ein direkter Befehl, dagegen gab es nichts weiter zu sagen.
Daher nickte Sanawey nur und fragte nach einem kurzen Blickkontakt mit Jackson: „Haben Sie noch weitere, detailliertere Angaben zu dieser Mission?“ Die unterschwellig vorgebrachten Anschuldigungen nagten an ihm, und so gelang ihm auch kein gänzlich neutraler Tonfall.
„Fliegen Sie in den Sektor 859J und finden Sie heraus, was dort vor sich geht. So einfach ist das“, erklärte Cartwright kurz.
Aufgeblasener Affe, dachte Sanawey, sagte aber stattdessen: „Für mich hört sich das eben geschilderte so an, als ob diese Mission sehr dringend wäre. Die Republic
ist jedoch erst in zwei Wochen wieder einsatzbereit, der eigentliche Start soll mindestens noch vier Wochen entfernt sein.“
„Die Reparaturen wurden beschleunigt und werden Ende der Woche abgeschlossen sein. Sie werden in einer Woche aufbrechen.“
Dem Captain wäre beinahe die Beherrschung über seine Gesichtszüge entglitten. Über irgendwelche Änderungen im Reparaturplan war er nicht informiert worden. Eine Woche? Das konnte ein Problem werden. Die Crew war nicht nur über die ganze Erde verteilt, sondern auch auf anderen Planeten. Sein Wissenschaftsoffizier Sohral befand sich gar auf Vulkan.
„Bei allem Respekt, Sir“, begann er. „Zum einen sollten wir das Schiff noch ausgiebig testen. Und zum anderen haben die meisten Crewmitglieder nach einem Jahr auf der Erde feste Verpflichtungen, die sich nicht ganz so schnell lösen lassen. Sie könnten zum Beispiel nicht von heute auf morgen ihre Wohnungen auflösen. Der bisherige Zeitplan sah ganz anders aus.“
„Da kann ich Sie beruhigen. Sollte es hier zu Problemen kommen, wird die Sternenflotte alles weitere veranlassen, wenn Sie fort sind.“ Für den Admiral schien das eine völlig normale Sache zu sein. Er sah darin wirklich kein Problem.
„Ich glaube nicht, dass das...“
„Wenn keine weiteren Fragen mehr sind, dann beende ich hiermit die Sitzung“, unterbrach Cartwright ihn laut. Und noch bevor jemand etwas erwidern konnte stand er auf und verließ zusammen mit den meisten Admirälen den Raum.
Sanawey sah Jackson an. Diese zuckte nur mit den Schultern. Es war eine Sache gegen eine Horde wilder Klingonen anzutreten. Es war aber etwas völlig anderes mit Vorgesetzten fertig zu werden.
Kopfschüttelnd stand Sanawey auf. Sie mussten diese Info so schnell wie möglich an die Crew weitergeben, damit diese noch so viel Zeit wie möglich hatte. Jetzt kam es auf jede Stunde an.
An der Tür stießen sie auf Admiral Kirk. Er sah sie beinahe mitleidig an. „Ich weiß wie Ihnen zumute ist, Captain. Als ich noch ein Kommando inne hatte gab es auch schon solche Entscheidungen. Ich habe sie immer gehasst. Und mich auch nicht immer daran gehalten“, lächelte er verschmitzt. „Dennoch ist es wohl das Richtige.“
„Danke“, nickte Sanawey höflich. Er wollte einer lebenden Legende nicht zu nahe treten, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass Kirk wusste wie er sich gerade fühlte. „Eilen Sie nun auch zur nächsten Sitzung?“
„Zum Glück nicht. Ich gehe jetzt in den Simulatorraum. Dort läuft gerade der Kobayashi Maru Test. Spock möchte, dass ich mir eine seiner Kadetten anschaue. Mrs. Saavik. Ich bin sicher, sie ist außergewöhnlich“, lächelte er.
„Wenn Captain Spock das sagt, dann wird es so sein. Ich wünsche Ihnen viel Spaß.“
„Danke.“ Kirk streckte ihm die Hand entgegen. „Und Ihnen viel Glück, Captain.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum.
„Das kann ich brauchen“, murmelte Sanawey und wandte sich an Jackson. „Besonders wenn ich Wendy den verfrühten Aufbruch erklären muss.“
„In einer Woche?“ empörte sich Wendy Brooks. Sie wiederholte es bereits zum fünften Mal. „Das ist völlig unmöglich. Du musst ihnen sagen, dass das nicht geht. Niemals.“ Aufgeregt lief sie in Sanaweys Büro auf und ab. Der Captain hatte sie gleich nach dem Meeting mit den Admirälen zu sich gerufen um sie zu informieren. Wie er erwartet hatte, war sie sofort in die Luft gegangen, kaum dass er ausgesprochen hatte.
„Das habe ich bereits getan“, versicherte er ruhig.
„Und?“
„Sie wollten es nicht hören. Die Mission ist zu wichtig.“
„Aber es geht nicht“, fuhr sie wieder auf.
Sanawey hob beschwichtigend die Hand. Auch wenn er ihre Aufregung verstand, so führte das zu nichts. „Wendy, wenn in diesem Sektor tatsächlich mit der Zeit experimentiert wird, dann sollten wir uns das ansehen. Und zwar so schnell wie möglich, sonst könnte es zu spät sein.“
„Aber warum wir? Es gibt auch noch andere Schiffe“, schleuderte sie ihm entgegen.
„Nicht in der Nähe.“
„Die Enterprise
liegt im Orbit.“
Sanawey lächelte humorlos. „Die Enterprise
ist 20 Jahre alt“, erwiderte er. „Das müsstest du doch am besten wissen. Du warst eine Woche an Bord um von Mr. Scott zu lernen. Außerdem ist es ein Schulschiff. Voller Kadetten.“
Wütend sah Wendy ihn an. „Aber wenigstens hat es eine Crew. Und für eine Erkundung würden Kadetten völlig ausreichen.“
„Die Entscheidung ist gefallen. Wir starten in einer Woche. Du solltest sofort dein Quartier auf dem Schiff beziehen, bevor es alle tun und der Andrang zu groß wird. Danach hast du Zeit das Schiff vollends zusammen zu flicken.“
Wendy kochte, das sah er ihr an. Doch es half nichts. Sie hatten ihre Befehle. Er hoffte, sie würde auf seinen Ratschlag hören. Wenn es aber sein musste, würde er es ihr auch befehlen, Freundschaft hin, Freundschaft her.
Sie schien sich jedoch zu besinnen. „Ich werde mich sofort darum kümmern“, brummte sie. „Wir werden es trotzdem nicht schaffen. Es ist unmöglich.“ Mit diesen Worten verließ sie das Büro.
Sanawey starrte noch kurz die geschlossene Tür an, dann musste er die Crewliste fertig machen. Zwar stand die Mannschaft im Großen und Ganzen fest, allerdings gab es noch Kandidaten, bei denen er sich noch nicht entschieden hatte.
Während er über die letzten Crewmitglieder befand, begannen Mitarbeiter des Hauptquartiers die Crew ausfindig zu machen und sie über die Vorverlegung des Starts zu informieren. Alles musste wohl koordiniert durchgeführt werden. Immerhin mussten etwas mehr als vierhundert Personen alle ihre Planungen über den Haufen. Es galt nicht nur persönliche Dinge zu regeln, auch mussten auch für Arbeiten und Projekte, an denen die Betroffenen mitwirkten, Ersatz gefunden werden. Und all das musste soweit wie möglich reibungslos verlaufen. Die Verantwortlichen der Sternenflotte setzten alle Hebel in Bewegung um das zu schaffen. Und auch wenn Sanawey im ersten Moment skeptisch gewesen war, so glaubte er inzwischen doch, dass sie es schaffen konnten.
Mit eiligen Schritten überquerte Sylvia Jackson den Hof der Sternenflottenakademie. Nur wenige Kadetten hielten sich hier auf. Die meisten hatten derzeit Vorlesungen. Im Gebäude selbst war es so ruhig, dass sie trotz des gedämpften Bodens ihre Schritte hallen hörte. Sie hatte einen Termin mit Dr. Williams, zu dem sie auf keinen Fall zu spät kommen wollte. Und da sie nicht wusste wie spät es war beeilte sie sich lieber.
Dr. Williams hatte das Jahr nutzen wollen und sich als Dozentin an der Akademie angemeldet. Das war schon immer ihr Traum gewesen. Sie liebte es, ihr Wissen weiterzugeben und zu sehen, wie andere es erlernten. Besonders mochte sie den Augenblick, in dem die Kadetten das Gelernte auch verstanden. Es war ein kurzer Moment der Erkenntnis, der dann in ihren Augen leuchtete. Einen Augenblick lang erschien es dann so, als ob sich dem Betreffenden der Schlüssel zum Verständnis des Universums geöffnet hätte.
Jackson fand nach kurzer Suche den Lesungssaal, in dem Williams sie treffen wollte. Sie streckte ihre Hand zum Türgriff aus, zögerte dann aber. Von der anderen Seite der Tür hörte sie Stimmen. War dies doch der falsche Raum? Einige Augenblicke lang lauschte sie, dann war sie sich sicher Elizabeths Stimme erkannt zu haben. Dann konnte sie ja eintreten.
Als sie die Tür öffnete und eintrat blieb sie mitten in der Bewegung stehen. Der Lesesaal war voll. In den Bänken saßen Kadetten, die gebannt Williams‘ Worten lauschten. Manche wandten ihren Kopf Jackson zu, die meisten schienen sie aber gar nicht bemerkt zu haben.
Vielleicht war es besser sich zurück zu ziehen, dachte Sylvia, aber dann gab ihr Elizabeth Williams ein Zeichen zu bleiben. Also trat sie vollends ein, schloss die Tür hinter sich und blieb dann an der Wand stehen. Sie lauschte Williams‘ Worten.
„Und auch wenn sich die meisten Lebensformen äußerlich deutlich unterscheiden, so sind sie im Inneren alle ähnlich. Organe, die irgendeine Art von Blut pumpen, Gase wie Sauerstoff oder Stickstoff umwandeln oder Denken können haben wohl alle, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt. Und das in jeder Hinsicht.“ Einige Kadetten lachten, andere schienen den Scherz nicht verstanden zu haben. „Letztlich ist es egal, wen Sie vor sich haben. Als Arzt sind sie verpflichtet jedem kranken Lebewesen zu helfen. Daran sollten Sie immer denken. Danke.“
Leben brach unter den bis dahin ruhigen Kadetten aus. Sie räumten ihre Sachen zusammen, packten Taschen und rutschten mit Stühlen. Auch die ersten Gespräche und Diskussionen begannen nun. So verließen sie nach und nach den Raum.
Jackson löste sich von ihrer Stelle an der Wand. Nickend grüßte sie ein paar Kadetten. Langsam ging sie zu Williams, die auch noch ihre Utensilien zusammen sammelte und ordentlich in ihre Tasche packte. „Hallo Commander“, grüßte sie lächelnd und strich sich dabei eine Strähne ihres blonden Haares hinters Ohr zurück.
„Hallo Doktor. Es scheint, Sie geben einen guten Dozenten ab.“ Sie sah demonstrativ zu den Rängen, die jetzt leer waren. „Es waren alle bei der Sache und hochkonzentriert. Zumindest hatte ich diesen Eindruck.“
„Es hilft, wenn ein Commander an der Tür steht.“ Elizabeth lächelte. „Im Ernst, man muss den Stoff nur interessant verpacken.“
„Das scheint Ihnen zu gelingen. Aber nicht, dass wir Sie nun an die Akademie verlieren.“
„Nein, das wird nicht passieren. Vorerst. Ich möchte zuerst noch ein bisschen was von der großen Vielfalt des Alls sehen. Aber ich habe vor, irgendwann dauerhaft einen Dozentenplatz zu übernehmen.“
„Kann ich verstehen.“ Sie schwieg und wartete bis Williams ihre Unterlagen alle aufgeräumt hatte. „Sie wollten mit mir sprechen“, meinte sie schließlich.
„Ja, das ist richtig.“ Williams atmete tief durch. Dann deutete sie auf die erste Reihe, in der noch vor ein paar Minuten Kadetten saßen. „Setzen Sie sich.“
Jackson runzelte die Stirn, tat aber wie ihr geheißen. Dr. Williams nahm neben ihr Platz. „Wie fange ich nur an?“
„Sie machen sich Sorgen?“ griff Jackson ihr vor. Es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage.
„Das ist richtig“, nickte die Ärztin. „Wie Sie wissen gehören zu meinen Kadetten in diesem Jahr auch Tworek und Karja.“
„Ja“, erwiderte Jackson gedehnt. Sie befürchtete zu wissen, worauf Williams hinaus wollte.
„Medizin ist zwar nur ein kleiner Teil der Ausbildung, aber ich habe mich auch mit Kollegen unterhalten. Auch wenn die ersten Prüfungen für die beiden erst in ein paar Tagen stattfinden, so kann wohl jetzt schon eine Prognose gewagt werden. Für Tworek sehe ich keine Probleme. Seine vulkanische Seite ist sehr stark und hat seinen Geist gut strukturiert. Er wird Bestnoten erzielen.“ Sie machte eine kurze Pause bevor sie fortfuhr. „Bei Karja sieht das allerdings nicht so rosig aus. Was nicht heißen soll, dass sie eine schlechte Schülerin ist. Sie arbeitet gut und gewissenhaft. Allerdings hat sie ihre Probleme mit der Theorie.“
Jackson musste lächeln. „Sie geht wohl nach ihrem Vater.“
Fragend sah Williams sie an.
„Captain Sanawey ist ebenfalls eher ein Praktiker. Das hatte ich schon auf der Republic
erlebt. Und in den Seminaren der letzten Monate hatte sich das bestätigt. Theorie liegt ihm nicht.“
„Naja, Karja geht es genauso. Es ist nicht sicher, ob sie die Prüfung bestehen wird.“
„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Jackson war ehrlich überrascht. „So schlimm?“
„Das muss man relativ sehen. Aufgrund der verkürzten Ausbildung sind die Rahmenbedingungen natürlich viel härter. Sie muss das Gleiche wie alle Kadetten in einem Drittel der Zeit lernen. Zudem wurde der praktische Teil mit Verweis auf ihre bereits erworbenen Erfahrungen aus zeitlichen Gründen komplett gestrichen. Nur geht das eben zu Karjas Nachteil.“
Jackson nickte nur. Sie konnte durchaus verstehen, dass die Sternenflotte keiner Sonderregelung für die Prüfungen zugestimmt hat. Es durfte auf keinen Fall zur Regel werden, dass die Ausbildungszeit für Kadetten unterwandert wurde. Schließlich hatte diese Ausbildung nicht nur den Sinn den jungen Leuten das Wissen über fremde Völker und Technologien beizubringen, sondern auch auf das Unbekannte vorzubereiten, und um die Moral und die Ethik der Sternenflotte zu verinnerlichen. Es ging auch um das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Teamarbeit. Der psychologische Anteil der Ausbildung war sehr hoch. Die Kadetten mussten lernen in unvorbereiteten Situationen die Ruhe zu bewahren und zu improvisieren. Panik musste in jedem Fall vermieden werden. Auf einer Mission ins All gab es nicht immer ein Regelbuch für alle Vorkommnisse.
„Wenn sie scheitern sollte, dann knapp. Alles andere wäre eine echte Überraschung. Aber dem Fall muss dann der kommandierende Offizier nochmals eine Aussage treffen. Und eine Empfehlung abgeben. Captain Sanawey scheidet aus den bekannten Gründen wegen Befangenheit aus. Somit wird es Ihre Stimme sein, die über Karjas Zukunft entscheidet.“
„Sie verstehen es zu dramatisieren“, sagte Jackson ernst. „Aber ich weiß schon was Sie meinen. Die Botschaft ist angekommen.“ Sie stand auf und ging zum Fenster. Von hier aus konnte man auf den Hof hinaus sehen. Dort unten war sie vorher gelaufen. Inzwischen war der Platz auch etwas belebter. Nicht nur Williams‘ Vorlesung war zu Ende gegangen. So kam es, dass sich nun einige Kadetten draußen versammelt hatten. Sie standen beisammen und unterhielten sich. Einige Grüppchen schienen ernsthaft zu diskutieren oder sich über die gehörten Lesungen zu unterhalten. Andere hatten offenbar private Themen, denn dort wurde teilweise herzhaft gelacht. Noch vor wenigen Wochen hatte dieses Leben in den Fluren stattgefunden. Aber bei diesem Wetter hielt es niemanden im Haus. Die erste wärmende Frühlingssonne musste genossen werden.
Jackson war hin und her gerissen. Eigentlich war auch sie befangen. Sie kannte Karja und mochte sie. Wie sollte sie im Ernstfall gegen sie aussagen? Andererseits war sie eine Führungskraft. Und da gehörten solche Tätigkeiten zu ihrem Aufgabenbereich. Sie musste hier berufliches und persönliches trennen können. Im Prinzip gab es auch nichts Negatives über Karja zu sagen. Wenn Jackson gegenüber den Verantwortlichen der Akademie nochmals aussagen müsste, dann konnte das nur in Karjas Sinn ausfallen. Die Frage war eigentlich nur, wie weit würde sie gehen, um Karja zu helfen? Selbst wenn die junge Indianerin nur durchfiel, weil der praktische Teil der Ausbildung fehlte, war dies in Jacksons Augen schon schlimm genug. Sicher, Theorie und Praxis unterschieden sich meist, trotzdem war sie der Meinung, jeder Offizier sollte die Theorie im Schlaf beherrschen. Nur so bestand die Grundlage, dass in einer Krise die Ruhe bewahrt und alle Optionen bedacht wurden.
Doch noch musste sie sich nicht entscheiden. Sie würde dann wohl einfach spontan handeln. Und wer wusste schon, ob es überhaupt zu einer solchen Situation kommen würde.
„Ich wollte Sie nur schon vorab informieren. Für den Fall, dass es dazu kommt“, sagte Williams mit sanfter Stimme, als ob sie Jacksons Gedanken erraten hätte.
„Danke, Doktor“, nickte Jackson. Dann sah sie die Ärztin wieder an. „Und wenn ich schon einmal hier bin kann ich Sie auch noch informieren. Wir hatten eben ein Meeting mit den Admirälen. Die Einsatzpläne liegen uns nun vor. Es geht um eine Erkundung, die extrem wichtig ist. Starttermin ist in einer Woche.“
„In einer Woche?“ wiederholte Williams ungläubig. „Das ist ein Scherz.“
„Ich befürchte nicht.“
„Aber das geht nicht. Ich muss noch einige Vorlesungen halten. Die Sternenflotte selbst hat mich dazu zu Beginn des Semesters beauftragt.“
„Das wird nun wohl widerrufen werden“, meinte Jackson schulterzuckend.
„Es ist aber schlecht für die Kadetten, wenn es plötzlich einen anderen Dozenten gibt. Und das noch so kurz vor den Prüfungen.“
Jackson nickte leicht. Ihr war bewusst, dass das keine glücklichen Umstände waren. Williams hatte sicher recht, in fünf Tagen waren Prüfungen. Aber ihre Mission war vielleicht wichtiger. „Es ist keine glückliche Lösung“, sagte sie schließlich. „Allerdings könnte von unserer Mission ohne Übertreibung das Schicksal des Universums abhängen.“
Williams sah sie groß an. „Normal heißt es doch, dass es gilt die Welt zu retten. Nun gleich das ganze Universum?“ Die Spitze in ihrem Tonfall war nicht zu überhören.
„Tja, Doktor, wir halten uns eben nicht mit Kleinigkeiten auf.“
Schläfrig räkelte sich Karja in ihrem Sitz. Sie empfand es als schwierig in diesen unbequemen Sitzen eine Position zu finden, in der sie schlafen konnte. Immer wieder stieß sie mit ihren Knien an der Rückenlehne des Sitzes vor ihr an. Und jedes Mal schreckte sie dann hoch. Sie war sich sicher, irgendwann würden ihr die Kniescheiben zerspringen. Oder aber ihr Kopf fiel gegen die Scheibe des kleinen Shuttles. Dann hatte sie das Gefühl, dass sich das Vibrieren der Außenhülle auf ihren Kopf übertrug und ihr Gehirn durchschüttelte.
Wieder einmal drehte sie sich in ihrem Sitz, in der Hoffnung nun endlich eine bequeme Stellung gefunden zu haben. Mit tief gesenkten Liedern sah sie zu Tworek, der neben ihr saß. Der Halbvulkanier hatte offenbar keine Probleme mit dem Sitz. Er saß aufrecht, mit zurückgelehntem Kopf, da und hatte seine Augen geschlossen. Keine Regung verriet, ob er schlief und dabei vielleicht träumte. Nur seine breite Brust hob und senkte sich gleichmäßig.
Sie hatten einen anstrengenden Tag hinter sich und waren nun auf dem Rückflug aus Rom. Ihr Abflug wäre eigentlich früher gewesen, aber aufgrund einiger technischer Probleme eines Raumtransporters hatte sich ihr Start verzögerte. So hatten sie knapp zwei Stunden Verspätung gehabt, als sie den Flughafen endlich verlassen hatten. Trotz der modernen Technik wurden Reisen auf der Erde immer noch mit planetaren Fluggeräten durchgeführt. Und ein Flug von Europa zur Westküste des amerikanischen Kontinentes dauerte noch immer fünf Stunden.
Bereits um fünf Uhr heute Morgen hatte ihr Wecker geklingelt. Viel Zeit erst langsam aufzuwachen hatte sie nicht gehabt. Immerhin wollte sie sich bereits eine halbe Stunde später mit Tworek treffen. Denn sie hatten das erste Shuttle erreichen müssen, das sie nach Montana bringen sollte. Nachdem sie dort den ganzen Vormittag verbracht hatten, musste Tworek ihr erklären, dass nun nicht mehr genug Zeit für Paris und Rom wäre und dass sie sich entscheiden müsste, was sie sehen wolle. Schließlich hatten sie entscheiden, den Nachmittag im Smithsonian Museum zu verbringen. Dann waren sie durch die Nacht dem Morgen entgegen nach Europa geflogen. Dort hatten sie sich zuerst Paris angesehen und den Nachmittag dann in Rom verbracht. Das Wetter hatte es gut gemeint mit ihnen und die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Nach einem kurzen Besuch im Kolosseum sowie im Nationalmuseum hatten sie den Spätnachmittag in verschiedenen Straßencafés zugebracht. Mit der Frühlingssonne im Gesicht und einem dampfenden Cappuccino vor sich hätte sie ewig dort sitzen bleiben können. Selbst Tworek hatte den Eindruck gemacht sich sichtlich wohl zu fühlen. Auch seine vulkanische Schale bröckelte, denn er hatte ein paar Mal leicht gelächelt. Karja hatte sich gefreut wie ein kleines Kind, dass ihr das gelungen war. Sie hatte Tworek immer wieder damit aufgezogen, dass er keine Emotionen zeigte. Sie hatte sich für dieses Jahr auch zum Ziel gesetzt, Tworek zu verdeutlichen, dass Gefühle etwas sehr Schönes waren und es besser war sie zu leben. Sie wollte, dass er sich mehr wie ein Mensch benahm. Denn ein Leben ohne Gefühle, das konnte sie nicht akzeptieren. Nicht bei Tworek. Dazu war er eigentlich viel zu nett.
Tworek regte sich noch immer nicht. Innerlich schüttelte Karja den Kopf über ihn. Wie konnte er auf diesem Sitz nur so ruhig bleiben? Sie seufzte und wandte sich wieder um. Dabei fiel ihr Blick auf die Borduhr. Noch zwei Stunden, dann hatten sie es überstanden. Daheim würde sie wie ein Stein ins Bett fallen und bis morgen schlafen. Und ab morgen hieß es dann pauken bis zum Umfallen. Wie sie sich darauf freute.
Noch einmal seufzend drückte sie ihre Schultern ins Polster und schloss wieder die Augen, in der Hoffnung wenigstens etwas schlafen zu können. Ihre Gedanken wanderten zurück nach Rom und in die Sonne. Sie saß wieder im Straßencafé und beobachtete die Menschen, die freudestrahlend durch die Sonne liefen. Sie hatte aus den Gesprächen erfahren, dass der Winter in Europa kälter gewesen war als in San Francisco. Umso mehr freuten sich die Menschen hier über die Sonne. Mit farbenfrohen Klamotten liefen sie durch die Straßen, unterhielten sich angeregt und lachten. Es war, als wären alle Menschen wie neu geboren. Die Schwere des Winters war verflogen. Überall trieb die Natur ihr neues Leben aus. Die ersten Blütenknospen und die ersten Blätter zeigten sich an den Bäumen. Die Vögel trällerten ihre frohen Lieder. Und dieses Leben übertrug sich auf die Stimmung der Menschen. Es war einfach nur schön.
Von weit her hörte sie eine Stimme. Zuerst verstand sie nicht, doch nach und nach wurde sie lauter. „... hoffen, dass Sie einen guten Flug hatten und wünschen Ihnen noch einen schönen Tag.“
Müde schlug Karja die Augen auf und blinzelte ins Licht. Offenbar war sie doch noch eingenickt. Auch wenn es ihr vorkam, als hätte sie gerade erst die Augen zu gemacht. Sie stellte fest, dass ihr Kopf zur Seite gefallen war und sie an Tworeks Schulter lehnte. Schnell setzte sie sich auf und sah ihn verlegen an. „T’schuldigung“, murmelte sie verschlafen.
Tworek sah sie auf seine Weise freundlich an und meinte: „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.“
Karja nickte nur. Sie war völlig verschlafen und hatte das Gefühl neben sich zu stehen. Ihr Kopf war noch nicht ganz da.
Im Gänsemarsch verließen die Passagiere das Shuttle. Karja und Tworek nahmen ihr Handgepäck und folgten den anderen in die Hallen des Spaceport. Durch die großen Fenster konnten sie hinaus auf das Flugfeld sehen. Unzählige Raumfahrzeuge standen dort, wurden gewartet oder bereit gemacht für den nächsten Flug. Der Spaceport von San Francisco war einer der größten der Welt, was unter anderem daran lag, dass die Sternenflotte hier ihr Hauptquartier hatte. Von hier aus starteten Flüge zu allen Flughäfen der Erde, aber auch zu den meisten Zielen innerhalb des irdischen Sonnensystems. Entsprechend groß waren einige der Raumfahrzeuge. Obwohl die meisten interstellaren Raumschiffe gar nicht landen konnten. Sie blieben in der Umlaufbahn der Erde und schickten nur ihre Shuttles.
Karja hatte dafür keinen Blick. Zum einen hatte sie dies alles schon am Morgen vor dem Start bewundert, zum anderen kannte sie das alles schon aus der Kolonie, in der sie aufgewachsen war. Wobei sie durchaus hatte anerkennen müssen, dass hier alles wesentlich besser organisiert war als dort, am Rande der Föderation, wo man es mit so manchen Vorschriften nicht so genau nahm.
Müde trabte sie hinter Tworek her, der zielstrebig den Ausgang ansteuerte. Schneller als Karja es bemerken konnte hatte er ein Taxi organisiert. Galant nahm er ihr das Gepäck ab und verstaute es im Taxi. Dann fuhren sie gemeinsam zu Karjas Wohnung in der Nähe der Sternenflottenakademie.
Bevor sie ihre Tür aufschloss wandte Karja sich noch einmal zu ihrem Begleiter um. „Vielen Dank für den schönen Ausflug.“ Ihre schwere Stimme verriet, dass sie völlig erschöpft war. „Das sollten wir mal wieder machen.“ Umständlich nahm sie ihn in den Arm und gab ihm, auf Zehenspitzen stehend, je einen Kuss auf die linke und rechte Wange.
„Der Dank liegt bei mir“, erwiderte Tworek höflich.
Karja lächelte matt, wandte sich dann ihrer Tür zu. Mit einem letzten Gruß schloss sie die Türe hinter sich.
Ein kurzes Lächeln huschte über Tworeks Lippen, dann nahm er seine Tasche auf. Sein Wohnblock lag nur wenige Schritte entfernt. Im Gegensatz zu Karja spürte er kaum Müdigkeit. Seine klingonische Robustheit und die vulkanische Disziplin ließen ihn weit größere Anstrengungen überstehen. Kurz bevor er die Türe seiner Wohnung erreichte spürte er, wie erste Regentropfen auf seine Haut fielen. Ein kurzer Frühlingsregen zog über die noch dunkle Stadt hinweg.
Drake Reed war alles andere als begeistert. Lustlos stapfte er durch die Gänge des Sternenflottenhauptquartiers zu einem der kleineren Meetingräume. Seit der Ankündigung, dass die Republic
bereits in wenigen Tagen starten sollte überschlugen sich die Ereignisse. Termine folgten in engen Abständen und überschnitten sich auch teilweise. Jeder der Crew hatte das Gefühl sich zerreißen zu müssen und nicht wenige wünschten sich, um noch alles meistern zu können, einen Klon. Oder auch mehrere.
Dazu bestand der Captain auch noch auf regelmäßige Treffen der Abteilungsmitarbeiter. Und das erste Treffen sollte unbedingt noch vor dem Abflug stattfinden. Dies sollte den Teamgedanken fördern. Drake konnte gut darauf verzichten. Bei ihm war, wie bei einigen anderen auch, nicht nur ein Meeting dieser Art angesagt. Er musste zum Treffen der Führungscrew, der Navigation, da er im Notfall dort einspringen musste und sich natürlich mit seinen Kollegen der Ops treffen. Die operative Station, von den meisten nur Ops genannt, musste ständig besetzt sein. Hier liefen verschiedene Daten des Schiffes zusammen. Seit dem Umbau des Schiffes kamen zusätzlich noch die Aufgaben der Kommunikationsstation hinzu. So konnte Personal eingespart werden, da es einen extra Kommunikationsoffizier nicht mehr gab. Und um eine ständige Besetzung der Ops zu gewährleisten gab es Vertretungen. Sowohl für die einzelnen Schichten als auch darüber hinaus um eventuelle Ausfälle kompensieren zu können. So kamen sie auf fünf Personen, die dieser Station fest zugeteilt waren. Hinzu kamen noch drei Springer, die eigentlich in andern Bereichen tätig waren, aber jederzeit den Platz an der Ops übernehmen konnten. Das reichte nicht für eine eigene Abteilung, aber Sanawey bestand trotzdem auf ein entsprechendes Treffen, welches Reed als ranghöchster Offizier dieser Truppe auch noch organisieren musste.
Und zu allem Überfluss war sein Urlaub auch noch gestrichen worden. Soviel zu seiner geplanten Party-Woche. Und seine Geburtstagsparty war damit auch im Eimer. Dabei wollte er doch mit vielen Frauen feiern. Das war auf dem Schiff leider nicht möglich.
Vor der Tür des Raumes blieb er stehen und atmete nochmals tief durch. Er versuchte es nicht zu negativ zu sehen. Im Prinzip waren seine Kollegen äußerst nett. Es konnte eigentlich nur gut werden. Sie hatten nur eine neue Kollegin dabei, ein Springer. Sie war ganz neu auf dem Schiff. Aber Reed war sich sicher, dass auch sie sich gut ins Team einfinden würde. Er kannte sie zwar noch nicht, aber bisher war das niemandem schwer gefallen. Und insgeheim hoffte er ja noch, dass sie sein Typ war.
Er betrat den Raum und wurde sofort begrüßt. Er hatte seine Kollegen seit Monaten nicht mehr gesehen. Und sie sich untereinander offenbar auch nicht, denn er hörte wie Erlebnisse geschildert wurden. Wie auf einem Klassentreffen, schoss es ihm durch den Kopf. Nur dass sie dafür keine Zeit hatten. Für private Unterhaltungen mussten sie sich noch gedulden. Nach ihrem Aufbruch würde es dafür noch Zeit genug geben.
Gerade als er um Ruhe bitten wollte fiel ihm auf, dass die Neue noch nicht anwesend war. Zu spät, gleich beim ersten Treffen. Das machte keinen guten Eindruck.
„Entschuldigung“, ertönte eine angenehme Stimme hinter ihm, die eine lebhafte Fröhlichkeit verstrahlte. „Ich habe den Raum nicht gleich gefunden. Das Gebäude ist so groß. Hier kann man sich leicht verlaufen.“
Reed drehte sich um und sah in zwei rehbraune Augen. Ihr Leuchten war fast schon magisch. Drake wusste nicht, ob er schon einmal solche strahlenden Augen gesehen hatte. Sie gehörten einer Frau, die ihn leicht an Größe übertraf. Allerdings auch an Fülle. Nicht, dass sie dick gewesen wäre. Sie hatte aber schon einige Kilos zu viel auf den Rippen. Was ihr aber gut stand. Aufgrund ihrer Größe wirkte es nicht quadratisch. Ihr Kurzhaarschnitt schimmerte in einer leichten Rottönung und passte perfekt zu ihr.
„Mrs. Watts“, grüßte er. Und bedauerte in Gedanken, niemand für ihn passenderes zugeteilt bekommen zu haben.
„Wie gesagt, tut mir leid, Sir. Ich war noch nie in diesem Gebäudeteil. Und dann hatte ich mich auch noch verlaufen. War ja klar, dass mir so was passieren muss.“
„Schon gut“, unterbrach er sie, obwohl er es ganz lustig fand ihr zuzuhören beziehungsweise zuzuschauen. Sie hatte nicht nur eine angenehme Stimme, sie redete auch mit ihren Händen. Genauer gesagt, mit dem ganzen Körper. Sie schien ihre Aussagen mit Gestiken und Mimiken untermauern zu wollen, was nett anzuschauen war. „Sie haben es ja noch einigermaßen rechtzeitig geschafft.“
„Ja.“ Sie ließ hörbar den Atem entweichen. Offenbar war sie etwas nervös ob seiner Reaktion gewesen.
„Na schön. Da wir nun vollständig sind bitte ich Platz zu nehmen.“ Er machte eine einladende Geste Richtung Tisch. „Dann können wir anfangen.“ Und es hinter uns bringen, fügte er in Gedanken dazu und hoffte, dass ihm das nicht anzusehen war.
Sie redeten dann doch beinahe zwei Stunden. Teils unterhielten sie sich einfach, teils wurden heftige Diskussionen geführt. Und sie lachten viel zusammen. Elane Watts hatte ein Talent für besondere Satzbauten, die den Sinn ihrer Aussagen etwas verdrehten und oft zweideutig machten, ohne dass sie es selbst sofort merkte. Allerdings wirkte das überhaupt nicht lächerlich. Im Gegenteil. Durch die natürliche Fröhlichkeit, die sie ausstrahlte, hob sie die Stimmung aller Anwesenden. Sie fing meist selbst an zu lachen, wenn sie merkte was sie wieder gesagt hatte. Und dann wurden alle anderen angesteckt. Einmal lachte sie bis ihnen die Tränen kamen. Und es war kein einziges Mal nervend oder störend.
Reed beobachtete sie heimlich. Nach dem Meeting musste er sich zwei Dinge eingestehen. Erstens, Watts war eine Bereicherung für das Team. Sie schweißte die Personen durch ihre Art zusammen. Und zweitens, Captain Sanawey hatte Recht behalten. Dieses Treffen hatte Sinn gemacht. Auch wenn er das so freimütig niemandem gesagt hätte. Das einzige wirklich schlimme an diesem Treffen war, dass er jetzt ein Protokoll darüber anfertigen musste. Auch eine neue Vorgabe.
Elane Watts verließ als Letzte den Raum, während Drake Reed noch am Tisch saß. Er wollte noch schnell ein paar Besprechungsergebnisse festhalten und tippte dazu auf seinem Pad herum. Bevor sie auf den Gang hinaus trat wandte sie sich nochmal um.
„Mr. Reed“, begann sie vorsichtig.
Er sah auf. „Ja?“
„Ich freue mich darauf, auf der Republic
meinen Dienst leisten zu können.“
„Und wir freuen uns, Sie an Bord begrüßen zu können.“
„Danke“, strahlte sie über das ganze Gesicht. Und wieder konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie eine ganz besondere Aura umgab. Schwungvoll wandte sie sich um und verließ den Raum.
Drake sah noch einige Sekunden zu der Stelle, an der sie gestanden hatte, dann schüttelte er lächelnd den Kopf und konzentrierte sich wieder auf sein Pad.
Schwer atmend saß George Real im Umkleideraum der Sporthalle. Zusammen mit seinen Kollegen des Sicherheitsteams hatte er eine Trainingseinheit absolviert, die letzte, die sie auf der Erde machen würden. Für das nächste Training mussten sie wieder mit dem kleineren Trainingsbereich des Schiffes vorlieb nehmen. Daher hatte er sein Team nochmals in kompletter Besetzung zusammengerufen und sie ordentlich schwitzen lassen. Er wollte, dass sein Team immer in absoluter Topform war. Nur so konnte er die Sicherheit gewährleisten.
Natürlich hatte er sich selbst nicht geschont. Im Gegenteil. Nach dem offiziellen Training war er länger geblieben und hatte alleine weiter gemacht. Daher saß er nun auch alleine im Umkleideraum. Der Schweißgeruch angestrengter Körper lag noch in der Luft. Er selbst schwitzte ebenfalls, war nur im Moment noch etwas zu kurzatmig um sofort sein nasses Shirt auszuziehen. In Gedanken ging er nochmals sein Team durch. Sie hatten sich alle gut gehalten während sie sich auf der Erde aufhielten. Und die Neuen im Team waren echte Hinzugewinne. Besonders waren ihm Kasaja Holgrem und sein neuer Stellvertreter, der Andorianer Zien, aufgefallen. Beide hatten das Temperament von Löwen. Holgrem beherrschte die Kampftechniken besser als alle anderen und mit ihrer Fitness konnte nicht einmal er mithalten. Sie zählte mit Sicherheit zu den besten Personen, die er jemals kennen gelernt hatte. Sie hatte eine große Zukunft vor sich und es würde ihn gar nicht wundern, wenn sie eines Tages Sicherheitschefin im Stab des Föderationspräsidenten wäre.
Zien hatte ihn vom ersten Moment beeindruckt. Er war knapp zwei Meter groß. Seine schneeweißen Haare hoben sich deutlich von seiner blauen Haut ab. Trotz seiner Größe war er unglaublich wendig. Seine Kraft war nahezu unerschöpflich, selbst nach Ringkämpfen mit dem ganzen Team war er noch in der Lage Gewichte zu stemmen. Und dabei geriet er noch nicht einmal ins Schwitzen. Was aber der andorianischen Physiologie zuzuschreiben war. Da Andoria eine Eiswelt war hatte die Evolution dort jeden unnötigen Wasserverlust, der auf der Haut zu Erfrierungen führen würde, einfach ausgeschlossen.
Am interessantesten an Zien fand Real aber dessen Antennen, die sich auf seinem Kopf befanden. Zwei blaue knapp zehn Zentimeter lange Fortsätze, die aus dem weißen Haar hervor ragten. Und zu seiner Überraschung bewegten sie sich. Ob bewusst oder nicht, sie bewegten sich passend zur Stimmung des Andorianers. Sie ergänzten somit das Mienenspiel, dass auf seinem Gesicht lag. Dadurch wirkten die Andorianer viel emotionaler. Real war das bisher nie aufgefallen. Allerdings hatte er auch noch nie mit einem Andorianer zu tun. Dieses Volk gehörte zwar mit zu den Gründungsmitgliedern der Föderation, doch bisher taten nur wenige von ihnen Dienst in der Sternenflotte.
Die Andorianer waren ein sehr stolzes Volk und hatten eine militärische Tradition. Daher taten sie sich nach Gründung der Föderation schwer einer gemeinsamen Flotte zuzustimmen. Sie wollten ihre Imperialen Truppen behalten und diese als Streitmacht der Föderation erhalten. Es waren lange Auseinandersetzungen, die zehn Jahre nach Gründung beinahe wieder das Ende der Föderation bedeutet hätten. Es war nur der Bemühungen Admiral Archers, dem ehemaligen Captain der Enterprise
, zu verdanken, dass ein Kompromiss erzielt wurde. So durften die Andorianer ihre Flotte erhalten, neben der Sternenflotte. Tatsächlich bestand die Flotte immer noch. Die Imperiale Garde war zwar zu einer reinen Traditionsarmee geworden, trotzdem gingen die meisten jungen Andorianer lieber dorthin als zur Sternenflotte. Ein Trend, der sich aber langsam wandelte.
Reals Atmen wurde ruhiger. Er schloss für einen Moment die Augen, hielt den Atem an um ihn dann zischend wieder auszuatmen. Ja, er hatte ein gutes Team. Und im Notfall würde jeder sein Leben riskieren um die Sicherheit der Crew zu gewährleisten.
Sein Magen knurrte. Die lange Trainingseinheit auf nüchternen Magen forderte seinen Tribut. Langsam stand er auf, streifte sich sein Shirt ab und wischte sich damit den Schweiß von seinem kahl rasierten Schädel. Eine Errungenschaft, die er einem verlorenen Wettkampf mit Zien zu verdanken hatte. Der Verlierer, so hatten sie vereinbart, würde seine Haare verlieren. Real war sich sicher gewesen, dass er gewinnen würde, sonst hätte er sich darauf nicht eingelassen. Damals war Zien ganz neu im Team gewesen und Real wusste nicht, was ihn erwarten würde. Nun, er wurde eines besseren belehrt. Zien war eindeutig stärker als er, auch wenn man ihm seine Kraft nicht ansah. Neben Reals muskulösem Körper wirkte der Andorianer völlig untrainiert. Doch andorianische Muskeln schienen anders aufgebaut zu sein, denn er hatte den Sicherheitschef völlig überrascht und ihn in wenigen Augenblicken auf die Bretter gelegt. Danach waren die Haare fällig gewesen. Doch Real hatte sich schnell an die Glatze gewöhnt. Nach einiger Zeit fand er sogar, sie gab ihm ein gefährlicheres Aussehen. Und er war der Meinung, dass das einem Sicherheitsoffizier nur zugutekam. Und so sorgte er dafür, dass der Kopf kahl blieb.
Nachdem er geduscht hatte und in Uniform die Sporthalle verließ, piepste sein Kommunikator. Er nahm in hervor und aktivierte ihn.
„Mr. Real. Für die Führungscrew wurde ein Meeting im Hauptquartier einberufen,” erklärte ihm eine Frau aus dem Sekretariat. „Das Treffen wurde auf dreizehn Uhr angesetzt und findet im Raum 3.632 statt.“
Real bedankte sich und sah auf seine Uhr, nachdem er den Kommunikator eingesteckt hatte. Er hatte noch knapp zwei Stunden Zeit. Dann konnte er ja noch schnell etwas essen.
Sanawey war einer der ersten, der sein Quartier auf der Republic
bezogen hatte. Noch am Abend nach der Bekanntgabe des Starttermins hatte er zu packen begonnen. Viel war es eigentlich nicht. Da es von vornherein bekannt war, dass der Aufenthalt auf der Erde zeitlich begrenzt sein würde hatte er sich nur mit dem nötigsten eingerichtet. Trotzdem hatte sich im Laufe des Jahres noch mehr angesammelt, so dass er bis tief in die Nacht hinein mit packen beschäftigt gewesen war. Nun standen die Kisten in seinem Quartier. Zum Auspacken nahm er sich keine Zeit. Er inspizierte das Schiff, lies sich Neuerungen erklären und musste jeden Tag an mindestens einer Sitzung im Hauptquartier teilnehmen. Das Auspacken musste warten bis sie unterwegs waren. Selbst seine Klamotten waren noch in den Transportboxen verpackt. Lediglich zwei Uniformen und genügend Unterwäsche hatte er bereits im Schrank liegen.
So saß er nun auf seiner Couch mitten im Chaos und schnürte seine Uniformstiefel. In einer Stunde stand ein Treffen der Führungscrew im Hauptquartier an. Und da die Transporter noch nicht einsatzbereit waren musste er mit einem Shuttle zur Erde fliegen.
Die Republic
befand sich noch immer im Raumdock, in einer stationären Umlaufbahn um die Erde. Daher musste er mehrmals täglich pendeln um alle seine Termine wahrzunehmen. Ein Umstand, der ihm sehr missfiel. Doch blieb ihm kaum eine andere Wahl.
Nachdem er seine Stiefel geschnürt hatte erhob er sich und sah sich nochmals im Raum um. Immer wieder stellte er fest, in welchem Chaos man leben konnte. Auch wenn es ihm ganz und gar gegen seinen Ordnungssinn ging. In ein paar Tagen würde sich das ändern.
Mit seinen Unterlagen unter dem Arm verließ er das Quartier und ging durch die Gänge zum Hangar. Unterwegs grüßte er einen vorbeigehenden Techniker. Nach zwei Schritten blieb Sanawey stirnrunzelnd stehen und drehte sich um.
„Lieutenant“, rief er dem Mann nach.
Der Gerufene blieb stehen und wandte sich um. Es war ein junger Mann aus Wendy Brooks‘ Team. Sorgenfalten lagen auf seinem Gesicht und tiefe Ringe hatten sich unter den dunklen Augen gebildet. „Captain“, erwiderte er matt.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“ erkundigte sich Sanawey.
„Ja“, nickte der Mann.
„Sie sehen besorgt aus.“
Der Techniker lächelte matt. „Es ist nur so viel derzeit. Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll.“
„Ich weiß“, erwiderte Sanawey verständnisvoll. Der Zeitdruck für die Techniker und Ingenieure war enorm. Sie mussten den ohnehin schon engen Zeitplan von zwei Wochen in einer meistern. Damit wurde unmögliches von den Männern und Frauen erwartet. „Erledigen Sie einfach einen Punkt nach dem andern. Denken Sie nicht über alle Aufgaben nach sondern immer nur über die nächste anstehende. Auf die Art erscheint der Berg nicht ganz so groß. Ich weiß, sie alle leisten großartige Arbeit. Und wenn etwas ist, dann sprechen Sie mit Ihren Kollegen und Vorgesetzten. Oder kommen Sie direkt zu mir.“
„Ja, Sir“, nickte der Mann.
„Es ist eine absehbare Zeit. Sie schaffen das. Machen Sie das, was sie können. Niemand erwartet Wunder von Ihnen. Und wenn etwas nicht so funktioniert wie geplant, dann werden wir gemeinsam eine Lösung finden. Es wird keiner alleine gelassen.“ Sanawey hoffte, dass seine Worte ihm etwas Mut gemacht hatten.
„Ja, Sir. Danke.“ Der Mann hob entschuldigend sein Datenpad und ging dann weiter.
Sanawey sah ihm noch kurz nach. Er wusste, dass die Crew derzeit unmenschliches leistete. Er hoffte nur, dass niemand einen dauerhaften Schaden davon trug. Und nach dem Start würde sich die Situation wieder normalisieren. Schließlich hatten sie einen wahrscheinlich ereignislosen Erkundungsflug vor sich. Solche Missionen dienten der Crew meist zur Erholung, da der Dienst kaum Stress mit sich brachte.
Auf dem Shuttledeck ging er direkt auf das für ihn bereit stehende Shuttle zu und setzte sich neben den Piloten.
Der Landeplatz lag auf dem Dach des Hauptquartiers. Von hier aus führte ein Lift in die einzelnen Etagen des Gebäudes. Sanawey bevorzugte allerdings die Treppe. Vier Stockwerke nach unten, das traute er sich zu. Das hielt ihn fit. Und er musste die Gelegenheit noch nutzen. An Bord des Schiffes hab es keine Treppen. Dort konnte er nur den Lift nehmen.
Als er den Raum betrat stellte er fest, dass bereits alle anwesend waren und ihn erwarteten. Zielstrebig ging er zu seinem Platz, legte die Unterlagen vor sich auf den Tisch und sah in die Runde. „Letztes Meeting in diesen Räumen“, begann er laut und setzte sich dabei. „Sie alle wurden bereits über unseren Starttermin informiert. Derzeit versuchen die koordinierenden Stellen die letzten drei Crewmitglieder ausfindig zu machen. Offenbar hatten sie sich in den Urlaub verabschiedet ohne nähere Angaben zu ihren Zielen zu machen.“ Sanawey lächelte leicht. „Verständlich. Ansonsten sind die Crewmitglieder informiert.“
„Das Ziel unserer Mission ist allerdings noch unbekannt“, warf Reed ein. „Es gibt zwar Gerüchte, aber ich würde eine offizielle Version bevorzugen.“
Sanawey musste ihm recht geben. Die Gerüchte brodelten natürlich. Er selbst hatte auch schon die verrücktesten Dinge gehört. Wenigstens seine eigene Crew sollte Bescheid wissen. Daher berichtete er von dem Treffen mit den Admirälen und dem Geheimdienstchef Sanches. Von den seltsamen Messwerten, die die Wissenschaftler nicht eindeutig erklären konnten, von den Xindi und ihrer Aufgabe dabei. Den Teil mit den chronometrischen Partikeln und der Gefahr für den Zeitverlauf gab er nur mit dem Geheimhaltungsbefehl weiter. Seine Führungsoffiziere mussten es wissen, der Rest der Crew sollte allerdings erst einmal nicht unnötig in Aufregung versetzt werden. Dafür sorgte derzeit ohnehin schon der verfrühte Starttermin.
„Unsere Crew ist aber noch nicht vollzählig“, gab Williams zu bedenken. „Der Posten des Steuermannes und des Transportertechnikers sind noch unbesetzt.“
„Diese Posten sind bereits besetzt“, erwiderte Sanawey fest. „Mit Tworek und Karja.“
„Die beiden müssen erst ihre Prüfungen bestehen.“
„Sie sind für die beiden Posten vorgesehen und daran wird sich bis auf weiteres nichts ändern“, beharrte der Captain.
„Unser Spitzohr fehlt auch noch“, warf Reed ein und hoffte, damit das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Außer ihnen waren noch Wendy Brooks, Sylvia Jackson und George Real anwesend. Karja und Tworek als auch Sohral fehlten.
„Mr. Sohral werden wir nach unserem Start auf Vulkan abholen“, erklärte Sanawey. „Seine Verpflichtungen dort lassen es nicht zu, dass er früher zu uns stößt.“ Dann wandte er sich an die Chefingenieurin. „Wie ist der derzeitige Status der Reparaturen?“
Wendy gab ihren Bericht ab. Demnach funktionierten die wichtigsten Primärsysteme bereits weitgehend fehlerfrei. Nur der Transporter machte noch Probleme, aber auch das sollte bis zum Start erledigt sein. Alles andere wurde zurückgestellt und funktionierte somit nur sporadisch. Mit anderen Worten, ihre Reise würde wohl sicher sein, allerdings würden sie auf einige Annehmlichkeiten verzichten müssen.
Nach den einzelnen Berichten der Führungscrew sah Sanawey in die Runde. „Unser Abflug findet nun sehr überstürzt statt. Ich weiß, dass das für den einen oder anderen der Crew ein besonderer Stressfaktor ist. Die Sternenflotte wird uns aufgrund der Erlebnisse vor einem Jahr einen Counselor für das Schiff zuteilen. Sollten Sie feststellen, dass ein Crewmitglied Probleme hat oder vor einer Überlastung steht, zögern Sie nicht, diese Person an den Counselor zu verweisen. Ich will nicht, dass es zu unnötigen Ausfallerscheinungen kommt.“
Die Anwesenden nickten zustimmend.
„Wenn keine weiteren Fragen mehr sind“, fuhr Sanawey fort, wurde aber von Drake Reed sofort wieder unterbrochen.
„Captain, was machen wir, wenn wir die Xindi dort wirklich antreffen?“
Sanawey sah ihn einige Augenblicke lang an und wünschte sich Reed hätte diese Frage nicht gestellt. Er wusste selbst nicht genau, was sie in diesem Fall tun sollten. Die Admiräle hatten die Mission nur sehr vage beschrieben. Wohl auch, weil sie selbst nicht wussten, wie sie mit diesem mysteriösem Volk umgehen sollten. So hatte sie die Verantwortung abgegeben. Und sollte etwas schief gehen, hatten sie in dem Captain und der Crew einen Sündenbock.
„Sollten wir den Xindi begegnen, werden wir die Situation analysieren“, erklärte Sanawey vorsichtig, aber doch mit der Hoffung überzeugend zu wirken. „Und abhängig von dem, was wir dort vorfinden, werden wir handeln.“
Reed nickte wichtig, obwohl ihm anzusehen war, dass er sehr wohl verstanden hatte, dass Sanawey sich nur herausredete. „Aber egal, was wir tun, wir sollten auf jeden Fall genug Beweismaterial für die Existenz der Xindi sammeln. Ich will nicht, dass in hundert Jahren jemand behauptet, wir hätten nur Phantome gesehen und waren so leichtgläubig sie als Xindi zu bezeichnen.“
Die Anwesenden lächelten nur oder schüttelten den Kopf, ob dieser Bemerkung, die wieder einmal nur von Reed kommen konnte.
Sanawey lächelte ebenfalls und meinte: „Keine Sorge, Mr. Reed. Dafür werden wir sorgen.“ Erneut sah er in die Runde. Niemand gab ein Anzeichen noch eine Frage stellen zu wollen. „Dann sehen wir uns alle auf dem Schiff wieder“, beendete er das Meeting.
Danach verließen sie alle den Besprechungsraum um den zugeteilten Aufgaben nachzukommen. Es gab noch so viel zu tun, dass die verbleibende Zeit ohnehin kaum ausreichte.
Reed verließ zusammen mit Dr. Williams das Gebäude. Als er sicher war, dass niemand in der Nähe war wandte er sich an die Ärztin. „Das ist ja eine schöne Bescherung.“
Williams sah ihn fragend an.
„Die Mission“, erklärte er seinen Missmut. „Das Ganze stinkt. Das riecht doch geradezu nach einem Himmelfahrtskommando. Die Xindi. Ein Volk von dem niemand weiß, ob es das überhaupt gibt. Und dann unser völlig überstürzter Aufbruch. Man wirft uns ja geradezu den Haien vor. Das kann ja nur ins Auge gehen.“
„Das meinst du nicht ernst?“ Elizabeth sah ihn erstaunt an. „Glaubst du das etwa wirklich?“
„Du etwa nicht?“ gab er zurück.
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Ich glaube vielmehr, dass unsere Führungsriege völlig übertreibt. Vielleicht sind dort draußen die Xindi am Werk, vielleicht ist es auch jemand anderes. Aber das ist eigentlich völlig egal. Letztendlich werden wir nichts besonderes finden und die ganze Hektik und Panik war völlig umsonst.“
„Das glaubst du?“ fragte er ungläubig und sah sie an, als ob sie die Naivität in Person wäre.
„Ja.“ Unschuldig sah sie ihn an, bevor sie stichelte: „Ich sehe nicht hinter allem eine Verschwörung.“
Drake grinste sie schief an. „Ich habe das Wort Verschwörung nicht in den Mund genommen.“
Elizabeth verdrehte die Augen und schüttelte nur den Kopf.
In Richtung Hangar deutend fragte Reed: „Musst du nicht zurück aufs Schiff?“
„Nein, ich muss noch einiges an Ausrüstung für die Krankenstation koordinieren. Ich werde erst in ein paar Stunden an Bord kommen.“
„Da werde ich wahrscheinlich das Schiff wieder verlassen müssen.“ Sein Lächeln war matt. Der Terminplan ließ ihnen kaum eine Möglichkeit zum Durchatmen.
Sie nickte verständnisvoll. „Wir sehen uns. Irgendwann.“
„Ja, spätestens nach dem Abflug“, erwiderte er spitz. Nach einem kurzen Drücker trennten sich ihre Wege.
Mit einem etwas seltsamen Gefühl stand Sylvia Jackson vor dem Grundstück und starrte die Treppe entlang. Es war ein schönes Haus umgeben von einem großen Garten mit sattem Grün. Die wenigen Stufen der Treppe verteilten sich auf ungefähr fünfzig Meter und gaben dem Haus einen erhabenen Eindruck. So, als wolle es sich durch diese leichte Erhebung vom Rest der Welt abheben. Der Rasen war säuberlich gemäht. Vor dem Küchenfenster gab es ein kleines Beet in dem Kräuter wuchsen. Links vom Haus stand ein großer Baum, an dem die Blütenknospen bereits anzeigten, dass er bald in voller Blüte stehen würde. In unmittelbarer Nähe war eine Schaukel fest im Boden verankert. Sylvia wusste, dass sie in der Mittagssonne vom Schatten des Baumes profitieren würde.
Irgendwo in der Nähe saß ein Vogel im Baum und sang sein Lied. Es wirkte alles sehr ruhig und vertrauenerweckend.
Trotzdem hatte sie jedes Mal dieses seltsame Gefühl, wenn sie ihre Schwester besuchte. Amber war glücklich verheiratet mit einem tollen Mann, hatte eine süße Tochter, ein eigenes Haus und noch dazu einen tollen Job. Sie hatte alles richtig gemacht. Neben ihr kam Jackson sich immer etwas klein vor. Was hatte sie denn vorzuweisen? Sie war stellvertretender Commander an Bord eines Raumschiffes, ständig der Gefahr ausgesetzt zu sterben. Sie war Single, hatte immer Pech mit Männern und an Kinder wollte sie gar nicht mehr denken. Sie war glücklich mit ihrem Leben, meistens. Doch wenn sie hier war hatte sie immer das Gefühl, ihr Leben hätte anders verlaufen können. Und vielleicht auch besser.
Sie ging den Weg zum Haus und klingelte.
Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Türe. Amber stand vor ihr. Sie sah ihrer Schwester gar nicht ähnlich. Ihr Aussehen war so unterschiedlich wie die Welten in denen sie lebten. Amber hatte ein etwas runderes Gesicht, obwohl sie nicht wesentlich schwerer war als Sylvia. Die dunklen Haare waren die einzige Ähnlichkeit, allerdings waren Ambers Haare deutlich länger. „Hallo, Sylvia“, sagte sie. Sie war freundlich, aber es war nicht die Herzlichkeit zu spüren, die es manchmal zwischen Schwestern gab. Sie hatten keinen Streit, aber sie waren sich noch nie sehr nahe gewesen. Nachdem Sylvia von zu Hause ausgezogen und zur Sternenflotte gegangen war hatten sie sich einmal im Jahr zu Weihnachten kurze Botschaften zukommen lassen. Ansonsten pflegten sie keinen Kontakt. Auch damals ohne Groll, es gab eben einfach keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, außer dass sie die gleichen Eltern hatten. Erst die Geburt der kleinen Emily hatte dies geändert. Der Kontakt wurde wieder aufgenommen. Sylvia meldete sich nun öfters bei ihrer Schwester und kam sie besuchen sooft sie auf der Erde war. Sie wollte ihrer Nichte eine gute Tante sein.
Durch den langen Aufenthalt auf der Erde hätte sie nun öfters vorbei schauen können. Aber nach den ersten Besuchen merkte sie doch, dass das nicht gut war. Die beiden Schwestern bemerkten dabei die Distanz zwischen ihnen einfach zu deutlich. So hatte es Sylvia vorgezogen ihrer Schwester nur ab und zu einen Besuch abzustatten und lieber allein mit ihrer Nichte kleine Ausflüge in den Zoo oder zum Baden zu unternehmen.
Nach der Mitteilung, dass die Republic
nun früher als erwartet wieder starten würde fiel ihr der Abschiedsbesuch schwer. Sie hatte sich sehr an die Gesellschaft ihrer Nichte gewöhnt. Die Kleine hatte es geschafft, dass ihre sonst so verschlossene Tante sich öffnete. Und das war ein schönes Gefühl. Nur fiel es ihr schwer, das auch in Gesellschaft anderer zu tun.
„Hallo Amber“, grüßte Sylvia zurück. Dann folgte sie ihrer Schwester ins Haus und in die Küche.
„Du kommst überraschend“, sagte Amber und räumte weiter die Küche auf bei deren Tätigkeit sie wohl gestört worden war.
Sylvia hatte von unterwegs aus angerufen und ihren Besuch angekündigt. Es war sehr spontan gewesen, aber es bot sich die Gelegenheit dazu und sie wusste nicht, ob sie nochmal zu einem solchen Ausflug gekommen wäre. Daher machte sie sich auf den Weg und hoffte einfach, dass sie nicht vor verschlossener Türe stehen würde. Erst unterwegs überlegte sie sich dann, dass es nicht sonderlich klug gewesen wäre mit der Tür ins Haus zu fallen. Und so rief sie doch noch schnell an. „Ich wollte euch nochmal sehen“, erklärte sie.
Amber hielt in ihrer Arbeit kurz inne und schaute ihre Schwester an. „Das klingt nach Abschied.“
„Ja“, nickte Sylvia. „Unser Start wurde vorverlegt. Bereits in drei Tagen legen wir ab.“
Amber nickte und machte dann weiter. „Und wohin geht es diesmal?“
„In den Sektor 859J.“ Sylvia lächelte. Sie wusste, dass Amber damit nichts anfangen konnte. Ihre Schwester hatte keine Orientierung im Weltraum. Sie wusste wo sie buchen musste um an ihr Ziel zu kommen. Mehr interessierte sie auch nicht. Sie verließ die Erde ohnehin nur selten. Und das Sonnensystem sowieso nur, wenn einmal ein besonderer Urlaub anstand. „Wir sollen feststellen, ob es dort Xindi gibt.“
„Xindi?“ wiederholte Amber stirnrunzelnd. „Nie gehört.“ Auch Geschichte hatte sie nie interessiert.
Sylvia beschloss, dass es keinen Sinn machte das Gespräch in der Richtung weiter zu führen. Daher fragte sie: „Wo ist Emily?“
„Sie spielt oben in ihrem Zimmer.“
„Und sie kam nicht runter als ich geklingelt habe?“ wunderte sich Sylvia.
„Wahrscheinlich heckt sie wieder etwas aus. Manchmal kann sie einen in den Wahnsinn treiben. Ich werde es jetzt mal mit ignorieren probieren.“
„Dann sehe ich besser mal nach.“ Sylvia löste sich von dem Platz an dem sie gestanden hatte und ging die Treppe hinauf nach oben. An der Tür zum Kinderzimmer blieb sie stehen und klopfte. Etwas raschelte, dann hörte sie ein kindliches „Herein“.
Sie trat ein und sah Emily auf dem Boden sitzen mit einer Puppe in der Hand. Sie sah mit großen Kinderaugen auf und ein Strahlen trat auf ihr Gesicht als sie Sylvia sah. „Tante Sylvia“, rief sie und sprang auf.
Sylvia nahm sie auf den Arm und drückte sie an sich. Emily war ein süßes, fünfjähriges Mädchen. Sie hatte große blaue Augen und dunkelblonde Haare. Sie schlug eindeutig mehr nach ihrem Vater. Wobei die meisten fanden, vom Gesicht her ähnele sie mehr Sylvia. Aber das fanden beide eindeutig nicht so.
„Das ist ja eine Überraschung“, piepste Emily. „Hast du mir was mitgebracht?“
Sylvia verzog entschuldigend das Gesicht. „Tut mir leid, mein Engel. Aber das war so ein spontaner Entschluss euch zu besuchen, dass ich nichts mitbringen konnte.“
„Das macht nichts. Wichtig ist, dass du da bist“, sagte sie mit einer altklugen Art, die Kindern in ihrem Alter eigen war. „Komm spiel mit mir.“ Sie zog Sylvia auf den Boden und drückte ihr die Puppe in die Hand. „Du bist die Oma.“
„Sehe ich etwa so alt aus?“ lachte Sylvia.
„Nein, doch nur die Spieloma. Weil ich bin ja die Mama. Und du als Oma bist jetzt zu Besuch da.“
Sie spielten den ganzen Nachmittag miteinander. Erst Familie, dann Prinzessin. Zwischendurch musste Sylvia ihr Geschichten vorlesen oder von ihren Abenteuern erzählen. Das taten sie immer ganz leise, damit Amber das nicht mitbekam. Sie war gar nicht begeistert davon, dass Sylvia ihrer Tochter von fremden Orten erzählte. Sie befürchtete wohl, dass auch Emily eines Tages zur Sternenflotte gehen könnte.
Und natürlich musste Emily ihrer Tante auch zeigen was sie alles neu gelernt hatte seit dem letzten Besuch. Sie konnte inzwischen ein Rad schlagen, auch wenn es ihr beim Vorführen nicht so recht gelingen wollte. Sie lachten viel zusammen und Jackson genoss die einfache und klare Art des Kindes. Das war viel angenehmer als die Gesellschaft widersprüchlicher und oft unehrlicher Admiräle.
Als Amber sie zum Abendessen holte saßen Emily und Sylvia im Schneidersitz auf dem Boden und spielten mit den Puppen Prinz und Prinzessin. Emily wollte gar nichts essen, aber Sylvia überredete sie und so saßen sie dann doch gemeinsam am Tisch in der Küche.
„Wo ist Paul?“ fragte Sylvia als sie merkte, dass nur für drei gedeckt war.
„Er rief vorher an. Sie haben noch eine Sitzung anberaumt. Er kommt erst später.“
„Papa kommt erst heim wenn ich schon schlafe“, wusste Emily wohl aus Erfahrung.
„Oh je“, sagte Sylvia nur.
„Ja. Wie ich es hasse, wenn sie das tun“, sagte Amber leidenschaftslos. „Kurzfristig am Abend muss noch etwas besprochen werden. Was kann so wichtig sein, dass es nicht bis morgen warten kann. Die Regierung betont doch immer, wie wichtig die Familie sei, aber die Firmen interessiert das wohl nicht. Und die Firmen zwingen kann sowieso keiner.“
Während des Essens unterhielten sie sich über ganz allgemeine Dinge. Emily wollte immer alles erklärt bekommen. Sie kam Sylvia wie ein Schwamm vor, der ständig alles in sich aufsog. Es war faszinierend zu sehen, wie einfach ihre Nichte alles aufnahm und kombinierte. Sie wünschte sich, auch so einfach lernen zu können.
Nach dem Essen kam der schwerste Teil. Sylvia musste zurück. Sie ging in die Knie, hielt ihre Nichte an beiden Schultern und sah sie an. „Ich muss gehen“, sagte sie.
Emily nickte tapfer. „Du fliegst wieder weg, oder?“
„Ja.“ Sie musste es irgendwie gespürt haben, denn Sylvia hatte ihr gegenüber noch nichts erwähnt.
„Wann kommst du wieder?“
„Ich weiß es noch nicht. Aber wenn ich wieder auf der Erde bin schaue ich als erstes bei dir vorbei. Versprochen.“
Emily nickte nur. Sie kämpfte gegen die Tränen. Es war so schön für sie, dass sie ihre Tante in letzter Zeit so oft sehen konnte. Und nun ging sie wieder und kam vielleicht erst wieder in Monaten oder gar Jahren zurück. Sie verstand es nicht, wie sie Erwachsene so oft nicht verstand. Aber sie wusste auch, dass sie nichts dagegen tun konnte. Sie fiel Sylvia um den Hals und schluchzte. Auch Sylvia standen Tränen in den Augen.
Amber schaute sie mit seltsamem Blick an. Das kannte sie von ihrer Schwester nicht. Normalerweise war Sylvia sehr diszipliniert. Sie zeigte nur selten ihre wahren Gefühle. Dass sie auch welche hatte oder gar weinen konnte, das war Amber bisher noch nie bewusst gewesen.
„Komm ganz bald wieder“, schluchzte Emily und drückte sie so fest, dass Sylvia das Gefühl hatte vor lauter Liebe erdrückt zu werden.
Sie streichelte ihrer Nichte über den Rücken. „Ich komme wieder, ich verspreche es.“
Nach etlichen Minuten ließ Emily sie schließlich los. Sylvia stand auf, gab ihrer Nichte aber zuerst noch einen Kuss auf die Stirn. Dann drehte sie sich um und ging schnell zur Tür hinaus. Auf dem Weg zur Straße wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Es sollte schließlich niemand sehen, dass sie geweint hatte. Doch es gelang ihr nicht. Der Fluss der Tränen wollte nicht aufhören.
ZWEI
Die Woche verging wie im Flug. Alle waren so mit ihrer Arbeit und den Vorbereitungen für den Flug beschäftigt, dass niemand hätte sagen können, wo die Zeit hingegangen war. Egal wie viel oder wie schnell sie arbeiteten, es schien nie genug Zeit übrig zu sein. Die Zeit wurde knapper, doch die noch zu bewältigenden Aufgaben nahmen einfach nicht ab.
Karja und Tworek hatten die Woche genutzt und intensiv gelernt. Doch je näher sie den Prüfungen gekommen waren, desto aufgeregter wurde Karja. Schließlich war sie soweit gewesen, dass ihr die Prüfung auf einmal egal war. Sie wollte einfach nur noch, dass es vorbei war.
Und nun war es soweit. Sie musste beweisen, was sie gelernt hatte. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Sie kam nicht weiter. Seit einigen Minuten hing sie an dieser Aufgabe, doch ihr Kopf schien wie leer gefegt. Sie sollte die historische Beziehung der Vulkanier und Andorianer zueinander vor dem Auftreten der Menschheit beschreiben. Und zwar die letzten fünfhundert Jahre. Das hatten sie zwar gelernt, aber Karja interessierte sich nicht für vergangenes. Die Gegenwart und die Zukunft, das war es, was für sie zählte. Daher konnte sie sich Geschichte einfach nicht merken. Und schon gar nicht, wenn es nichts mit Menschen zu tun hatte. Aber für die Prüfungen zählte das alles nicht. Sie musste es einfach wissen.
Sie sah von ihrem in dem Tisch eingelassenen Bildschirm auf. Im Prüfungsraum der Sternenflottenakademie waren an die dreihundertfünfzig Kadetten anwesend, die alle ihre regulären Prüfungen machten. Karja und Tworek waren zu den anderen Absolventen dazu gesetzt worden. Schließlich sollte ihre Abschlussprüfung sich nicht von den Anderen unterscheiden.
Sehr weit vorn konnte Karja den Lockenkopf des Halbvulkaniers entdecken. Er hatte sich über seinen Bildschirm gebeugt und tippte unablässig Daten ein. Natürlich, er hatte keine Probleme mit den Fragen und Aufgaben. Vermutlich würde er als Jahrgangsbester abschneiden. Während sie sich nicht sicher war, ob sie überhaupt bestehen würde. Doch was würde sie dann tun? Was konnte sie dann noch tun? Sie wusste es nicht, da sie sich darum noch nie Gedanken gemacht hatte. In der Welt, in der sie aufgewachsen war, hatte sie sich mit kleineren Zusatzarbeiten durchgeschlagen. In der entfernten Außenwelt der Föderation war die Zivilisation noch nicht in vollem Umfang angekommen. So gab es weiterhin Armut, Elend und Gewalt. Und Karja hatte nach ihrer Schulausbildung keine Arbeit bekommen. Damals hatte sie nicht weiter als bis zum nächsten Tag gedacht. Und seit sie auf der Republic
war hatte sie nicht mehr an die Zukunft gedacht, sondern die Zeit einfach nur genossen. Doch wenn sie jetzt versagte, was würde dann werden?
Was würde ihr Vater von ihr denken? Sie wollte, dass er stolz auf sie war. Doch wenn sie die Prüfung nicht bestand? Sie würde ihn damit bestimmt bitter enttäuschen. Auch wenn er sich das wohl kaum anmerken ließe. Wie konnte sie ihm dann wieder unter die Augen treten?
Und auch die anderen Offiziere, die zum Teil doch ihre Freunde waren. Was würden sie nur sagen? Wahrscheinlich, dass es nicht schlimm sei und das Leben weiter ginge. Doch sicherlich wären auch sie enttäuscht. Enttäuscht, ihr Vertrauen in Karja nicht bestätigt zu sehen. Und dann würden sie ohne sie aufbrechen.
Nein, das durfte nicht passieren. Konzentration. Es hatte doch so gut angefangen. Gut, die ersten Fragen waren einfach. Vermutlich um den Prüflingen die Angst zu nehmen. Wann wurde die Föderation gegründet? Oder wer waren die Gründungsmitglieder der Föderation? Einfach, selbst wenn man sich nicht für Geschichte interessierte. Andorianer, Tellariten, Vulkanier und Menschen im Jahr 2161. Auch die technischen Fragen zum Warpantrieb oder zum Transporter waren für Karja kein Problem. Für technische Dinge hatte sie eine Begabung, hier konnte ihr niemand so leicht etwas vormachen.
Schwieriger waren da schon die sozialen Fragen und die ethnischen Aufgaben. Auch rechtliche Dinge empfand sie als nicht ganz einfach. Diese Aufgaben löste sie nur mit großer Verunsicherung und hinterher war sie sich nicht sicher, ob sie alles richtig hatte.
Sie hoffte darauf, dass diese theoretische Prüfung eben einfach reichte. Zu allem Übel kam noch hinzu, dass sie den praktischen Teil der Prüfung nicht machen musste. Dort hätte sie ihre Stärken zeigen können. Da war sie sich sicher. Immerhin hatte sie bereits ein halbes Jahr auf der Republic
mitgeholfen. Das hätte ihr geholfen. Allerdings hatte sie auch schon eine Menge Gerüchte über den Kobajashi Maru-Test gehört, einen Teil der praktischen Prüfung. Anscheinend konnte man diesen Test nicht bestehen. Noch niemand hatte das. Doch für sie spielte das keine Rolle mehr. Daher musste die Theorie-Prüfung klappen.
Ein nicht ganz unwichtiger Faktor war, dass Karja unter Prüfungsangst litt. In der Praxis konnte sie sicher mehr Dinge bewältigen als in Prüfungen, wenn sie nicht ständig das Gefühl hatte, von Prüfern, Richtern ihrer Meinung nach, beobachtet zu werden. Und obwohl in der Praxis Leben von ihren Taten abhängen konnte, so konnte sie mit diesem Druck doch besser umgehen.
Sie zwang sich, sich wieder auf ihre Prüfungen zu konzentrieren. Sie musste einfach bestehen.
Lesen, überlegen, nochmal lesen, Antwort, nächste Aufgabe. So ging sie den Prüfungsbogen durch. Manche Aufgaben musste sie auch auslassen, weil ihr einfach keine Lösung einfiel. Antwort um Antwort arbeitete sie sich vor, in einem schier unendlich langen Aufgabenkatalog.
Dann ertönte der Signalton. Die Zeit war vorüber. Karja hatte noch drei Aufgaben vor sich, doch sie hatte keine Chance mehr. Der Computer speicherte den aktuellen Stand des Prüfungsbogens ab, dann erloschen die Bildschirme. Bewegung kam in die Kadetten. Ein Stühlerücken begann. Einige beeilten sich aufzustehen um schnell den Ort ihrer vermeintlichen Niederlage verlassen zu können. Andere blieben sitzen und starrten weiterhin auf die dunklen Bildschirme. Womöglich gingen sie in Gedanken nochmals alle Aufgaben durch und versuchten schon ein erstes Gefühl für die abgelieferte Leistung zu bekommen. Und wieder andere begannen aufgeregte Gespräche und verglichen ihre Lösungen mit denen der Mitstreiter.
Karja stand langsam auf. Sie wollte nicht mehr denken. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leer an. Die Prüfung hatte sechs Stunden angedauert und ihr alles abverlangt. Sie hatte sich lange höchst konzentrieren müssen und nun begann ihr Kopf zu schmerzen. Und sie fühlte sich benebelt. Sie wollte nur noch raus an die frische Luft und danach am besten sofort ins Bett fallen. Und nie wieder denken müssen.
Doch viel Zeit blieb ihr nicht. Aufgrund des Terminplanes der Republic
blieb nur ein Tag bis zum Start.
Auf dem Gang vor dem Raum traf sie auf Tworek. Gemeinsam gingen sie zum Hauptausgang der Akademie. Ringsherum schnatterten die Kadetten. Zwischendurch Jubel, wenn mehrere die gleiche Lösung hatten und somit offensichtlich richtig lagen. Aber auch Aufstöhnen, wenn sich bei einem Kadetten die Erkenntnis durchsetzte, eine Aufgabe falsch gelöst zu haben.
„Wie lief es bei dir?“ wollte Karja vom Halbklingonen wissen.
„Die Aufgaben waren passabel und lösbar“, war seine undefinierbare Antwort.
Karja sah ihn an und stupste ihn dann in die Seite. „Ach, komm schon, was denkst du? Wirst du die volle Punktzahl erreicht haben?“
„Das kann ich noch nicht sagen. Das wird sich zeigen.“ Auch er sah sie an und es war als ob sich seine Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln verzogen hätten. „Aber ich denke, dass die volle Punktzahl im Bereich des Möglichen liegt. Und bei dir?“
Karja verzog skeptisch das Gesicht. „Ich muss froh sein, wenn ich bestanden habe.“
„Bleibe optimistisch. Du wirst sehen, es ist nicht so schlimm wie du befürchtest.“
„Lieb von dir“, lächelte Karja müde. „Aber ich denke ich kann es ganz gut einschätzen. Und das sagt mir, dass es knapp wird.“ Sie seufzte. „Aber ich kann es nicht mehr ändern. Komm, lass uns noch irgendwo ein Bier trinken gehen. Dann kann ich vielleicht besser schlafen.“
„Du hast noch nichts für den Abflug gepackt“, hielt Tworek entgegen.
„Wer weiß, ob ich das überhaupt muss.“ Sie hakte sich bei ihm und zog ihn mit. „Und nun keine Widerrede mehr. Und kein Wort mehr über die Prüfungen.“
Die Sonne war gerade im Begriff unterzugehen und zauberte ein feuerrotes Wolkenmeer an den Himmel. Ein Bild wie gemalt und doch hätte kein Künstler das so kraftvoll erschaffen können. Tworek nickte nur. Gemeinsam verließen sie das Geländer der Akademie.
Wütend schleuderte Droga das Datenpad, das er eben noch studiert hatte, auf den Tisch. Seine Augen funkelten böse als er aufsah. Die Informationen, die er soeben erhalten hatte, waren ungeheuerlich. Er fühlte sich verraten. Verraten von seinen eigenen Leuten. Wobei er sich nicht mehr sicher war, ob es wirklich seine Leute waren. Sie kamen zwar ursprünglich vom selben Planeten, doch endeten damit ihre Gemeinsamkeiten.
Zornig sah er seinen Adjutant an, der zurückhaltend vor dem Schreibtisch stand. „Sind diese Informationen bestätigt?“
Der Adjutant sah ihn an und nickte. „Ja, Herr.“
„Der Rat soll augenblicklich zusammen kommen“, befahl Droga und konnte sich nur mühsam beherrschen.
„Jetzt?“ sah ihn sein Gegenüber ungläubig an. „Das dürfte schwierig werden...“
„Das interessiert mich nicht“, bellte Droga ihn so heftig an, dass er erschrocken einen Schritt zurück wich.
„Ja, Herr“, kam die Antwort, dann drehte der Adjutant sich auf dem Absatz um und verließ fluchtartig den Raum.
Droga starrte noch ein paar Minuten auf seinen Schreibtisch. Er musste sich beruhigen, wenn er noch vor den Rat treten wollte. Doch es wollte ihm kaum gelingen. Ihm war es fast so, als ob er das Rauschen seines Blutes in den Ohren hören konnte. Am liebsten hätte er jetzt die komplette Inneneinrichtung des Raumes zerlegt. Doch würde ihn das nicht weiterbringen.
Tief durchatmend trat er ans Fenster und sah hinaus. Von hier aus hatte er einen guten Überblick über die Stadt. Im gelblichen Licht der untergehenden Sonne flimmerte die Luft über den Häusern. Ein heißer Tag lag hinter ihnen. So wie überhaupt die meisten Tage hier heiß und trocken waren. Es war sicherlich nicht der schönste Planet. Aber die besseren Planeten waren zu den neuen Heimatplaneten der Xindi-Rassen geworden. Und so hatte man sich auf diesen Planeten als Ratssitz geeinigt. Für einen Rat, den keiner so recht haben wollte, den man aber aus Tradition beibehielt. Und aus der Erinnerung des schrecklichen Krieges, der den alten Heimatplaneten und eine Xindi-Rasse vernichtet hatte. Dieser Krieg lag zwar schon so weit zurück, dass es schon lange keine Zeitzeugen mehr gab. Doch das Wissen, dass ein Teil der Xindi nicht mehr existierte schockierte sie noch immer. Zudem war der Rat inzwischen das einzige Gremium, in dem die verschiedenen Xindi-Spezies noch miteinander sprachen. Diplomatische Vertretungen untereinander gab es nicht und auch der Handel war so gut wie zusammengebrochen.
Droga wusste nicht mehr, wie lange er am Fenster gestanden hatte. Die Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden und die Lichter der Stadt funkelten in der Dunkelheit, als es an der Tür klopfte.
„Herein“, rief er laut.
Sein Adjutant trat ein und meldete: „Der Rat hat sich versammelt und ist bereit Sie anzuhören.“
„Ich komme.“ Droga nahm das Datenpad vom Tisch auf und ging zur Tür.
„Allerdings“, hielt sein Adjutant ihn auf.
„Ja?“ fragte Droga gedehnt.
„Der Rat ist nicht vollständig. Die Reptilianer und die Insektoide lassen sich entschuldigen.“
„Wenn das mal kein Eingeständnis ihrer Schuld ist“, brummte Droga, dann verließ er den Raum mit dem Ziel Sitzungssaal.
Den Sitzungssaal kannte er zur Genüge. Als Vertreter der humanoiden Xindi war er bei jeder Ratssitzung dabei. In der Mitte des Raumes stand ein großer fünfeckiger Tisch. Auf vier Seiten des Tisches waren Stühle verschiedenster Art angebracht, ausgerichtet auf die Bedürfnisse des jeweiligen Nutzers. Auf der fünften Seite befand sich ein großes Fenster in der Wand, dessen dahinterliegender Raum vollständig mit Wasser gefüllt war. Dies war die einzige Möglichkeit für die Aquarianer an der Sitzung teilzunehmen, da diese Spezies nur im Wasser leben konnte.
Als Droga nun den Sitzungssaal betrat waren seine Kollegen der Aquarianer und der Arboreale bereits anwesend. Der Aquarianer hatte einen schlanken, stomlinienförmigen Körper und wirkte ein wenig, wie ein übergroßer Aal. An seinem vorderen Ende ging sein Körper in ein Gesicht über, dem jedoch eine eindeutige Nase und die Ohren fehlten. Ansonsten wirkte es fast wie das Gesicht eines Humanoiden. Während er am Ende seines Körpers eine Heckflosse hatte, waren die Flossen vorne zu Armen mit Händen entwickelt, die die Grundvoraussetzung für den Umgang mit einer Technologie waren.
Der Arboreale sah aus, wie eine Mischung aus einem Orang-Utan und einem Faultier. Sein Gesicht war von einem üppigen Bart und langen Haaren bedeckt, die bereits weiß waren. Mit seinen langen Fingern fuhr er sich ständig durch den Bart, so als wolle er ihn damit kämmen. Allerdings geschah das nur langsam und zeigte, wie ruhig diese Spezies normalerweise war.
„Ich hoffe, es gibt einen Grund, weshalb Sie uns zu so später Stunde noch zusammenrufen“, begrüßte ihn Durat, der Vertreter der Arborealen schläfrig. Der Faultiervergleich, den die Menschen hergestellt hatten, war wohl nicht von der Hand zu weisen.
„Den gibt es“, antwortete Droga grimmig und warf ihm das Datenpad hin.
„Nennen Sie uns augenblicklich den Grund für Ihr respektloses Verhalten“, übersetzte der Computer den Gesang des Aquarianers.
„Das werde ich Ihnen sagen. Dieses Pad“, begann Droga und zeigte wild gestikulierend darauf. „Dieses Pad enthält Beweise darüber, dass wir hintergangen wurden. Und zwar von den Insektoiden und den Reptilianern.“
„Fahren Sie fort.“ Das Interesse des Aquarieners war geweckt.
„Vor etlichen Jahren tauchte an unseren Grenzen ein fremdes Volk auf, die Adrac. Für uns alle war das ziemlich überraschend, da zuvor noch niemand etwas von diesem Volk gehört hatte. Wir dachten, die offensichtliche schnelle Entwicklung wäre eine Ausnahmeerscheinung der Evolution. Oder aber, sie wäre durch den Einfluss von außen entstanden.
Vor drei Monaten ist ein Erkundungsschiff der Adrac auf dem Heimatplaneten der Humanoiden abgestürzt. Wir konnten das Schiff und die Crew bergen, hielten den Vorfall aber geheim.“
„Das ist ungeheuerlich“, warf der Aquarianer empört ein.
„Unseren Wissenschaftlern ist es nun gelungen, die DNA der Adrac zu entschlüsseln“, fuhr Droga unbeeindruckt fort. Dann hob er seine Stimme. „Der Kern der DNA der Adrac ist Xindi.“
Schockiertes Schweigen breitete sich im Raum aus. Der Xindi-Arboreale ließ sogar vor Schreck das Pad fallen, das polternd zu Boden fiel. Droga sah ihn böse an und bückte sich dann, um das Pad wieder aufzuheben.
„Wie ist das möglich?“ wollte der Aquarianer wissen. Aufgeregt paddelten seine Flossen im Wasser. „Eine verschollen geglaubte Xindi-Spezies?“
„Das wissen wir noch nicht genau. Aber es ist mit Sicherheit keine Xindi-Spezies. Es sind nur Sequenzen unser DNA. Und auch nur DNA-Sequenzen der Reptilianer. Ich hatte gehofft hier eine Antwort zu bekommen. Aber unser Kollege glänzt durch Abwesenheit.“
„Ihre Anschuldigung muss genau untersucht werden“, verlangte der Aquarianer.
„Das ist noch nicht alles“, warf Droga ein und fragte sich, warum die Humanoiden immer solche Dinge aufdecken mussten. Es lag wohl schlicht daran, dass die Aquarianer sich nicht um die Belange der anderen kümmerten. Und die Arboreale waren zu bequem um Geheimdienstaktivitäten zu entwickeln. „In Sektor 859J bauen die Reptilianer etwas. Etwas Großes. Wir haben ihre Schiffe beobachtet. In den Sektor selbst kommen wir nicht unbemerkt hinein.“
„So ist das also. Sie spionieren uns nach“, dröhnte eine tiefe Stimme von der Tür her.
Droga fuhr herum. Soeben betraten die Vertreter der Reptilianer und der Insektoiden den Raum. Selbstbewusst gingen sie zu ihren Plätzen blieben jedoch vor dem Tisch stehen anstatt sich zu setzen.
„Was geht hier vor sich?“ donnerte der Reptilianer. „Wozu diese außerordentliche Ratssitzung?“
„Sie wagen es, sich aufzuregen?“ hielt Droga aufgebracht entgegen. „Sie haben den Rat hintergangen. Sie haben eigenmächtig gehandelt.“
„Wovon reden Sie?“ knurrte der Reptilianer gefährlich.
„Von den Adrac und den Experimenten in Sektor 859J“, schleuderte Droga ihm die Worte förmlich entgegen.
„Uns wurden Beweise vorgelegt, dass die Adrac genetisches Material der Reptilianer in ihrer DNA besitzen“, sagte der Vertreter der Arboreale in betont ruhigem Tonfall. Offenbar wollte er die aufgebrachten Kollegen beruhigen. „Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass die Reptilianer den Sektor 859J für sich in Anspruch nehmen.“
„Sektor 859J ist eine interne Angelegenheit der Reptilianer“, kam die selbstbewusste Antwort.
„Das ist es nicht“, fuhr Droga auf. „Dieser Sektor war bisher neutral, keine Xindi-Rasse hatte einen Anspruch darauf erhoben. Wenn Sie diesen Sektor für sich beanspruchen wollen muss das vorher mit dem Rat abgesprochen werden.“
Der Reptilianer schnaubte verächtlich. „Dieser Rat ist eine Farce.“
„Zügeln Sie Ihre Worte, Lerak.“
„Wir sollten uns auf die Fakten konzentrieren“, übersetzte der Computer den Aquarianer.
„Ja, das sollten wir“, lenkte Droga noch immer anklagend ein. „Fangen wir damit an, dass das Erbgut der Adrac die DNA von Reptilianern aufweist. Wie ist so etwas möglich?“
„Wenn Sie etwas andeuten wollen, dann sagen Sie es frei heraus“, forderte Lerak ihn auf.
„Ich brauche nichts anzudeuten. Die Fakten sprechen eindeutig für sich. Sie haben an der DNA der Adrac herumgepfuscht.“ Droga war nun ebenfalls aufgestanden und stützte sich vorgebeugt auf den Tisch.
Lerak lächelte süffisant, was Droga noch mehr zur Weißglut brachte und ihm einen hochroten Kopf bescherte.
„Die Verbesserung der Adrac war ein Meisterstück, das muss ich zugeben. Leider geht dieser Erfolg nicht auf unser Konto.“
„Was soll das heißen?“ Droga witterte bereits ein neues Ablenkungsmanöver des Reptilianers. Aber darauf wollte er auf keinen Fall eingehen.
Der Insektoid neben Lerak begann mit Klick- und Zirplauten zu sprechen. „Wir haben die Adrac erschaffen“, übersetzte auch hier der Computer.
Damit hatte Droga nicht gerechnet. Er war so von der Schuld der Reptilianer überzeugt gewesen, dass er für einen Augenblick sprachlos war.
„Das widerspricht der Ethik der Xindi“, erklärte der Arboreale Durat mit ruhiger Stimme, obwohl das Zucken seiner langen Krallenfinger verriet, dass er in Erregung geriet. „Wir teilen unsere DNA mit niemandem. Wir sind auch so schon vielfältig genug.“
„Das ist Ihre Meinung“, erwiderte der Insektoid schlicht.
„Aber wieso ausgerechnet die DNA der Reptilianer?“ wollte Droga wissen. „Wieso nicht Ihre eigene?“
„Die Adrac waren schon immer reptilienartige Wesen. Sie waren primitiv und aggressiv, als wir das erste Mal auf sie getroffen waren. Ihre Gehirne brachten ein gewisses Maß an Intelligenz zustande, aber meist bestimmten ihre Instinkte ihr handeln“, erläuterte der Insektoid die unfassbare Wahrheit. „Da sie ohnehin schon Reptilien waren schien uns die DNA unserer reptilianischen Brüder am besten geeignet. Wir haben aber auch unsere DNA mit einfließen lassen. So verpassten wir den Adrac Facettenaugen. Wenn Sie so wollen, dann erhielten die Adrac das Beste aus Reptilien und Insektoiden.“
„Aber... wieso?“ Durat fuhr sich mit seinen Krallen zweifelnd durch den dichten Kinnbart, der alle Baumbewohner zierte.
„Vor hundert Jahren, als wir von den Zeitwesen die Information bekamen, dass die Menschen uns in der Zukunft vernichten würden, da beschloss der Rat den Bau einer Waffe, der die Erde zerstören sollte“, holte das Insekt weit aus. „Wir zweifelten damals am Erfolg der Mission. Daher entwickelten wir unseren eigenen Plan. Und der sah vor, die Menschen mit einem effizienten Kriegervolk zu konfrontieren, das wir steuern konnten wie es uns am besten passte. So wurden die Adrac erschaffen. Ein Volk, nur dem Zweck bestimmt, einen Krieg für uns zu führen. Damit kein Insektoid würde sterben müssen. Und auch nach dem Scheitern der Hauptwaffe wurde dieser Plan nie aufgegeben.“
„Aber es hat sich doch herausgestellt, dass die Zeitwesen ihre eigenen Pläne verfolgten“, hielt Droga fassungslos entgegen. „Die Menschen wollten uns nie vernichten, im Gegenteil, die Vernichtung der Menschheit hätte unseren eigenen Untergang herbeigeführt.“
„Wer sagt das?“ polterte Lerak unhöflich dazwischen. „Die Menschen haben das behauptet. Und natürlich gelogen. Einen von ihnen geplanten Völkermord würden sie wohl kaum zugeben.“
„Die Fakten...“ Weiter kam Droga nicht.
„Die Fakten sprechen eindeutig dafür, dass die Menschen uns vernichten werden. Sie interpretieren die Fakten nur vollkommen falsch. Aber die Humanoiden waren schon immer Feiglinge. Allein die Reptilianer versuchen wenigstens die Interessen der Xindi zu wahren. Daher sollten wir auch über alle Xindi regieren.“
Drogas Blick verfinsterte sich. Der Arboreale riss erschrocken die Augen auf, während er Aquarianer seine Schwimmbewegungen beschleunigte.
„Und sobald die Menschen vernichtet sind, werden wir über alle Xindi herrschen“, sagte Lerak selbstsicher.
Droga sah ihn finster von unten herauf an. „Was wollen Sie damit andeuten?“
Lerak war so in Fahrt, dass er auch jetzt mit seiner Prahlerei nicht aufhören konnte. „Sie haben ja bereits herausgefunden, dass wir den Sektor 859J für uns beanspruchen. Dort vollenden wir gerade eine Waffe, mit der wir die Erde ein für allemal vernichten werden.“
Unbarmherzig klingelte der Wecker und riss Karja aus dem Tiefschlaf. Mit pochendem Herzen tastete ihre Hand in der Dunkelheit nach dem Wecker um ihn abzustellen. Durch kaum geöffnete Augenlider sah sie auf die leuchtenden Digitalziffern und konnte kaum glauben, dass es bereits sechs Uhr morgens war. Sie war doch gerade erst eingeschlafen. Mit einem Seufzen ließ sie sich nochmals in die Kissen sinken. Sie wollte jetzt nicht aufstehen. Sie wollte einfach weiterschlafen. Weiterschlafen und nicht an den bevorstehenden Tag denken.
Bereits um zehn Uhr musste sie vor dem Prüfungskomitee der Akademie erscheinen. Dort würde sie dann das Ergebnis ihrer Abschlussprüfung erfahren. Und damit auch, wie ihre weiter Zukunft aussehen würde. Und diesem Gespräch sah sie mit einem mulmigen Gefühl entgegen. Die ganze Nacht hatte sie bereits wach gelegen und sich ausgemalt, was alles passieren konnte. Unruhig hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt, versucht zu schlafen. Doch es hatte nicht geklappt. Ihre rasenden Gedanken hielten sie wach. Und immer, wenn sie meinte endlich einschlafen zu können, kam ihr ein neuer schrecklicher Gedanke, der sie wieder aufschrecken ließ. Und so war sie erst gefühlte fünf Minuten vor dem Weckerklingeln eingeschlafen.
Nur für einen Augenblick schloss sie nochmals die Augen. Doch sie spürte sofort, wie sie wieder weg zu dämmern begann. Unter Aufbringung aller Disziplin schaffte sie es, sich mühsam zu erheben. Mit hängenden Schultern und gefühlten achtzig Jahren schlurfte Karja Richtung Bad. Sie wohnte noch immer in ihrem kleinen Appartement auf dem Campus der Akademie. Und da sie nicht wusste, wie die Prüfung verlaufen war, hatte sie noch nicht einmal ihre Sachen gepackt, obwohl die Republic
bereits morgen Nachmittag starten würde. Sollte sie also ihre Prüfungen bestanden haben, dann würde sie in puren Stress verfallen. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien ihr das.
Gestern hatte sie ihre letzte Prüfung absolviert. Und seitdem war sie ein unausstehliches Nervenbündel, das ihre Umgebung tyrannisierte. Tworek hatte versucht sie zu beruhigen. Er war wirklich süß gewesen. Selbst seine sonst so steife vulkanische Seite hatte Risse bekommen und er ging sanft auf sie ein und schenkte ihr sogar das ein oder andere Lächeln. Doch es hatte nicht viel genützt. Karja hatte sich kaum beruhigen lassen. Und somit war sie einerseits froh, wenn sie heute erfahren würde, wie sie abgeschnitten hatte. Damit wäre die Ungewissheit beendet. Andererseits fürchtete sie auch das Ergebnis.
Das grelle Licht im Bad blendete sie erst einmal. Sie wandte ihren Kopf ab und schloss die Augen. Wieso musste das Aufstehen morgens so hart sein? Durch blinzelnde Augen sah sie in den Spiegel. Die Spuren der kurzen Nacht und der kurzen Nächte der letzten Tage waren ihr anzusehen. Heute würde sie viel Make-up benötigen, um einigermaßen verträglich auszusehen, dachte sie bei sich und bedauerte gleichzeitig die Männer, denen eine solche Möglichkeit nicht gegeben war. Allerdings hielt sich das Mitgefühl in Grenzen. Mehr konnte sie an diesem Morgen einfach nicht aufbringen.
Nachdem sie sich eine ausführliche Dusche gegönnt hatte saß sie schließlich, mit einem Morgenmantel bekleidet, an ihrem Tisch und hielt eine dampfende Tasse Kaffee in ihren Händen. Ihre nassen Haare hatte sie in ein Handtuch gewickelt. Nun sah die Welt schon ein ganzes Stück freundlicher aus.
Während sie genüsslich ihren Kaffee schlürfte dachte sie, wie die letzten Tage öfters, über ihre Zukunft nach. Und wie es wohl wäre, wenn sie auf der Erde zurückbleiben musste. Wäre es wirklich so schlimm, wie sie befürchtete? Zu Beginn wäre es sicher schrecklich, aber sie hatte schon eindeutig Schlimmeres erlebt. Und mit der Zeit würde sie sich sicherlich besser zurechtfinden. Sie würde neue Freundschaften knüpfen. Und vielleicht würde sie sich auch wieder mit Jungs treffen. Obwohl das wahrscheinlich noch einige Zeit brauchen würde. Der Verrat ihres Freundes Danny Palmer während der Gefangenschaft bei den Adrac hatte sie tief verletzt. Er hatte damals keine Skrupel besessen sie im Tausch für seine Freiheit zu benutzten. Remog, der Steuermann der Republic
und Benjamin Since hatten sie damals in letzter Minute vor einem schlimmen Schicksal retten können, doch dafür hatten beide mit dem Leben bezahlt. Und auch der Gedanke, dass Danny seinen Verrat selbst nicht überlebt hatte tröstete sie kaum. Auch wenn ihr bewusst war, dass sie nicht alle Männer über einen Kamm scheren durfte, so würde noch einige Zeit vergehen müssen, bis sie wieder genug Vertrauen in eine Beziehung würde haben können. Doch wenn sie auf der Erde blieb, dann konnte das vielleicht schneller gehen. Immerhin gab es hier deutlich mehr attraktive Männer in ihrem Alter. Aber gerade aufgrund ihrer Erfahrungen wollte sie die unendlichen Weiten nicht gegen einen Mann tauschen.
Über sich selbst und ihre Gedanken verwundert schüttelte sie leicht den Kopf und stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter. Es wurde Zeit fürs Bad und dafür die Augenringe aus dem Gesicht zu entfernen.
Etliche Pinselstriche später war sie mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Besser würde es wohl nicht mehr werden. Langsam wanderte ihr Blick abwärts, bis sie an ihrem Bauch hängen blieb. Sie verzog ihr Gesicht. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie sich über den Bauch. Dann kniff sie hinein und ihr Blick wurde noch kritischer. Sie musste mehr Disziplin walten lassen. Der Prüfungsstress hatte sich zu sehr auf ihre Hüften und ihren Bauch gesetzt. Die letzten Tage hatte sie zu viele Süßigkeiten in sich hinein gestopft und der Sport kam ohnehin schon lange zu kurz. Nun mussten dringend zwei bis drei Kilos runter. Allerdings musste sie das für sich behalten. Jeder andere würde wohl nur mit dem Kopf schütteln und fragen, wo sie denn noch abnehmen wolle. Das hatte sie bereits öfters erlebt. Die meisten Menschen fanden, sie hätte eine perfekte Figur, nur sie selbst war mit der einen oder anderen Stelle unzufrieden.
Schließlich hatte sie es doch geschafft und war bereit das Haus zu verlassen. Genau rechtzeitig, denn in diesem Moment klingelte es an der Tür. Mit einem letzten Blick in den Spiegel neben der Tür griff sie zur Türklinke und verließ ihre Wohnung. Vor dem Aufzug zögerte sie, dachte an ihren Bauch und wandte sie sich dann dem Treppenhaus zu.
Unten wartete bereits Tworek. Wie sie trug auch er Zivil. Nach dem Ablegen der Prüfungen waren sie keine Kadetten mehr und der Stolz trug dazu bei, die Kadettenuniform nicht mehr zu tragen. Eine reguläre Uniform stand ihnen aber erst nach bestandener Prüfung zu. So war es Tradition unter den Prüflingen während der Tage bis zur Entscheidung Zivil zu tragen.
Tworek füllte seinen dunkelgrauen Anzug mit seinen breiten Schultern bestens aus. Genaugenommen sah er fast unverschämt gut aus. Auch die langen Harre fügten sich gut in das Gesamtbild ein. Allein seine klingonischen Stirnhöcker hätte man als störend empfinden können. Doch gehörten sie zu ihm und ließen ihn trotz des Anzuges verwegen aussehen. Und Vorurteile aufgrund eines fremden Äußeren gehörten ohnehin der Vergangenheit an.
Karja trug einen Hosenanzug, bei dem man den Eindruck gewinnen konnte, er sei maßgeschneidert. Er betonte ihre perfekte Taille und der weite Ausschnitt ihrer Bluse gab den Blick auf den Ansatz ihrer Brüste frei. Ihre bronzefarbene Haut bildete dabei einen besonderen Kontrast zur weißen Bluse. Als sie ins Sonnenlicht trat umgab ihre langen schwarzen Haare ein besonderer Schimmer. Einige Passanten blickten bewundernd zu ihr hinüber.
Auch Tworek empfing sie mit einem Kompliment, das Karja allerdings abtat. „Vielleicht kann ich die Prüfer ja wenigstens so noch umstimmen“, lächelte sie nervös.
„Dazu wird es keinen Grund geben“, versuchte Tworek sie zu überzeugen. „Vertrau mir.“
„Wir werden sehen.“ Mit diesen Worten hakte sie sich bei ihm ein. Gemeinsam gingen sie über das Gelände der Akademie auf das Hauptgebäude zu. Ihr Gesicht in die Sonne haltend ließ sie sich mit geschlossenen Augen von Tworek führen. Sie selbst kam sich vor, wie auf dem Weg zu ihrer eigenen Hinrichtung. Mit möglichst gleichmäßigem Atmen versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Egal wie sie die Prüfungen abgeschnitten hatte, sie würde auf jeden Fall das Beste daraus machen, versuchte sie sich selbst einzureden.
Als der Schatten des Gebäudes auf sie fiel öffnete sie die Augen und sah nervös auf die Tür. „Bringen wir es hinter uns“, murmelte sie und betrat mit Tworek die Aula.
Vor dem Besprechungsraum, in dem sie ihre Ergebnisse überreicht bekommen würden, wurden sie von Admiral Tirnan, dem Leiter der Akademie, in Empfang genommen.
„Guten Morgen“, begrüßte er die beiden mit einem festen Händedruck. „Sind Sie bereit, Ihre Ergebnisse in Empfang zu nehmen?“ Aufmunternd lächelte er sie an. Die beiden waren bei weitem nicht die ersten Prüflinge, denen er die Ergebnisse überreichte. Daher wusste er wohl sehr genau, was in den beiden vor sich ging. Besonders in Karja. Tworek war wie immer die Ruhe in Person.
Karja nickte tapfer, brachte aber kein Wort hervor. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Dann wollen wir Sie mal nicht länger auf die Folter spannen. Wer von Ihnen beiden will den Anfang machen?“
Karja sah ihren Begleiter an. Obwohl sie Angst vor dem Ergebnis hatte wollte sie auf keinen Fall noch länger warten. Die Anspannung noch länger ertragen zu müssen würde sie nicht überstehen.
Tworek schien ihre Gedanken zu erraten, denn er nickte kaum merklich.
Daraufhin bat Tirnan sie in den Raum während Tworek noch warten musste. Im Besprechungsraum wurde Karja von zwei weiteren Dozenten erwartet. Bei Mrs. Wilson hatten die Vorlesungen in Antriebstechnik stattgefunden während Mr. Marteen die Ethik der Föderation unterrichtete. Beide begrüßten sie mit einem Lächeln, das Karja vor Aufregung kaum erwidern konnte. Während sie sich den dreien gegenüber setzte sagte Mr. Marteen: „Die Frage, ob Sie gut geschlafen haben, kann ich mir wohl sparen.“
Sieht man mir das an, frage sich Karja unwillkürlich. Wahrscheinlich lag es an seiner Erfahrung, beschloss sie und meinte nur: „Ja, ich bin etwas aufgeregt.“
„Dazu gibt es keinen Grund“, lächelte Wilson sie freundlich an. „Wir richten hier schließlich nicht über Ihr Leben.“
In gewisser Weise schon, dachte Karja, nickte aber nur. Nach Small Talk stand ihr gerade überhaupt nicht der Sinn.
Mr. Tirnan schien das zu merken, denn er wurde ernst, als er das Wort ergriff. „Mrs. Romain, wie schätzen Sie sich selbst ein? Was glauben Sie, wie Sie bei den Prüfungen abgeschnitten haben?“
Karja schluckte. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Konnte sie nicht einfach das Ergebnis gesagt bekommen? Was sollte sie denn antworten? Dass ihr Gefühl echt mies war? Wohl kaum. Die Antwort musste diplomatischer ausfallen. „Ich denke, dass es knapp war“, sagte sie vorsichtig.
Der Admiral wechselte einen Blick mit seinen Kollegen, dann wandte er sich wieder der jungen Indianerin zu. „Dann wollen wir Sie nicht länger warten lassen.“ Er lächelte. „Es war nicht so knapp wie Sie denken. Sie haben bestanden. Und Sie liegen mit Ihrer Gesamtnote im guten Mittelfeld.“
Bei diesen Worten konnte sie einen kleinen Jubel nicht unterdrücken. Es war ihr, als würde eine tonnenschwere Last von ihr fallen und sie das erste Mal seit einem Jahr wieder frei atmen können. Sie würde mit der Republic
mitfliegen können. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Die nächsten Worte Mr. Tirnans bekam sie vor Freude gar nicht mit. Doch nun begann der nächste Stress. Sie musste ihre Sachen innerhalb eines Tages auf die Republic
schaffen.
„Da Sie bereits morgen aufbrechen und daher sicherlich noch einiges zu erledigen haben, wollen wir Sie nicht länger als unbedingt nötig aufhalten“, sagte Tirnan schließlich. Er überreichte ihr die Urkunde und gratulierte ihr mit einem Händedruck. Die beiden anderen schlossen sich den Glückwünschen an.
Karja konnte es noch immer kaum glauben, als sie mit dem Dokument in der Hand den Raum verließ. Davor wartete bereits Tworek. Noch bevor er etwas sagen konnte fiel Karja ihm um den Hals und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. „Bestanden“, jubelt sie und lies ihren Glücksgefühlen freien Lauf.
Über Tworeks Lippen kam ein leichtes Lächeln. „Habe ich es nicht gesagt?“ konnte er sich aber nicht verkneifen.
Übermütig piekte Karja ihn in die Seite. Dann bat Mr. Tirnan den Halbklingonen herein.
„Bei dir ist das ja nur Formsache“, frotzelte Karja. „Sei mir nicht böse, wenn ich nicht warte. Aber ich kann jetzt nicht still sitzen. Ich muss raus. Und ich habe noch einiges zu erledigen.“
Tworek nickte nur. Ob er es richtig fand, dass sie nicht auf ihn wartete oder nicht war ihm nicht anzusehen.
Freudetrunken verließ Karja das Gebäude. Sie hatte das Gefühl die ganze Welt umarmen zu können.
Das riesige Gebäude des Weltraumflughafens Heathrow in London ragte vor Mira Bozman auf, als sie aus dem Gleiter stieg, der sie hierher gebracht hatte. Die riesigen Glasflächen glänzten in der aufgehenden Sonne wie hunderttausend Diamanten. Trotz der frühen Stunde waren der Vorplatz und der Eingangsbereich bereits gut bevölkert. Die meisten Personen waren Menschen. Und die Mehrheit von ihnen blieb sicherlich auf der Erde oder wagte gerade mal einen Trip zum Mond oder Mars. Und die meisten wirkten, als seien sie geschäftlich unterwegs. Auf dem Weg zu irgendeinem Meeting, Kundentermin oder einfach nur auf dem täglichen Pendlerweg zur Arbeitsstätte. Mira entdeckte auch eine Gruppe Denobulaner. Aufgrund ihrer Kleidung und ihren Blicken tippte sie auf Touristen. Auch einige Menschen hatten größeres Gepäck dabei. Offenbar ging es für sie in den Urlaub.
Für Mira ging es nach San Francisco. Sie würde dort ihren Dienst in der Sternenflotte antreten. Schon wenige Stunden nach ihrer Ankunft würde ihr Schiff starten, das für die nächsten Monate ihr zuhause sein würde. Ein wenig Furcht stieg in ihr auf. Nun, da sie hier war, wirkte es gleich viel realer. Zwar war sie die letzten Monate darauf vorbereitet worden, doch nun, da es Ernst wurde, schlug ihr Herz bis zum Hals.
Noch vor wenigen Jahren hatte Mira keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Sie hatte das College mit Bestnoten abgeschlossen und stand vor der Frage, wie es weitergehen sollte. Ihr Vater war Lehrer an der Universität von Cambridge. Er ermunterte sie, ebenfalls das Lehramt zu studieren. Seiner Meinung nach hatte sie genau die richtigen Voraussetzungen dafür. Und ihre Fähigkeit mit Menschen umzugehen war außergewöhnlich. Fast hätte sie seinem Drängen auch nachgegeben, vor allem, weil sie selbst nicht wusste was sie wollte. Doch der Freitod einer guten Freundin von ihr hatte sie erschüttert. Sie stellte sich immer wieder die Frage, ob es nicht Anzeichen dafür gegeben hatte. Und ob sie es nicht hätte verhindern können. Von da an wollte sie vor allem helfen. Sie entschied sich für ein Psychologiestudium. Ihr Vater unterstützte sie voll und ganz dabei, obwohl er nach wie vor der Meinung war, Lehrer hätte besser zu ihr gepasst.
So studierte sie zehn Semester lang. Und wiederum schloss sie mit Bestnoten ab. Und diese Bestnoten weckten das Interesse der Sternenflotte. Dort hatte man erkannt, dass die hohen psychischen Belastungen langer Reisen durchs All sowie der ständigen Gefahren eine dauerhafte Anwesenheit von Psychologen auf den Schiffen erforderte. Und so wurden weltweit die besten Kandidaten aus Miras Jahrgang angeworben. Auch Mira wurde gefragt und sie willigte ein. Zwar war sie kein großer Fan von Weltraumreisen, die Anforderungen aber reizten sie. So hängte sie ein weiteres Jahr des Studiums bei der Sternenflotte an. Dazu musste sie nach San Francisco ziehen. Es war das erste Mal, dass Mira von zuhause fort gegangen war. Und dann ging es nicht nur fort vom Elternhaus und in eine andere Stadt, sondern auch gleich um die halbe Welt. Dank dem Stand der Technik war das zwar nicht mehr so weit weg wie in früheren Zeiten. Für Mira aber war es doch zu weit. Sie vermisste ihre Familie, ihre Freunde. Sie vermisste England. Ihr Heimweh war so weit gegangen, dass sie das Studium bei der Sternenflotte beinahe aufgegeben hätte. Doch mit der Zeit hatte sie es geschafft sich anzupassen. Und irgendwann war auch das Heimweh schwächer geworden. Sie hielt durch und gehörte nun zum ersten Jahrgang von Psychologen mit einer Sternenflottenausbildung.
Vor vier Wochen war sie der Republic
zugeteilt worden. Eine Herausforderung aufgrund der Ereignisse, die die Crew erleben musste, ohne Zweifel. Doch sie war zuversichtlich es schaffen zu können. Ein Termin um die Führungsoffiziere kennenzulernen war für nächste Woche geplant gewesen. Doch dann wurde plötzlich der Starttermin vorverlegt und so würde sie die Crew erst an Bord kennen lernen.
Sie selbst hatte noch einen Tag frei bekommen um nochmals nach England zu ihrer Familie fahren zu können. Der Tag war wie im Flug vergangen und zum Abschied hatte es Tränen gegeben. Es war schrecklich gewesen. Im Moment würde sie am liebsten auf der Stelle kündigen und wieder zu ihrer Familie fahren. Doch sie sagte sich, dass sie endlich mal auf eigenen Beinen stehen musste. Daher holte sie tief Luft und sah nach vorn.
Der Rempler eines unachtsamen Mannes schreckte sie auf. „Entschuldigung“, murmelte er noch und stürmte dann weiter. Offenbar war er in Eile.
„Schon okay“, sagte Mira leise, obwohl er sie schon gar nicht mehr hören konnte.
„Hey, Schwesterchen“, rief sie eine Stimme aus dem Gleiter hinter ihr.
Sie drehte sich zu ihrem Bruder um und wischte sich eine Strähne dunklen Haares aus dem Gesicht.
Pete beugte sich aus dem Wagen und hielt ihr ihren Rucksack hin. Mehr Gepäck hatte sie für den einen Tag nicht gebraucht und der Rest ihrer Sachen befand sich bereits auf dem Schiff. „Ich wünsche dir eine gute Reise“, sagte er um eine gleichmütige Stimme bemüht. „Und ich wollte dir noch sagen, dass ich wahnsinnig stolz auf dich bin.“
Sie lächelte Pete an, wie sie ihn immer angelächelt hatte. Ihr großer Bruder war einfach süß. Das fand sie schon immer. Naja, nicht immer. Während der Pubertät war er einfach furchtbar gewesen. Aber danach war er immer für sie da gewesen und das war ein sehr gutes Gefühl. Und manchmal gab er ihr auch den Tritt, den sie brauchte, um in die Gänge zu kommen. So wie bei der Entscheidung zur Sternenflotte zu gehen. Es war fast unheimlich für sie, ihn jetzt nicht mehr bei sich zu wissen. „Danke. Ich freue mich auch schon. Und ich bin so aufgeregt.“ Sie lächelte. „Mach's gut. Und grüß Mama und Papa“, brachte sie hervor und versuchte nicht in Tränen auszubrechen. Sie beugte sich noch einmal in den Gleiter und gab Pete einen Kuss auf die Wange. „Wir sehen uns in ein paar Monaten wieder.“
Er nickte nur und schlug dann schnell die Tür zu als sie draußen war. Offenbar hatte auch er einen Kloß im Hals und wollte sich das nicht anmerken lassen.
Der Gleiter verließ den Parkplatz und war kurz darauf im Verkehr verschwunden. Wieder wandte Mira sich dem Gebäude zu. Sie warf sich ihren Rucksack über die Schulter und betrat durch eine große Glastür das Gebäude. Auch im Inneren war alles verglast und auf Hochglanz poliert.
Einige der Menschen, die sich hier aufhielten richteten neugierige Blicke auf sie. Offenbar hatten sie bisher nur wenige Sternenflottenuniformen gesehen. Mira war sich nicht bewusst gewesen, dass sie damit Aufmerksamkeit erregen würde. Bisher war sie nur im Bereich des Hauptquartiers und in San Francisco mit Uniform unterwegs gewesen. Dort waren die roten Uniformen ein ganz normaler Anblick. Immerhin befand sich dort das Hauptquartier. London war eine pulsierende Stadt für Wirtschaft und Kultur. Aber hier gab es keine Außenstelle der Sternenflotte und so waren die Uniformen hier eher selten zu sehen.
Als sie in das Shuttle stieg, das sie nach San Francisco bringen würde, packte sie eine kribbelnde Unruhe und trotzdem auch eine Vorfreude auf das kommende Unbekannte.
Drake Reed rannte durch die Gänge des Sternenflottenhauptquartiers. An einer Kreuzung des Ganges hätte er beinahe einen völlig erschrockenen Fähnrich umgerannt, der sich gerade noch in Sicherheit bringen konnte. Noch während er eine Entschuldigung rief rannte er weiter. Nur noch den Gang entlang, einige Treppen hinunter und dann durch den unterirdischen Verbindungsgang zum Hangar. Dort wartete bereits das Shuttle auf ihn. Zumindest hoffte er, dass das Shuttle noch wartete. Eigentlich war er ohnehin bereits zu spät dran. Noch vor Minuten stand er vor der Eingangstür des Hauptquartiers und unterhielt sich mit einer ausgesprochen hübschen jungen Dame, der er zuvor die Tür aufgehalten hatte. Am liebsten hätte er sie noch heute Abend ausgeführt. Was dem Verlauf des Gespräches nach durchaus auch in ihrem Interesse gelegen hätte. Doch leider war er auf dem Weg zurück auf sein Schiff. Die Republic
brach zu ihrer neuen Mission auf. Und genau das hatte er während des Gespräches völlig vergessen. Als es ihm plötzlich siedend heiß wieder eingefallen war, hatte er es so eilig, dass er sie nicht einmal mehr nach ihrem Namen fragen konnte.
Fluchend sprang er die Treppen hinunter und hoffte dabei nicht zu stürzen. Einen Bruch konnte er auf dem Schiff kaum erklären ohne das Gespött auf sich zu ziehen. Besonders Elizabeth würde ihn damit aufziehen. Nein, das durfte nicht passieren. Andererseits würde er dann vielleicht das Shuttle verpassen und die Republic
musste ohne ihn starten. Dann könnte er hier auf der Erde bleiben und die Dame von gerade eben suchen gehen. Aber nein, das wäre nicht das was er wirklich wollte. Er flog gern durch das All und liebte die Gefahren dort. Besonders liebte er es hinterher davon zu erzählen und damit die Frauen zu beeindrucken. Das einzige was er bei diesen Flügen hasste war die Tatsache, dass sich die Besatzung während des Fluges nicht änderte, was für ihn bedeutete, dass er für die nächste Zeit keine neuen Frauen mehr kennen lernen konnte. Und die Chancen eine außerirdische Frau kennen zu lernen, die nicht gerade irgendwelche seltsamen Eigenarten hatte, ergab sich kaum.
Seine Schritte hallten von den Wänden wieder, als er den unterirdischen Gang zum Hangar weiterrannte. Wieder dachte er an den letzten Abend. Wider Erwarten hatte er es doch noch geschafft, den letzten Abend vor dem Start frei zu bekommen. Und diesen Abend hatte er genutzt. So viele Frauen hatte er schon lange nicht mehr kennen gelernt. Und seine Abenteuer und seine manchmal sicherlich auch etwas übertriebenen Erzählungen hatten Eindruck gemacht. Die Frauen auf der Party waren ihm zu Füßen gelegen. Und eine schöner als die andere. Die Wahl war ihm nicht leicht gefallen. Doch er war sich sicher, er hatte sich richtig entschieden. Die Nacht würde er nicht so schnell vergessen. Joanne war über ihn hergefallen wie ein wildes Tier. Ausgehungert und gierig hatte sie ihn fast überfordert. Aber eben nur fast. Doch selbst die schönste Nacht endete irgendwann. Wenn er an die Frauen der Crew dachte, dann fragte er sich, wie er die nächsten Monate überstehen sollte. Sicher, es kamen einige neue Crewmitglieder hinzu, aber er hegte da keine großen Hoffnungen.
Durch ein großes Tor erreichte er das Hangardeck, das im Freien etwas unterhalb des Hauptquartiers lag. Er sah, dass das Shuttle noch immer auf ihn wartete. Der Pilot stand vor dem Shuttle und winkte ihm hektisch zu. „Schneller, Mann. Wir haben bereits fünf Minuten Verspätung. Sie bringen den Flugplan der Flugleitzentrale völlig durcheinander.“
Reed wollte etwas erwidern, doch die Luft blieb ihm weg. Vielleicht hätte er während des Urlaubes doch etwas mehr trainieren sollen. Völlig außer Atem stieg er in das Shuttle und schnappte nach Luft. Hinter ihm schloss sich die Tür und die Antriebe des Shuttles fingen an zu surren. Während das Shuttle abhob und dem blauen Himmel entgegen steuerte musterte er immer noch schwer atmend die anderen im Shuttle anwesenden Personen. Es waren ausnahmslos Crewmitglieder der Republic
. Natürlich, denn das Shuttle flog direkt zum Schiff und würde dort verbleiben. Einige an Bord kannte er bereits, andere waren ihm unbekannt. Von der Führungscrew war außer ihm niemand sonst anwesend. Offenbar waren die anderen schon alle an Bord. Und sobald dieses Shuttle im Hangar stand hatte die Republic
Abflugerlaubnis und würde wieder ins weite All starten.
Durch das Fenster sah er Wolkenfetzen vorüber ziehen, dann verließen sie die Atmosphäre und der blaue Himmel wich der dunklen Nacht des Alls. Die Sterne funkelten in der Ferne und strahlten ohne den Mantel der Atmosphäre noch heller. Sein Blick glitt nochmals über die anwesenden Personen. Dem einen oder anderen Crewmitglied nickte er grüßend zu. Dann fiel sein Blick auf eine Frau, die in der Ecke stand. Ihre Blicke trafen sich und sie lächelte ihn an. Ihm fiel sofort auf, sie lächelte nicht nur mit dem Mund, ihre Augen lächelten ihn an. Sie strahlten wie die Sterne, die er eben noch draußen gesehen hatte. Ihre dunklen Haare fielen in leichten Wellen herab und umrahmten ihr überaus sanftes Gesicht. Soweit das durch die Uniform zu sehen war hatte sie auch noch einen perfekten Körper. Vielleicht würde es wieder an Bord doch nicht so schlimm werden, wie er es befürchtet hatte.
Der Bereitschaftsraum des Captains lag ein Deck unterhalb der Kommandobrücke. Hier konnte der Captain in Ruhe seiner Arbeit nachgehen, wenn er nicht gerade auf der Brücke gebraucht wurde. Hinter seinem Schreibtisch saß Captain Sanawey und sah sich nochmals ein Kommuniqué von Admiral Helen Reynolds an. Sie hatte einige neue Anweisungen erlassen nach denen sich Führungskräfte eines Raumschiffes in Krisensituationen effektiver verhalten konnten. Zumindest glaubte sie das. Sanawey hasste diese Verfügungen. Und das Schlimmste war, es wurden immer mehr. Jeder neue Admiral brachte neue Ideen mit, wie die Sternenflotte noch effizienter gestaltet werden konnte. Und so erließen sie eine Anweisung nach der anderen. Die meisten las er inzwischen nicht einmal mehr, entweder weil ihm dazu Zeit fehlte oder aber er schlicht und einfach keine Lust dazu hatte. Diese Admiräle saßen hinter ihren Schreibtischen auf der sicheren Erde. Von den wahren Aufgaben draußen im All hatten doch die wenigsten irgendeine Ahnung.
Der Türsummer meldete ihm einen Besucher an. Mit einer energischen Bewegung schaltete er den Bildschirm ab. Er war froh unterbrochen worden zu sein und rief daher schnell: „Herein.“
Mit einem leisen Zischen glitt die Türe auseinander und eine noch sehr junge Frau trat ein. Die dunklen Haare fielen auf ihre Schultern herab. Der stufige Schnitt umspielte ihr freundliches Gesicht während die Strähnchen, die ihr Haar durchzogen, in der Beleuchtung des Raumes schimmerten.
„Guten Tag, Captain Sanawey“, sagte sie. Ihre Stimme klang dabei so lieblich, dass man sich nur schwer vorstellen konnte, diese Frau könnte auch mal laut werden. „Mein Name ist Mira Bozman. Ich bin Ihre neue Counselor.“
Sanawey erinnerte sich. Nach den Erfahrungen mit den Adrac hatte die Sternenflotte beschlossen in Zukunft Psychologen an Bord der Schiffe zu stationieren. Denn nicht alle Mitglieder der Besatzung hatten sich bereits von den Erlebnissen in der Sklavenmine der Adrac vollständig erholt. Einige Crewmitglieder benötigten immer noch Therapiesitzungen. Von zwei Fällen wusste Sanawey, deren Zustand sich so verschlechtert hatte, dass sie in eine psychiatrische Anstalt auf der Erde eingewiesen wurden und dort nun rund um die Uhr betreut werden mussten. Somit war die Anwesenheit eines Counselor sicherlich notwendig, denn niemand konnte ihnen sagen, wann sie wieder in eine solche Situation kamen.
Der Indianer erhob sich und gab ihr die Hand. „Willkommen an Bord, Mrs. Bozman.“ Ihre Hand fühlte sich warm und weich an. Mit ihrer angenehmen Stimme und ihrem gesamten Erscheinungsbild hatte sie sicherlich keine Probleme die Menschen zum Reden zu bringen. Sie hatte etwas Vertrauenerweckendes. Ihr musste man sich einfach anvertrauen. Diese Ausstrahlung hatte sie bereits, trotz ihrer Jugend. Laut Personalakte war sie 28 Jahre alt. Sie kam frisch aus der Ausbildung und gehörte zum ersten Jahrgang, der von der Sternenflotte eine zusätzliche Ausbildung erhalten hatte, um auf Raumschiffen arbeiten zu können. Sie gehörte zwar offiziell zur Sternenflotte, hatte aber keinen Rang inne. Die zuständigen Gremien konnten sich bisher nicht darauf einigen, wie ein Counselor in die Hierarchie zu integrieren wäre. Sie war jedoch ebenso wie ein Arzt weisungsbefugt und konnte die Offiziere vom Dienst vorübergehend suspendieren, wenn dies der psychologische Befund erforderte.
„Wie gefällt Ihnen unser Schiff?“ fragte Sanawey höflich um ein Gespräch zu beginnen.
„Ich habe bisher noch nicht allzu viel gesehen, aber ich denke, Sie können stolz sein auf Ihr Schiff.“
Sanawey nickte leicht. „Ja, die Reparaturen haben es wieder ganz ansehnlich gemacht.“
„Das stimmt wohl. Macht Sie das stolz? Wie fühlen Sie sich?“ fragte Bozman und ihr Tonfall klang so, als wäre ihr die Frage nur so nebenher eingefallen, wie man auch über das Wetter redet.
Sie kommt schnell zur Sache, dachte sich Sanawey, sagte aber stattdessen: „Ich fühle mich gut. Ich freue mich auch schon darauf wieder ins All zu starten. Wirklich zuhause fühle ich mich nur zwischen den Sternen. Liegt wohl daran, dass ich hier die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe“, lächelte er. „Trotzdem war es schön wieder einige Zeit auf der Erde zu verbringen. Ich habe mich gut erholt.“
Sanawey sah in der Tat sehr erholt aus. Und auch gar nicht schlecht, musste sich Bozman eingestehen. Seine kurzen silbergrauen Haare passten sehr gut zu seiner bronzefarbenen Haut. Er wirkte durchtrainiert und fit. Während seines Urlaubes hatte er an ein paar Trainingsprogrammen teilgenommen. Sowohl Krafttraining als auch das Training einiger Kampfsportarten. Auf gar keinen Fall wollte er noch einmal mit einem Adrac kämpfen, dem er sich unterlegen fühlen musste.
„Wie beurteilen Sie den Zustand der Mannschaft?“ wollte er von Bozman wissen. Wenn sie so schnell zum Thema kam, dann konnte er das auch.
Sie zögerte kurz. „Ich kann nur beurteilen, was die Berichte der Psychologen der Erde ausweisen. Noch habe ich mit niemandem persönlich gesprochen. Aber ich denke, der fast elfmonatige Urlaub hat der Crew gut getan. Ich rechne nicht damit, dass es zu Problem oder Ausfällen kommen wird. Aber trotzdem möchte ich mir noch ein eigenes Bild machen. Dazu werde ich mit jedem Einzelnen noch ein Gespräch führen.“
Sanawey nickte. „Das halte ich auf jeden Fall für sinnvoll. Und bitte teilen Sie mir mit, wenn es Probleme gibt.“
„Captain, Sie wissen bestimmt, dass auch Psychologen der ärztlichen Schweigepflicht unterstehen.“ Sie lächelte noch immer. Offenbar gehört es zu ihrem Beruf immer freundlich und offen zu wirken.
Sanawey jedoch blieb ernst. „Natürlich weiß ich das. Es gibt jedoch eine Grenze. Wenn die Sicherheit des Schiffes auf dem Spiel steht muss ich es wissen. Und zwar bevor etwas passiert.“
Jetzt verblasste auch Bozmans Lächeln, verschwand jedoch nicht ganz. „Natürlich. Ich werde jedoch in jedem einzelnen Fall genau abwägen müssen, was ich Ihnen sagen kann und was nicht.“
„Das verstehe ich durchaus“, erwiderte der Captain. Er wollte noch etwas Nettes hinzufügen, da ihm dieses erste Gespräch nun doch etwas zu streng wurde, das interne Kommunikationsgerät piepste jedoch und kam ihm somit zuvor. Entschuldigend nickte er seinem neuen Counselor zu und wartete dann, bis sie sein Büro verlassen hatte. Dann aktivierte er das Gerät.
„Captain, das letzte Shuttle hat soeben angedockt. Wir haben von der Flugleitzentrale die Starterlaubnis bekommen“, meldete ihm seine erste Offizierin Jackson. Sie war wie immer die Zuverlässigkeit in Person. Sie konnte es kaum erwarten wieder ins All zurückzukehren. Sanawey hatte sie darauf angesprochen, da er das Gefühl hatte, sie liefe vor irgendetwas davon. Aber sie verneinte dies mit einer knappen Antwort und er hatte es dabei beruhen lassen. Er konnte sie schließlich nicht zu irgendeiner Aussage drängen. Insgeheim war er froh, eine so tüchtige Stellvertreterin zu haben.
„In Ordnung, ich komme auf die Brücke“, bestätigte er und verließ sein Büro. Direkt gegenüber befand sich der Lift. Er musste kaum warten bis sich die Türen öffneten.
Sanawey war bereits seit einer Woche an Bord. Er hatte sich das Schiff vom Bug bis zum Heck angesehen. Trotzdem hatte er immer noch das Gefühl, dass die Brücke heller strahlte als das früher der Fall gewesen war. Obwohl es dafür keinen Grund gab, optische Veränderungen hatte es hier nicht gegeben.
„Captain auf der Brücke“, meldete Jackson, als Sanawey die Brücke betrat. Die anwesenden Personen standen salutierend auf.
„Weitermachen“, befahl Sanawey. Eine seltsam fröhliche Stimmung erfasste ihn. Es ging wieder los. Auch wenn die Gefahr noch so groß war, er freute sich einfach darauf. Statt im Kommandosessel Platz zu nehmen blieb er am Turbolift stehen und nickte Jackson zu.
Diese nahm wieder Platz und wandte sich an Tworek: „Bringen Sie uns raus.“
„Aye“, bestätigte dieser und gab die entsprechenden Daten in seine Konsole ein. Die schiffseigene Außenbeleuchtung flammte auf und erhellte gut sichtbar den Namen des Schiffes. Auch die notwendigen und vorgeschriebenen Kontrolllampen fingen an zu blinken. Die letzten noch verbliebenen Verbindungsschläuche wurden gelöst und die Verankerungen gaben das Raumschiff frei. Nun hing die Republic
eigenständig im Dock, das sie die letzten elf Monate nicht verlassen hatte.
Die Ingenieure hatten ganze Arbeit geleistet. Das Schiff erstrahlte in hellem Weiß. Nichts deutete mehr auf die Schäden hin, die es erlitten hatte. Es wirkte wie neu. Auch die Technik war auf den neusten Stand gebracht worden, so dass das Schiff im Prinzip neu war.
Nur mit den Manövriertriebwerken steuerte Tworek das Schiff langsam aus dem Dock, das in einer stationären Umlaufbahn die Erde umkreiste. Eigentlich war es inzwischen eine nicht mehr gehandhabte Verfahrensweise. Der Start eines Schiffes zu einer Mission erfolgte aus der Raumstation, die wie ein großer Pilz die Erde umkreiste. Sie war das Ein- und Ausgangstor zur Erde. Bis zu zehn große Raumschiffe fanden im Hut des Pilzes Platz. Über Verbindungskorridore wurden die Schiffe dann Be- und Entladen. Das erleichterte die Arbeit um vieles. Auf der Raumstation konnten die Waren dann umgeschlagen und gesammelt zu den Bestimmungsorten auf der Erde gebracht werden. Die vielen einzelnen Shuttleflüge, die es früher gab und die vor allem sehr genau koordiniert werden mussten, damit es keine Unfälle gab, reduzierten sich damit deutlich. Auch das Vorbereiten eines Schiffes für eine neue Mission war um vieles einfacher, ohne die vielen Shuttleflüge oder das ständige hin und her beamen.
Da an der Republic
aufgrund des vorgezogenen Starttermins jedoch bis zur letzten Minute gearbeitet worden war, verzichtete man auf eine Überführung vom Dock in die Raumstation. Stattdessen wurden alle Versorgungsgüter, die die Crew brauchen würde, an Ort und Stelle verladen. Daher startete das Schiff nun, wie es bis vor einiger Zeit noch üblich gewesen war, direkt aus dem Raumdock.
Nachdem Tworek das Dock sicher hinter ihnen gelassen hatte beschleunigte er das Schiff auf volle Impulsgeschwindigkeit, bevor sie in den Warp sprangen. Ihr erstes Ziel hieß Vulkan. Dort mussten sie ihren Wissenschaftsoffizier Sohral abholen. Aufgrund des vorverlegten Starts war es Sohral nicht mehr möglich gewesen rechtzeitig zur Erde zu kommen. Vulkan war kein großer Umweg auf dem Weg zum Sektor 859 J. In einem Tag würden sie den heißen Planeten erreichen.
Aufgebracht ging Droga in seinem Appartement auf und ab. Noch immer konnte er nicht recht begreifen, was im Ratssaal vorgefallen war. Nach der Ankündigung der Reptilianer, die Erde vernichten zu wollen, war selbst der Vertreter der Arboreale geschockt gewesen und hatte seine Meinung lautstark kundgetan. Zumindest lautstark für seine Verhältnisse. Auch der Aquarianer war über das Vorgehen Leraks entsetzt gewesen. Er hatte die Taten im Namen seines Volkes verurteilt.
Daraufhin hatte Lerak den Rat zusammen mit dem Insektoid verlassen. Mit der Ankündigung, dass die Reptilianer ab sofort dem Rat nicht mehr angehören würden und den Rat als gemeinsames Gremium der Xindi nicht mehr anerkannten.
Damit war ein beinahe hundertjähriger Versuch, die Xindi zu einen, gescheitert. Und die Skeptiker hatten gewonnen. Viele Xindi hatte ohnehin nur diese Skepsis geeint. Zwar hatte der Rat in der Zeit nach dem Bürgerkrieg, der den Heimatplaneten vernichtet hatte, die Xindi tatsächlich zur Zusammenarbeit gezwungen. Jedoch waren es mehr die Umstände, die ihnen keine Wahl gelassen hatten. Die Kolonien der einzelnen Rassen waren über Lichtjahre verteilt, die Infrastruktur noch lange nicht aufgebaut. Der plötzliche Verlust des Heimatplaneten, der die Kolonien bis zuletzt mit lebensnotwendigen Gütern versorgt hatte, brachte jeder Xindi-Rasse harte Zeiten und bedrohte zeitweise deren Existenzen. Ohne die Zusammenarbeit zwischen den Völkern wären wohl alle Xindi ausgestorben.
Doch nach und nach blühte die Wirtschaft auf und der Wohlstand nahm wieder zu. Man war nicht mehr aufeinander angewiesen. Und mit dem Wohlstand wuchsen auch die Spannungen unter den Xindi-Rassen. Der Unmut über die jeweils anderen wurde größer und die Toleranz sank. Dann kamen die Prophezeiungen einer zeitreisenden Spezies dazu, die voraussagten, dass irgendwann in der Zukunft eine unbekannte Alien-Rasse namens Mensch die Xindi vernichten würde und das jetzt der Zeitpunkt wäre, das zu verhindern. Diese Information spaltete den Rat fast. Natürlich wollte niemand der damaligen Verantwortlichen schuld am Aussterben der Xindi sein. Doch die Meinungen, wie das verhindert werden sollte, gingen auseinander. Es wurden lange und harte Auseinandersetzungen bis man sich endlich einigte, wie dieser Bedrohung begegnet werden sollte.
Aber trotz der Einigung arbeiteten die Reptilianer und die Insektioden an einer eigenen Lösung. Es war das erste Mal, dass der Rat in einer solch entscheidenden Frage hintergangen worden war. Das und die Tatsache, dass sich die Informationen aus der Zukunft als falsch herausgestellt hatten, hatte schließlich dazu geführt, dass der Rat auseinandergebrochen war. Jede Spezies hatte daraufhin Politik nur für sich gemacht und sich nur noch um die eigenen Belange gekümmert. Eine Zusammenarbeit hatte es, bis auf wenige Handelsbeziehungen, nicht mehr gegeben.
Gut zehn Jahre später hatten die Arboreale einen diplomatischen Vorstoß gewagt. Als ruhigstes und diplomatischstes Volk unter den Xindi sahen sie es als ihre Aufgabe, die Xindi wieder zu einen. Oder wenigstens wieder an einen Tisch zu bringen. Und entgegen aller Befürchtungen hielt sich die politische Ablehnung in Grenzen. Wenigstens als beratendes Gremium wollten alle Völker, bis auf die Reptilianer, den Rat wieder beleben. Allerdings ohne echte Einflussmöglichkeiten. Allein die Reptilianer waren dagegen. Da sie aber auch auf keinen Fall außen vor bleiben wollten und sie merkten, dass sie den Rat nicht verhindern konnten, schickten sie doch noch einen Vertreter. Mit ihrer Meinung über den Rat hielten sie sich allerdings nie zurück und sie ließen keine Gelegenheit aus zu zeigen, was sie von den Beschlüssen des Rates hielten.
Auf diese Art hatten die Xindi es knapp hundert Jahre geschaft zusammen zu arbeiten. Doch wie es aussah war es damit jetzt vorbei. Eine ungewisse Zukunft lag vor ihnen.
Es klopfte an die Tür und riss Droga aus seinen düsteren Gedanken. Er unterbrach seine Wanderung und starrte die Türe an, als ob er sie noch nie gesehen hätte. Erst nach einem erneuten, deutlich energischeren Klopfen rief er den Besucher herein.
Durat, der Vertreter der Arborealen im Rat trat ein, gefolgt von seinem Adjutanten. Zuletzt kam Drogas Adjutant herein und schloss die Tür hinter sich.
Mit düsterer Mine bot Droga den Besuchern einen Platz an.
Durat setzte sich, verzichtete aber auf Getränke. Er mochte das Gebräu der Humanoiden nicht sonderlich. Mit seinen langen Fingern strich er sich nachdenklich durch den grauen Bart. Eine Eigenheit, die vielen Xindi-Baumbewohnern zu eigen war.
„Was konnten Sie herausfinden?“ drängte Droga und kam damit gleich zur Sache. Der Arboreale hatte nach dem Ende der Sitzung angekündigt, den Rat retten zu wollen. Dazu wollte er Gespräche mit allen Vertretern führen. Vielleicht gab es doch noch eine Chance den Rat zu erhalten.
„Leider nicht viel“, erklärte Durat leise
Droga sank auf seinem Sitz zusammen. Obwohl er nichts anderes erwartet hatte schockierte ihn diese Aussage doch.
„Die Aquarianer sehen keinen Sinn darin, den Rat weiter zu erhalten. Sie meinen, der heutige Vorfall zeige nur, dass der Rat ohnehin überflüssig sei. Und damit war das Gespräch beendet. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Aquarianer nun auf ihren Planeten zurückziehen und sich isolieren. Wir werden vielleicht nie wieder einen von ihnen zu sehen bekommen.“ Er schwieg kurz und es machte den Eindruck, als bedaure er das. Immerhin waren diese Wasserwesen fast einzigartig. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendwo sonst eine intelligente Spezies entwickelt hatte, die ausschließlich im Wasser überleben konnte und die trotzdem durchs All reiste, war weitaus geringer als bei Landlebewesen.
„Die Insekten haben ebenfalls kein Interesse daran, den Rat weiter aufrecht zu erhalten. Für sie sei der Rat auch mehr eine Belastung denn ein Nutzen. Ich nehme an, aufgrund ihrer relativ kurzen Lebensdauer ist für sie der Hintergrund des Rates auch schon zu weit weg.“
Droga nickte abwesend. Er wusste, was sein Kollege meinte. Die Insekten hatten eine durchschnittliche Lebenserwartung von knapp zwölf Jahren. Nach ihrem Schlüpfen wuchsen sie innerhalb weniger Monate zu einem erwachsenen Individuum heran. Für eine so schnelllebige Spezies mit einer solch dichten Generationenfolge lag die gemeinsame Heimatwelt, zumindest in der Rassenerinnerung, weiter zurück als für die anderen. Ihr Interesse an einer gemeinsamen Zukunft war daher weit weniger ausgeprägt. Und wenn selbst die Aquarianer kein Interesse mehr daran hatten, obwohl es noch einige gab, die sich mit ihren zweihundert Jahren an Xindus erinnerten, wer konnte es den Insekten dann übel nehmen?
„Lerak schließlich hat mich gar nicht erst empfangen. Er ließ mir nur ausrichten, er habe die Meinung der Reptilianer eindeutig bekannt gegeben. Mehr habe er nicht zu sagen“, schloss Durat seinen Bericht. Sorgenvoll sah er Droga an.
Doch dieser wusste auch nicht mehr, was er sagen sollte. Die Situation war eindeutig. Und doch so unklar wie noch nie zuvor in seinem Leben. Schließlich meinte er: „Dann bleibt uns nichts anderes mehr übrig als unsere Regierungen zu informieren. Danach können wir auf unsere Welten heimkehren.“
Der Arboreale nickte nur leicht. Den Planeten zu verlassen fiel ihm nicht besonders schwer. Er hatte diesen trockenen und heißen Stein noch nie gemocht. Wälder mit üppigem Grün und Wohnhöhlen, in denen es kühl war, das bevorzugte er. Doch den Rat zu verlassen und den Traum einer einheitlichen Xindi-Nation aufzugeben, das fiel ihm schwer. Auch wenn ihm sehr wohl bewusst war, dass es für diesen Traum ohnehin noch ein sehr weiter Weg gewesen wäre. Die Fortschritte der letzten hundert Jahre waren so gering gewesen, dass es, wenn es so weiter gegangen wäre, noch Jahrtausende gedauert hätte.
„Eines müssen wir noch tun. Wir müssen die Waffe der Reptilianer vernichten“, sagte Droga energisch.
Durat sah ihn fragend an.
„Die Waffe darf nicht zum Einsatz kommen. Sie würde die Menschheit vernichten.“
„Haben wir nicht dringendere Probleme? Was interessieren uns die Menschen?“ fragte Durat mit Unverständnis in der Stimme.
„Wollen Sie einen Völkermord auf sich nehmen? Einen Völkermord an einem unschuldigen Volk?“
„Was, wenn die Reptilianer recht haben?“ wandte der Arboreale ein. „Was, wenn uns die Menschen wirklich eines Tages vernichten?“
Droga sah ihn erstaunt an. Diese Worte hätte er von Durat nicht erwartet. „Sie haben die historischen Fakten doch gesehen“, empörte er sich. „Die angeblichen Beweise waren gefälscht. Mit der Vernichtung der Menschen hätten wir uns fast selbst ausgelöscht.“
„Das ist mir durchaus bekannt“, erwiderte Durat ruhig. „Allerdings heißt es weiter, dass die zeitreisende Spezies sich von den Menschen bedroht sah und uns als ihre Handlanger einsetzte. Wir sollten uns die Hände schmutzig machen. Die Zeitreisenden wollten bei uns ein neues Reich gründen. Das heißt, letztendlich hätten uns die Zeitreisenden vernichtet, wenn die Menschen nicht eingegriffen hätten. Doch heißt das nicht, dass die Menschheit keine Gefahr für uns ist.“
Mehr verwundert als entsetzt schüttelte Droga den Kopf. „Sie wollen ein Volk auslöschen, weil es eine theoretische Gefahr darstellt? Dann müssen Sie jedes Volk in diesem Universum bekämpfen. Doch mit einer solchen Strategie würden wir am Ende garantiert selbst vernichtet werden.
Dazu kommt“, fuhr er fort, bevor Durat etwas sagen konnte. „dass die Menschen inzwischen in einer großen Allianz, der Föderation der Planeten, Mitglied sind. Eine Vernichtung der Erde würde nicht nur die Menschheit vernichten, sie würde uns einen Krieg mit einem ungleich stärkeren Gegner bringen, den wir niemals überstehen könnten. Doch die Reptilianer in ihrer Arroganz glauben, sie können jeden besiegen. Und der Preis, den wir alle dafür zahlen müssen, ist ihnen auch gleichgültig. Daher dürfen wir den Einsatz dieser Waffe nicht zulassen.“
Der Arboreale sah ihn schweigend an. Seine langen Finger kämmten noch immer seinen Bart. „Wie wollen Sie den Einsatz verhindern?“ fragte er schließlich.
„Wir müssen die Waffe zerstören“, erklärte Droga entschlossen. „Dazu benötigen wir so viele Schiffe wie möglich.“
Ein humorloses Lächeln glitt über Durats Gesicht. „Das ist unmöglich. Selbst wenn wir unsere Regierungen davon überzeugen könnten. Unsere Schiffe sind kaum bewaffnet. Und wir haben nur eine handvoll Kriegsschiffe. Auch Ihre Schiffe sind denen der Reptilianer unterlegen. Und niemand weiß wie viele Schiffe in Sektor 859J stationiert sind und welche Verteidigungsmaßnahmen sonst noch getroffen wurden. Einzig die Aquarianer könnten uns zum Sieg verhelfen. Doch so wie es aussieht, sind sie nicht mehr an uns anderen interessiert und werden sich aus allem heraushalten.“
„Wir müssen es versuchen“, erwiderte Droga trotzig „Ich will nicht Mitschuld tragen an einem Massenmord. Außerdem sagte Lerak noch, dass, wenn die Zerstörung der Erde gelingen würde, die Reptilianer bald über alle Xindi herrschen würden. Ich befürchte, die Reptilianer werden die Waffe danach gegen uns richten. Und ich will auf keinen Fall von den Reptilien beherrscht werden.“
Mühsam erhob sich Durat und sah Droga in die Augen. „Das ist auch das Letzte, das ich möchte. Ich werde mich mit meiner Regierung beraten. Ich werde mich auch dafür einsetzen, es noch einmal mit den Aquarianern zu versuchen. Vielleicht können wir sie überzeugen und auf unsere Seite ziehen.“
„Ich werde dasselbe tun“, versicherte Droga. „Bitte weisen Sie auf die Dringlichkeit hin. Wir werden wohl nicht mehr viel Zeit haben.“
„Das werde ich“, nickte Durat. „Gute Nacht.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und verließ zusammen mit seinem Adjutanten den Raum.
Droga starrte zur Tür. Er hatte das Gefühl in einen Abgrund zu stürzen, bei dem es keinen Boden gab. Die Situation war aussichtslos. Wenn die Regierungen entscheiden mussten, dann sah es düster aus. Die Arboreale waren nicht gerade für schnelle Entscheidungen bekannt. Und die derzeitige Regierung der Humanoiden war dem Rat nicht sehr freundlich gesinnt und ignorierte dessen Empfehlungen oft nur aus politischem Kalkül.
Offenbar blieb ihm nichts anderes übrig als zu hoffen, dass die Waffe der Reptilianer nicht funktionierte. Oder die Zerstörung der Erde wenigstens nicht den von den Reptilien gewünschten Effekt haben würde.
Nach Dienstende war Drake Reed gerade auf dem Weg zu seinem Quartier. Es war seine erste Schicht bei dieser Mission gewesen. Auch wenn der Tag heute nicht sonderlich aufregend gewesen war, so war er doch irgendwie erschlagen. Was wohl an der Umstellung des Arbeitsrhythmus lag. Und dass er vor Vorfreude in der letzten Nacht nur wenig geschlafen hatte. Sein Kopf fühlte sich schwer an und er freute sich jetzt auf eine heiße Dusche und dann auf einige Minuten ausspannen. Er stand im Turbolift und starrte gedankenverloren auf die pulsierenden Lichter, die für je ein Deck standen. Ein Gähnen überkam ihn und mit geschlossenen Augen streckte er sich dabei soweit er konnte.
In diesem Moment ging die Turbolifttüre auf. Etwas erschreckt hielt er im Gähnen inne und öffnete die Augen. Ein belustigtes Lachen kam ihm entgegen. Elane Watts stand in der Tür und sah ihn lachend an.
„Machen Sie immer solche Bewegungen beim Turbolift fahren?“ fragte sie keck.
Drake klappte den Mund zu und versuchte sich möglichst lässig an die Wand zu lehnen. „Ja, meistens. Ich hoffe nur, es gibt hier keine Überwachungskameras.“
Sie trat ein und schaute sich ganz bewusst im Lift um. „Ich weiß nicht“, sagte sie langsam, während sich die Türen hinter ihr schlossen. „Aber sehen Sie das da oben?“ Sie deutete zur Decke. „Das könnte doch ein Objektiv sein.“
Drake sah sie an, als hätte sie ihren Verstand verloren. Dann sah er das neckische Lächeln und die leuchtenden Augen. Sie spielt mit mir, dachte er und war sich nicht sicher, ob ihn das erschreckte oder eher belustigte. Trotzdem machte er zu seiner eigenen Überraschung mit. „Ja, das könnte durchaus sein.“ Er fing an zu winken. „Meinen Sie, das sieht jemand?“
„Vielleicht. Aber fällt Ihnen nichts Besseres ein? Winken ist so banal.“ Sie sah wieder nach oben und schnitt ein paar Grimassen. Reed stieg sofort mit ein.
Als sich die Tür wieder öffnete hätte sich einem Wartenden ein unerwartetes Bild gezeigt. Zwei erwachsene Menschen, die im Aufzug standen und zur Decke hin die absurdesten Gesten machten. Entsprechend erschreckt blickten die beiden dann auch zur Tür hinaus. Doch zu ihrer Erleichterung stand hier niemand. Nach einem kurzen Blickwechsel fingen sie an zu lachen.
Reed deutete schließlich zur Tür und sagte: „Hier muss ich raus.“
Sie nickte. „Worauf warten Sie dann noch?“
„Ja“, sagte er langsam und fragte sich das selbst. Er wandte sich um und ging. Als er durch den Gang zu seinem Quartier ging kam ihm die ganze Situation auf einmal sehr seltsam vor. Was um alles in der Welt hatte ihn geritten, dass er sich auf einen solchen Blödsinn eingelassen hatte? Er musste nicht mehr ganz bei Trost gewesen sein. Er hatte sich benommen wie ein Kind. So etwas war ihm nicht mehr passiert seit er zehn war, da war er sich sicher. So etwas Peinliches.
Kopfschüttelnd betrat er sein Quartier. Und er ertappte sich bei dem Gedanken, zu hoffen, dass es dort nicht wirklich eine Kamera gegeben hatte. Nicht auszudenken, jemand hätte das gesehen. Er hätte sich eben zum Gespött gemacht. Was natürlich lächerlich war. Es gab im Lift keine Kameras, dessen war er sich sicher. Zumindest fast.
Während er die Unform ablegte versuchte er die Gedanken an eben zu verdrängen. Eigentlich hatte er sich auf eine Dusche gefreut. Und danach wollte er auf sein Bett liegen und bei etwas Musik entspannen. Das war genau das Richtige nach einem Arbeitstag. Und vielleicht würde er dann gegen später noch die Bar aufsuchen.
Das Bad, das zu seinem Quartier gehörte war zwar nicht groß, doch hatte es alles, was er benötigte. Waschbecken, Toilette, Dusche. Selbst Platz für einen kleinen Schrank blieb. Manchmal allerdings sehnte er sich nach einer Badewanne. Ein heißes Bad konnte durchaus müde Lebensgeister wecken. Dafür bot der Raum dann aber doch zu wenig Platz.
Seufzend betrat er die Dusche und schloss die Duschwand hinter sich. Dann drehte er das Wasser auf und genoss das Plätschern auf seinem Kopf. Das warme Wasser, das seinen Körper hinunterlief, entspannte ihn. Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken treiben. Wieder kehrten sie zur Situation vor wenigen Minuten im Turbolift zurück. Er kam sich inzwischen ziemlich albern vor. Aber irgendetwas an Elanes Auftreten hatte ihn dazu gebracht, sich so lächerlich zu verhalten. Wie konnte so etwas nur geschehen? Sicher, sie wirkte vertrauenerweckend. Aber das war doch kein Grund alles andere zu vergessen. Und beeindrucken wollte er sie schließlich ganz bestimmt nicht. Sie war irgendwie kindisch. Und außerdem war sie dick. Das stimmt nicht, schoss ihm sofort ein anderer Gedanke durch den Kopf. Höchstens vielleicht ein kleines bisschen. Was ihr aber irgendwie stand.
Rückartig riss er die Augen auf und drehte das Wasser ab. Diese Gedanken mussten aufhören. Er stritt sich mit sich selbst. Was ging nur in seinem Kopf vor? Schnell schnappte er sich ein Handtuch und vergrub sein Gesicht darin. Nur raus hier und an irgendetwas anderes denken. Musik. Ja, er brauchte irgendein Lied, einen Ohrwurm. Nur so konnte er auf andere Gedanken kommen.
Mit dem Handtuch um die Hüfte ließ er sich auf sein Bett fallen. „Computer. Spiele die Musikdatei Drake 5 ab.“ Wenige Sekunden später war der Raum erfüllt von schmetterndem Gitarrensound und dem Wummern eines Schlagzeuges. Wieder schloss er die Augen und beschloss, seinen Kopf der Musik zu überlassen. Er wollte, dass seine Gedanken nur noch erfüllt waren von der Musik.
Doch irgendwie wollte es nicht recht gelingen. Es war als sperrte sich sein Kopf gegen alles, was hinein wollte. „Computer, Lautstärke um 5 Stufen nach oben fahren“, wies er den Computer genervt an. Umgehend kam der Computer der Anforderung nach und es dröhnte nahe an der Schmerzgrenze. Er wippte mit dem Fuß mit, doch noch immer kam von der Musik nichts bei ihm an.
Nach einigen Minuten beschloss er, dass es keinen Sinn hatte. Offenbar war heute eben einfach kein guter Tag. Daher stand er auf und streifte seine Zivilkleidung über. Vielleicht sollte er einfach gleich in die Bar gehen, etwas trinken und dann in sein Bett fallen. Ein Absacker würde ihm sicher beim Einschlafen helfen.
Nachdem er dem Computer befohlen hatte, die Musik abzustellen verließ er sein Quartier. Nach einigen Schritten durch die Gänge und einer Turboliftfahrt stand er schließlich an der Bar. Es war keine richtige Bar. Es war nur ein Raum, der mit einem Tresen ausgestattet war sowie Tischen und Stühlen. Es gab hier ausschließlich Getränke, wobei dies sich auf Anti-Alkoholisches beschränkte. Gegessen wurde im Speisesaal. Hier ging es nur darum einen Ort zu haben, an dem sich die Leute treffen und ganz ungezwungen unterhalten konnten.
Drake steuerte einen Tisch in der Ecke an und nahm dann so Platz, dass er den Raum noch gut überblicken konnte. Trotzdem sah er nicht, als sich Dr. Williams ihm näherte. Da sie die gleichen Schichten hatten kam es, dass sie sich in ihrer Freizeit des Öfteren über den Weg liefen. Schließlich gab es an Bord nicht allzu viele Möglichkeiten sich zu beschäftigen.
„Hey, Drake“, sagte Williams während sie sich setzte.
„Oh. Hey, hallo“, erwiderte er und schien von weit her zurückzukommen.
„Wo warst du denn eben mit deinen Gedanken?“ fragte sie.
Er sah sie. „Gibt es hier in den Turboliften eigentlich Überwachungskameras?“
Sie legte ihre Stirn in Falten sah ihn besorgt an. „Geht es dir gut?“
„Ach, lass“, winkte er kopfschüttelnd ab. „Heute ist ein seltsamer Tag.“
„Ja, den Eindruck könnte man bekommen.“ Sie sah in skeptisch an, doch Drake erwiderte nichts.
Sie schwiegen eine Zeitlang und nippten immer wieder an ihren Getränken während sie die Personen im Raum beobachteten. Es waren vielleicht zehn weitere Crewmitglieder anwesend. Alles Menschen. Was wohl daran lag, dass die Crew hauptsächlich aus Menschen bestand. Bis auf Sohral, Tworek und Zien gab es nur fünf weitere Außerirdische an Bord: Zwei Denobilaner, eine Vulkanierin und zwei Regilianer. Und es schien so, als ob die Außerirdischen eher unter sich blieben. Vielleicht brauchten sie auch einfach nur einige Zeit, bis sie die Gesellschaft von Menschen teilten.
„Sie nur, da kommt deine neue Kollegin“, sagte Elizabeth und deutete mit einem knappen Kopfnicken Richtung Tür.
Reed sah, wie Elane Watts den Raum betrat. Sie trug ebenfalls Zivilkleidung. Diese hatte einen etwas weiteren Schnitt, sah an ihr jedoch elegant aus. Das Dekolleté ließ einen interessanten Blick auf den Ansatz ihrer Brüste zu, während ihr fraglos vorhandener Bauch von der Kleidung scheinbar mühelos kaschiert wurde. Ihr Gesicht strahlte wie immer eine ungeheure Lebensfreude aus. Insgesamt sah sie ohne Frage sehr gut aus.
Sie kam nicht alleine, eine Frau befand sich in ihrer Begleitung, wahrscheinlich ihre Zimmerkollegin. Nur die Führungsoffiziere hatten eigene Quartiere. Der Rest der Crew nutzte Doppelquartiere. Ansonsten wäre nicht genug Platz für die Crew.
Sie sahen ihn nicht und setzten sich so, dass sie Reed und Williams den Rücken zuwandte.
Reeds Blick folgte ihr.
„Sie ist hübsch“, sagte Williams schließlich, der Reeds Blick natürlich nicht entgangen war.
Reed sah sie an. „Ist Geschmackssache“, brummte er. „Ich finde, sie hat deutlich zuviel auf den Rippen.“
„Das war ja klar“, erwidere sie schnippisch. „In dein Beuteschema passt sie natürlich nicht. Was auch ganz gut so ist, du musst schließlich nicht mit jeder anbändeln.“
„Beuteschema“, wiederholte er langsam.
„Ich finde, sie hat ein hübsches Gesicht“, fuhr Elizabeth fort. Offenbar wollte sie nicht locker lassen. „Und sie ist sehr nett.“
„Und das weißt du?“ Es klang nicht sehr nach einer Frage. „Kennst du sie etwa?“
„Sie war kurz vor unserem Aufbruch bei mir. Schließlich gibt es die Untersuchung zum Dienstantritt, wie du dich vielleicht erinnern kannst. Und da haben wir uns unterhalten. Und wir haben dabei viel gelacht.“
Reed sah wieder zu Elane hinüber. „Aber schau sie dir doch mal an. Sie braucht fast zwei Stühle. Und sie redet mit den Armen, nein mit dem ganzen Körper. Sie turnt ja fast auf dem Stuhl herum während sie redet. Sie ist peinlich.“
„Jetzt übertreib mal nicht“, fuhr Elizabeth ihn an. „Sie braucht keine zwei Stühle. Sie ist etwas kräftiger, ja, stimmt. Und aus medizinischer Sicht mag es auch etwas Übergewicht sein. Aber es sieht nicht schlimm aus an ihr. Ihre Größe macht das wett und die Proportionen stimmen. Und sie strahlt Lebensfreude aus, ein Gefühl, das du natürlich nicht kennst. So etwas ist ganz bestimmt nicht peinlich!“
Reed verdrehte die Augen. Er gab sich geschlagen. Elizabeth verteidigte immer andere. Das war einfach ihre Art. Sie war mitfühlend, deshalb war sie wohl auch Ärztin geworden. Doch ihm war heute nicht nach einem Streitgespräche. Irgendetwas in seinem Kopf verwirrte ihn noch immer. Er sah noch immer zu Elane hinüber und befürchtete schon zu wissen, dass er heute Nacht von Kameras und Peinlichkeiten träumen würde.
Die Freizeit während der ersten Tage an Bord wurde vor allem dafür genutzt, sich sowohl räumlich wieder einzurichten wie auch um alte Freundschaften wieder aufzufrischen. Während des Aufenthalts auf der Erde wurden manche Kontakte etwas kurz gehalten. Jeder war damit beschäftigt, Familienangehörige zu besuchen oder alte Freunde zu treffen. Bekanntschaften, die auf dem Schiff bestanden wurden nicht immer mit ins Privatleben genommen. Und das nicht, weil man sich nicht verstand oder nur notgedrungen miteinander befassen musste. Es war vielmehr so, dass man sich auf dem Schiff vielleicht das ein oder andere Mal zu oft über den Weg lief. Hier gab es keine Ausweichmöglichkeiten. Und man konnte seinen Bekanntenkreis auch nicht erweitern. Es waren immer dieselben Personen und man sah sich jeden Tag. Daher wurden Heimaturlaube für andere Dinge genutzt. So kam es, dass sich einige Crewmitglieder seit knapp einem Jahr nicht mehr gesehen hatten. Da gab es viel zu erzählen. Und natürlich hatte es auch Veränderungen innerhalb der Crew gegeben. Personen, die aus den verschiedensten Gründen nicht mehr dabei waren. Hier konnte man hervorragend über die Gründe dafür spekulieren. Und neue Crewmitglieder, die selbstverständlich umgehend begutachtet werden mussten.
Daher waren sowohl die Bar wie auch das Freizeitdeck und die Sporteinrichtungen während der ersten Tage gut besucht. Und wer sich nicht gerade dort aufhielt war wohl noch dabei seine Habseligkeiten einzuräumen. Der überstürzte Aufbruch hatte dafür gesorgt, dass noch niemand vollständig eingerichtet war. Und um Chaos in den Crewquartieren zu vermeiden wurde ein Lagerraum für noch nicht ausgepackte Kisten verwendet, zu dem jeder Zugang hatte, um sich zum passenden Zeitpunkt seine Kisten zu holen.
Aufgrund dieser Geschäftigkeit merkten die meisten Crewmitglieder es gar nicht, als die Republic
für einige Stunden einen Zwischenstopp beim Planeten Vulkan einlegte. Ohne viel Aufhebens wurde Sohral an Bord gebeamt. Einzig Karja, die den Transporter bediente, sowie Captain Sanawey und Commander Jackson waren anwesend um den Vulkanier zurück an Bord zu begrüßen. Der Transport seiner Besitztümer nahm ebenfalls kaum Zeit in Anspruch, da Sohral, wie die Vulkanier im Allgemeinen, keine Logik in luxuriösen Gegenständen sah. Daher waren seine persönlichen Gegenstände sehr spartanisch. Bis auf ein paar wenige zivile Kleidungsstücke hatte er nur noch seine traditionelle Meditationskerze bei sich.
Somit war die Crew endlich vollständig. Der Aufenthalt hätte innerhalb einer halben Stunde beendet werden können. Da die Computer der Republic
jedoch noch ein Update der neusten Erkenntnisse der vulkanischen Wissenschaftsakademie erhielten, musste der ohnehin vorgesehene Aufenthalt auch mit der geplanten Zeit durchgeführt werden.
Sanawey kam der Aufenthalt unendlich lange vor, vor allem, da er hier nicht viel tun konnte und viel lieber endlich erfahren hätte, was sie am Ziel ihrer Reise erwarten würde. Als sie endlich aufbrechen konnten, hatte er das Gefühl wertvolle Zeit verloren zu haben. Aber wenigstens hatte er sein Quartier nahezu fertig eingerichtet.
Bis zum Ziel ihrer Reise hatten sie fünf Tage vor sich. Genug, um sich dem Rhythmus an Bord wieder anzupassen. Ein Tag an Bord der Republic
war in vier Schichten unterteilt. Sechs Stunden ununterbrochener Konzentration reichten auch absolut aus. Und diese Konzentration war notwendig, immerhin befanden sie sich im Weltraum. Der kleinste Fehler oder Unachtsamkeit konnte nicht nur den eigenen Tod bedeuten, sondern den aller.
Der Vier-Schicht Betrieb bedeutete jedoch nicht, dass nach sechs Stunden Feierabend war. Es gab genug Berichte und Protokolle zum eigentlichen Dienst zu führen, so dass die Aufarbeitung einer Schicht gut und gerne nochmal zwei Stunden in Anspruch nahm. Bei außergewöhnlichen Vorfällen konnte das auch mal mehr Zeit benötigen.
Da es allerdings auf einem Raumschiff keine Fahrzeiten zum Arbeitsplatz gab, blieb relativ viel Raum für die Freizeit. Drake Reed hatte das mal passend formuliert. „Auf der Erde gibt es so viele Möglichkeiten seine Freizeit zu gestalten, doch hat man gar nicht genug Freizeit. Auf einem Raumschiff ist das genau umgekehrt. Wir haben mehr Zeit, allerdings kaum Möglichkeiten etwas damit anzufangen.“
Trotzdem gab es niemanden an Bord, dem es langweilig wurde. Die wenigen Möglichkeiten sich zu beschäftigen sorgten wenigstens dafür, dass die Crew ihre freie Zeit zusammen verbrachte. Das stärkte den Gemeinschaftssinn und sorgte dafür, dass die Stärken und Schwächen des anderen besser kennen gelernt wurden, um sich so gegenseitig noch besser zu ergänzen.
So kam es, dass sich Karja nach Ende ihres Arbeitstages in den Fitnessraum zurückzog, um noch eine halbe Stunde auf dem Laufband zu verbringen. Bis auf eine Frau, die ihr den Rücken zukehrend ein Laufband nutzte, war niemand anwesend. Was Karja sehr recht war. Sie zog es vor alleine zu trainieren.
Sie betrat das zweite Laufband als die andere Frau sie bemerkte und den Kopf drehte. Karja erkannte in ihr die neue Bordpsychologin. „Hallo Mrs. Bozman“, grüßte sie.
„Hallo Mrs. Romain“, grüßte die Counselor zurück. Sie war etwas kurzatmig und schien sich bereits länger hier aufzuhalten. Ein paar Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.
Karja mochte es nicht sonderlich, wenn man sie mit ihrem Nachnamen ansprach. Zwar war es der Name ihrer Mutter, den sie nun doch offiziell führte. Aber war es ihr lieber, wenn man sie einfach mit Karja ansprach.
Während sie die Einstellungen am Laufband vornahm streifte sie mit einem Seitenblick Bozman von oben bis unten. Die Psychologin hatte schöne, dunkle Haare, die sie mit Haarnadeln fest gemacht hatte, um sie beim Laufen nicht ständig im Gesicht zu haben. Ihr eng anliegender Trainingsanzug brachte ihre schlanke Figur noch deutlicher zur Geltung. Ihre Brüste waren kleiner als die Karjas, aber dafür war ihr Po knackiger. Fand zumindest Karja. Ihre schlanken, langen Beine wirkten trainiert. Offenbar lief sie regelmäßig. Und ihr Bauch war flacher, musste Karja neidisch feststellen. Aber so etwas dachte wohl jede Frau, die eine andere, gutaussehende Frau betrachtete.
Langsam fing Karja an und steigerte dann allmählich das Tempo. „Haben Sie sich an Bord bereits zurecht gefunden?“ begann Karja schließlich eine Konversation.
„Ich gewöhne mich langsam ein“, gab Bozman schnaufend zur Antwort. „Alle sind sehr nett zu mir, trotzdem empfinde ich es als schwierig. So viele unbekannte Leute. Ich kenne niemanden hier.“
Karja nickte und dachte an ihre erste Zeit an Bord des Schiffes zurück. So schwierig kam ihr das im Nachhinein gar nicht vor. Aber sie war auch nicht als reguläres Crewmitglied an Bord gekommen. Sie war auf der Suche nach ihrem unbekannten Vater gewesen. Und sie war so voller Wut auf ihn gewesen, dass sie von ihrer sonstigen Umgebung gar nicht viel wahrgenommen hatte. Sie hatte ihm damals so vieles vorgeworfen. Unter anderem, dass er einfach fort gegangen war und sich nie um sie oder ihre Mutter gekümmert hatte. Dass er sie einfach alleine gelassen hatte. Sie fiel mit einem Zorn über ihn her und ihr kam nicht einmal in den Sinn, ihn nach seiner Sicht zu fragen. Bis sich schließlich herausgestellt hatte, dass ihre Mutter ihn verlassen hatte und er überhaupt nichts von Karjas Existenz wusste, da ihre Mutter es ihm verschwiegen hatte. Eigentlich hätte sie ihrer Mutter Vorwürfe machen müssen, doch sie war inzwischen nicht mehr am Leben. Und als sich das Missverständnis schließlich aufgeklärt hatte, da gehörte sie irgendwie schon zur Crew.
Dazu kam, dass Karja sich schon lange alleine hatte durchschlagen müssen und sich die erste Zeit hier an Bord nicht sonderlich von früheren Zeiten unterschied. Mira Bozman dagegen schien aus behüteten Verhältnissen zu kommen. Daher fiel ihr der Anfang natürlich besonders schwer.
„Das wird schon noch werden“, sagte Karja schließlich. „Geben Sie sich etwas mehr Zeit. Wir sind ja erst aufgebrochen.“
Bozman nickte, auch wenn es nicht sehr überzeugend wirkte.
Schweigend setzten sie ihr Training fort. Karja fand, die Situation hatte etwas Ironisches an sich. Sie musste die neue Psychologin aufmuntern. Hätte es nicht anders sein müssen?
Schließlich lief Bozman langsam aus um ihr Training zu beenden. Erschöpft nahm sie ihr Handtuch und vergrub ihr Gesicht für einige Sekunden darin. Ihr Atem ging schnell. Als sie wieder aufsah war ihr anzusehen, dass die Anstrengung ihr Gesicht gerötet hatte. „Ich werde dann mal gehen“, sagte sie und deutete in Richtung der Duschen.
Karja nickte. Während Bozman ging wandte sich Karja noch einmal um und rief: „Wenn Sie wollen, können wir morgen Abend zusammen im Speisesaal essen.“
„Gern“, erwiderte Bozman. „Sagen wir 19 Uhr?“
„In Ordnung. Bis dann.“ Karja war während des kurzen Wortwechsels mit halb verdrehtem Oberkörper weitergelaufen. Nun bereute sie die Einladung. Nicht, weil sie nicht mit der Psychologin essen wollte, sondern weil sie durch das falsche Atmen nun Seitenstechen bekam.
DREI
Lustlos schlenderte Drake Reed durch die Gänge des Schiffes in Richtung Speisesaal. Heute Abend würde er sich mit seinen Kollegen zum gemeinsamen Essen treffen. Es war das erste Mal, dass sie so etwas taten. Und es ging auf einen Vorschlag Elane Watts‘ zurück. Allein deswegen würde er sie schon hassen. Nicht, dass er seine Kollegen nicht mochte, aber musste das ausgerechnet heute sein? Eigentlich wäre er heute viel lieber mit Cheryl Winters essen gegangen. Sie war die Frau aus dem Shuttle, mit dem er an Bord bekommen war. Und es hatte ihn vier lange Tage gekostet, bis er sie wiedergefunden und herausbekommen hatte wie sie hieß. Sie arbeitete im medizinischen Forschungslabor. Und offenbar war sie nicht ganz abgeneigt, denn sie sagte sofort zu, als er sie gefragt hatte, ob sie einen Abend mit ihm verbringen wollte. Und nun musste er bis morgen warten. Das ärgerte ihn ungemein.
Kurz vor dem Speisesaal stieß er beinahe mit Karja zusammen. Sie kam aus einem Quergang und war in Begleitung von Mira Bozman. Einer Person, die Reed unheimlich war, da er ständig das Gefühl hatte, sie könne in seinen Kopf sehen und seine Gedanken lesen. Natürlich wusste er, dass sie das nicht konnte. Aber sie war ausgebildete Psychologin, da konnte sie aufgrund seiner Mimik und Gesten sicher mehr erkennen als sonst jemand. Daher setzte er schnell seine freundlichste Mine auf, als er die beiden grüßte.
„Auch auf dem Weg zum Speisesaal?“ fragte Karja, obwohl das eigentlich auf der Hand lag. Offenbar wollte sie nur die paar Meter bis zur Tür nicht schweigend zurücklegen.
„Ja“, nickte Reed. „Wir haben ein Arbeitsessen.“
„Das klingt ja aufregend.“ Der ironische Unterton in Karjas Stimme war nicht zu überhören.
„Ich kann es auch kaum erwarten“, erwiderte Reed gedehnt.
Als sie die Tür erreichten glitten die beiden Hälften lautlos auseinander. Der Raum hatte sich durch die Umbauarbeiten nicht geändert. Einzig die Beleuchtung war ausgetauscht worden, so dass das Licht nun natürlicher wirkte. Und ein Großteil der Bilder an der Wand waren neu, da die meisten der alten Bilder bei den Auseinandersetzungen mit den Adrac beschädigt oder zerstört worden waren. Der Raum war nur zur Hälfte gefüllt.
„Dann einen schönen Abend, Mr. Reed“, verabschiedete sich Karja, ehe sie sich mit Bozman einen Tisch aussuchte.
„Danke“, murmelte Reed nur. Er hatte seine Kollegen bereits entdeck und festgestellt, dass schon alle anwesend waren. Nun ja, was sollte er jetzt noch tun? Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen. Und seine Verabredung für morgen stand ja bereits fest, so dass er sich darauf freuen konnte. So setzte er sich freundlich grüßend zu den andern.
„Da sind Sie ja“, lächelte Watts ihn an. „Wir dachten schon, Sie kommen nicht mehr.“
Reed sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Er war gerade mal zehn Minuten zu spät. Kein Grund zur Panik. „Es war viel los unterwegs, da bin ich nicht so gut durchgekommen wie ich gedacht hatte“, erklärte er trocken.
Zuerst starrten ihn alle verständnislos an, dann fing Watts in der ihr eigenen Art an zu lachen und steckte die anderen mit an. „Da hatten Sie aber Glück, dass Ihr Wagen wenigstens angesprungen ist“, stieg sie auf seine Bemerkung ein.
Reed war für einen Moment irritiert. Normalerweise wurden seine Kommentare von allen ignoriert. Daher brauchte er eine Schrecksekunde Zeit ehe er antwortete: „Das tat er nicht. Deshalb musste ich den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen. Entsprechenden Hunger habe ich jetzt.“
„Dann sollten Sie etwas leichtes essen, sonst wird der Rückweg zu schwer.“ Sie blieb ernst, hatte nur ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln. Reed tat es ihr gleich.
„Sie könnten mich nach Hause bringen“,
„Das fällt mir ja im Traum nicht ein. Womöglich soll ich dann noch auf einen Kaffee mit rein kommen.“
Das würde ihm garantiert nicht einfallen. Darum wollte er das nicht weiter vertiefen. „Dann muss ich Ihren Tipp mit dem leichten Essen wohl annehmen. Was können Sie mir denn empfehlen?“
Sie nahm die Karte zur Hand. „Lassen Sie uns mal nachschauen. Ich denke ein Salat wäre das richtige. Hier, der Chefsalat mit jungem Gemüse.“
„Das meinen Sie nicht ernst? Wie soll man von dem Grünzeug wieder zu Kräften kommen? Etwas Kräftigeres wäre besser.“
„Fleisch?“
„Ja, das sollte dabei sein. Gibt es auch frisches Gagh?“ Gagh war eine klingonische Spezialität. Wurmartige Wesen vom Heimatplanet der Klingonen, die noch lebend gegessen wurden. Entsprechend verzog Elane das Gesicht. Genau das hatte er nach dem Wortwechsel erreichen wollen. Doch war sie damit nicht mundtot zu kriegen.
„Dann fasse ich mal zusammen“, sagte sie. „Sie sind also scharf auf Frischfleisch, mögen aber kein junges Gemüse.“
Die anderen Anwesenden am Tisch fingen an zu grinsen. Und auch Reed konnte nicht ernst bleiben, so sehr er sich auch bemühte. Seine Mundwinkel bogen sich langsam nach oben.
„Wenn Sie das sagen“, brachte er noch hervor.
Watts sah etwas verwirrt in die Runde. Erst als sie die grinsenden Gesichter betrachtete fiel ihr auf, was sie gesagt hatte. „Oh... ich...“ fing sie an und brach dann wieder ab. Ihre Wangen bekamen eine rötliche Färbung. Sie hatte auch schon erfahren, dass Reed als Frauenheld verschrien war. So war es ihr doch etwas peinlich, dass sie ihn unabsichtlich so beschrieben hatte, auch wenn sie es ganz anders gemeint hatte.
Sie wählten das Essen aus und die Gesprächsthemen drehten sich nur noch um den Job, die Republic
und die Mission. Reed hielt sich zurück, da er der Meinung war, sich mit diesen Themen schon während seiner Arbeitszeit genug herumschlagen zu müssen. In seiner Freizeit wollte er über andere Dinge sprechen. Während des Essens stockte der Gesprächsfluss etwas und nahm erst danach wieder Fahrt auf.
„Glauben Sie, dass wir am Ziel unserer Reise etwas Spannendes finden werden“, wandte Karanopoulis sich schließlich direkt an Reed.
Dieser zuckte sichtlich zusammen und wusste gar nicht, was er sagen sollte. Er war mit seinen Gedanken bereits beim morgigen Abend gewesen und hatte somit nichts von der Unterhaltung mitbekommen.
„Weiß überhaupt jemand, was das Ziel ist?“ frage Watts in die Runde. Außer den Führungsoffizieren wusste niemand etwas Genaues. Sowohl die Sternenflotte wie auch Sanawey waren der Meinung, dass die Messwerte über chronometrische Partikel ohne tatsächliche Bestätigung nur unnötig für Aufregung sorgen würden. Daher war das eigentliche Missionsziel unbekannt.
„Niemand kennt das Ziel. Aber ich habe mit Ivancic gesprochen, dem zweiten Steuermann. Er sagte, das Ziel liegt bei den Xindi“, wusste Karanopoulis zu berichten. Sein Ton klang fast verschwörerisch.
„Xindi?“ lachte Paulsen. „Du glaubst wohl auch noch an den Weihnachtsmann.“
„Da geht bestimmt etwas Großes vor sich“, fuhr der Grieche fort, ohne auf Paulsens Einwand zu reagieren.
„Ich glaube, dass nichts passieren wird“, tat Paulsen das leichthin ab.
„Das dachte Leonardo Di Caprio auch. Und dann kam der Eisberg,” murmelte Reed eine Spur zu laut.
„Wer?“ Paulsen sah ihn an als rede er chinesisch.
„Das war ein Schauspieler um die Jahrtausendwende“, klärte Watts ihn zur Überraschung aller auf. „Und Mr. Reed spielt hier auf eine der unzähligen Verfilmungen der Titanic-Katastrophe an.“
„Sie kennen den Film?“ Reed wurde aufmerksam.
„Klar kenne ich den. Wenn ein Film elf Oscars erhält, dann muss man den kennen.“ Watts tat so als sei dies das normalste der Welt. Doch die wenigsten Menschen heutzutage kannten noch die alten Filme. Neue, bessere Medien und Möglichkeiten des Geschichtenerzählens hatten dem Kino schwer zugesetzt. Dann kam der dritte Weltkrieg. Danach hatten die Menschen andere Sorgen. Und nach den harten Jahren und der Zeit des Wiederaufbaus hatte das Kino ausgedient. Die Zahl neuer Filme hatte abgenommen und ebenso die Qualität. Der Kontakt zu Außerirdischen und deren Freizeitgestaltungen faszinierten die Menschen mehr als die immer wieder ähnlichen Geschichten in neuen Aufgüssen, die das Kino erzählte. Heute fand die Unterhaltung fast nur noch holografisch statt. Und wenn die Gerüchte stimmten, dann konnte man in Zukunft sogar in den Holographiegeschichten mitspielen. Wer in diesen Tagen einen alten Film sehen wollte, musste schon wissen, wo er sich einen solchen besorgen konnte.
Wie sich herausstellte war Watts ein echter Kenner. Sie kannte jeden Film, den Reed nannte. So unterhielten sie sich über ihre Lieblingsfilme und konnten ganze Dialoge nachspielen. Zuerst waren auch ihre anderen Kollegen noch darüber amüsieren, doch schließlich konnten sie dem nichts mehr abgewinnen und so verabschiedeten sie sich. Reed und Watts blieben zu zweit zurück.
„Casablanca“, gab Reed ein Stichwort und war sich sicher, sie dieses mal in die Enge getrieben zu haben.
„Humphrey Bogart und Ingrid Bergman. Natürlich kenne ich den. Schau mir in die Augen, Kleines
“, zitierte sie.
„Ha“, fuhr Reed auf. „Ein weit verbreiteter Irrtum. Der Satz fällt im ganzen Film nicht.“
„Natürlich“, konterte sie überzeugt.
„Der Satz aus dem Film lautet: Ich schau dir in die Augen, Kleines
.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn an. „Sie nehmen mich auf den Arm.“
„Das würde ich nie wagen“, sah er sie treuherzig an.
Sie lachte. „Nein, niemals.“ Und nach einem Schluck aus ihrem Glas fügte sie hinzu: „Mein Name ist übrigens Elane. Das ist einfacher.“
„Drake“, nahm er das Angebot für das Du an und stieß mit ihr an.
„Gibt es irgendeinen Film, den du nicht kennst?“ fragte Elane schließlich.
Mit gespielter Konzentration sah er sie an. „Nein, ich kenne alle.“ Dann winkte er ab. „Wie soll man alle Filme kennen? Das ist unmöglich. Beinahe zweihundert Jahre lang wurden Filme produziert, in fast jedem der alten Nationalstaaten. Das waren nicht gerade wenig. Niemand kann alle Filme kennen, dafür reicht ein Leben nicht aus. Es sei denn, man ist Vulkanier. Aber ich kenne sehr viele Filme. Es ist ein Jammer, dass diese Kunst verloren gegangen ist. Ich finde auch einige der neuen interaktiven Geschichten gut, aber letztendlich muss man immer mitmachen um die Geschichte voranzubringen. Damals konnte man sich zurücklehnen, eine Geschichte auf sich wirken lassen und sich einfach unterhalten lassen. So etwas kann man heute nur noch im Theater erleben.“
„Vielleicht sollten wir ein Kino an Bord einrichten“, witzelte Elane.
„Bring mich nicht auf Ideen.“
Sie alberten noch ein wenig herum und ehe Reed sich versah war es weit nach Mitternacht. Sein Dienst begann bereits um sechs Uhr. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Auf dem Weg zum Lift nahm Elane ihm das Versprechen ab, dass er ihr seine Behauptung mit dem Filmzitat aus Casablanca beweisen müsse. Natürlich willigte Drake ein und prompt würde er einige Tage später einen Gast in seinem Quartier haben. Er konnte nur hoffen, dass das keiner mitbekam. Der Gedanke, dass jemand Gerüchte über ihn und Elane streuen könnte, passte ihm nicht. Er hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Und Elane war so gar nicht sein Typ, auch wenn sie noch so nett war.
Frustriert schlenderte Droga langsam die Straße entlang, die ihn irgendwann nach Hause führen würde. Die letzten Tage waren schon schlimm genug gewesen, doch die Sitzung heute hatte ihm den Rest gegeben. Und daher hatte er seinen verdutzten Fahrer alleine losgeschickt. Er brauchte die Frische der kühlen Nacht. Er musste darüber nachdenken, ob es noch eine Möglichkeit gab weiterzukämpfen oder ob er aufgeben sollte.
Seit der Rat faktisch aufgelöst worden war und er zurück auf seiner Heimatwelt war, hatte er versucht seine Zusage gegenüber seinem Kollegen der Arboreale einzulösen. Er hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, hatte jede Beziehung genutzt, die er kannte. Er unternahm jede Anstrengung um eine Flotte auf die Beine zu stellen, die die Waffe der Reptilianer zerstören sollte. Doch egal was er tat, überall schlug ihm Widerstand und Ablehnung entgegen. Man glaubte ihm nicht, dass die Waffe auch eine Bedrohung für die Xindi-Rassen war. Und so schloss sich für ihn eine Tür nach der Anderen.
Durat, dem ehemaligen Vertreter der Arborealen im Rat, erging es nicht besser. Er hielt zwar sein Versprechen, alles zu unternehmen, um auch bei den Baumbewohnern für eine Flotte gegen die Reptilianer zu werben, doch hatte er kaum mehr Erfolg als Droga. Sie schienen einen aussichtslosen Kampf zu führen.
Die heutige Sitzung hatte ihm nun klar gemacht, dass es diese Flotte niemals geben würde. Und schon gar nicht rechtzeitig. Die Regierenden hatten sich selbst der Sache angenommen. Vor zwei Tagen hatte er die Einladung in den Senat bekommen. Eigentlich war es mehr eine Vorladung denn eine Einladung gewesen. Für ihn war es aber eine Chance gewesen dort sein Anliegen noch einmal vorzubringen. Entsprechend akribisch hatte er sich darauf vorbereitet. Jedes Argument hatte er mehrmals durchgespielt, mehrere Reaktionen der Senatoren darauf erdacht, um auf alles vorbereitet zu sein. Es sollte endlich den Durchbruch bringen.
Doch er war nicht einmal zu Wort gekommen. Man hatte ihm den Mund verboten und ihm stattdessen klar gemacht, dass er, falls er nicht endlich Ruhe geben würde, seine Anstellung verlieren würde. Schlimmer noch, man hätte ihn in einem solchen Falle inhaftieren wollen, um ihn damit endgültig kalt zustellen. Er war zu einem unbequemen Unruhestifter geworden. Dazu hatten sie ihm nahe gelegt, einige Tage Urlaub zu nehmen und für diese Zeit unterzutauchen. Auf diese Art sollte er wieder Vernunft annehmen und Gras über die Sache wachsen lassen.
Da ihm kaum eine andere Möglichkeit geblieben war, hatte er nachgegeben. Er hatte zugesagt, die an ihn gerichteten Forderungen zu erfüllen. Doch als er nun so nach Hause lief, war er sich nicht mehr sicher, ob das richtig gewesen war. Denn er würde sich auf keinen Fall daran halten können, soviel war ihm jetzt schon klar. Er musste einfach etwas gegen die Bedrohung durch die Reptilianer tun, selbst wenn alle anderen die Augen verschlossen und wegsahen. Oder gerade deswegen. Wenigstens einer musste das Richtige tun.
Letztlich gab es wohl nur einen Weg, den Senat doch noch von der Notwendigkeit zu überzeugen. Er brauchte Beweise. Und zwar handfeste Beweise, die die Verantwortlichen nicht einfach ignorieren konnten. Er musste selbst nachsehen, was sich im Sektor 859J tat. Nur so konnte er die Reptilianer aufhalten.
Den Sektor zu erreichen sollte kein Problem sein. Er besaß noch immer die Berechtigung, sein Diplomatenschiff zu nutzen wann immer er es wollte. Die Bewaffnung war zwar minimal, aber selbst die Reptilianer würden es nicht wagen, einen Diplomaten anzugreifen. So hatte er den Entschluss schnell gefällt. Er würde sich mit eigenen Augen von den Schandtaten der Reptilianer überzeugen.
Auch der nächste Tag verlief völlig ereignislos. Jeder auf dem Schiff ging ohne besondere Aufregung seinem Dienst nach. Es war wie die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Auch wenn sich von dem Sturm noch nichts ankündigte.
Nach ihrem Dienstende ging Wendy Brooks noch an Captain Sanaweys Büro auf Deck 2 vorbei. Seit sie unterwegs waren hatte sie kaum Gelegenheit gehabt mit ihm zu sprechen. Sie war noch unentwegt dabei die Umbauten und Neuerungen zu testen und zu studieren, um im Notfall sofort sagen zu können, wie reagiert werden musste. Außerdem gab es noch ein paar weniger wichtige Systeme, die erst unterwegs installiert werden sollten. So war sie gut beschäftigt und arbeitete weit über ihre Schichten hinaus. Für Freizeit blieb da keine Zeit.
Nach dem Betätigen des Türsummers hörte sie ein kräftiges Herein und betrat dann den Raum. Sanawey saß hinter seinem Schreibtisch und schaute auf ein Datenpad.
„Wendy. Hallo. Schön dich zu sehen“, grüßte er sie.
„Hallo Sanawey.“ Sie nahm sich einen Stuhl vom kleinen Besprechungstisch und nahm Platz. „Wie geht es dir?“ wollte sie wissen.
Sanawey seufzte. „Was soll ich dazu sagen? Ich habe Beschwerden über Systeme, die nicht richtig funktionieren und über Quartierskollegen, mit denen man es nicht aushält. Dazu Spekulationen und Gerüchte über unsere Mission. Das Übliche zum Start einer neuen Mission.“ Er ließ das Datenpad auf den Tisch fallen. „Und wie geht es dir?“
„Super. Alles funktioniert hervorragend, ich hatte noch nie ein so harmonisierendes Team und vor lauter Routine ist uns fast schon langweilig.“ Der Sarkasmus in ihrer Stimme triefte nur so aus den Worten. „Und falls du die Wahrheit wissen willst, meinen Bericht hast du ja auch vorliegen.“
Sanawey nickte. Er konnte sich an den Statusbericht erinnern. So viele Systemfehlfunktionen hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Aber eigentlich war es nicht anders zu erwarten gewesen. Ein erst schwer beschädigtes, dann fast komplett überholtes Schiff, das zum Schluss nicht mal ausführlichen Test unterzogen wurde, das konnte nicht reibungslos laufen. Da konnte im Hauptquartier noch so viel von Qualitätssicherung gesprochen werden. Wenn sie sich am Ende selbst nicht daran hielten musste es so ausgehen.
„Aber eigentlich bin ich nicht hier um dienstlich zu werden Ich wollte nur sehen wie es dir geht und fragen, ob du Lust hättest heute Abend eine Runde Billard mit mir zu spielen.“
„Gerne“, lächelte Sanawey. „Aber wirklich nur eine Runde. Ich sollte noch ein paar Berichte lesen. Außerdem sollte ich schlafen. Die letzten Nächte waren kurz.“
„Und der Dienst eindeutig zu lange“, ergänzte Wendy, die durchaus nachvollziehen konnte, wie es dem Captain ging.
Sanawey nickte nur.
Nach kurzem Schweigen konnte Wendy ihre Neugier doch nicht mehr bis zum Abend zügeln. „Gibt es schon irgendwas Neues aus dem Sektor 859J?“
„Nein“, schüttelte Sanawey den Kopf „Wir sind noch nicht in Reichweite der Sensoren.“ Seine Stimme verriet seine Enttäuschung, obwohl von vornherein klar gewesen war, dass sie Antworten erst im Zielsektor erhalten würden. Dass die Sternenflotte die Messungen über größere Distanzen machen konnte, lag schlicht und einfach daran, dass stationäre Sensorenanlagen auf Grund ihrer Größe eine wesentlich höhere Reichweite hatten als ein kleines Raumschiff.
„Schade“, meinte Wendy. „Die Ungewissheit ist nervenaufreibend. Wenn dort wirklich mit der Zeit experimentiert wird, dann können wir im nächsten Augenblick einfach verschwunden sein. Ohne je existiert zu haben“, dramatisierte sie die derzeitige Situation.
„Gut nur, dass du das dann nie erfahren würdest“, erwiderte Sanawey trocken.
Wendy schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich sehe schon, du nimmst mich nicht ernst.“ Bei diesen Worten stand sie auf. „Ich erwarte dich heute Abend auf dem Freizeitdeck am Billardtisch. Und wenn du nicht kommst, hetz ich dir unsere neue Counselor auf den Hals“, drohte sie mit erhobenem Zeigefinger.
„Dann werde ich auf jeden Fall da sein“, gab er ernst zurück.
Wendy sah ihn durch zusammengekniffene Augen an. „Irgendwas ist noch. Du hast mir nicht alles gesagt. Da gibt es etwas, das dir zu schaffen macht.“
Sanawey wich ihrem Blick aus und antwortete nicht.
„Du hast die Wahl. Erzähl es mir oder der Psychologin.“ Als sie merkte, dass Sanawey nicht darauf einging, kam sie um den Tisch und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Was ist los?“
Seufzend hob Sanawey das Pad vom Tisch auf. „Wir haben ein Kommuniqué von der Sternenflotte erhalten. Wir wurden darüber informiert, dass die Enterprise
angegriffen wurde. Die näheren Umstände wurden nicht genannt, aber es kam zu zahlreichen Toten, vor allem unter den Kadetten.“ Er machte eine kurze Pause. Den sinnlosen Tod von so vielen jungen Menschen erfahren zu müssen war für niemanden leicht. Und noch weniger für einen kommandierenden Offizier. Bei solchen Anlässen wurde das Ausmaß der Verantwortung deutlich vor Augen geführt, die ein Captain zu tragen hatte. „Unter den Toten ist auch Captain Spock. Wie gesagt, uns wurde nicht gesagt, was genau geschehen ist. Aber es war wohl eine Routineuntersuchung. Niemand hatte mit einer Gefahr gerechnet. Das ist ziemlich ähnlich mit unserer Situation.“
Wendy war geschockt. Captain Spock war eine lebende Legende, wie viele andere der Enterprise
-Crew auch. Sein Tod würde die Sternenflotte hart treffen, soviel war schon mal sicher. „Die Situation ist gar nicht so ähnlich. Die Crew der Enterprise
bestand fast nur aus Kadetten. Wir haben eine ordentliche Besatzung. Und wir wissen vielleicht eher was auf uns zukommen kann. Wir werden besser auf eine unerwartete Situation reagieren können.“
Sanawey sah sie dankbar an. „Ja, das denke ich auch. Die Informationen zur Enterprise
werde ich vorerst noch nicht weitergeben. Ich will nicht, dass eine Unruhe auf dem Schiff entsteht. Das können wir uns gerade nicht leisten. Behalte es daher bitte für dich.“
„Natürlich“, nickte Wendy. „Damit wird die Zerstreuung heute Abend noch wichtiger als ich dachte.“ Sie verließ den Raum, noch nicht wissend, dass sie an diesem Abend ihren Captain haushoch schlagen würde.
Lerak betrachtete die Daten, die sein Computer ihm anzeigte. Ein zufriedenes Knurren ließ sich seiner Reptilienkehle entnehmen. Er war sich sicher, all die Mühen der letzten Jahre hatten sich gelohnt. All die Machtkämpfe, die vielen Opfer und all die Rückschläge, die er immer wieder hatte hinnehmen müssen würden sich bald bezahlt machen.
Er sah auf und sein Blick fiel auf die drei Wissenschaftler, die ihm gegenüber standen. Es waren zwei Arboreale und ein Reptilianer. Leider hatte sein eigenes Volk nur wenige Wissenschaftler hervor gebracht. Eine Tatsache, auf die Lerak in der Vergangenheit immer stolz gewesen war. Sie waren ein Volk aus Kriegern. Keine verängstigten Bücherwürmer, die bei einem Kampf schlotternd in der Ecke saßen.
Doch bei der Planung dieses Projektes war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass das ein gewaltiger Nachteil sein konnte. Denn die Reptilianer waren damit auf die anderen Xindi angewiesen gewesen. Insbesondere auf die Arboreale und die Humanoiden, die er beide aus tiefstem Herzen verachtete.
Ihm war jedoch nichts anderes übrig geblieben und so hatte er entschieden, die Arboreale mit einzubinden. Wenigstens einige von ihnen. Sie hatten Geheimhaltung schwören müssen und hatten für die gesamte Dauer des Projektes keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt. Humanoide waren nicht beteiligt gewesen. Ihnen traute Lerak noch weniger. Zudem waren sie schwerer zu kontrollieren. Die Arboreale waren wenigstens nur nervend, taten aber sonst, was von ihnen verlangt wurde.
„Sie haben großartige Arbeit geleistet“, sagte Lerak anerkennend.
„Es ist alles vorbereitet. Der Countdown läuft bereits“, beeilte sich einer der Arboreale zu sagen.
„Sehr gut“, nickte Lerak. „Ich bin auf das Ergebnis gespannt. Danach werden Sie Ihren Lohn erhalten und können nach Hause gehen.“
Die Wissenschaftler bedankten sich und wurden dann aus dem Raum geführt. Einzig der reptilianische Wissenschaftler blieb noch. Nach den grellen und weißen Laboren genoss er die schummrige Atmosphäre und den Rotstich in der matten Beleuchtung. Sie entsprach seiner Natur.
„Kann der Countdown noch gestoppt werden?“ wollte Lerak von ihm wissen.
„Nein, Herr. Alles läuft nach Plan“, kam die Antwort. Der Wissenschaftler hatte selbst für reptilianische Verhältnisse eine tiefe Stimme.
Lerak nickte. „Dann begib dich jetzt in den Schutzraum. Ich werde gleich nachkommen.“
Während der Wissenschaftler sich umdrehte und ging, betrat ein Soldat den Raum. Er salutierte demütig. Dann begann er, ohne zum Sprechen aufgefordert worden zu sein. Eigentlich ein Unding und in den Hierarchien der Reptilianer mit strengen Strafen belegt. Lerak wollte ihn auch schon unterbrechen, das Gehörte ließ ihn dann aber doch schweigen.
„Ein unbefugtes Schiff nähert sich unserer Arbeit im Sektor 859J“, meldete der Soldat.
„Was für ein Schiff?“ Leraks Aufmerksamkeit war geweckt. Auf keinen Fall wollte er so kurz vor dem Ziel noch scheitern.
„Ein Schiff der Humanoiden“, sagte der Soldat verächtlich. „Sie sind kaum bewaffnet.“
Leraks erste Anspannung verlor sich ein wenig. „Wann erreichen sie die Konstruktion?“
„In knapp zwei Stunden sind sie in Waffenreichweite.“
Nun war Lerak vollends erleichtert. Dann kamen sie auf jeden Fall zu spät. Nur dufte der Soldat das nicht wissen. Denn über die wahre Mission durfte, außer der Handvoll Eingeweihter, niemand etwas wissen.
„Versetzen Sie die Schiffe in Alarmbereitschaft. Sie sollen die Humanoiden vernichten, sobald diese in Reichweite sind“, befahl er, wohl wissend, dass es zur Ausführung dieses Befehles nicht mehr kommen würde.
Er glaubte zu wissen, wer in diesem Schiff saß. Vermutlich konnte sich sein ehemaliger Ratskollege Droga einfach nicht zurückhalten und musste selbst in den Sektor 859J fliegen, um zu sehen, was dort vor sich ging. Wenn alles nach Plan laufen würde, und daran gab es keinen Zweifel, dann würde er es nie erfahren. Er würde dort nur sein Schicksal finden.
Lerak war es egal. Das Leben von minderen Wesen interessierte ihn nicht im Geringsten. Zudem stand er kurz vor der Leistung seines Lebens. Zwar hätte er Droga für seine unerträgliche Arroganz gern selbst getötet, doch konnte dieser Wunsch nicht mehr in Erfüllung gehen. Dazu war die Zeit zu knapp und Lerak einfach zu weit weg. Die Schutzräume waren auf dem Heimatplaneten der Reptilianer errichtet worden.
Mit einem letzten Blick auf den Monitor machte er sich auf den Weg. Es wurde Zeit. Die Schutzräume mussten hinter ihm noch versiegelt werden und die umgebenden Kraftfelder auf genau die richtige Frequenz einstellt werden. Dabei durfte es keinen Fehler geben. Die Insassen würden es mit dem Leben bezahlen.
Er konnte seine Ungeduld kaum noch ertragen. Seit Jahren hatte er auf diesen Tag hin gearbeitet. Alle Testläufe sprachen dafür, dass es funktionieren würde. Doch absolut sicher war es nicht. Und so war die Spannung noch umso größer. In wenigen Stunden wäre er am Ziel seines Lebens – oder tot.
Voller Energie trat Reed an diesem Morgen aus seinem Quartier und stieß dabei beinahe mit Karja zusammen, die in diesem Moment vor der Tür vorbeilief.
„Wow“, entfuhr es ihr. „Guten Morgen, Mr. Reed. So stürmisch heute? Darf ich vermuten, dass der gestrige Abend erfolgreich verlaufen war?“ Sie zwinkerte ihm anzüglich zu.
Reed verzog das Gesicht. „Nein, es war nicht das, was Sie denken.“ Genaugenommen war der Abend ein totaler Reinfall gewesen. Und das, obwohl er sich so sehr darauf gefreut hatte. Er hatte seine besten Klamotten herausgekramt, sein bestes Parfüm angelegt. Und dann hatte er sie abgeholt. Cheryl Winters. Und sie sah genauso umwerfend schön aus, wie vor einigen Tagen im Shuttle, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Als sie die Türe ihres Quartiers geöffnet und er sie gesehen hatte, war ihm fast die Luft weggeblieben, so klasse sah sie aus. Der kurze Minirock schien ihm einladend zuzuzwinkern. Am liebsten hätte er auf das Ausgehen verzichtet und sie an Ort und Stelle vernascht. Aber ganz so einfach lief es natürlich nicht. Sie waren in die Bar gegangen und Reed hatte vor, sie so sehr zu begeistern, dass der Rest des Abends ein Kinderspiel sein würde.
Doch irgendwie kam es anders. Sie bekamen keine vernünftige Unterhaltung hin. Sie hatten einen völlig anderen Humor wie er und verstand die meisten seiner Späße nicht, lachte aber trotzdem, wohl um ihm zu gefallen. Normalerweise ignorierte er so etwas, doch konnte er das gestern Abend nicht. Auch seine sonstige todsichere Nummer bekam er nicht auf die Reihe. Die Erzählungen von Abenteuern und seinen Heldentaten wollte nicht recht über seine Lippen kommen. Obwohl sie regelrecht darum gebettelt hatte. Aber diese Art der Unterwerfung konnte er auf einmal gar nicht mehr ertragen. Eigentlich hatte er alle Karten in der Hand und die besten Chance am gleichen Abend noch Sex zu haben. Aber selbst der Gedanke kam ihm auf einmal seltsam vor. Cheryl konnte überhaupt nicht mit ihm mithalten. Normalerweise genoss er das, aber an diesem Abend? Was war mit ihm nur los? Auf seine wenigen Sprüche an diesem Abend hatte sie nicht ein einziges Mal eine schlagfertige Erwiderung. Ganz anders als noch ein Abend zuvor Elane. Überhaupt hatte er an diesem Abend öfters an Elane gedacht und am liebsten hätte er Cheryl gegen Elane ausgetauscht. Einfach nur, um sich mit ihr um Längen besser zu unterhalten. Da das aber zum einen nicht ging und er sich das zum anderen nicht eingestehen wollte, musste er den Abend so irgendwie überstehen. Und auch wenn Cheryl eine langweilige Dumpfbacke war, so sah sie um Welten besser aus als Elane. Cheryl hätte sicherlich keine Probleme damit gehabt einen Modelwettbewerb zu gewinnen. Und kam es beim Sex eben nicht nur darauf an? Aufgrund seiner Stimmung kam es aber trotzdem nicht mehr zum sonst üblichen Verlauf. Er hatte sie ihn ihrem Quartier abgeliefert und sich dann schnell verdrückt.
„Wenn es der gestrige Abend nicht war, wieso sind Sie dann so gut gelaunt?“ riss Karja ihn aus seinen Gedanken.
„Wir werden heute unser Ziel erreichen und endlich erfahren, was hier vor sich geht. Und da ich von Natur aus neugierig bin freue ich mich natürlich darauf.“ Außerdem würde er bei seinem Dienstende und der Wachablösung Elane treffen, allerdings sagte er das nicht laut.
„Dann drücke ich die Daumen, dass es etwas Interessantes gibt“, grinste Karja. „Und trotzdem ungefährlich“, fügte sie schnell hinzu. Von Gefahren hatte sie für die nächsten Jahre die Nase voll. Sie überließ Reed den nächsten Lift zur Brücke, da sie selbst zwei Decks nach unten zum Transporterraum musste.
Reed betrat durch den rechten Turbolift die Brücke und stellte fest, dass noch die komplette zweite Nachschicht anwesend war. Nur Sohral stand bereits an der Wissenschaftsstation. Wenn Reed sich recht erinnerte war Sohral sowieso immer auf der Brücke, wenn er sie betrat. Der Vulkanier hielt sich ohnehin kaum an Schichtzeiten und arbeitete meist beide Tagesschichten durch. Offenbar hielt er nicht viel von Freizeit. Typisch Vulkanier eben. Man könnte sich ja aus Versehen amüsieren.
Nach und nach lösten die Kollegen der ersten Tagesschicht die Nachschicht ab. Schließlich war die Brücke mit den vertrauten Gesichtern besetzt. Die ersten Stunden des Vormittages vergingen ereignislos. Jeder ging schweigend seiner Tätigkeit nach und eine erwartungsvolle Stimmung lag in der Luft, ohne dass es besonders angespannt wirkte.
Schließlich meldete sich Tworek zu Wort. „Captain, wir erreichen den Sektor 859J.“
Sanawey sah von einem Datenpad auf, das er gelesen hatte. „Gehen Sie auf halben Impuls. Mr. Sohral, empfangen die Sensoren bereits etwas?“
„Negativ“, meldete der Vulkanier knapp.
„In Ordnung. Mr. Tworek. Nehmen Sie den programmierten Suchkurs auf.“ Sohral hatte zusammen mit Tworek einen Flugplan entwickelt, mit dem sie den ganzen Sektor absuchen konnten, ohne dabei Bereiche doppelt zu scannen.
So verlief eine weitere Stunde völlig ereignislos, bis Sohrals Stimme die Stille zerriss. „Captain, wir empfangen etwas auf den Langstreckensensoren.“
Sanawey wandte sich ihm zu. „Was ist es?“ Er war sichtlich angespannt. Seit einigen Tagen waren sie nun hierher unterwegs und offenbar lag die Antwort auf ihre Frage nun direkt vor ihnen. Zumindest hoffte er das.
„Es lässt sich noch nicht genau spezifizieren. Allerdings registrieren die Sensoren ein Objekt von enormer Größe. Und ein Energiefeld, deren Werte sich am oberen Rand unserer Skala bewegen.“
„Geht das etwas genauer?“
Ohne zu Antworten studierte der Vulkanier weiterhin die Daten und tippte auf seiner Konsole herum. Sanawey erschien es so, als ob ihm sein Wissenschaftsoffizier überhaupt nicht mehr antworten wollte. Schließlich sagte Sohral: „Die Sensoren können nun mehrere Objekte erkennen. Das Hauptobjekt hat eine zylinderförmige Form. Es scheint von mehreren Schiffen umgeben zu sein.“ Er wandte sich von seinen Daten ab und sah Sanawey an. „Captain, das Hauptobjekt hat eine Länge von 98 Kilometern.“
Sanawey sah ihn mit großen Augen an. „98 Kilometer?“ wiederholte er ungläubig.
„In der Tat. Es ist sogar noch einige Meter länger, ich hielt die genaue Angabe aber für unnötig.“
„Schon gut“, winkte Sanawey noch immer schockiert ab. „Ich glaube auch so, dass es groß ist.“
„Wir haben nun einen Bildkontakt“, meldete Reed von seiner Station herüber.
„Auf den Schirm“, befahl Sanawey schnell und sein Blick klebte bereits am Bildschirm.
Die dahinfliegenden Sterne, die der Bildschirm bisher gezeigt hatte verschwanden nun und stattdessen sah man ein langes zylinderförmiges Gebilde, scheinbar unendlich lang, denn das Ende verlor sich irgendwo im dunklen All. Aufgrund seiner Länge wirkte es geradezu zerbrechlich. Knapp ein Dutzend Raumschiffe schwebten darum, die daneben wie kleine Fliegen wirkten. Das dunkle Grau schimmerte nur matt im Glanz der Sterne. Es gab keine Planeten in der Nähe, auch kein Sonnensystem. Sie befanden sich im leeren Raum mitten im Nirgendwo.
Beeindruckt und schockiert zugleich stand Sanawey auf. Sie flogen fast von vorn auf das Objekt zu, hatten also einen verzerrten Anblick und trotzdem wirkte es so gigantisch groß, dass es furchteinflößend war. Wozu baute jemand ein Objekt von solcher Größe? Was war der Zweck? Und dass es kein guter Zeck sein konnte, davon war Sanawey überzeugt. Nicht, wenn es solche Strahlungswerte von sich gab.
Auf der gesamten Brücke herrsche Schweigen. Jeder Blick war auf den Bildschirm gerichtet. Düstere Gedanken krochen in allen Köpfen empor. Während des Fluges hierher war viel spekuliert worden, darüber was sie hier finden würden. Und immer wieder war der Angriff der Xindi auf die Erde im Jahr 2153 Thema gewesen. Diese rätselhafte Rasse hatte über 7 Millionen Menschen getötet. Und obwohl das über hundert Jahre zurück lag wusste man kaum mehr über diese Rasse. Sie hatte es erfolgreich geschafft sich vor der Föderation zu verstecken, obwohl ihr Territorium direkt angrenzte. Inzwischen war fast ein Mythos aus diesem Volk geworden, der sie zu seltsamen Kreaturen gemacht hatte. War solchen Wesen nicht alles zuzutrauen? Und nun sahen sie hier das größte Objekt, dass je von einer Spezies im All gebaut worden war und deren Zweck nicht zu erkennen war. Die logische Folge, die sich in den Köpfen der Brückencrew abspielte war Tod und Zerstörung. Trotz des Fortschrittes und der Aufgeklärtheit der Menschen ließen sich manche Vorurteile und Ängste nicht ablegen.
Sohral war der einzige, der voller Konzentration seine Daten studierte. „Captain, gewaltige Energien werden im Inneren des Objektes erzeugt. Die Sensoren können mehrere Materie-Antimateriereaktoren erkennen, verteilt über die gesamte Länge. Und ganz vorn am Objekt scheinen sich chronometrische Partikel zu bilden. Der Computer kann die Daten allerdings kaum erfassen, es gibt Anzeichen auf ein Abschirmungsfeld.“ Er blickte auf und wandte sich direkt Sanawey zu. „Ich möchte noch darauf hinweisen, dass das Objekt in genauer Linie zur Erde steht.“
In Sanaweys Magengegend krampfte sich etwas zusammen. Er hatte ein extrem ungutes Gefühl. Diese Ausrichtung des Objekts konnte kein Zufall sein.
Sie waren zur Erkundung hierher gesandt worden. Allerdings war das hier schon zu weit fortgeschritten, um es nur zu erkunden. Vielleicht wäre es gut, wenn sie gleich tätig wurden. „Sohral, was sind das für Schiffe? Transporter, Wissenschaftsschiffe? Oder Bautrupps?“
„Darüber kann ich nur spekulieren. Wir haben keine vergleichbaren Daten im Computer gespeichert. Diese Schiffe sind uns völlig unbekannt. Einige Strukturen kann ich den historischen Daten der Enterprise
zuordnen. Demnach scheint es sich um Schiffe der Xindi zu handeln. Reptilianer und Insektoiden um genau zu sein. Die Anzahl der Waffen deutet eher auf Kriegsschiffe. Ich kann allerdings nicht sagen, ob deren Forschungsschiffe vielleicht ebenso bewaffnet sind.“
„Ich habe immer weniger das Gefühl, dass das Forschungsschiffe sind“, murmelte Sanawey. Er starrte auf den Bildschirm. Der Zylinder wurde immer größer, je näher sie kamen. Inzwischen füllte er schon fast den gesamten Erfassungsbereich aus. „Aus welchem Material besteht das Objekt? Können wir es mit unseren Waffen zerstören?“
„Die Legierung besteht aus gehärtetem Trellium D. Es wären einige Torpedos nötig, aber wir könnten es zerstören. Zumindest zu knapp 30 Prozent. Zu mehr wird unser Torpedovorrat nicht ausreichen. Ich muss allerdings darauf hinweisen, dass ein Angriff aller Wahrscheinlichkeit nach als kriegerischer Akt ausgelegt werden würde. Die Konsequenzen muss ich Ihnen wohl nicht aufzeigen.“
Sanawey nickte. „Es sollte unsere letzte Option sein. Mal schauen, was die Xindi zu sagen haben. Mr. Reed, rufen Sie sie.“
„Sie haben uns soeben entdeckt“, erwiderte dieser umgehend. „Drei ihrer Schiffe haben ihre Position verlassen und sind auf einem Abfangkurs.“
„Rufen Sie sie trotzdem. Wir wollen uns nicht wie Aggressoren aufführen. Mr. Tworek, wie lange noch, bis wir das Objekt erreichen?“
„Zehn Minuten.“
Sanawey nahm wieder Platz und sah erwartungsvoll zu Lieutenant Reed. Er hoffte, dass die Xindi ihnen antworteten und es eine ganz einfach Erklärung für all das hier gab. Allerdings zweifelte er daran. Nach einigen scheinbar ewigen Augenblicken wandte sich Reed um und schüttelte den Kopf. Die Fremden reagierten nicht auf die Funksprüche.
Das Objekt füllte inzwischen den ganzen Bildschirm aus. Die Öffnung des Zylinders starrte ihnen entgegen wie das Maul eines riesigen Wals. Die Republic
hätte ohne Mühe dort hineinfliegen können.
„Captain, die fremden Schiffe haben ihre Waffen aktiviert“, rief Reed.
„Schilde hoch.“ Sanawey sah die Anzeigen an seinem in den Armlehnen integrierten Pult an. „Waffen aktivieren.“
Die Beleuchtung schaltete auf taktischen Alarm um und überall im Schiff leuchteten die Alarmlichter auf. Die Sirene tat ihr übriges, um die Crew auf die Gefahr aufmerksam zu machen.
„Captain, die Dichte der chronometrischen Partikel nimmt exponentiell zu“, meldete Sohral, ruhig wie immer. „Die Energiewerte im Inneren des Objektes befinden sich außerhalb jeglicher messbaren Werte.“
„Die schalten das Ding ein“, sagte Jackson entsetzt.
Völlig unpassend verstummte die Sirene auf der Brücke in diesem Moment. Allerdings war dies ein völlig normaler Vorgang. Er diente dazu, dass die Brückenoffiziere auch weiterhin Befehle austauschen konnten, ohne brüllen zu müssen und ohne dass Gefahr bestand, dass einer dieser Befehle nicht richtig verstanden wurde.
„Was geschieht dort?“ wollte Sanawey wissen. Auf dem Bildschirm war nun zu sehen, wie sich in der Öffnung des Zylinders der Raum verzerrte. Fast schien es, als wollte dort ein Loch entstehen, dessen andere Seite irgendwo im Nirgendwo lag. Der Gedanke, dass sie zu spät gekommen waren und nun Zeuge einer Katastrophe wurden, wollte seinen Kopf nicht mehr verlassen.
„Die Energiemenge lässt nur einen Schluss zu“, ließ sich wieder Sohrals Stimme vernehmen. „Captain, es handelt sich hier um eine Waffe.“
„Danke, das ist mir inzwischen auch klar“, rief Sanawey. „Mr. Real, alle Waffen auf diese Öffnung ausrichten und dann feuern Sie aus allen Rohren. Was immer das Ziel ist, wir dürfen nicht zulassen, dass eine so große Waffe abgefeuert wird.“
„Aye“, bestätigte Real sofort. Vier Torpedos zuckten wenige Sekunden später durch das All, dicht gefolgt von weiteren Salven. Sie erreichten unbehelligt den Zylinder.
Dann geschah es. Bevor die Torpedos detonieren konnten schoss ein greller Energieblitz aus dem Objekt. Sein Durchmesser reichte aus, um die Republic
augenblicklich einzuhüllen. Nur die Schutzschilde hielten das Schiff vor der direkten Zerstörung geschützt. Der Aufschlag war jedoch wie ein Hammerschlag. Die Mannschaft wurde von ihren Stühlen gefegt. Niemand hatte die Chance sich festzuhalten. Die Wucht war zu stark. Das ganze Schiff bog und wandte sich, das Ächzten von Stahl erklang. Die Überbeanspruchung des Materials forderte seinen Tribut. Leitungen barsten unter dem Druck. Funken sprühten, Plasma entwich und Feuer brachen auf dem ganzen Schiff aus. Der Computer bekam Schäden und in der Folge fiel das Feuerlöschsystem aus. Hüllenbrüche konnten nicht versiegelt werden. Crewmitglieder wurden ins All geschleudert, um dort im Waffenstrahl augenblicklich verbrannt zu werden.
Während des Sturzes erkannte ein Teil Sanawey’s Gehirn, dass sie verloren waren. Einer solchen Energiemenge konnte das Schiff nur wenige Sekunden standhalten. Diese Erkenntnis schützte ihn jedoch nicht davor, sich den Kopf an die Navigationskonsole zu schlagen. Von einem Moment auf den anderen verlor er das Bewusstsein.
VIER
Was ist Zeit? An der Beantwortung dieser Frage sind sowohl Wissenschaftler als auch Philosophen seit Jahrhunderten gescheitert, seit der Mensch ein Zeitgefühl entwickelt hatte. Zeit, das ist die Spanne des Vergangenen von einem Ereignis bis zu einem anderen. Eine unverrückbare Größe und eine immer gleichmäßig vorübergehende Einheit. Und doch vermag niemand die Zeit beschreiben zu können ohne auf Maßeinheiten wie Tage oder Jahre oder auf von Menschen geschaffene Begriffe wie Minuten und Stunden zurückzugreifen. Der Kirchenvater Augustinus sagte im 4. Jahrhundert zum Thema Zeit: „Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es aber erklären, weiß ich nicht.“ Er drückte damit das Dilemma aus, das die meisten Menschen noch heute erfasst. Jeder weiß was Zeit ist, es zu erklären aber scheint manchmal fast unmöglich. Und doch wird jeder mit dem Phänomen Zeit konfrontiert. Meist mit dem Problem nicht genügend davon zu haben. Denn das Zeitgefühl läuft völlig gegen den wahren Verlauf der Zeit. Verläuft die Zeit mit einer Uhr gemessen immer gleich schnell, so kommt sie den Menschen höchst unterschiedlich vor. Ein Tag etwa vergeht bei einer angenehmen Beschäftigung scheinbar wie im Flug, doch ist die Beschäftigung unangenehm scheint der Tag kein Ende nehmen zu wollen. Und doch verging in beiden Fällen immer ein Tag. Noch widersprüchlicher wird die Sache, wenn an diesem Tag unangenehme Tätigkeiten in Massen anstehen. Dann scheint der Tag nie vergehen zu wollen und doch ist er gleichzeitig nicht lange genug, um alles erledigen zu können.
So begleitet uns die Zeit jeden Tag, ein Leben lang. Denn selbst das Leben ist der Zeit unterworfen. Geburt, Tod und die Zeit dazwischen. Die zurückliegende Zeit wird als Vergangenheit bezeichnet, kommende als Zukunft. Einzig die Gegenwart lässt sich nicht zeitlich erfassen. Denn hat man sie erfasst, ist sie bereits vergangen.
Die Vergangenheit ist die zurückliegende Zeit, unverrückbar, in Stein gemeißelt, die Zukunft ist ungewiss. Diese unverrückbaren Faktoren bestimmen das Leben. Und daran lässt sich nichts ändern.
Und wenn es sich doch ändern ließe? Wenn Zukunft bereits feststünde? Wenn die Vergangenheit änderbar wäre?
Eine feststehende Zukunft würde uns, zumindest solange sie unbekannt ist, nicht wesentlich beeinflussen.
Doch eine veränderbare Vergangenheit? Wenn sich Ereignisse verändern, vermeiden oder bewusst herstellen ließen? Wer träumt nicht davon, Entscheidungen seiner Vergangenheit zu ändern? Links abzubiegen, statt rechts? Fehler ausbügeln und alles vermeintlich richtig machen? Doch was wäre jeder Einzelne ohne diese Fehler? Ohne die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden, ohne die Erkenntnisse, die gewonnen wurden? Der Mensch, der man ist, wurde geformt aus Ereignissen, die man erlebt hat, den Guten wie den Schlechten. Was würde man für ein Mensch sein ohne Rückschläge, ohne negative Ereignisse, mit denen man zurechtkommen musste? Hätte man nur ein gutes Selbstbewusstsein? Oder wäre man nicht eher arrogant und überheblich, sich keines Fehlers bewusst zu sein?
Und was für persönliche Ereignisse gilt, gilt vor allem für das globale Gedächtnis, die Vergangenheit, die Geschichte.
Was würde passieren, wenn man katastrophale Ereignisse einfach ändern würde? Die Verhinderung der Weltkriege, der Kreuzzüge oder des Terrors. Die Bekämpfung von Krankheiten und Seuchen mittels moderner Medizin. Oder die rechtzeitige Warnung vor Naturkatastrophen. Doch wie würde sich die Welt dann ändern? Der zweite Weltkrieg brachte Tod, Zerstörung und Leid in bis dahin unbekanntem Ausmaß. Und doch entstand danach ein Frieden in Europa, der bis dahin einzigartig war. Aus jahrhundertealten, hasszerfressenen Feinden waren Verbündete geworden, ja Freunde. Wäre die Geschichte auch ohne den Krieg und dem damit einhergehenden Schrecken so verlaufen?
Der dritte Weltkrieg hatte beinahe die Erde zerstört, brachte alleine durch den Krieg zweihundert Millionen Tote und hatte eine radioaktiv verstrahlte Welt hinterlassen, in der mindestens noch mal so viele Menschen gestorben waren. Und doch entstand auch hier wieder Gutes. Den knappen Untergang vor Augen vereinigte sich die Menschheit und zog von da an an einem Strang.
Jeder Krieg, jede Katastrophe brachte Völkerwanderungen unterschiedlichen Ausmaßes mit sich. Auf diese Weise lernten sich Menschen kennen, die sich sonst nie begegnet wären. Eine Vermischung von Kulturen und Blutlinien war die Folge. Wie würde die Welt wohl aussehen, ohne diese negativen Ereignisse, die die Menschen geprägt haben? Die Konstante Zeit verhindert eine nachträgliche Veränderung.
Ohne die geschehenen Ereignisse hätten all die Opfer ein längeres Leben gehabt, aber andererseits wären viele Menschen, so wie sie leben oder gelebt haben, nie geboren worden. Ein Eingriff in die Zeit hätte zur Folge, dass Menschen plötzlich aufhören würden zu existieren. Niemand würde sich an sie erinnern können, da sie nie existiert hätten. Und jeder Eingriff würde neue Veränderungen bringen. Doch niemand könnte sich daran erinnern, da die Geschichte und somit auch die Erinnerung von einem Augenblick auf den anderen verändert wäre. Das Chaos wäre perfekt, denn theoretisch könnte sich dann jeden Augenblick wirklich alles ändern. Wie beim Zappen zwischen verschiedenen Programmen. Und niemand würde es merken.
Somit ist es gut, dass die Zeit eine unveränderliche Konstante ist. Denn das ist und bleibt sie. Oder etwa doch nicht?
Mühsam schlug er die Augen auf. Der hämmernde Schmerz in seinem Kopf ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Doch er kämpfte dagegen an. Er musste einfach. Er konnte schließlich nicht ewig hier liegen bleiben. Wo war hier überhaupt? Mit einigem Stöhnen schaffte er es, sich aufzurichten. Ganz langsam und mit verzerrtem Gesicht. Er musste aufpassen, dass er sich nicht übergeben musste.
Seine Aktion weckte Aufmerksamkeit. Dr. Williams kam auf ihn zu. Sie blickte besorgt drein. Offenbar sah er nicht besonders gut aus. Er allerdings hatte seinen ersten Erfolg. Er hatte erkannt, dass er sich auf der Krankenstation befand. Das war doch schon mal ein Anfang. Wenn er jetzt noch wüsste wie er hierhergekommen war, dann war doch beinahe alles wieder in Ordnung.
„Captain, Sie sollten sich nicht überanstrengen“, mahnte Williams. „Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung.“
Sanawey klappte den Mund auf, musste dann aber erst einmal schlucken um seine Stimme wiederzufinden. „Ich schaffe das schon, Doktor“, sagte er beim zweiten Versuch mühsam. „Geben Sie mir nur etwas gegen die Übelkeit.“
Williams sah ihn streng an, vermied aber jeden Kommentar und drückte ihm ein Hypospray an den Hals. Sofort spürte Sanawey wie es ihm besser ging, während sich das Mittel im Körper verteilte. Und sofort registrierte er, dass die Situation sehr schlimm sein musste, wenn Williams ihm so schnell nachgab.
„Was ist passiert?“ fragte er. Trotz dem besseren Gefühl ließ er sich nur langsam von der Liege gleiten. Er hatte das Gefühl, von einem Laster überrollt worden zu sein.
„Gehen Sie auf die Brücke und fragen Sie dort, ich habe leider keine Zeit.“ Sie machte eine knappe Kopfbewegung in den Raum und verschwand dann wieder.
Erst jetzt bemerkte Sanawey wie voll es hier war. Jede Liege war besetzt und selbst auf dem Boden lagen Verwundete. Dann erinnerte er sich wieder was geschehen war. Die Waffe wurde aktiviert und hat dann direkt das Schiff getroffen. Er war durch die Luft geflogen und mit dem Kopf an die Navigationskonsole gestoßen. Von da an erinnerte er sich an nichts mehr. Aber es war ein Wunder, dass er noch lebte. Es war ein Wunder, dass sie alle noch lebten. Die Waffe hätte sie eigentlich in Stücke reißen müssen.
Er musste schnell zur Brücke. Herausfinden was geschehen war. Womöglich befanden sie sich noch immer in höchster Gefahr.
So schnell er es sich zutraute ging er zur Tür. Doch bevor er die Krankenstation verließ fiel sein Blick noch in Dr. Williams‘ Büro. Erschrocken blieb er stehen. Dort lagen fünf Körper mit Planen bedeckt. Offenbar hatte er doch mehr Glück gehabt als er zuerst gedacht hatte.
Als er schließlich die Brücke betrat sah er, dass eine Notbesetzung hier Dienst tat. Reed saß noch an der Ops atmete aber schwer. Tworek war ebenso anwesend wie Sohral. Beide hatten kleinere Verletzungen und getrocknetes grünes Blut an der Haut kleben. Von Real und Jackson war nichts zu sehen. Sie waren doch nicht etwa unter den fünf Toten, die er gesehen hatte?
„Captain.“ Sohral war als Erster auf ihn aufmerksam geworden. „Wie geht es Ihnen?“
Sanawey winkte ab. „Ich nehme an, ich sehe schlimmer aus als ich mich fühle. Wie steht es mit Ihnen?“
„Nur kleinere Verletzungen. Sie beeinträchtigen mich nicht.“
„Gut.“ Sanawey wusste nicht, was er weiter hätte sagen sollen. Er selbst hatte an sich keine offenen Verletzungen feststellen können und doch konnte er von sich nicht gerade behaupten, dass es ihn nicht beeinträchtigen würde. Manchmal waren Vulkanier einfach zu beneiden.
Sein Blick fiel auf den Bildschirm. Er zeigte unmittelbar vor ihnen das leere All mit den gleichgültig leuchtenden Sternen im Hintergrund. Er hob die Hand und deutete zum Bildschirm. „Was ist passiert? Wo ist...?“ Williams hätte ihm ein stärkeres Mittel geben sollen. Er hatte das Gefühl, sein Gehirn wäre eine glibberige Masse und zum Denken völlig ungeeignet.
„Unbekannt.“ Na immerhin, Sohral schien ihn verstanden zu haben. „Wir analysieren derzeit noch die Sensorendaten.“
Sanawey nickte nur. Er trat die Stufen hinab aufs Unterdeck und nahm im Kommandosessel Platz. Täuschte er sich oder atmete Reed tatsächlich heftiger? „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Reed nickte nur und brachte mühsam ein „Ja, Sir“ hervor.
„Mr. Reed hat sich wohl eine Rippe gebrochen, weigert sich aber standhaft die Brücke zu verlassen“, erklärte Tworek.
Sanawey rutschte auf dem Kommandosessel hin und her. Irgendwie erschien er ihm seltsam unbequem. Oder lag es an ihm? Dann sah er wieder zur Reed. „Mr. Reed, gehen Sie in die Krankenstation und lassen Sie sich behandeln. Wir brauchen Sie hier fit.“
„Dr. Kasatsu gab mir etwas gegen die Schmerzen. Und solange niemand zur Ablöse da ist werde ich hier bleiben. Meine Verletzung beeinträchtigt mich nicht.“
Sanawey sah ihn groß an. Hatte er ein Déjà-vu? Nein, Sohral hatte soeben dasselbe gesagt. Offenbar hatte er lauter Helden an Bord. Oder vielleicht wollte Reed auch nur jemanden beeindrucken. Wie auch immer. Es war gut, dass er noch an seiner Station saß. So konnte er die Sensoren im Auge behalten und Sohral sich auf die aufgezeichneten Daten konzentrieren.
Konzentrieren war ein gutes Stichwort, er wünschte, er könnte das im Moment auch. Ob das die Nebenwirkungen des starken Hyposprays waren? Stark musste es gewesen sein, wieso stand er sonst so neben sich?
Die Türen des Turboliftes öffneten sich und Zien trat ein. Der Andorianer schien außer einer blutenden Wunde auf der Wange nicht weiter verletzt zu sein. Blaues Blut. Bald hatten sie alle Farben beieinander. Er trat zur taktischen Station und nahm dort Platz. Seine Finger bedienten gekonnt die Konsole. Offenbar machte er sich an die Analyse der taktischen Schäden. Soweit das mit dem teilweise beschädigten Computer möglich war.
„Captain, die Auswertung der Sensorendaten wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen“, sagte Sohral schließlich. „Die Daten geben überhaupt keinen Sinn. Sie sollten sich solange ausruhen.“
„Nein“, schüttelte Sanawey energisch den Kopf, bereute es aber dann sofort. Ein leichter Schwindel erfasste ihn. „Solange die Gefahr besteht werde ich hier bleiben.“
„Bei allem Respekt, Captain, aber Sie sind derzeit gar nicht in der Verfassung Entscheidungen zu treffen. Es ist sowohl in Ihrem wie auch in unserem Interesse, wenn Sie sich ausruhen. Und eine erhöhte Gefahr kann ich derzeit nicht erkennen. In einem Radius von mehreren hundert Lichtjahren befinden sich keine weiteren Schiffe.“
Sanawey blinzelte. „Und wo ist die Waffe?“
Einen Moment schien es so, als wäre Sohral um eine Antwort verlegen. Doch der Moment war schnell vorbei. „Das kann ich derzeit noch nicht sagen. Wie gesagt, die Sensorendaten...“
„... ergeben keinen Sinn“, unterbrach Sanawey ihn. „Ja, ich habe das schon verstanden. Na schön. Ich werde mich hinlegen. Mr. Tworek, Sie übernehmen Mr. Reeds Station. Und Sie, Mr. Reed, gehen auf die Krankenstation. Das ist ein Befehl“, betonte er rasch, als Reed schon widersprechen wollte.
Wortlos erhob sich Reed und schleppte sich zum Lift. Seinem Gesichtsausdruck nach unterdrückte das Hypospray nicht alle Schmerzen, aber er hielt sich tapfer. Sanawey folgte ihm voller Vorfreude auf sein Bett.
Bereits drei Stunden später saßen sie im Besprechungsraum. Sanawey fühlte sich wieder besser und auch sein Gehirn schien wieder feste Konturen angenommen zu haben. Reed saß links von ihm. Dr. Williams hatte seine Rippen notdürftig wieder zusammengeflickt und ihm ein dickes Korsett verpasst, das verhindern sollte, dass er sich irgendwo stoßen konnte. Wendy Brooks hatte sich einen Arm gebrochen, der aber dank der Medizin bereits wieder gerichtet war.
Sohral und Tworek saßen rechts von Sanawey. Die beiden wirkten trotz der Ereignisse völlig aufgeräumt. Dr. Williams fehlte, da sie es vorzog, sich um die Verletzten zu kümmern. Ebenso fehlte der Sicherheitschef George Real. Er lag noch auf der Krankenstation. Sein Zustand war kritisch und Williams wagte es noch nicht eine Prognose abzugeben. An Reals Stelle war sein Stellvertreter Zien anwesend. Jackson fehlte auch. Sie hatte sich beim Sturz das Becken gebrochen und wurde noch immer behandelt. Sie würde wohl einige Tage ausfallen. Und auch seine Tochter befand sich noch in Behandlung.
Insgesamt, so hatte Sanawey inzwischen erfahren, waren elf Crewmitglieder ums Leben gekommen. Vier waren durch Hüllenbrüche aus dem Schiff gezogen worden. Die anderen wurden von herumfliegenden Gegenständen erschlagen, die durch die Wucht des Abbremsens durch die Räume geschleudert worden waren. Immerhin waren sie aus vollem Impulsantrieb fast augenblicklich zum Stehen gekommen. Als wären sie mit 270 Millionen km/h gegen eine Felswand gefahren. Allein den Trägheitsdämpfern hatten sie es zu verdanken, dass sie nicht alle zerquetscht worden waren. Es gab so gut wie niemanden, der nicht mehr oder weniger schwer verletzt worden war. Derzeit waren gut zweihundert Personen dienstunfähig. Zwanzig Schwerverletzte lagen noch auf der Krankenstation, darunter drei, deren Zustand so kritisch war, dass niemand wusste, ob sie überleben würden.
Trotz allem hatten sie Glück im Unglück. Das Schiff war noch an einem Stück, obwohl das eigentlich nicht sein konnte.
„Mr. Sohral“, wandte Sanawey sich an den Vulkanier. „Konnten Sie herausfinden was geschehen ist?“
„Nicht im Detail.“ Es klang fast entschuldigend. „Da wir uns innerhalb des Strahls der Waffe befanden, konnten die Sensoren nur eingeschränkt Daten sammeln. Kurz bevor die fremde Waffe feuerte, konnten die Sensoren feststellen, dass nicht nur wir Torpedos abgeschossen haben. Aus einem Winkel von 56 Grad kamen weitere Torpedos. Deren Ursprung ist allerdings unbekannt. Wir hatten dort vorher kein Schiff registriert. In der Kürze der Zeit ließ sich hier noch keine genauere Analyse durchführen.
Offenbar konnte die Waffe zerstört werden. Ihr Feuerstrahl brach ab. Insgesamt feuerte die Waffe nur 2,45 Sekunden. Das ist der Grund, weshalb die Republic
nicht zerstört wurde. Unsere Schilde hätten einem längeren Beschuss auch nicht mehr standgehalten.
Unbekannt ist noch, wie die Xindi-Waffe zerstört wurde. Ein Objekt von solcher Größe müsste eigentlich ein unübersehbares Trümmerfeld hinterlassen. Selbst bei den Energiemengen, die diese Waffe erzeugt hatte, ist es extrem unwahrscheinlich, dass alles auf atomarer Ebene zersetzt wurde.“
Sanawey hatte ihm aufmerksam zugehört. Schließlich meinte er: „Was war das Ziel und welchen Schaden ist entstanden?“
„Darüber lässt sich nur spekulieren. Die Ausrichtung des Objektes war, wie gesagt, auf die Erde.“
„Ich bitte Sie, die Erde ist viel zu weit entfernt, als dass sie das Ziel hätte sein können.“ Sanawey hoffte, dass Sohral ihm zustimmen würde. Einen Angriff auf die Erde würde er sich nur ungern vorstelle wollen.
„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Ich halte die Ausrichtung des Objektes jedoch für keinen Zufall“, enttäuschte ihn der Vulkanier.
„Danke, Mr. Sohral. Ich hoffe, Sie können mit weiteren Analysen noch mehr Daten aus den Sensoren gewinnen. Die Sternenflotte wird das sicherlich interessieren.“ Er sah in die Runde und gab dann Wendy Brooks das Wort für einen Schadensbericht.
„Wir konnten noch nicht alles aufnehmen. Im Maschinenraum gab es die meisten Verletzten, so dass wir mit den Arbeiten noch hinterher sind. Bis jetzt wissen wir, dass wir einen Hüllenbruch von Deck neunzehn bis Deck zweiundzwanzig haben. Inzwischen sind die Notkraftfelder intakt, die Sektionen direkt am Hüllenbruch auf diesen Decks wurden aber durch den plötzlichen Druckabfall vollständig zerstört. Die Waffen sind ausgefallen. Auf dem ganzen Schiff haben wir durchgebrannte Plasmaleitungen, die allerdings keine lebenswichtigen Systeme beeinträchtigen. Die Replikatoren funktionieren aber nicht. Ebenso die Transporter. Die Shuttlerampe lässt sich nicht öffnen. Ich denke, das sollte aber derzeit kein Problem sein. Die Kommunikation ist außer Funktion. Die Sensoren arbeiten auch nur eingeschränkt.
Die Sicherheitsvorkehrungen hatten den Warpkern rechtzeitig abgeschaltet, so dass wir hier keine Schäden haben. Er könnte in einer Stunde wieder online sein, so dass wir von hier fort können.“
„Captain, ich muss dringend davon abraten, dass wir unsere derzeitige Position verlassen“, mischte sich Sohral ein.
„Weshalb?“
„Die Hülle wurde mit chronometrischen Partikeln aufgeladen. Sollten wir unseren Antrieb aktivieren kann ich derzeit noch nicht sagen, welche Auswirkungen das haben wird. Wir sollten die Partikeldichte wenigstens auf ein Niveau senken, das ich noch berechnen werde.“
Sanawey nickte. Mit chronometrischen Partikeln war nicht zu spaßen, soviel hatte er inzwischen auch mitbekommen, auch wenn vieles selbst unter Wissenschaftlern noch umstritten war. Einige waren der Meinung, dass mit Hilfe von chronometrischen Partikeln ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstehen konnte, andere glaubten, dass die Wirkung völlig übertrieben wurde und wahrscheinlich gar nichts passierte. Sanawey wollte jedoch kein Risiko eingehen.
„Mrs. Brooks. Erarbeiten Sie mit Mr. Sohral eine Möglichkeit die Partikel loszuwerden und bringen Sie den Warpkern online. Das hat absoluten Vorrang. Ich befürchte, dass die Zerstörung der Waffe nicht unbeobachtet geblieben ist. Wir müssen mit einer Reaktion der Xindi rechnen.“
„Ja, verstehe“, nickte Wendy.
„Dann benötigen wir auch Waffen“, warf Zien ein.
„Wenn wir Zeit dazu haben, auch diese wieder einsatzbereit zu bringen, habe ich da nichts dagegen“, stimmte Sanawey zu, schränkte aber sofort wieder ein: „Allerdings erst wenn der Antrieb wieder funktioniert und das mit den Partikeln geklärt ist. Zum Kämpfen werden wir wahrscheinlich ohnehin nicht kommen. Wenn die Xindi merken, dass ihre Waffe zerstört wurde werden sie uns eine Flotte schicken, mit der wir es nicht aufnehmen können.“
„Das heißt wir laufen davon.“ Ziens Gesichtsausdruck wurde finster und seine Antennen bogen sich gefährlich nach vorn.
„Das heißt, wir werden unsere gesammelten Erkenntnisse der Föderation bringen um zu vermeiden, dass die Daten verloren gehen. Dann werden wir sehen wie sich die Situation entwickelt und entsprechend danach handeln“, korrigierte Sanawey den Andorianer.
Dieser schluckte seinen Kommentar hinunter und schwieg.
Nach einem kurzen Blick in die Runde sagte Sanawey: „In Ordnung. An die Arbeit.“
Die Crew erhob sich und verließ eilig den Besprechungsraum. Sanawey bleib noch einen Moment sitzen und sah zum Fenster hinaus. Die nächsten Stunden konnten sie alle nur improvisieren. Sie wussten nicht, was auf sie zukommen würde. Sie hingen beschädigt in feindlichem Gebiet, ohne die Chance sich verteidigen zu können. Und womöglich hatten sie soeben einen Krieg ausgelöst. Einen Krieg mit einem Gegner, von dem sie so gut wie nichts wussten. Sanawey war bewusst, dass sie keine Alternative gehabt hatten. Die fremde Waffe musste unschädlich gemacht werden. Trotzdem blieb ein Rest des Zweifels in ihm. Hatte er etwas falsch gemacht? Hätte es eine Alternative gegeben, die er nicht gesehen hatte? So sehr er auch nachdachte, selbst im Nachhinein fiel ihm keine ein.
Schließlich stand er auf. Über das Geschehene konnte er auch ein andermal noch nachdenken. Er musste sich nun auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Die Gefahr war noch nicht vorüber. Er beschloss zuerst auf der Krankenstation vorbei zu schauen. Die Verletzten brauchten einige aufmunternde Worte ihres Kommandanten. Danach wollte er wieder auf der Brücke Präsenz zeigen, um bei Gefahr sofort Entscheidungen treffen zu können.
Mit müden Beinen nahm Sanawey im Kommandosessel Platz. Sein Besuch auf der Krankenstation hatte länger gedauert als er geplant hatte. Zuerst hatte er seine Tochter besucht. Sie hatte sich den Arm gebrochen und war damit in der Warteschlange nach hinten gerutscht. Ein gebrochener Arm war noch eine der leichteren Verletzungen und dank moderner Medizintechnik auch leicht zu heilen. Daher musste sie warten, bis die schwerer Verletzten behandelt waren. Sie trug es mit Fassung zumal das verabreichte Schmerzmittel seine Wirkung tat. Und so wartete er mit ihr gemeinsam bis sie behandelt wurde. Danach ging er die Reihen der Verletzten ab, sprach Mut zu, erkundigte sich nach dem Befinden und machte Hoffnung alles unbeschadet zu überstehen. Selbst Mr. Real sprach er ein paar aufmunternde Worte zu, obwohl dieser im Koma lag und niemand wusste, ob er es hören konnte.
Dr. Williams wies darauf hin, dass sie ihm hier nicht weiter helfen konnte. Er musste unbedingt in eine größere Einrichtung der Sternenflotte verlegt werden. Im Medical Center auf der Erde würden sie ihm vielleicht helfen können. Aber sicher war sie sich da auch nicht. Vielleicht hatte er Glück und er würde es überstehen, immerhin war er gesund und stark. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Aber sie musste zugeben, dass die Medizin ihre Grenzen hatte und vieles eben doch noch dem Zufall überlassen blieb.
Kaum hatte er sich gesetzt, als Lieutenant Elane Watts, die Reed an der Ops vertrat, sich umdrehte. „Captain. Die Sensoren empfangen zwei Schiffe, die sich unserer Position nähern. Sie sind auf Rendezvouskurs und werden in zwanzig Minuten in Reichweite sein.“
„Sind es Xindi?“ wollte Sanawey wissen.
„Die Bauart ist völlig unbekannt.“ Sie tippte noch auf ihrer Konsole herum. „Der Computer kann sie nicht identifizieren.“
„Mr. Sohral?“ wandte Sanawey sich an den Vulkanier. Wer außer die Xindi sollten es sonst sein, dachte er.
„Einige Baugruppen lassen Rückschlüsse auf die Xindi zu“, erwiderte Sohral, während er noch seine Daten studierte. „Allerdings unterscheiden sie sich völlig von den Schiffen, die in der Nähe der Waffe waren. Diese hier sind um ein vielfaches größer.“
„Groß genug, um uns gefährlich zu werden?“
Sohral wandte sich ihm zu. „Definitiv.“
„Lieutenant Watts, rufen Sie sie.“ Dann aktivierte er das interne Kommunikationssystem. „Wendy, wie weit bist du mit den Partikeln?“
„Wir haben eine Lösung. Derzeit sind wir noch dabei die Systeme umzustellen, so dass wir die Hülle depolarisieren können.“
„Wie lange?“
„Ungefähr noch zwanzig Minuten.“ Ihre Stimme klang durch das Kom-System leicht verzerrt.
„Das könnte zu spät sein. Wir kriegen Besuch. Ich hoffe, du kannst noch ein paar Minuten einsparen.“
„Wir tun was wir können.“ Sie unterbrach die Verbindung.
Sanawey wusste, dass sie sich beeilen würde. Er hoffte nur, dass sie die ganze Sache diplomatisch klären konnten.
„Captain, wir haben eine Verbindung.“ Watts wirkte überrascht. Sie hatte anscheinend nicht damit gerechnet. Er allerdings auch nicht, wie er sich selbst eingestehen musste.
„Auf den Schirm.“
Auf dem Bildschirm erschien ein reptilienhaftes Gesicht. Der Kopf einer Echse, wenn man so wollte. Allerdings war es eindeutig kein Adrac. Zwischen dieser Echse und den Adrac gab keinerlei Ähnlichkeiten.
Eine Handvoll drahtiger Haare wuchs auf seinem Kopf. Er hatte tief liegende, stechende Augen. Seine Reptilienhaut ließ ein nur wenig zu deutendes Mienenspiel zu. Der rote Kragen einer militärischen Uniform aus Leder war am unteren Rand des Bildes noch zu erkennen. Scharfe Zähne ließen sich in seinem Mund erkennen, als er ihn öffnete um zu sprechen. „Identifizieren Sie sich“, befahl er mit dunkler Stimme.
„Ich bin Captain Sanawey vom Föderationsraumschiff Republic
. Mit wem habe ich die Ehre?“
„Sie befinden sich in unserem Territorium. Ihr Eindringen können wir nicht akzeptieren. Ergeben Sie sich und bereiten Sie sich auf die Enterung vor.“ Damit wurde die Verbindung unterbrochen.
Sanawey wandte sich Sohral zu in der Hoffnung, von ihm einige Daten zu erhalten. Der Vulkanier kannte diese Angewohnheit des Captains. „Nach den Aufzeichnungen handelt es sich um einen Xindi. Reptilianer um genau zu sein.“
„Ja, das war nicht zu übersehen“, brummte Sanawey. „Mr. Tworek, geben Sie einen Kurs ein, der uns ins Föderationsgebiet zurückbringt. Aber warten Sie noch bis Mrs. Brooks die Erlaubnis zum Start gibt.“
„Aye, Captain“, bestätigte Tworek. Sanawey musste kurz an Remog denken, den ehemaligen Steuermann, der die Gefangenschaft bei den Adrac nicht überlebt hatte. Auch er hatte immer diese Antwort gebrummt.
„Sir, sie aktivieren ihre Waffensysteme.“ Watts behielt aufmerksam ihre Daten im Blick und gab wichtige Ereignisse weiter.
„Schilde.“ Sanawey hoffte, dass sie eine reine Vorsichtsmaßnahme sein würden. Immerhin waren sie kaum einsatzbereit. Er wollte eigentlich weg sein, bevor die Xindi-Schiffe in Waffenreichweite waren.
„Die Waffen täten uns jetzt gut.“ Zien fühlte sich an seiner Station offenbar völlig nutzlos. Ohne Waffen konnte er nichts weiter tun, als die Daten zu studieren und zuzuschauen.
Sanawey sah auf den Bildschirm. Die zwei Schiffe waren groß. Etwas größer als die Republic
. Aber sie wirkten viel bedrohlicher. Was sicherlich das Ziel ihrer Erbauer war.
Der Captain erinnerte sich an die historischen Daten. Die Reptilianer waren die aggressivste der Xindi-Rassen. Von ihnen hatten sie sicherlich keine Gnade zu erwarten. Und eine Kapitulation war natürlich auch keine Alternative.
„Captain, die Sensoren können ihre Waffen erkennen. Die Schiffe besitzen jeweils zweiundzwanzig Torpedoabschussrampen. Dazu vierzig Strahlenwaffen, vergleichbar mit unseren Phasern. Ihre Schilde haben einen enormen Energieausstoß. Sie dürften unsere Waffen nahezu unbeschädigt überstehen.“
Sanawey war erstaunt. Das waren fliegende Festungen. Wenn die Xindi noch mehr dieser Schiffe besaßen, dann konnte die Föderation in Schwierigkeiten geraten. Und wenn Brooks nicht endlich fertig wurde, bekamen sie ebenfalls Schwierigkeiten.
„Noch eine Minute bis zur Waffenreichweite“, meldete Watts. Sie versuchte ihre Nervosität zu verbergen, was ihr nicht ganz gelang. Sanawey konnte es ihr nicht verübeln. Seine Hände krallten sich in den Armlehnen fest. Dieses Warten war das Schlimmste.
Dann zuckte ein gelber Blitz, ausgehend vom ersten Xindi-Schiff, auf die Republic
zu. Der Aufschlag ließ das Schiff heftig erzittern.
Zwei, vier, sechs, nein, zehn Torpedos folgten. Sanawey sprang auf. Er musste doch etwas tun können.
„Die Schilde sind ausgefallen“, rief Watts entsetzt. Nun würden sie nicht einmal einen Torpedotreffer überstehen.
„Captain, die Partikel auf der Hülle haben sich aufgelöst“, drang Wendys Stimme aus den Lautsprechern der Brücke. Es war wie eine Erlösung. Eine Stimme der Hoffnung und die Rettung.
Tworek wartete gar nicht erst auf Sanaweys Befehl. Er aktivierte den Antrieb. Die Republic
beschleunigte so stark, dass die Trägheitsdämpfer aufheulten. Sanawey musste mit den Füßen ausgleichen, um sein Gleichgewicht zu halten. In einer engen Kurve wendete Tworek das Schiff während die Torpedos der Xindi immer näher kamen. Dann endlich ging die Republic
in den Warptransit und entkam den tödlichen Waffen. Wenn die Xindi sie nicht verfolgen würden, dann waren sie nun in Sicherheit.
Gespannt wartete Sanawey auf die Meldung. Dann gab Watts Entwarnung. Sie wurden nicht verfolgt. Sie hatten es geschafft. Nun galt es die Föderation von der Gefahr zu unterrichten.
Zögernd trat Tworek vor den Türscanner an Karjas Quartier. Er wusste nicht, ob es eine gute Idee war sich persönlich nach ihr zu erkundigen. Logisch gesehen gab es dafür keinen Grund. Er wusste, dass sie sich einen Arm gebrochen hatte und bereits behandelt worden war. Das bedeutete, dass der Bruch gerichtet war und es ihr wieder gut ging. Mit dem Stand der Medizin konnte ein Bruch innerhalb von Minuten wieder geheilt werden.
Doch empfand er seine vulkanische Seite in dieser Situation als etwas fehl am Platz. Die Menschen hielten es nicht sonderlich mit der Logik. Und in einer solchen Lage noch weniger als sonst. In solchen Situationen suchten sie Nähe zu anderen und spendeten einander Trost. Da konnte eine gefühlskalte Person wie ein Fremdkörper wirken. Und das wollte er nicht. Zudem meldete sich seit einiger Zeit seine klingonische, emotionale Seite wieder mehr zu Wort. Es war ein Kampf, den er schon sein Leben lang führte und von dem er geglaubt hatte, dass seine vulkanische Seite gewonnen hätte. Aber offenbar würde er es nie schaffen, dass eine der beiden Seiten gewann.
Karja öffnete die Tür und sah ihn überrascht an. Mit ihm hatte sie offenbar nicht gerechnet. „Tworek. Schön dich zu sehen. Wie geht es dir?“
Er sah sie an und lächelte leicht. „Das wollte ich eigentlich dich fragen.“
Aus Reflex heraus sah sie ihren Arm an. „Mir geht es gut, danke. Ich merke fast gar nichts mehr. Aber komm doch rein“, bot sie ihm an.
Einen kurzen Moment zögerte er, trat dann aber doch ein. Eigentlich wollte er nur kurz nach ihr schauen, aber nun konnte er die Gelegenheit nutzen, um ein wenig mit ihr zu reden. Immerhin hatten sie sich seit dem Start von der Erde kaum gesehen.
„Hast du dich wieder gut eingelebt?“ fragte er während er sich setzte.
„Eigentlich schon. Viel Zeit war ja noch nicht. Und zum Glück hatte ich noch nicht so viel ausgeräumt.“ Sie deutete auf die Kisten, die noch in der Ecke standen. „Aber nachdem sie durch den ganzen Raum geflogen sind, will ich sie lieber gar nicht auspacken. Wer weiß wie viel da drin kaputt gegangen ist.“
Tworek nickte. „Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Aber wenn man bedenkt, was passiert ist, dann sind wir noch ganz gut weggekommen.“
„Auf jeden Fall“, stimmte Karja ihm zu. „Trotzdem ist es ärgerlich.“ Sie zuckte mit den Schultern. Mehr als sich ärgern konnte sie nicht tun. Und natürlich hatte Tworek recht. Sie waren noch glimpflich davon gekommen. „Wie geht es dir so?“ wollte sie wissen.
„Mr. Sohral hält mich auf Trab“, kam die ehrliche Antwort. „Wir analysieren noch immer die Sensorendaten, um herauszufinden, was genau geschehen ist. Doch ist das eine äußerst mühselige Aufgabe. Die Sensoren waren durch den Energieausstoß der Waffe beeinträchtigt, so dass es kaum vernünftige Daten gibt. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass Sohral in absehbarer Zeit aufgibt.“ Er verzog kaum merklich die Mundwinkel um zu zeigen, wie sehr ihm diese Aufgabe missfiel. Ein eindeutiges Zeichen, dass seine emotionale Seite etwas mehr durchkam. Die langen Sitzungen zum Sichten von Datenmaterial waren auf die Dauer nichts für ihn. Trotz seiner vulkanischen Logik und seiner Kontrolle über seine Emotionen war er Zeit seines Lebens ein Vagabund gewesen. Ein Abenteurer, der aufgrund seiner ungewöhnlichen Andersartigkeit nirgendwo dazugehörte und daher ständig umhergezogen war. Und dabei hatte er sich mehr auf schnelle Tatsachen den auf langwierige Fakten verlassen. Entsprechend schwer fiel ihm Sohrals schier unendliche Geduld.
„Ich bin sicher, spätestens wenn wir die Erde erreicht haben gibt es genug neues Material, so dass auch Sohral von den alten Daten ablassen wird“, stichelte Karja und lächelte.
„Wir werden sehen“, erwiderte Tworek knapp. Er sah auf die Uhr. „Ich muss weiter. Mr. Sohral erwartet mich bereits wieder. Ich wollte nur kurz nach dir schauen.“ Er stand auf und ging Richtung Tür.
„Lieb von dir, dass du dich erkundigt hast.“ Karja berührte ihn kurz am Arm. Sie wusste, dass er weitere Berührungen nicht mochte. In dieser Hinsicht stimmten seine beiden Abstammungen überein. Eine seltene Ausnahme.
„Wir sehen uns.“ Mit diesen Worten verließ er ihr Quartier.
Karja wandte sich wieder ihrem Quartier zu. Sie hatte noch einiges zu tun, bis die Zerstörungen beseitigt waren. Seufzend machte sie sich ans Werk.
Mit einem letzten Handgriff sorgte Reed für Ordnung in seinem Quartier, als der Türsummer einen Besucher ankündigte. Mit kritischem Blick sah er sich noch mal schnell um. Das größte Chaos hatte er mühsam beseitigt. Durch den Treffer der Xindi-Waffe war auf dem gesamten Schiff alles, was nicht gut festgemacht war, umhergeflogen oder umgefallen. Reeds Quartier hatte danach nicht besser ausgesehen wie das anderer. Und mit seinen, inzwischen wieder geheilten, aber doch noch schmerzenden Rippen und dem Korsett, das Elizabeth ihm verpasst hatte, war ihm das Aufräumen nicht leicht gefallen. Er hatte auch noch lange nicht alles geschafft. Aber wenigsten konnte man wieder auf dem Sofa sitzen.
Er ging zur Tür und öffnete sie. Zwar hätte er auch einfach den Befehl zum Öffnen geben können, aber er wollte seinen Besuch direkt abfangen.
Elane stand vor der Tür. Sie hatte sich vor einigen Stunden bei ihm gemeldet und gefragt, ob sie den Filmabend nicht vorverlegen könnten. Nach den vorangegangenen Ereignissen wirkte sie sehr mitgenommen. Da wollte sie nicht alleine sein. Und da ihre Zimmerkollegin verletzt auf der Krankenstation lag hatte sie überlegt, ob Reed vielleicht Zeit hätte.
Zwar war er bei ihrer Anfrage überrascht gewesen. Immerhin waren sie nur knapp dem Tod entgangen und humpelten nun quasi schwer angeschlagen nach Hause. Die Zerstörungen waren auf dem ganzen Schiff sichtbar. Sicherlich nicht die beste Zeit für private Vergnügungen mit Freunden. Doch Elane hatte dem entgegen gehalten, dass es gerade jetzt wichtig sei. Wenn sich nicht in der Krise bei Freunden ablenken und Halt suchen, wann denn dann? Und da konnte Reed nur zustimmen.
Je näher der Abend gekommen war, desto seltsamer wurde es ihm. Die unterschiedlichsten Empfindungen hatten ihn gepackt, er hätte es nicht einmal beschreiben können. Aufregung und Vorfreude gingen einher mit den unterschiedlichsten Gedanken. Er mochte Elane und freute sich darauf sie zu sehen. Sie hatten dieselben Interessen, denselben Humor und oft auch dieselben Gedanken. Sie schienen fast seelenverwandt zu sein. Ihre Nähe war mehr als angenehm. Und dann ertappte er sich bei der Frage, ob er mehr wollte. Wollte er? Nein, entschied er sofort. Sie mochte nett sein, aber bei der Liebe ging es doch um mehr, da war er sich sicher. Und sie war wirklich nicht sein Typ. Trotzdem hatte ihn die etwas übertriebene Vorfreude nicht mehr los gelassen.
Nun also stand sie vor der Tür. „Komm rein“, sagte er betont lässig und versuchte seine Aufregung möglichst gut zu überspielen.
„Hallo Drake“, lächelte sie umwerfend und kam rein. Reed hatte auf einmal das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Als sich die Türe wieder geschlossen hatte folgte er ihr zum Sofa und nahm vorsichtig Platz. Sich wie sonst aufs Sofa zu werfen war aufgrund des Korsetts um seine Rippen unmöglich.
„Wie geht es dir?“ frage sie besorgt und sah ihn an, als wollte sie durch die Klamotten und das Korsett hindurch seine Rippen sehen.
„Ach, halb so wild“, winkte er tapfer ab.
Sie sah ihn zweifelnd an. „Ich habe gehört, dass du deinen Dienst trotz deiner Verletzung weiter gemacht hattest und der Captain dir erst befehlen musste auf die Krankenstation zu gehen.“
Er nickte. „So ist das bei Helden“, scherzte er.
„Held? Du bist vollkommen verrückt“, schalte sie ihn. „Du hattest keine Ahnung wie schlimm deine Verletzungen waren. Du hättest sterben können.“
Reed sah sie groß an. Machte sie sich etwa Sorgen? Er fühlte sich einerseits gut bei dem Gedanken. War das nicht ein Zeichen, dass sie ihn mochte? Andererseits fühlte er sich furchtbar, weil er schuld daran war, dass sie sich Sorgen machte. Und er wollte nicht, dass sie Sorgen hatte. „Dr. Kasatsu war auf der Brücke gewesen und hat mich kurz untersucht. Sie meinte, ich könne noch eine Weile durchhalten“, versuchte er Elane zu beruhigen. Dr. Kasatsu war Elizabeth Williams Vertretung und bestimmt genauso fähig.
Elane blieb immer noch skeptisch, sagte aber nichts dazu. Stattdessen ging ihre Hand zu Reed und streifte vorsichtig über das Korsett, das sich unter seinem Shirt befand. „Wow, das fühlt sich ganz schön fest an. Fester als ich gedacht hatte.“
Ein Kribbeln durchfuhr Reed, obwohl er durch die dicke Bandage kaum etwas spürte. „Es soll ja auch alles zusammenhalten“, gab er zu bedenken. „Außerdem sind das meine Bauchmuskeln, die du da spürst“, grinste er.
„Blödmann“, gab sie schnippisch zurück und stieß seinen Kopf leicht mit dem Zeigefinger weg. Sie rutschte ein wenig auf dem Sofa zurecht. „Meinst du, wir schaffen es heil nach Hause zu kommen?“ fragte sie besorgt. Vielleicht wusste er ja etwas mehr als sie. Immerhin gehörte er zur Führungscrew.
„Sicher schaffen wir es“, gab er sich zuversichtlich. „Wir sind zwar ein bisschen langsamer als sonst, aber das ist kein Problem.“
„Ich hoffe, du hast Recht.“
„Ich habe immer Recht“, warf er ein.
Sie stupste ihn in die Seite und schlug dann erschrocken die Hände vor den Mund. „Entschuldige, ich hatte deine Verletzung vergessen.“
„Nichts passiert“, winkte er ab. „Ich habe doch meinen Schutzpanzer an. Schon vergessen?“
„Ich dachte das wären Bauchmuskeln“, gab sie erleichtert zurück. Dann wurde sie wieder ernst. „Weißt du, wie es Mr. Real geht?“
Sorgenfalten legten sich auf Drakes Stirn. „Nicht sehr gut. Elizabeth meint, mit jeder Stunde, die vergeht ohne dass wir die Erde erreichen, sinken seine Überlebenschancen.“
„Kennst du ihn gut?“ fragte sie mitfühlend.
„Nein. Klar, wir haben gemeinsam Dienst, aber wir sind wohl zu unterschiedlich, als dass wir viel miteinander anfangen könnten.“
Sie nickte nur und fuhr nach einem kurzen Schweigen fort. „Jasmin liegt auch noch auf der Krankenstation. Ihr Zustand ist nicht ganz so schlimm und vor allem auch stabil. Ein umstürzender Schrank hatte sie am Kopf getroffen. Ich hoffe, dass sie bald in unser Quartier zurück kann.“
„Ich drücke die Daumen.“ Aufgrund ihrer Schilderungen vermutete Drake, dass es sich bei Jasmin um Elanes Zimmergenossin handelte.
Sie unterhielten sich noch eine Weile über das Geschehene. Elane war über die Ereignisse zutiefst geschockt. So etwas kannte sie nicht. Bisher war sie auf Schiffen stationiert gewesen, die mehr oder weniger ereignislos ihren Kurs verfolgt hatten und deren Missionen meist nach Plan liefen und auf denen im schlimmsten Fall der Zeitplan durcheinander kam oder irgendein Beteiligter verärgert wurde. Erlebnisse wie diese waren ohnehin die absolute Ausnahme. Trotzdem hatte Reed schon mehrere solche Vorfälle erlebt. Offenbar zog er das Unglück an. Obwohl das auch nicht sein konnte. An diesem Abend war Elane beim ihm. Mit Sicherheit kein Unglück.
Gelacht hatte sie an diesem Abend nur wenig. Und den vereinbarten Film hatten sie auch nicht angeschaut. Elane gab zu, dass sie gar nicht wegen des Filmes gekommen sei. Ihr ging es nur um die Gesellschaft. Und so saßen sie neben einander auf dem Sofa und unterhielten sich.
Reed spürte ihre Wärme neben sich und eine Zeitlange berührte ihre Hüfte die seine, bis sie sich anders hinsetzte. Allein schon diese eine Berührung sorgte für ein Wohlbefinden in ihm, dass er bis dahin nicht gekannt hatte. Und dass er sich mit einer Frau solange unterhielt ohne mehr zu wollen, war ihm auch noch nicht untergekommen.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie ewig hier sitzen und sich unterhalten können. Doch Elanes Blick fiel auf die Uhr und sie stellte fest, dass es bereits nach Mitternacht war.
Sie stand vom Sofa auf. „Ich sollte gehen“, sagte sie. „Deine Schicht fängt in ein paar Stunden an.“ Sie gähnte herzhaft. „Außerdem bin ich müde.“
Reed nickte. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Der Zauber war auf einmal verflogen. Auch wenn ein Teil von ihm enttäuscht war, war es vielleicht ganz gut, wenn sie ginge. Denn die Enttäuschung, die er empfand verwirrte ihn. Warum war er enttäuscht? Was um alles in der Welt hatte er denn erwartet? Und da er das selbst nicht wusste, war dieses Gefühl umso ärgerlicher.
An der Tür wandte sie sich nochmals um und nahm ihn in den Arm. Sie drückte ihn an sich, so dass er ihren Körper deutlich spüren konnte. Ihre Brüste drückten sich angenehm an seinen Oberkörper und wieder hatte er das Gefühl sein Körper würde von Kopf bis Fuß kribbeln. Sie war genauso groß wie er, vielleicht sogar noch zwei, drei Zentimeter größer. So konnte sie sich mit dem Kopf nicht gegen ihn lehnen. Trotzdem schmiegte sie ihren Kopf an seinen und hauchte ihm ein „Gute Nacht“ ins Ohr.
Ehe er sich versah hatte sie sich aus der Umarmung gelöst und war verschwunden. Innerlich völlig aufgewühlt blieb Drake zurück. Er konnte kaum klar denken. Elane war absolut nicht sein Typ, noch vor Tagen hatte er sie als dick bezeichnet. Und doch fühlte sie sich so ungeheuer gut an. Am liebsten hätte er sie zurückgeholt nur um weiterhin ihre Nähe genießen zu können. Doch mit welcher Begründung hätte er das tun sollen?
Was war nur mit ihm los? Er konnte doch nicht ernsthaft an eine Beziehung mit Elane denken. Und außerdem wusste er doch gar nicht ob sie auch so empfand. Wäre sie dann nicht geblieben?
Verwirrt schüttelte Drake den Kopf. Er musste unbedingt schlafen gehen. Und morgen würde das seltsame Gefühl sicher vorüber sein. Wahrscheinlich war es nur die Müdigkeit, die ihn so empfinden ließ. Und die Ereignisse des letzten Tages. Offenbar wollte er nur nicht alleine sein. In den nächsten Tagen würde das Gefühl genauso wieder verschwinden wie es gekommen war. Da war er sich sicher.
„Immer noch kein Durchkommen?“ Sanawey stand neben der Konsole von Elane Watts. Auf seiner Stirn deuteten sich Falten an. Seit einigen Minuten versuchten sie Kontakt zur Sternenflotte herzustellen. Sanawey wollte die Verantwortlichen so schnell wie möglich informieren. Es galt zu entscheiden, welche Gefahr durch die neue Situation für die Föderation entstand.
Watts schüttelte nur den Kopf und konzentrierte sich weiter auf die Daten.
Nachdenklich ging Sanawey zum Kommandosessel zurück. Wendy Brooks hatte gemeldet, dass die Kommunikation wieder funktionieren würde, was offensichtlich nicht der Fall war. Dann musste er eben eine andere Möglichkeit finden, die Sternenflotte zu kontaktieren. Der Flug bis zur Erde würde zu lange brauchen, eine Subraumnachricht wäre um ein vielfaches schneller.
„Mr. Tworek, liegt auf unserem Weg eine bewohnte Welt?“
Der Halbklingone rief die Navigationsdateien auf und startete eine entsprechende Anfrage. „Ragesh 3. Eine Kolonie der Tellariten. Laut den letzten Zahlen liegt die Bevölkerung bei knapp dreißigtausend Einwohnern. Der Planet liegt 1,3 Lichtjahre abseits unseres Kurses.“
Sanawey hörte wie Zien an seiner Station die Luft einsog. Die Andorianer und die Tellariten hatten vor Gründung der Föderation einen beinahe hundertjährigen Streit, der auch immer wieder Anlass zu kleineren Gefechten gegeben hatte. Inzwischen herrschte zwar Frieden zwischen beiden Völkern, allerdings wurde keine Gelegenheit ausgelassen der anderen Rasse zu zeigen, dass man sie für unterlegen hielt.
„Setzen Sie einen Kurs“, befahl Sanawey. Es würde reichen. Von dort aus konnten sie die Sternenflotte kontaktieren. Dann betätigte er eine Taste an seinem Pult und rief Wendy Brooks. „Ja, Captain?“ meldete sie sich.
„Wendy, schau dir bitte nochmal die Kommunikationseinheit an. Wir können keinen Kontakt zur Sternenflotte aufbauen. Offenbar ist sie noch immer kaputt.“
Wendy seufzte. „Na schön, ich schau sie mir nochmal an und gebe dir dann Bescheid.“
„Ich danke dir.“ Er unterbrach die Verbindung.
1,3 Lichtjahre waren mit Warpgeschwindigkeit keine weite Strecke. Die Republic
legte den Weg in einigen Minuten zurück. Kurz bevor sie den Planeten erreichten ging sie aus dem Warptransit und erreichte eine Umlaufbahn um den Planeten. Es war kein besonders schöner Planet. Vom All aus betrachtet war er ein grauer Fels. Es gab keine größeren Wälder und keine Meere. Im Grunde bestand er nur aus Stein. Die Atmosphäre war dünn und Menschen hätten es auf diesem Planeten nicht länger ausgehalten. Die Tellariten jedoch waren hart im Nehmen. Für sie reichte der Sauerstoffanteil in der Luft. Und der Planet hatte reichlich Bodenschätze zu bieten. Dafür nahm man auch einige Unannehmlichkeiten in Kauf.
Auf der Brücke der Republic
stand Sanawey von seinem Kommandosessel auf. „Ohne Kommunikation müssen wir wohl auf die altmodische Art Kontakt herstellen. Wir brauchen ein Shuttle. Mr. Sohral...“
Das Interkom unterbrach ihn. „Captain, die Kommunikation funktioniert einwandfrei. Das Diagnoseprogramm konnte keine Fehlfunktion erkennen“, erklärte Brooks. „Habt ihr es auch richtig bedient?“
Sanawey fand das im Moment alles andere als komisch. „Mrs. Watts, Sie haben es gehört. Rufen Sie die Kolonie.“
Die Genannte tat wie ihr geheißen. Dann aber schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid, Sir. Ich bekomme keinen Kontakt.“
„Die Technik sollte aber wieder funktionieren.“ Er trat neben sie und sah ihr über die Schulter als sie es erneut versuchte. Wieder umsonst.
„An der Technik liegt es auch nicht“, meinte sie frustriert. „Ich kann keinen Empfänger lokalisieren.“
Sanawey sah über die Brücke zu Sohral hinüber. „Was ist hier los? Wurde die Kolonie aufgegeben?“
Sohral überflog noch die Daten und meinte dann: „Captain, ich kann überhaupt keine Anzeichen für eine Kolonie entdecken. Der Planet ist völlig unbewohnt. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass hier je eine Kolonie existiert hat.“
Sanawey sah ihn groß an. „Haben die Tellariten die Kolonie abgebaut und unsere Daten sind einfach nicht aktuell genug, um das schon berücksichtigt zu haben?“
„Das kann nicht sein“, widersprach Tworek. „Unsere Datenbanken wurden am Tag vor unserem Abflug aktualisiert. Und so schnell kann eine Kolonie nicht aufgelöst werden.“
„Sie missverstehen mich, Captain“, erklärte Sohral. „Auf diesem Planeten gab es nie eine Kolonie. Eine Siedlung, welcher Art auch immer, hinterlässt Spuren, die nicht ausgelöscht werden können, es sei denn durch Erosion oder vulkanische Aktivitäten. Nichts deutet auf solche Ereignisse hin. Dieser Planet ist noch nie von irgendwem betreten worden.“
Sanawey fiel die Kinnlade nach unten. Das hatte er beim besten Willen nicht erwartet. „Dann können wir auch eine Zerstörung aus dem Weltraum ausschließen“, folgerte er.
„Ja. Absolut.“
Sanawey fuhr mit der Hand durch seine Haare. Noch so ein Rätsel. Doch dafür hatte er nun keine Zeit. Darum mussten sich andere kümmern. „Mr. Tworek, setzten sie wieder einen direkten Kurs zur Erde.“ Er ging zum Kommandosessel. „Maximum Warp.“
„Ja, Sir.“
Der Planet wich vom Bildschirm und es waren wieder nur die Sterne zu sehen. Kurz darauf befanden sie sich wieder im Warptransit und jagten der Erde entgegen. Trotz Warp 7, ihrer derzeitigen Höchstgeschwindigkeit, würden sie noch beinahe acht Tage benötigen, bis sie die Erde erreichten.
Reed verfluchte das Schicksal. Nicht nur, dass er seinen Geburtstag nicht auf der Erde feiern konnte, so wie er es ursprünglich geplant hatte. Jetzt konnte er ihn gar nicht feiern. Aufgrund der Konfrontation mit den Xindi, den Zerstörungen und den anderen seltsamen Ereignissen war eine Feier nicht nur unangebracht sondern auch gar nicht durchzuführen. Die Zuteilung an alkoholischen Getränken, die man für diesen Anlass bekam, war ihm mit Verweis auf die Situation verweigert worden. Und seine Freunde hatten aufgrund der derzeitigen Überstunden auch keine Zeit. So gab es einfach keine Feier. Und daran waren nur die Xindi Schuld.
Er war gerade auf dem Rückweg aus dem Vorratslager zu seinem Quartier. Wenigstens wegen einer Flasche Sekt hatte er noch handeln wollen, doch nichts erreicht. Was war das für ein Geburtstag, wenn man nicht einmal anstoßen konnte? Entsprechend übellaunig war er und haderte mit seinem Schicksal. Er war sich sicher, er musste in einem früheren Leben etwas ganz Schlimmes verbrochen haben um derart bestraft zu werden.
Als er um eine Gangbiegung kam und die Tür zu seinem Quartier bereits sah, erkannte er Sanawey und Bozman davor stehen. Es machte den Eindruck, als wollten sie zu ihm. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
„Hallo Captain. Hallo Mrs. Bozman,” grüßte er die beiden. Als Sanawey sich ihm zuwandte sah er, dass der Captain eine Sektflasche in der Hand hielt. Reeds Laune hob sich etwas.
„Hallo Mr. Reed“, erwiderte Sanawey den Gruß. „Sie waren nicht in Ihrem Quartier. Wir wollten uns gerade wieder auf den Weg machen.“
„Dann haben Sie gerade noch Glück gehabt.“ Er öffnete die Türe und bot den beiden an einzutreten. „Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“
„Da Sie heute Geburtstag haben und die Umstände mehr leider nicht zulassen, wollten wir wenigstens mit Ihnen anstoßen.“ Sanawey hielt ihm die Flasche entgegen.
Reed grinste. „Also dazu sage ich bestimmt nicht Nein. Ich werde nur noch schnell drei Becher holen.“ Mit Bechern anzustoßen war zwar nicht ganz stielecht, aber aufgrund der Zerstörungen gab es wohl auf dem ganzen Schiff kein einziges intaktes Glas mehr.
Gerade als er sich umgedreht hatte piepte der Türmelder. Statt zum Schrank ging er zuerst zur Tür. Davor standen Dr. Williams und Elane Watts.
Elizabeth nahm ihn sofort in den Arm. „Herzlichen Glückwunsch, du Spinner.“
„Vielen Dank“, lächelte Reed, der genau wusste, wie Elizabeth das meinte. Er freute sich, dass sie ihn noch besuchte. Es musste das erste Mal seit der Beinahe-Katastrophe sein, dass sie die Krankenstation verließ. Er wusste, dass sie dort alle Hände voll zu tun hatte. Und wenn er ehrlich war, sie sah schrecklich aus. Tiefe Augenringe waren die einzigen Farbtupfen, die sie in ihrem blassen Gesicht hatte. Umso höher rechnete er es ihr an, dass sie noch bei ihm auftauchte.
Auch Elane drückte ihn an sich. Fast ein bisschen zu fest und ein wenig zu lange. Zumindest empfand er das so. Nicht, weil es unangenehm war, sondern weil er es vor den anderen peinlich fand. Er wollte nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden. Als sie ihn los ließ wandte er sich sofort wieder dem Schrank zu. „Ich werde zwei Becher mehr holen.“
Sanawey öffnete unterdessen mit einem Knall den Sekt und verteilte ihn anschließend.
„Auf Sie, Mr. Reed“, hob er schließlich den Becher. „Herzlichen Glückwunsch.“
Die anderen stimmten ein und prosteten ihm zu.
„Wie alt werden Sie eigentlich“, wollte Bozman nach einem genippten Schluck wissen.
„Zweiunddreißig“, gab Reed Auskunft.
„32?“ wiederholte Elane ungläubig. „So jung? Du bist ja noch ein halbes Kind.“
Etwas verwirrt sah Drake sie an. Wieso sagte sie so etwas? Sie war doch selbst... Er wusste es nicht, aber sie war mit Sicherheit nicht älter als er. „Ich war schon jünger“, gab er zurück.
„Zweifellos“, zwinkerte Elane ihn an. Sie schien zu merken, dass er ihr Alter nicht kannte. Und das schien sie ganz offensichtlich zu amüsieren.
Die Runde war nur kurz beisammen. Schnell waren die Becher geleert. Und als Williams sich entschuldigte und irgendwas erzählte von 75 Stunden nicht geschlafen, Aufputschmitteln und dass sie ins Bett müsse, nutzten Sanawey und Bozman ebenfalls die Gelegenheit, um sich zu verabschieden. Der Captain überließ ihm die immer noch halb volle Flasche Sekt, betonte aber noch, dass er morgen trotzdem pünktlich zum Dienst erscheinen müsse.
So blieb er mit Elane allein zurück. Sie nahmen auf dem Sofa Platz und versuchten, trotz Becher möglichst klangvoll anzustoßen. Was aber doch ziemlich dumpf klang und beiden ein kindisches Lachen entlockte.
Elane sah ihn von der Seite an. „Du hast keine Ahnung, wie alt ich bin, oder?“ nahm sie das Thema von vorhin nochmals auf.
„Naja.“ Reed zögerte. Er wusste es tatsächlich nicht. Und irgendwie tat er sich bei ihr mit schätzen schwer. Er hätte gesagt etwas jünger als er, aber so wie sie das betonte kamen ihm Zweifel. „Ich würde sagen, du bist so 29 oder 30,“ schätzte er vorsichtig.
Sie verschluckte sich fast am Sekt und stieß dann ein kurzes Lachen aus. „Nett von dir.“
„Stimmt das nicht?“ fragte er unschlüssig.
Elane sah ihn an. „Das meinst du ernst?“
„Ja“, beteuerte er und fragte sich was das sollte.
„Das ist wirklich lieb von dir. Aber ich werde im Sommer 38.“
Überrascht zog Reed seine Augenbrauen hoch. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Sie machte auf ihn einen viel jüngeren Eindruck. Dass sie sechs Jahre älter sein sollte als er konnte er kaum glauben. „Ich hätte nicht gedacht, dass du schon so alt bist“, betonte er spitz.
„Danke“, empörte sie sich und stieß ihm den Arm leicht in die Rippen.
Drake lachte. „Wenn du mich ein halbes Kind nennst, dann kann ich auch sagen, dass du alt bist.“
„Bei dir stimmt das ja auch. 32.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Du bist ja noch grün hinter den Ohren.“
Drake wurde ernst. Auf einmal fiel ihm ein, dass er sie unbedingt noch was fragen musste, auch wenn sein Herz auf einmal anfing wie wild zu pochen. Der Zeitpunkt war genauso günstig oder ungünstig wie jeder andere auch. Und je eher er Bescheid wusste, desto besser. Also nahm er nochmal einen Schluck vom Sekt für den Mut, ehe er ansetzte. „Wenn du schon so alt bist“, begann er und lächelte schräg. „Wartet dann daheim jemand auf dich?“
Sie hatte ihm die plötzliche Nervosität angesehen und war daher gespannt gewesen, was er sagen wollte. Nun huschte ein Schatten über ihr Gesicht und ihr Lächeln verblasste. Sie sah kurz an ihm vorbei und schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Dann kehrte sie zurück. „Nein“, sagte sie leise. „Nicht mehr.“
„Was ist passiert?“ fragte Drake mitfühlend und vermutete ein Drama.
„Ich hatte einen Freund. Wir waren elf Jahre zusammen, und das seit der High School“, begann sie zu erzählen. „Wir wollten sogar heiraten, aber dann wurde mein Vater schwer krank. Ich musste mich um ihn kümmern und somit blieb nicht mehr ganz so viel Zeit für meinen Freund übrig. Zuerst hatte er Verständnis und unterstützte mich. Wir versuchten unsere Zeit so gut wie möglich einzuteilen. Doch als sich der Zustand meines Vaters über Monate und schließlich Jahre zog, da wurde auch die Kluft zwischen uns immer größer. Er zog sich immer weiter zurück. Schließlich musste ich erfahren, dass er eine andere hatte. Das war vor einem Jahr.“ Sie schluckte hart. Offenbar hatte sie das bis heute nicht überwunden. „Mein Vater hat das zum Glück nicht mehr miterleben müssen.“
Drake sah sie zärtlich an. Auf der einen Seite war er betroffen. Sie musste Schreckliches durchgemacht haben. Am liebsten hätte er ihr den Schmerz abgenommen. Nur wusste er nicht wie. Und auf der anderen Seite war er froh. Froh darüber, dass sie nicht in festen Händen war.
„Es war so demütigend“, fuhr sie gedankenverloren fort. „Das Schlimmste ist, ich weiß nicht, wie lange das mit der anderen Frau lief. Herausgefunden habe ich es kurz nachdem mein Vater gestorben war. Ich hätte wieder Zeit gehabt und wollte alles nachholen. Nur dass er auf einmal keine Zeit mehr hatte. Aber anstatt es einfach zu beenden hatte mich angelogen. Bis ich die Wahrheit erfahren hatte. Ich komme mir so verraten vor, so missbraucht.“ Sie sah Drake direkt an. „Und ihr hatte er gesagt, er wäre Single. Kannst du dir das vorstellen?
Drake schüttelte langsam den Kopf. Irgendwie kam er sich auf einmal seltsam vor. Was hatte er Frauen nicht schon alles erzählt, um sie ins Bett zu bekommen? Zugegeben, er hatte noch nie zwei Beziehungen parallel gehabt. Aber gelogen hatte er trotzdem schon. Damit war er wohl kaum besser. Auf einmal regte sich sein schlechtes Gewissen. Aber davon durfte er sich jetzt kaum etwas anmerken lassen. Was würde Elane dann von ihm denken? Mit Sicherheit würde sie dann nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Und das würde er nicht überleben.
Aber Elane war so sehr in ihrer Vergangenheit gefangen, dass sie Reed gar nicht wahrnahm. „Wie kann jemand nur so verlogen und grausam sein?“ sinnierte sie vor sich hin. „Und wie konnte ich nur so blöd sein und ihm vertrauen? Wieso habe ich das nicht gesehen?“
„Liebe macht blind“, versuchte er irgendetwas Erklärendes zu sagen.
„Sie mag ja blind machen, aber blöd? Ich weiß nicht...“ Sie schüttelte energisch den Kopf, wie um die Gedanken loszuwerden. „Bitte entschuldige. Es ist dein Geburtstag. Ich wollte die Stimmung nicht kaputt machen.“
„Schon gut“, winkte Reed verständnisvoll ab. „Eine elfjährige Beziehung einfach wegzustecken fällt wohl niemandem leicht.“
„Nein, bestimmt nicht. Ich komme nur trotzdem nicht drüber hinweg. Ich weiß nicht, wann und ob ich je wieder jemandem vertrauen kann. Auf jeden Fall wird es noch sehr lange dauern, wenn kein Wunder geschieht.“ Sie sah ihm tief in die Augen. „Danke für dein Verständnis.“
Wieder wurde es Reed flau im Magen und er musste sich beherrschen sie nicht in den Arm zu nehmen. Das wäre jetzt wohl nicht das Richtige. Auf keinen Fall wollte er den Eindruck erwecken, ihre emotionale Zerrissenheit ausnutzen zu wollen.
„Und wie sieht es bei dir aus?“ frage sie und lächelte dabei tapfer. Offenbar versuchte sie auf andere Gedanken zu kommen.
„Nein, nichts. Dazu bin ich noch zu jung“, lachte er. „Und zu grün hinter den Ohren“, fügte er zwinkernd hinzu.
„Da hast du wohl Recht“, bestätigte sie lachend.
„Wobei, wenn es nach meiner Mutter ginge, dann wäre ich schon verheiratet und sie hätte auch schon Enkel. Gut nur, dass sie das nicht beeinflussen kann.“
Nach und nach bekam auch Elane wieder bessere Laune. Sie scherzten noch den ganzen Abend und hatten mehrmals Tränen in den Augen vor Lachen. Der Alkohol tat sein Übriges für eine lockere Stimmung. Am Ende hatten sie es geschafft die Flasche noch zu leeren.
Als sich Elane schließlich verabschiedete waren sie beide guter Laune. Sie drückte ihn nochmals und gab ihm einen dicken Kuss auf die Backe. „Gute Nacht und schöne Träume“, wünschte sie noch, dann verschwand sie.
Reed schüttelte nur grinsend den Kopf. So eine verrückte Frau war ihm noch nie untergekommen.
Sylvia Jackson saß im Kommandosessel der Republic
. Ihre Hüfte war soweit wieder hergestellt. Sie musste zwar noch immer zu regelmäßigen Trainingseinheiten mit der Physiotherapeutin, trotzdem hatte sie sich selbst wieder für den Dienst geeignet erklärt. Williams‘ Protest war wie erwartet laut gewesen, aber Jackson hatte sich am Ende durchgesetzt. Nun war sie wieder auf der Brücke und biss die Zähne zusammen. Sie hatte keine richtigen Schmerzen mehr, aber sie fühlte sich seltsam. So, als ob man sie falsch zusammengesetzt hätte. Was natürlich nicht der Fall war. Das war eine Einbildung, die ihr Hirn produzierte und ihr vorgaukelte. Das tat es aber hartnäckig. Daher musste sie immer wieder ihre Sitzhaltung ändern um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie sich noch bewegen konnte.
Seit drei Tagen waren sie nun unterwegs. Die Entdeckung auf Ragesh 3 hatte sich rasch herumgesprochen und zu allerlei Spekulationen auf dem Schiff geführt. Captain Sanawey befand sich derzeit mit Sohral im Besprechungsraum. Sie gingen nochmals alle Daten durch, die sie seit der Entdeckung der Waffe gemacht hatten. Sie hofften irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Allerdings bezweifelte Jackson das. Sohral hatte bisher nichts entdeckt, da würde der Captain, so clever er auch war, nichts Neues finden.
Auch diese seltsame Funkstille beschäftigte sie. Immer wieder versuchten sie die Erde zu kontaktieren. Aber sie kamen einfach nicht durch. Obwohl Brooks versicherte, mit der Kommunikationseinheit sei alles in Ordnung. Ein entsetzlicher Gedanke kam ihr. Was, wenn die Waffe nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war? Wenn die komplette Streitmacht der Xindi unterdessen die Erde angegriffen hatte? Das würde einiges erklären.
Nein, mahnte sie sich selbst. Solche Gedanken durfte sie nicht haben. Außerdem wäre eine große Flotte fremder Schiffe nicht unbeobachtet durch das Territorium der Föderation geflogen. Völlig ausgeschlossen. Das dichte Sensorennetzwerk hätte eine Flotte aufspüren müssen.
„Commander“, riss Reed sie aus ihren Gedanken. „Wir werden gerufen.“
„Was?“ schrak Jackson auf, sammelte sich dann aber wieder. „Von wem?“
„Ein Raumschiff.“
Jackson atmete auf. Endlich wieder Kontakt zur Außenwelt. Das Universum war also doch nicht untergegangen und hatte nur sie vergessen. „Rufen Sie den Captain auf die Brücke. Und schalten Sie den Anruf auf den Bildschirm.“
Wenige Augenblicke später erschien auf dem Bildschirm die Brücke eines Raumschiffes. Der Aufbau war ein seltsam vertrauter Anblick und doch auch fremd. Sie ähnelte stark den Konstruktionen der Sternenflotte, war aber doch ein wenig anders. Ein menschliches Wesen füllte die Mitte des Bildschirmes. Ein Mann, der Mitte fünfzig sein dürfte. Nur ein schmaler Haarkranz zog sich um seinen Kopf. Eine große Nase prägte sein Gesicht und die Augen wirkten stechend. „Wer sind Sie?“ fragte er misstrauisch.
„Commander Sylvia Jackson vom Föderationsraumschiff Republic
. Und wer sind Sie?“
„Captain Jeffrey Westcott. Commander der Columbia
. Sie befinden sich im Territorium der terranisch-andorianischen Allianz. Gehen Sie unter Warp und erklären Sie Ihre Anwesenheit.“
Jackson hatte das Gefühl, dass ihr der Mund offen stehen blieb. Terranisch-andorianische Allianz? Ging es ihr doch schlechter als sie dachte? Lag sie etwa noch auf der Krankenstation und träumte?
In diesem Moment öffneten sich die Turbolifttüren und Sanawey betrat, gefolgt von Sohral, die Brücke. Mit schnellen Schritten trat er neben Jackson. „Ich bin Captain Sanawey“, wandte er sich dem Bildschirm zu, nachdem Jackson überhaupt keine Anstalten machte ihm etwas zu sagen.
Westcott wiederholte seine Ansage. Auch Sanawey war wie vom Donner gerührt. „Terranisch-andorianische Allianz?“ wiederholte er ungläubig. „Könnten Sie mir bitte erklären, was das ist?“
Die Augen Captain Westcotts verengten sich. „Spielen Sie Spielchen mit mir?“ fragte er verärgert.
Sanawey kam sich vor wie in einem falschen Film. Hier stimmte eindeutig etwas nicht. „Tworek, gehen Sie unter Warp“, befahl er. Er musste herausfinden was hier vor sich ging.
„Eine kluge Entscheidung“, brummte Westcott. „Halten Sie Ihre Position, wir gehen auf einen Abfangkurs.“ Dann wurde die Verbindung abgebrochen.
Sanawey starrte noch einen Moment auf den Bildschirm, dann wandte er sich Sohral zu. „Erklärung“, befahl er. Doch noch bevor der Vulkanier antworten konnte wandte Sanawey sich Jackson zu. „Alles in Ordnung?“ fragte er leise.
„Ja, Sir“, nickte sie. „Entschuldigen Sie meine Reaktion. Offenbar gehöre ich doch noch auf die Krankenstation.“
Sie wollte sich schon dem Lift zuwenden, aber Sanawey hielt sie auf. „Nehmen Sie an Ihrer Station Platz und hören Sie zu. Ich werde Sie brauchen.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu, worauf sie sich zu ihrer Station begab. Dann lauschten alle, was Sohral zu sagen hatte.
„Das fremde Schiff ist auf einem Abfangkurs und wird uns in einer Stunde erreichen. Im Übrigen ist es nicht unbedingt fremd. Bis auf ein paar kleine Variationen ist es ein Schiff der NX-Klasse.“
„NX?“ Es wurde ja immer bunter. „Diese Schiffe wurden vor über hundert Jahren gebaut und sind inzwischen alle verschrottet.“
„Das ist richtig“, bestätigte Sohral. „Diese Schiffe waren die ersten Warp 5 Schiffe, die die Erde besessen hatte. Die Enterprise
war das erste Schiff dieser Art gewesen und wurde zehn Jahre vor Gründung der Föderation in Dienst gestellt. Die Sternenflotte betrieb diese Schiffe alleine. Erst nach Gründung der Föderation beteiligten sich die anderen Völker an der Konstruktion der Schiffe. Es gibt kein einziges Schiff dieses Typs mehr. Trotzdem ist dieses Schiff dort draußen ein Schiff der NX-Klasse. Selbst die Technologie ist weitestgehend so alt. Wir hätten dem Schiff leicht davon fliegen können.“
„Wie kam es hierher?“ wollte Reed wissen.
„Das kann ich nicht beantworten.“
„Eine Zeitreise?“ spekulierte Reed weiter.
„Das wäre möglich. Allerdings gab es nie eine terranisch-andorianische Allianz“, gab Sohral zu bedenken.
„Spekulationen helfen uns nicht weiter“, entschied Sanawey. „Ich würde den Weg zur Erde gerne fortsetzten, aber können wir dieses Schiff so ohne weiteres hier lassen?“ Er knetete seine Lippe während er nachdachte. „Wir befinden uns bereits tief im Territorium der Föderation und die Xindi sind uns nicht gefolgt. Ich denke, wir können es doch riskieren sie hier zurück zu lassen. Vielleicht finden sie selbst einen Weg dorthin zurück wo sie herkamen“, überlegte er laut.
„Halten Sie das für klug?“ fragte Sohral.
„Nein. Aber wir haben keine Alternative. Mitnehmen können wir sie nicht. Wenn wir das Schiff in Schlepp nehmen erreichen wir gerade einmal Warp 3. Das würde unsere Reise zu sehr verzögern. Und im Übrigen könnte es ein Ablenkungsmanöver sein, um unsere Rückkehr zur Erde aufzuhalten. Damit würden die Xindi Zeit gewinnen. Die falschen historischen Angaben könnten ein Indiz dafür sein. Die Xindi kennen unsere Geschichte offenbar nicht so gut.“
„Das wäre möglich“, räumte Sohral ein. „Allerdings halte ich einen solchen Aufwand seitens der Xindi für unlogisch. Woher hätten sie in der kurzen Zeit ein Schiff der NX-Klasse bekommen sollen?“
„Das könnte alles schon vorbereitet gewesen sein. Der berühmte Plan B“, mischte Reed sich ein.
Sohral schien anderer Meinung zu sein, sagte jedoch nichts. Offenbar war er der Meinung alles Nötige gesagt zu haben.
So blieb es an Sanawey zu entscheiden was sie taten. Nach einem kurzen Blickkontakt mit Jackson wandte er sich an Tworek: „Alten Kurs und Geschwindigkeit wieder aufnehmen.“
„Ja, Captain.“
Während sie wieder auf Warp gingen studierte Sorahl seine Daten. Nach einigen Minuten meldete er: „Das fremde Schiff folgt uns, kann jedoch nicht mithalten. Es wird in drei Minuten außerhalb der Sensorenreichweite sein.“
Sanawey nickte. Das Schiff sollte kein Problem darstellen, aber seltsam war die Begegnung auf jeden Fall.
Drake saß mit Elane in der Bar und sah sie an. Sie redete und redete ohne Unterlass. Dabei schnitt sie Grimassen, fuchtelte mit den Armen wild in der Luft herum oder bog sich auf ihrem Stuhl hin und her. Dazwischen lachte sie immer wieder hell auf und ihre Augen strahlten, als ob sich ein glänzender Kristall darin befinden würde. Und ihre Art wirkte so unglaublich ansteckend auf ihn. Er vergaß, dass ringsherum noch Leute waren, er vergaß wo er war. Zwischendurch steuerte er auch etwas zum Gespräch bei, schnitt ebenfalls Grimassen und freute sich, wenn sie daraufhin lachte. Er benahm sich genauso peinlich wie sie, erinnerte ihn eine leise Stimme irgendwo in seinem Kopf, doch er nahm sie nicht bewusst war. Und es war auch egal. Er fühlte sich gut, so gut. Nur in ihrer Gegenwart fühlte er sich noch vollständig. Nur hier ergab es einen Sinn. Es spielte keine Rolle mehr, dass sie nicht die Figur eines Models besaß, dass sie mit den Händen weit ausholenden Gestiken vollführte. Sie war genau richtig wie sie war. Und er war gefangen. Gefangen in ihren Augen, gefangen von ihrer Art. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er sie liebte. Er liebte sie wie er noch nie eine Frau geliebt hatte. Er wollte nie mehr hier aufstehen. Nie mehr was anderes tun als mit ihr reden. Dieser Moment, hier in der Bar, einfach nur reden, dieser Moment sollte ewig dauern und nie wieder vergehen. Kein Gedanke an mehr, kein Gedanke, der sich mit Sex beschäftigte, so wie sonst, wenn er mit einer Frau zusammen war. Kein Zweifel, das musste Liebe sein. Und, mein Gott, fühlte sich das gut an. Nun verstand er, was es bedeutete auf Wolken zu schweben oder Schmetterlinge im Bauch zu haben oder wie auch immer Dichter dieses Gefühl über all die Jahrhunderte der Lyrik es sonst beschrieben hatten. Es war ein so gutes Gefühl, er hätte schreien können. Es war so überwältigend, er hatte das Gefühl, dass es ihn zerreißen könnte vor Glück.
Sie sah ihn auf einmal besorgt an. „Drake, alles in Ordnung? Du siehst plötzlich so abwesend aus?“
Er sah sie an, mit einem Blick, der sich ewig in die Länge zu ziehen schien. Er hatte das Gefühl in ihren Augen zu versinken und sich dort zu verlieren. Dann beugte er sich vor und küsste sie. Sie schmeckte süß und ihr Lippen waren weich. Die Berührung jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Doch es kam keine Reaktion. Zögernd ließ er von ihr ab. Sie sah ihn erstaunt an, sekundenlang.
„Wow“, sagte sie schließlich, allerdings klang es sehr ernüchternd. Nicht gerade so, als ob sie sich freuen würde. „Was war das?“
„Ein Kuss?“ gab er zurück, allerdings etwas unsicher. Hatte er etwas falsch gemacht?
„Ja, das weiß ich. Wieso...“ Sie brach ab, sah ihn an und hob dann in einer abwehrenden Geste die Hände. „Oh. Das kommt etwas überraschend. Das hatte ich eigentlich nicht im Sinn.“ Sie verzog den Mund zu einem humorlosen Lächeln. „Ich glaub ich sollte jetzt gehen.“ Dann stand sie auf.
„Warte...“ begann Reed, doch sie hörte nicht und verließ eiligen Schrittes den Raum.
Reed sah ihr nach. Das Hochgefühl, das er noch vor wenigen Augenblicken gespürt hatte war verflogen. Statt auf Wolken zu schweben schien er nun in einen Abgrund zu stürzen. Statt Schmetterlinge hatte er nun einen Schwarm Hornissen im Bauch. Und wieder ein Gefühl, dass er hätte schreien können. Nur, dass es ihm diesmal schier das Herz dabei zerriss. War er zu weit gegangen? Hatte er sie überfordert? Was um Himmels willen war denn nur schief gegangen? Sein Herz fühlte sich an, als ob ein Schmied, der irgendwelchen höllischen Unterwelten entstiegen war, sein Herz bearbeiten würde. Und mit einem mal wusste er, dass er zum ersten Mal nicht nur wahre Liebe gespürt hatte, sondern auch den unsäglichen Schmerz, wenn es mit dieser Liebe nicht klappte.
FÜNF
Endlich hatten sie die Erde erreicht. Unterwegs war die seltsame Funkstille erhalten geblieben. Sie hatten auf den Standardfrequenzen niemanden erreicht. Die Stimmung an Bord war entsprechend angespannt. Dass irgendetwas nicht stimmte war inzwischen allgemein bekannt. Und dass niemand genaueres wusste war besonders nervenaufreibend. Nun würden sie hoffentlich Antworten erhalten.
Sie waren außerhalb des Sonnensystems unter Warp gegangen und flogen nun mit Impulsgeschwindigkeit. Auf die Weise dauerte der Anflug auf die Erde noch immer mehr als zwei Stunden. Doch die Vorschriften der Föderation verboten einen Warpflug innerhalb eines Sonnensystems. Man hielt das für zu gefährlich.
Sanawey wollte während des Anflugs auf der Brücke bleiben. Auch wenn er nichts weiter tun konnte, als zu warten. Und er musste sich zusammenreißen, um nicht wie ein kleines Kind andauernd zu fragen, wie lange es noch dauern würde. Niemand sprach ein Wort. Ein Jeder verübte seine Arbeit mit der gewohnten Routine, allerdings immer darauf wartend, dass jemand etwas meldete. Die Spannung auf der Brücke war fast greifbar. Jede Minute konnte das Geheimnis gelüftet werden. Doch es geschah nichts. Minute um Minute zog sich dahin und verstrich dann ereignislos. Scheinbar unendlich langsam näherten sie sich der Erde. Nach etwa einer Stunde hatten sie die Umlaufbahn des Jupiters passiert.
„Captain, Schiffe nähern sich“, meldete Reed, der es sich nicht hat nehmen lassen selbst an der Ops zu sitzen, in die Stille hinein. Es war wie ein Donnerschlag. Und jeder zuckte mehr oder minder stark zusammen. Bis auf Sohral und Tworek.
„Sternenflotte?“ wollte Sanawey wissen. Sein Herz schien stehen zu bleiben.
Reed zögerte. „Wenn ich das wüsste.“ Die Sensorendaten verwirrten ihn. „Zwei Schiffe der NX-Klasse sowie fünf kleinere unterschiedlichen Typs. Und dazu noch drei unbekannte Schiffe.“ Irritiert sah er auf. „Solche habe ich noch nie gesehen.“
„Es handelt sich um antike andorianische Schiffe“, half ihm Zien. Seine Antennen streckten sich gerade vom Kopf weg. Ein klares Zeichen der Überraschung.
„Das kann ich bestätigen“, sagte Sohral. „Der Schiffstyp ist ebenfalls hundert Jahre alt. Es passt zeitlich zu den Schiffen der Erde. Ihre Theorie, Captain, von einem Täuschungsmanöver der Xindi, ist offensichtlich hinfällig.“
Sanawey sah ihn. Er war etwas verärgert, dass der Vulkanier wieder einmal recht behielt. Er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen und erwiderte: „Da haben Sie recht. In Zukunft dürfen Sie wieder die Theorien aufstellen.“
„Sir, die Schiffe haben ihre Waffen aktiviert. Und ihre Hüllen sind statisch aufgeladen. Was soll das denn?“ Reed klang immer verwirrter.
„Die alten Schiffe hatten noch keine Schutzschilde. Ihr Schutz bestand darin, die Hülle zu polarisieren, um damit die energetische Wirkung von Energiewaffen zu neutralisieren. Ein relativ simpler Trick und der Vorläufer unserer Schilde“, erklärte Sanawey. „Haben Sie in Geschichte nicht aufgepasst?“
„Jetzt wo Sie es erwähnen, kommt es mir bekannt vor“, grinste Reed zurück.
Sanawey beschloss ihn zu ignorieren. Sie mussten jetzt überlegt vorgehen. Zwar wussten sie noch nicht was hier vorgefallen war, aber er wollte auf gar keinen Fall auf ein Schiff der Erde schießen.
„Schutzschilde aktivieren. Mr. Sohral, können ihre Waffen uns etwas anhaben?“
„Die Schiffe besitzen Photonentorpedos mit niedriger Sprengkraft. Ihre Phaser werden ebenfalls mit relativ geringer Energie versorgt. Sie werden unsere Schutzschilde nicht durchdringen können. Auf Dauer können wir aber nicht durchhalten.“
„Wie lange?“
„Meinen Berechnungen nach müssten uns die Schilde ungefähr zehn Stunden schützen.“
„Das wird hoffentlich reichen“, sagte Sanawey optimistisch. „Mr. Reed, rufen Sie sie.“
„Aye, Sir.“ Er tippte auf seiner Konsole die entsprechenden Daten ein und einige Minuten später erschien auf dem Bildschirm ein grauhaariger Mann Anfang sechzig. Sein Gesicht wirkte eingefallen, dicke Ringe unter den Augen zeigten, dass er in letzter Zeit wohl nicht viel geschlafen hatte.
Sanawey stand auf. „Ich bin Captain Sanawey vom Raumschiff Republic
. Mit wem hab ich die Ehre?“
„Admiral Harris Yulin, Oberbefehlshaber der Erdstreitkräfte. Sie befinden sich unerlaubt in unserem Sonnensystem. Drehen Sie ab oder wir werden Sie zerstören.“
Sanawey hob beschwichtigend die Hände. „Admiral. Hier scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Wir würden gerne mit Ihnen reden. Was ist hier los?“
„Sie haben gehört was los ist. Drehen Sie ab. Ich weiß nicht, woher Sie kommen und mit welchen Tricks Sie arbeiten, aber Sie können uns nicht täuschen. Drehen Sie ab oder Sie werden zerstört werden.“
„Sir...“ Weiter kam Sanawey nicht. Die Verbindung wurde unterbrochen. Fragend sah Sanawey sich um. Niemand schien so recht zu wissen, was man mit dem Gehörten anfangen sollte.
„Rufen Sie sie nochmal, Mr. Reed.“
„Ich versuch’s.“ Er klang wenig optimistisch. Sanawey konnte es ihm nicht verübeln. Was war nur geschehen?
Plötzlich zitterte das Schiff leicht. Der Beschuss hatte begonnen.
„Soll ich das Feuer erwidern?“ erkundigte sich Zien.
„Auf gar keinen Fall. Wir wollen keine Aggressionen zeigen.“
Zien schien damit nicht sonderlich glücklich zu sein, widersprach jedoch nicht.
„Mr. Tworek, Antrieb aus. Halten Sie die Position. Und Mr. Reed, rufen Sie sie weiter. Irgendwann werden sie uns antworten müssen.“
Die Geduld der Crew wurde auf eine harte Probe gestellt. Die fremden Schiffe flogen Angriff um Angriff auf die Republic
. Immer wieder zitterte das Schiff leicht, wurden die Schilde minimal schwächer, aber sonst entstanden keine Schäden. Die Republic
bot ihren Angreifern eine gute Zielscheibe. Das Schiff lag unbeweglich im All und schien ihre Angreifer damit verhöhnen zu wollen. Eine Stunde dauerten die Angriffe, dann war plötzlich Ruhe. Eine fast gespenstische Ruhe. Wie schnell man sich doch an die kleinen Explosionen gewöhnen konnte.
Sanawey sah auf, nachdem er scheinbar eine Unendlichkeit lang auf den Boden vor dem Kommandosessel gestarrt hatte. Nur so hatte er die Ungeduld am besten ertragen können. Dabei schien die Zeit sich gezogen zu haben wie zäher Kaugummi. Irgendwann waren die einzelnen Treffen zu einem einzigen Rauschen verschwommen und er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
„Bericht“, sagte er in die Stille hinein.
Wie Sanawey war es allen ergangen. Erst jetzt lösten sie sich aus ihrer Starre und riefen die Daten ab.
„Schilde bei 89 Prozent“, meldete Reed. „Keine weiteren Schäden. Die Schiffe haben sich außerhalb der Waffenreichweite zurückgezogen und neu formiert. Und... sie rufen uns.“
„Na also.“ Sanawey lächelte humorlos. „Auf den Schirm.“
Wieder erschien Admiral Yulin. Auf seinen Wangen zeichneten sich rote Flecken ab. Offensichtlich hatte er sich über den Verlauf des Kampfes sehr aufgeregt. Er hatte wohl mit einem einfacheren Sieg gerechnet. Kein Wunder, angesichts der Überzahl. „Sie haben unsere Warnungen ignoriert“, polterte er los. „Sie werden uns nun einige Fragen beantworten, vorher dürfen Sie das System nicht verlassen.“
Sanawey war erstaunt über die Dreistigkeit des Admirals. Er hatte soeben eine Niederlage einstecken müssen, ohne dass die Republic
auch nur einen Schuss abgeben hatte. Und doch wirkte er so selbstgefällig wie zuvor, stellte sogar noch neue Forderungen. An Selbstbewusstsein mangelte es dem Mann nicht, im Gegenteil, das grenzte schon an Überheblichkeit.
Allerdings wollte Sanawey die Situation nicht noch verkomplizieren und so gab er scheinbar nach. „In Ordnung. Wie lauten die Fragen?“
„Woher kommen Sie? Sie scheinen Menschen zu sein, aber eine solche Technologie wie die Ihre existiert auf der Erde nicht. Sie sind ein Täuschungsmanöver einer feindlichen Rasse.“
Sanawey wusste nicht, was er sagen sollte. Die Situation wurde immer verwirrender. Yulin kannte die Technologie nicht? Wie konnte das sein? „Admiral, wir sind kein Täuschungsmanöver. Wir stammen alle von der Erde.“ Er sah zu Zien hinüber und ergänzte dann: „Na ja, fast alle.
„Das ist völlig unmöglich.“ Yulin brüllte beinahe. Mit seiner Selbstbeherrschung war es nicht weit her. „Sie halten uns wohl für Narren. Wenn Sie unsere Fragen nicht wahrheitsgemäß beantworten werden wir Sie vernichten.“
„Admiral“, unterbrach Sanawey ihn. Ihm war ein Gedanke gekommen, der ihm gar nicht gefiel. „Bitte entschuldigen Sie uns kurz.“ Dann nickte er Reed zu, der die Verbindung stumm schaltete. Nun konnten sie Yulin nicht mehr hören. Und er sie ebenfalls nicht.
Sanawey wandte sich seinem Wissenschaftsoffizier zu. „Mr. Sohral, wäre es möglich, dass wir in der Zeit zurück geworfen wurden? Und dass wir nun in der Vergangenheit festsitzen? Immerhin hatten wir es mit chronometrischen Partikeln zu tun. Und es gibt meines Wissens nach Wissenschaftler, die behaupten mit diesen Partikeln wären Zeitreisen möglich.“
Sohral zog die rechte Augenbraue an. „Und wie wollen Sie mit dieser These die Unterschiede erklären? Alle bisherigen Erkenntnisse lassen den Schluss zu, dass diese Zeit mit keiner Epoche der Vergangenheit übereinstimmt.“
„Ja, das ist wahr“, gab Sanawey zu. „Wenn allerdings jemand die Zeitlinie verändert hätte...“ Er ließ den Gedanken so stehen und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Reed aktivierte wieder Verbindung.
„Das ist eine Unverschämtheit“, brauste Yalin auf, ehe Sanawey zu Wort kam. „Sie glauben wohl, Sie könnten sich alles erlauben.“
„Admiral“, unterbrach Sanawey ihn relativ grob. Er verspürte keine große Lust mit dem Mann zu diskutieren. „Wir sind tatsächlich von der Erde. Und wir sind alle Offiziere der Sternenflotte. Wir sind in ein Experiment geraten und wissen nicht was passiert ist, hoffen aber, dass wir auf der Erde alles aufklären können. Daher bitten wir um die Erlaubnis zur Erde weiterfliegen zu dürfen.“
„Für wie naiv halten Sie uns eigentlich? Und wenn Sie die Erde erreicht haben werden Sie sie vernichten? Tut mir leid, darauf fallen wir nicht herein.“
„Admiral.“ Sanaweys Tonfall klang, wie wenn er einem kleinen Kind etwas erklären wollte. „Sie haben uns bereits angegriffen. Sie wissen, dass Sie uns nicht aufhalten können. Wenn Sie wollen können wir uns den Weg auch frei kämpfen. Ich würde jedoch gerne darauf verzichten. Sie dürfen uns gerne zur Erde eskortieren. Wir wollen nur mit Ihrem Oberkommando sprechen. Das ist alles. Wenn wir eine Erklärung für all das hier haben werden wir wieder aufbrechen.“
In Yalins Kopf schien es zu arbeiten. Er hatte wohl erkannt, dass er die Republic nicht aufhalten konnte. Und von einer Eskorte konnte er sich wesentlich mehr versprechen als mit einem aussichtslosen Kampf. Zumindest gegenüber seinen Vorgesetzten konnte er damit sein Gesicht wahren. „Sie werden die Position halten“, meinte er schließlich mühsam beherrscht. „Wir werden Kontakt zum Föderationsrat aufnehmen. Dann dürfen Sie mit dem Rat sprechen. Mehr kann ich Ihnen nicht gestatten.“
Sanawey nickte. Das war nicht ganz das was er erwartet hatte, aber immerhin ein erster Schritt. Und Föderationsrat klang doch schon mal ganz gut. Und so vertraut. „In Ordnung. Melden Sie sich, wenn Sie eine Verbindung haben.“
„Das werden wir“, bestätigte Yalin, dann unterbrach er schnell die Verbindung.
„Die ziehen uns doch über den Tisch“, brummte Reed.
„Wir werden sehen“, erwiderte Sanawey knapp. „Und Mr. Sohral, überprüfen Sie die Idee mit der Zeitreise. Ich will wissen woran wir sind.“
Sie wurden auf eine harte Probe gestellt. Die erste Stunde verstrich völlig ereignislos. Die Brückencrew ging stumm und aufs Höchste gespannt ihren jeweiligen Tätigkeiten nach. Die Spannung steigerte sich von Minute zu Minute und wurde irgendwann zu einer richtigen Belastung.
Sanawey vermutete, dass sie noch länger würden warten müssen. Er wusste, dass es nicht sonderlich einfach war, den Föderationsrat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen zu rufen. Daher beschloss er, die Führungsoffiziere in ihre Quartiere zu schicken. Sie sollten versuchen ein wenig zur Ruhe zu kommen. Wer wusste schon, wann es wieder Gelegenheit dazu gab. Allerdings sollten sie sich alle bereithalten um innerhalb weniger Minuten wieder auf ihren Posten zu sein. Inzwischen vertraten die anderen Schichten die Führungsoffizieren. Der Routinedienst kam damit zwar etwas durcheinander, allerdings war durch den hohen Verletztenstand eine anständige Rotation derzeit ohnehin nicht möglich.
Er selbst hatte sich auch in sein Quartier zurückgezogen. Nun lag er auf der Couch, hatte seine Augen geschlossen und versuchte ein wenig zu dösen. Was ihm nicht leicht fiel. Zum einen empfand er die Uniform, die er noch immer trug, ein wenig unbequem im Liegen. Zum anderen kreisten seine Gedanken immer wieder um ihre Situation und die Ereignisse, die dazu geführt hatten. Es gab noch zu viele unbeantwortete Fragen, zu viele unklare Punkte. Das Puzzle passte noch nicht ganz zusammen. Die Teile ergaben noch keinen Sinn. Allerdings war er zuversichtlich, dass das Gespräch mit dem Föderationsrat etwas Licht in die Angelegenheit bringen würde. Solange er jedoch immer daran denken musste, fanden seine Gedanken keine Ruhe. Und an entspannen war damit ohnehin nicht zu denken.
Irgendwann war er dann aber anscheinend doch eingeschlafen, denn als das interne Kom-System summte schreckte er auf und hatte im ersten Moment leichte Orientierungsschwierigkeiten. Er schlief normalerweise nie auf der Couch und so kam ihm die Umgebung im ersten Moment unbekannt vor. Im Alter wird man wohl doch unflexibel, dachte er, aktivierte dann aber schnell den Bildschirm.
„Captain, wir werden von der Intreped
gerufen. Es ist Admiral Yalin“, meldete ihm Watts, die gerade Dienst hatte.
„Ich komme auf die Brücke.“ Damit trat Sanawey aus dem Quartier. Auf dem Weg zum Lift zog er seine Uniform glatt. Ein kritischer Blick nach unten sagte ihm, dass man nicht sah, dass er in Uniform geschlafen hatte.
Vor dem Lift traf er auf Sohral. Dem Vulkanier war wie üblich nicht anzusehen, ob er sich ausgeruht hatte oder nicht. Er wirkte unerschütterlich wie immer.
„Captain“, sprach er Sanawey sofort an. „Ich habe Ihre Idee der Zeitreise nochmals überprüft. Es gibt zwei Punkte, die dagegen sprechen. Zum einen gab es nie eine Epoche, in der es eine terranisch-andorianische Allianz gab.“
Der Lift kam und die beiden traten ein.
„Vielleicht wurde die Vergangenheit durch ein weiteres Ereignis manipuliert“, warf Sanawey ein. „Brücke“, befahl er der Sprachsteuerung des Liftes.
Sohrals einzige Reaktion darauf war das Anheben der rechten Augenbraue. Dann fuhr er unbeirrt fort: „Der zweite Punkt ist, dass ich unsere Sternenkarten mit den Sternenkonstellationen verglichen habe. Das Ergebnis bestätigt zweifellos, dass wir uns immer noch in unserer Zeit befinden. Wir haben also keine Zeitreise unternommen.“
Sanawey nickte nachdenklich. Was wenn...? „Wir haben vielleicht keine Zeitreise unternommen. Aber vielleicht hat jemand anderes mit dem Versuch, die Zeit zu manipulieren, etwas geändert.“
Wäre Sohral kein Vulkanier gewesen Sanawey hätte wetten können, dass Sohral ihn ansah, als hätte er den Verstand verloren. Zu seinem Glück öffneten sich in diesem Moment die Turbolifttüren und sie traten auf die Brücke. Ein schneller Blick auf die Uhr zeigte Sanawey, dass seit dem letzten Kontakt sieben Stunden vergangen waren. Weniger, als er befürchtet hatte.
„Geben Sie Admiral Yalin auf den Bildschirm“, befahl er Watts, während er zum Kommandosessel ging. Allerdings zog er es vor zu stehen.
Yalin schien nicht geruht zu haben, er sah stark übermüdet aus. Mit weniger Kraft in der Stimme als bisher verkündete er: „Captain, der Föderationsrat möchte persönlich mit Ihnen sprechen. Sie erhalten daher die Erlaubnis zur Erde zu fliegen. Wir werden Sie allerdings eskortieren. Wenn Sie Dummheiten begehen, werden wir Sie zerstören.“
Sanawey nickte nur anhand der ohnehin leeren Drohung. Sie konnten der Republic
nichts anhaben, das war bereits bewiesen.
„Bei der Ankunft wird Ihr Schiff in den Standardorbit einschwenken. Sie erhalten Landekoordinaten zu denen Sie sich begeben werden.“
Sanawey fragte sich, woher Yalin wusste, dass ihre Transporter derzeit nicht funktionierten. Daher kamen ihnen Landekoordinaten für ein Shuttle entgegen. „Vielen Dank“, sagte er nur. „Wir werden Ihnen folgen.“
Yalin nickte und dann war die Verbindung unterbrochen. „Mr. Tworek, folgen Sie der Intreped
. Und Mrs. Watts, rufen Sie Lieutenant Brooks. Sie soll im Maschinenraum alles zur Reparatur des Schiffes vorbereiten. Ich hoffe, wir bekommen schnell einen Termin in einem der Docks.“ Er dachte an den Hüllenbruch, den das Schiff am Rumpf hatte. Einen besonders schönen Anblick bot das Schiff zur Zeit wohl nicht. Ihm kam die Republic
im Moment eher vor wie ein stolzer Hirsch, der sich mit einer Verletzung in der Flanke durch den Wald schleppte.
Trotz der Umstände war es doch wie immer ein schöner Anblick die Erde wieder zu sehen. Es blaues, funkelndes Juwel in der dunklen Nacht des Alls. Wolkenfetzen trieben wie weiße Wattebäusche über den Planeten. Im karibischen Meer schien sich gerade ein Tornado zusammen zu brauen. Deutlich war das Auge in dem Wolkenwirbel zu erkennen. Insgesamt wirkte alles so friedlich und harmonisch. Sicher, auch andere Planeten waren von Ozeanen umgeben und wirkten aus dem All blau. Und doch hatte Sanawey das Gefühl, die Erde wäre einfach strahlender als andere Planeten. Vermutlich war es Einbildung, doch er mochte das Gefühl.
„Gehe in geosynchronen Orbit“, meldete Tworek.
Sanawey nickte nur. „Mr. Reed, haben wir die Landekoordinaten?“
„Ja, Sir. Sie wurden bereits an das Shuttle übergeben. Sie landen in der Nähe des Stadtzentrums von Genf.“
„Wie bitte? Wieso denn dort?“ wunderte Sanawey sich. „Der Föderationsrat trifft sich doch normalerweise in Paris.“
„Tja, vielleicht machen sie eine Tagung außerhalb, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen“, erwiderte Reed achselzuckend.
Sanawey blieb skeptisch. Die Erklärung konnte durchaus zutreffen, allerdings schwand seine Zuversicht allmählich. Irgendetwas stimmte hier nicht. „Na schön“, meinte er schließlich. „Mrs. Jackson, Mr. Sohral, Mr. Zien, kommen Sie mit zum Shuttlehangar. Wir werden sehen, ob wir hier einige Antworten erhalten. Mr. Reed, Sie haben das Kommando. Und schauen Sie, ob Sie eine Verbindung zur Sternenflotte herstellen können. Wir brauchen dringend einen Termin im Dock.“
„Äh, Captain“, erwiderte Reed zögernd. „Ich habe mir erlaubt die Docks zu scannen. Ich glaube kaum, dass wir dort hineinpassen.“
„Was meinen Sie? Die Republic
hing bis vor wenigen Tagen noch im Dock.“
„Ja, Sir, ich weiß. Allerdings müssen sie seitdem geschrumpft sein. Alle Docks, die wir im Orbit entdecken konnten sind maximal für Schiffe der NX-Klasse geeignet.“
Schwer die Luft einziehend wandte sich Sanawey dem Lift zu. „Das wird ja immer schöner“, brummte er. Bevor er den Lift betrat wandte er sich nochmal an Reed: „Versuchen Sie trotzdem die Sternenflotte zu kontakten. Vielleicht können die Ihnen erklären, was mit den Docks passiert ist.“
„Ja, Sir“, erwiderte Reed gedehnt.
Schweigend fuhren sie zu viert im Turbolift zum Shuttledeck. Was auch immer sie auf der Erde vorfinden würden, nun würden sie wohl einige ihrer Fragen beantwortet bekommen. Auch im Shuttle wurde kein Wort gesprochen. Die Anspannung war zu groß. Worüber hätten sie jetzt auch reden sollen? Alle Gedanken kreisten um die derzeitigen Geschehnisse, doch sie hätten im Moment nur spekulieren können.
Die Hangartore öffneten sich und Sanawey steuerte das Shuttle sicher ins All hinaus. In einem weiten Bogen näherten sie sich der Atmosphäre.
„Captain.“ Sorahl sah von seinen Instrumenten auf. „Zwei Shuttles einer unbekannten Bauart flankieren uns. Den Scanns nach sind es stark bewaffnete Jäger.“
„Sie trauen uns wohl nicht“, antwortete Sanawey wenig überrascht. „Wir werden Ihnen allerdings keinen Grund geben das Feuer zu eröffnen. Schließlich wollen wir endlich Antworten.“
Gemeinsam mit dem Geleitschutz durchquerten sie die Atmosphäre und landeten danach auf einem kleinen Landeplatz inmitten eines Stadtteils von Genf. Auch die Eskorte war hier gelandet. Einige Soldaten stiegen aus und sicherten den Platz. Offenbar wollten sie vermeiden, dass die Republic
-Crew die Stadt betreten konnte.
Nachdem die Triebwerke abgeschaltet waren erhob sich Sanawey und drehte sich zu seinen Offizieren um. „Na dann“, sagte er, da ihm nichts besseres einfiel.
Jackson öffnete die Türe und trat als erste nach draußen. Die anderen folgen ihr.
Die Sonne strahlte auf den Platz von einem wolkenlosen Himmel. Nur ein leichter Wind wehte durch die wenigen Bäume. Sanawey musste seine Augen mit der Hand abschirmen, da die Sonne schon tief am Horizont stand und ihn blendete. Auch Jackson und Zien kniffen die Augen zusammen. Nur Sohral blieb unbeeindruckt. Die vulkanische Sonne war viel heller und die Vulkanier hatten sich während ihrer Evolution darauf eingestellt.
Auf der anderen Seite des Platzes stand Admiral Yalin. Er gab ihnen ein Zeichen näher zu treten. Sanawey ging darauf ein und gemeinsam gingen sie die wenigen Schritte, die sie von ihm trennten. Die tiefe Sonne hinderte ihn daran die Umgebung genau zu erkennen, doch meinte er aus den Augenwinkeln heraus zu sehen, wie die Soldaten einen Kreis um sie schlossen und näher kamen. Als er seinen Kopf drehte, um genauer sehen zu können, traf ihn etwas an der Schulter. Seine Hand fuhr dorthin und er ertastete einen kleinen Pfeil, der dort in seiner Haut steckte. Er wollte seine Offiziere noch warnen, doch er brachte kein Wort mehr hervor. Ihm wurde schwindelig und er verlor den Halt. Noch bevor er das Bewusstsein verlor sah er, dass auch Jackson in die Knie ging.
Unruhig ging Reed vor dem Kommandosessel auf und ab. Er saß ja eigentlich ganz gern auf dem Kommandosessel und vertrat den Captain. Allerdings nicht gerade in einer solchen Situation. Seit dem Aufbruch des Captains waren mehr als fünf Stunden vergangen. Seitdem hatten sie nichts mehr von dem Außenteam gehört. Auch jeglicher Versuch Kontakt mit ihnen aufzunehmen war gescheitert. Sie reagierten nicht. Lag es daran, dass sie noch mit dem Rat sprachen? Oder gab es andere Gründe? Er war sich fast sicher, dass es andere Gründe waren, denn eine solche lange Funkstille war ungewöhnlich. Der Captain hätte sich gemeldet, wenn abzusehen gewesen wäre, dass es länger dauern könnte.
Auch der Versuch mit dem Verantwortlichen der eskortierenden Schiffe zu sprechen war gescheitert. Die anderen Schiffe wahrten die Funkstille. Und ein allgemeiner Ruf an die Erde blieb ebenfalls unbeantwortet. Sie waren wie taub und blind und wussten nicht, was auf dem Planeten vor sich ging. Was sollte er nun tun? Abwarten? Ein Team hinunter schicken? Die Muskeln spielen lassen und irgendetwas zerstören? Er wusste der Captain würde das nicht für gut befinden, aber er kam sich so hilflos vor, dass er am liebsten auf alles schießen würde, so lange, bis sie ihm zuhörten.
Dazu kam seine persönliche Situation mit Elane. Sie ging ihm aus dem Weg, brachte gerade noch ein Hallo über die Lippen, wenn sie sich über den Weg liefen. Dabei vermisste er sie doch so sehr. Was war nur schief gelaufen? Die Chemie zwischen ihnen hatte doch gestimmt. Und er war sich nach ihrem Verhalten so sicher gewesen, dass sie dasselbe für ihn empfand wie er für sie. Offenbar hatte er sich gründlich geirrt. Und wieder fragte er sich, ob er zu weit gegangen war. Er hätte sie einfach nicht küssen sollen. Dann hätte er sich wenigstens weiter mit ihr getroffen und ihre Gesellschaft genießen können. Er wäre dann weiterhin in ihrer Nähe gewesen. Zwar nur freundschaftlich, doch wäre das immer noch weit mehr als er jetzt hatte. Und da sie ihm aus dem Weg ging konnte er noch nicht einmal mit ihr reden. Und seine Nachrichten ignorierte sie auch. Er konnte nichts tun.
Noch so eine Situation, die er nicht beeinflussen konnte. Und wieder war er hilflos und musste abwarten was passierte.
Schlimm daran war zusätzlich noch, dass sie ihm nicht aus dem Kopf ging. Ihm fiel es außerordentlich schwer sich auf seinen Job zu konzentrieren. Dabei hätte diese Krise seine ganze Aufmerksamkeit nötig, um sie halbwegs unbeschadet zu überstehen.
„Mr. Karanopoulis, noch immer keine Nachricht?“ unterbrach er kurz seine Wanderung, um wieder auf andere Gedanken zu kommen.
„Nein, Sir“, antwortete der Mann, der derzeit seinen Platz an der Ops innehatte.
„Verdammt“, brummte Reed. Und setzte seinen Weg fort.
„Was sollen wir tun, Sir?“ wollte Tworek wissen.
Wenn ich das nur wüsste, dachte Reed, erwiderte aber: „Wir werden noch ein wenig warten und dem Captain mehr Zeit geben.“ Er hoffte, dass er zuversichtlicher klang als er sich fühlte.
„Die halten uns doch zum Narren“, lies Tworek nicht locker. Offenbarte er etwa Emotionen?
„Was meinen Sie?“ ging Reed auf ihn ein.
„Die spielen mit uns. Der Captain könnte längst tot sein und wir verschwenden unsere Zeit mit Warten. Wahrscheinlich arbeiten sie schon an einer Möglichkeit, wie sie uns zerstören können.“
Eindeutig Emotionen, da war sich Reed sicher. Offenbar konnte Tworek seine klingonische Seite nicht leugnen. Und der einjährige Aufenthalt unter Menschen schien ebenfalls abgefärbt zu haben. „Wir werden warten“, betonte Reed nochmals deutlich. „Sie können uns nichts anhaben.“
„Noch nicht. Warum nutzen wir unsere Überlegenheit nicht? Wir können sie zwingen uns zu antworten.“
„Mr. Tworek, halten Sie Ihre Station im Auge. Und beherrschen Sie sich.“ Reed wurde lauter als er wollte, doch er musste den Halbklingonen zum Schweigen bringen. Er konnte es nicht brauchen, dass seine Autorität untergraben wurde. Außerdem traf Tworek den Punkt, über den er auch schon grübelte. Er wollte nicht, dass er womöglich noch nachgab.
Das Zischen der sich öffnenden Turbolifttüren entspannte die Situation. Wendy Brooks kam auf die Brücke gestürmt. „Und, gibt es etwas Neues?“
„Nein“, schüttelte Reed den Kopf. „Der Status ist unverändert.“
Wendy nickte nur und nahm dann an der technischen Station Platz. „Wir haben mit den Reparaturen soweit wie möglich begonnen. Meine Techniker sind gerade dabei, die Sektionen mit den Hüllenbrüchen zu versiegeln. Auf die Art können wir bald die Kraftfelder abschalten und Energie einsparen. Es wird allerdings etwas enger auf dem Schiff.“
Reed nickte. Es war ein Jammer, sie befanden sich in einer Umlaufbahn um die Erde und doch konnten sie keine irdische Einrichtung zur Reparatur nutzen. Es war fast so, als ob sie Lichtjahre von zu Hause weg wären. Oder noch mehr. Sie waren auf sich allein gestellt.
„Commander“, meldete sich Karanopoulis aufgeregt. „Ich habe es geschafft mich in die Nachrichtenkanäle einzuklinken, die von der Erde ausgehen. Wir empfangen eine Nachricht.“
„Endlich“, atmete Reed auf. Alle Köpfe wandten sich Karanopoulis zu. „Von wem ist sie?“
„Nun ja, es ist keine Nachricht an uns, Sir“, entschuldigte sich Karanopoulis. Ihm wurde mit einem Mal klar, dass er sich falsch ausgedrückt hatte und falsche Hoffnungen geweckt hatte. „Es ist der ganze Datenstrom, der ständig um die Erde geschickt wird.“
Reed musste sich beherrschen, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Ist etwas Brauchbares dabei?“
Karanopoulis tippte auf seiner Konsole herum und meinte dann: „Ja, eventuell. Ich lege es auf den Hauptbildschirm.“
Auf dem Bildschirm erschien groß ein Logo und eine Stimme dazu, die verkündete: „Hier ist ECN, Earth Cannel Network, mit einem Sonderbericht direkt aus dem Regierungsgebäude des Präsidenten der Erdföderation.“ Es erschien eine attraktive junge Frau in einem schicken Hosenanzug, die hinter einem Schreibtisch saß. Sie schien so etwas wie eine Nachrichtensprecherin zu sein. „Guten Tag, meine Damen und Herren. Den Erdstreitkräften ist heute ein sensationeller Schlag gegen den Terror gelungen. Den Truppen sind vier Anführer einer der gefährlichsten Terrorgruppen des Planeten ins Netz gegangen. Ihr Ziel war es, so ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, den Präsidenten zu töten, die Regierung zu stürzen und mit einem Putsch selbst an die Macht zu kommen. Der Sprecher fuhr fort, dass die Terrorgruppe nur mit Hilfe Außerirdischer so stark werden konnte. Beweis hierfür sei das fremde Raumschiff, das derzeit von den Erdstreitkräften im Orbit der Erde in Schach gehalten wird. Eine Gefahr gehe von diesem Schiff nun nicht mehr aus.
Mehr über die Ziele dieser Organisation, den geglückten Zugriff und über das weitere Vorgehen erfahren Sie exklusiv auf ECN, dem Nachrichtensender der Erde, nach der Werbung.“
Reed hatte sich langsam in den Kommandosessel gesetzt. Auf der Brücke herrschte eisiges Schweigen. Jeder starrte verwirrt auf den Bildschirm, während dort gerade die Werbung für einen Urlaub auf Risa lief.
„Redet die Dame etwa von uns und unseren Leuten?“ fand Brooks als erstes wieder ihre Worte. Sie war aufgestanden und neben den Kommandosessel getreten.
Reed nickte. „Ja, das hätte ich jetzt auch vermutet. Mr. Karanopoulis, schalten Sie den Ton ab. Und scannen Sie nach weiteren Schiffen im Erdorbit, auf die die Beschreibung der Sprecherin zutreffen könnte.“
„Ja, Sir.“
„Glauben Sie, der Captain ist in Gefahr“, raunte Brooks Reed leise zu. Doch angesichts der Stille auf der Brücke hatte das ohnehin jeder verstanden.
„Sie hat nichts davon gesagt, dass die Gefangenen getötet wurden. Daher gehe ich davon aus, dass sie noch leben. Aber wir sollten uns vorbereiten.“ Er drückte eine Taste auf der Lehne und aktivierte damit das Interkom. „Mrs. Holgrem, stellen Sie ein Rettungsteam zusammen. Sechs Personen, bis an die Zähne bewaffnet und halten Sie sich bereit.“ Er unterbrach die Verbindung wieder und sah Wendy an. „Wie ist der Status der Transporter?“
Brooks seufzte. „Das wird noch einige Stunden dauern.“
„Die Transporter haben oberste Priorität. Mit ihnen sind wir flexibler als mit einem Shuttle.“ Reed klang entschlossen. Wenn sich der Verdacht der Entführung bestätigen sollte, dann konnte er wenigstens etwas tun und musste nicht mehr warten. „Mr. Karanopoulis, aktivieren Sie die Schilde.“ Nach einem fragenden Blick von Brooks fügte er hinzu: „Ich will vermeiden, dass wir etwas an Bord gebeamt bekommen, das wir nicht haben wollen.“
„Ja, Sir“, bestätigte Karanopoulis.
Reed sah wieder zum Bildschirm. Noch immer lief dort Werbung, dieses Mal für einen neuen Schwebegleiter. Für nur neunzigtausend Erd-Dollar. Reed wusste nicht, ob das viel oder wenig war. Da wo er herkam gab es kein Geld mehr. Die Wirtschaft funktionierte anders. Und dass es hier noch Geld gab bedeutete wohl auch, dass es noch immer arme und reiche Menschen gab.
Als er das Symbol des Senders erkannte befahl der Karanopoulis den Ton wieder einzuschalten.
„...Network, mit einem Sonderbericht direkt aus dem Regierungsgebäude des Präsidenten der Erdföderation.“ Wieder erschien die Frau vor ihrem Schreibtisch. „Willkommen zurück. Den Streitkräften ist heute ein Schlag gegen den globalen Terror gelungen. Vier Anführer einer gefährlichen Terrorgruppe, die offenbar von Außerirdischen unterstützt wurde, sind gefangen genommen worden. Wir schalten nun live zu meiner Kollegin Cara O'Neal ins Regierungsgebäude nach Genf.“ Der Bildschirm wurde geteilt und auf der linken Hälfte erschien eine weitere Frau, die ein kleines Mikro in der Hand trug und geduldig in die Kamera schaute. „Cara, können Sie uns näheres mitteilen?“
„Hier im Präsidentenpalast wurde uns vor einigen Minuten exklusiv Auskunft gegeben. Demnach sind die vier Gefangenen am Leben und werden derzeit von Spezialisten verhört. Es handelt sich um zwei Menschen, einen Mann und eine Frau, sowie einen Andorianer und einen männlichen Vertreter einer bisher völlig unbekannten Rasse. Diese Rasse ist es denn auch, die wohl ein Interesse daran hat, die Verhältnisse auf der Erde zu destabilisieren“, wusste die Frau wichtig zu berichten.
„Weiß man näheres über die beiden Menschen? Und welche Rolle spielte der Andorianer? Könnte die andorianische Regierung mit in die Verschwörung involviert sein?“ wollte die Frau im Nachrichtenstudio wissen.
„Bei dem Mann handelt es sich nach unseren Informationen um einen Nachfahren nordamerikanischer Ureinwohner. Wo die Frau herkommt ist derzeit noch unbekannt. Die Rolle des Andorianers ist zur Stunde ebenfalls noch völlig offen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die andorianische Regierung den Terror auf der Erde unterstützt. Die Allianz zwischen der Erde und Andoria ist stabil, das hat ein Regierungsvertreter auch noch einmal bekräftigt.“
„Wissen Sie etwas über den Vertreter der unbekannten Rasse? Wie sieht er aus?“
„Hierzu wurden uns leider keine Angaben gemacht. Wir können daher nur spekulieren“, gab sie ausweichend zur Antwort.
„Vielen Dank, Cara O’Neal, wir werden später sicherlich nochmals zu Ihnen schalten.“ Das Bild wechselte wieder. Gezeigt wurde nun wieder das Studio in voller Größe. Ein grauhaariger Mann mit Nickelbrille hatte sich inzwischen an den Tisch gesetzt. Die Frau wandte sich ihm zu. „Bei mir im Studio ist jetzt Perry Lavoie, Terrorismusexperte und Berater der Regierung. Mr. Lavoie, wie ist der gelungene Coup zu deuten?“
„Nun ja, es ist wohl so, dass einer der mächtigsten Terrorgruppen der Kopf abgeschlagen wurde. Die Gruppe ist nun erst einmal handlungsunfähig. Das darf man sehr wohl als Erfolg ansehen.“ Er sprach bedächtig und wohl überlegt. „Allerdings darf man sich darauf nicht ausruhen. Nun muss der nächste Schlag erfolgen, bevor sich die Gruppe erholt und sich neue Anführer finden.“
„Spielen Sie damit auf das Raumschiff im Orbit an? Ist es eine Gefahr?“
„Ja, darauf wollte ich hinaus.“ Seinem Gebaren nach schien er sich sehr wichtig zu fühlen. „Und ja, es ist eine Gefahr, die nicht zu unterschätzen ist. Hier haben die Feinde der Freiheit und der Demokratie ganze Arbeit geleistet. Sie haben ein Raumschiff konstruiert, das auf den ersten Blick irdisch sein könnte. Doch es steckt so voller fremdartiger Waffen und Technologien, dass sofort klar ist, das ist keines unserer Schiffe. Sie wollten uns Einschüchtern, in dem sie ein großes Schiff bauen. Immerhin ist das Schiff doppelt so groß wie die Schiffe der NX-Klasse. Das ist eine enorme Leistung für eine Terrorgruppe und zeigt uns, wie gefährlich und wie mächtig diese Gruppen geworden sind. Sie sind mehr denn je eine Bedrohung für unsere Sicherheit. Ohne die Hilfe Außerirdischer wäre eine solche gewaltige technologische Leistung für eine Terrorgruppe völlig unmöglich gewesen. Hätte man jetzt nicht die Anführer der Gruppe gefasst, so hätte dies die größte Gefahr für die Erde seit dem Tellaritenkrieg werden können.“
„Was geschieht nun mit dem fremden Schiff?“
„Derzeit wird es von unseren Streitkräften in Schach gehalten und ist keine Bedrohung mehr. Allerdings haben sich die Terroristen in dem Schiff verschanzt und wollen sich nicht ergeben.“
„Wieso wird dieses Schiff nicht einfach zerstört? Dann wäre die unmittelbare Gefahr doch gebahnt.“
Lavoie lächelte nachsichtig ob dieser Frage. Es war sicher nicht sein erstes Gespräch dieser Art und er wusste, dass Journalisten die unmöglichsten Fragen stellen, oft einfach nur, damit auch der dümmste Zuschauer alles verstand. „Um einen Feind bekämpfen zu können muss man ihn verstehen“, erklärte er. „Dieses Schiff repräsentiert gewissermaßen unseren Feind. Es studieren zu können würde uns mehr über ihn wissen lassen. Und das wiederum können wir einsetzen. Außerdem wissen Sie sicherlich, wie teuer es ist ein Raumschiff dieser Größe zu bauen. Wenn uns nun ein solches Schiff in die Hände fällt, dann dürfen wir es nicht einfach zerstören. Und wie ich schon sagte, es wird von unseren Streitkräften umzingelt und ist keine Gefahr mehr.“
„Das ist schön zu hören.“ Sie lächelte beruhigend in die Kamera. „Doch was ist das Ziel der Terrorgruppen? Weshalb sollte jemand versuchen die frei gewählte Regierung der Erde zu stürzen?“
„Nun, wir dürfen hier nicht mit einem gesunden Menschenverstand an die Frage heran treten“, begann Lavoie seine Antwort. „Diese fehlgeleiteten Individuen sind fasziniert vom Chaos und der Anarchie. Sie genießen die Angst und den Schrecken, die sie verbreiten. Es geht ihnen nicht darum, eine eigene Regierung einzusetzen. Sie wollen nur Angst verbreiten und Menschen töten. Die meisten von ihnen sind von Außerirdischen fehlgeleitet worden und können nun nicht mehr richtig erkennen, wer der wahre Feind ist. Sie werden zu Verrätern an der menschlichen Rasse, ohne dass ihnen das richtig bewusst ist. Und daher müssen wir diesen Menschen helfen und sie wieder auf die richtige Bahn bringen.“
„Aber was bezwecken die Außerirdischen damit?“
„Sehen Sie, die Menschheit fliegt nun seit knapp zweihundert Jahren ins All. Wir haben es trotz aller Widrigkeiten geschafft. Und wir sind damit schneller gewesen als alle anderen Rassen. Die Andorianer zum Beispiel waren bereits seit sechshundert Jahren zur Raumfahrt in der Lage. Doch kamen sie die ersten vier Jahrhunderte nicht aus ihrem Sonnensystem heraus. Das zeigt doch, wie überlegen wir Menschen sind. Und nun überlegen Sie mal weiter: Wenn die Entwicklung weiterhin so rasant verläuft wie in den letzten Jahrhunderten, wo werden wir dann in einem Jahrhundert stehen? Oder in zweien? Das sehen die anderen Völker natürlich auch. Und sie fürchten uns. Dazu kommt, dass sie die Erde gerne selbst nutzten würden. Schauen Sie sich nur unseren schönen Planeten an. Und dann vergleichen Sie in zum Beispiel mit Andoria. Andoria selbst ist ein Gasriese. Nur auf einem der Monde, der annähernd die Größe der Erde hat, ist Leben entstanden und möglich. Es ist eine Eiswelt. Oder nehmen Sie Denobula. Dort sind nur zehn Prozent der Oberfläche Landmassen. Daher müssen die meisten Denobulaner in künstlichen Gebilden unter der Wasseroberfläche leben. Da kann man leicht Verstehen, dass Neid entsteht. In einem offenen Krieg mit uns wären die anderen Völker unterlegen, das haben wir bereits bewiesen.“
„Sie meinen den Tellarietenkrieg“, warf die Frau ein.
„Richtig. Und die Unterwerfung der Denobulaner. Außerdem halten wir die Klingonen in Schach. Daher wird uns niemand offen angreifen. Und daher greifen die Außerirdischen auf diese Methoden zurück und unterstützen den Terror. Nur so können sie hoffen, die Erde zu destabilisieren und uns eines Tages so zu schwächen, dass sie uns besiegen können. Allerdings haben sie nicht mit dem Erfindungsgeist der Menschen gerechnet. Daher laufen uns die Terroristen immer wieder in die Falle.“
„Und das ist auch gut so.“ Sie wandte sich von ihrem Gast ab und sah wieder direkt in die Kamera. „Wie geht es nun weiter mit dem Terror? Mit was müssen wir als nächstes rechnen? Und was kann jeder einzelne tun? Das und noch mehr, nach der Werbung.“
Reed hatte sich zurück gelehnt und die Hände vor dem Gesicht gefaltet. Aufmerksam hatte er dem Wortwechsel zugehört. Was für eine verdrehte Welt. Sicherlich ein Paradies für Verschwörungstheoretiker. Nur, wie sollten sie das nutzen?
„Faszinierend“, sagte Tworek. „Die Menschen dieser Welt scheinen nach allen Regeln der Kunst belogen zu werden.“
„Ja, das sieht so aus. Da gehört einiges an Phantasie dazu uns nach so kurzer Zeit als Terroristen zu bezeichnen“, ergänzte Wendy Brooks. „Das ist wohl ein klassischer Fall von Propaganda.“
„Ich finde es viel interessanter, dass sie der Meinung sind, uns außer Gefecht gesetzt zu haben“, meine Reed. „Vielleicht sollten wir eines ihrer Schiffe abschießen, um ihnen zu zeigen, dass wir noch da sind.“
„Und damit unser Außenteam in Gefahr zu bringen?“ wandte Brooks ein.
Reed schloss kurz die Augen. „Nein, natürlich nicht. Wenn sie uns wirklich für besiegt halten können wir sie überraschen. Diesen Trumpf möchte ich nicht aufgeben. Allerdings ist die Idee mit dem Rettungsteam auch erst einmal gestorben. Sie werden mit Sicherheit jedes Shuttle abschießen, das die Republic
verlässt. Und unsere Shuttles können nicht so viele Treffer einstecken wie das Schiff. Das heißt, wir brauchen die Transporter. Unbedingt.“
„Wir arbeiten daran“, gab Brooks knapp zurück.
„Gut. Mr. Karanopoulis, schalten Sie diesen Mist ab, aber lassen Sie den Computer sämtliche Sendungen der Erde überwachen. Vielleicht erhalten wir ja ein paar Informationen über den Aufenthalt des Außenteams.“
„Ja, Sir.“
Reed starrte auf den Bildschirm, der nun wieder die Erde zeigte. Nun hieß es erneut: warten.
Sanaweys Hände schmerzten. Die Fesseln, die seine Hände hinter dem Stuhl zusammen hielten, waren eng. Und bei dem Versuch, sich davon zu befreien, hatte er sich die Fesseln ins Fleisch geschnitten. Seine Füße waren an die Beine des Stuhles gebunden, so dass er zu keiner Bewegung fähig war. Eine Flucht war damit erst einmal ausgeschlossen.
Er konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung. Er saß mitten in einem dunklen Raum, nicht allzu groß. Direkt vor ihm befand sich eine stahlgraue Türe. Doch bisher war noch niemand hindurch gekommen. Er konnte sich auch nicht erinnern, wie er hierhergekommen war. Das letzte, an das er sich noch erinnern konnte, war, dass er auf dem Platz in Genf stand, umringt von Soldaten. Etwas hatte ihn an der Schulter getroffen, dann war er in die Knie gegangen und hatte das Bewusstsein verloren. Das nächste, an das er sich wieder erinnern konnte war, wie er hier aufwachte, gefesselt an den Stuhl. Das schien vor Stunden gewesen zu sein. Doch bisher hatte sich niemand um ihn gekümmert. Auch auf seine Rufe hatte es keinerlei Reaktionen gegeben. Er wusste nicht, was hier vorging, wer ihn gefangen genommen hatte. Er wusste nicht, wo sich die anderen befanden und wo er sich eigentlich befand. Er wusste nur, sie waren hereingelegt worden. Doch warum? Und von wem?
Endlich öffnete sich die Tür. Ein komplett in schwarz gekleideter Mann betrat den Raum. Er musste Mitte vierzig sein. Sein Haar begann bereits grau zu werden. Seine Gesichtszüge wirkten hart, er hatte nichts Freundliches an sich. Er hatte einen Klapptisch mitgebracht, denn er nun schweigend vor Sanawey aufstellte, dann setzte er sich auf einen Klappstuhl, den er ebenfalls mitgebracht hatte. Er stellte ein kleines Mikrophon auf den Tisch und sah Sanawey dann an. Ohne ein Wort zu sagen.
Sanawey kam die Situation einfach bizarr vor. Der Mann verzog keine Miene, saß einfach nur schweigend da und fixierte ihn. „Lassen Sie mich auf der Stelle frei“, sagte Sanawey schließlich.
„Das können wir nicht. Noch nicht“, antwortete der Mann.
„Wer sind Sie? Und was wollen Sie?“ Sanawey wollte unbedingt das Gespräch in die Hand nehmen.
„Mein Name tut nichts zur Sache.“ Der Mann legte seine Hände auf den Tisch. Sanawey fiel auf, dass er schwarze Handschuhe trug. „Und wir wollen Informationen. Wie ist ihr Name?“
Sanawey sah in eine Ecke des Raumes und schwieg.
„Wir können es auf die harte Tour machen oder auf meine. Es liegt bei Ihnen.“
In Sanaweys Kopf arbeitete es. Komplett auf stur zu schalten war sicherlich keine Lösung. Zwar war er sich sicher, dass die Republic
irgendwann nach ihnen suchen und sie retten würde. Aber er war schließlich auch hier um selbst Antworten zu bekommen. Und die waren diesem Mann vielleicht zu entlocken. Allerdings nicht durch stures Schweigen. Gerade als der Mann aufstehen wollte sah Sanawey ihn wieder an. „Mein Name ist Sanawey, ich bin Captain der Sternenflotte und Kommandeur des Föderationsraumschiffes Republic
.“
Die Mundwinkel des Mannes zuckten leicht nach oben. „Na also, es geht doch. Woher kommen Sie?“
„Von der Erde.“
„Wieso sind Sie hier?“
„Das wüsste ich auch gerne.“
„Beantworten Sie meine Frage“, wies er Sanawey kühl an.
„Das kann ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, wo hier eigentlich ist.“
„Woher stammt die Technologie Ihres Schiffes?“ ging er die nächste Frage in seiner vorbereiteten Fragenliste einfach weiter.
Sanawey schwieg einen Moment. Wie sollte er das erklären? „Wir haben sie durch Fortschritt und Forschung entwickelt.“
„Was für eine Rolle spielt der Andorianer in Ihrem Team?“
„Er ist mein stellvertretender Sicherheitschef.“
„Sind noch mehr Andorianer auf Ihrem Schiff?“
„Nein.“
„Hat die andorianische Regierung Ihnen den Mann zugewiesen?“
Sanawey kniff die Augen zusammen. Was sollte diese Frage? Er erinnerte sich an die Worte von Admiral Yalin. Terranisch-andorianische Allianz. So harmonisch lief das Ganze aber wohl doch nicht. „Sie trauen den Andorianern nicht“, stellte er fest.
„Beantworten Sie meine Frage“, erwiderte der Mann völlig ruhig.
„Nein, hat sie nicht.“
„Woher stammt der Mann mit den spitzen Ohren.“
Nun war Sanawey ehrlich überrascht. „Sie kennen diese Spezies nicht?“ Wie war das nur möglich? Vulkan lag nicht allzu weit von der Erde entfernt. Selbst mit den hier existierenden Warp-5-Schiffen war das quasi um die Ecke.
„Woher stammt der Mann?“ wiederholte der Fragende.
„Vom Planeten Vulkan.“
„Wo liegt dieser Planet?“
Langsam schüttelte Sanawey den Kopf. „Nein, das werde ich Ihnen nicht sagen.“
„Was waren Ihre Absichten hier?“
„Wir wollten erfahren, was hier vor sich geht. Wo wir sind und was passiert ist.“
„Präzisieren Sie das.“
„Nein.“
Der Mann sah ihn kurz an. „Befehlen Sie Ihrem Schiff sich zu ergeben und der Mannschaft es zu verlassen. Übergeben Sie es an uns.“
Sanawey lächelte. „Glauben Sie wirklich, das werde ich tun?“
Wieder sah der Mann ihn an. Er verzog keine Miene, es war nicht zu erkennen, was er dachte. „Nein. Aber Sie sollten es tun, da ansonsten Ihre Kollegen darunter zu leiden haben. Und mit der Frau fangen wir an.“
Sanawey fiel auf, dass die Türe hinter dem Mann noch immer offen stand. Der Gang dahinter war dunkel, so dass nichts zu erkennen war. Plötzlich durchschnitt ein grausamer Schrei die Stille. Der Schrei fuhr ihm durch alle Glieder. Er kam eindeutig von einer Frau.
„Sie Schwein“, brüllte Sanawey und zerrte an seinen Fesseln. Vergeblich.
Der Mann stand auf, klappte in Ruhe den Tisch und den Stuhl zusammen und hob beides hoch. „Ich komme wieder, wenn sie kooperativer sind.“
„Binden Sie mich los“, rief Sanawey ihm hinterher. „Sie Feigling. Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen.“ Dann fiel die Türe zu. Sanawey atmete heftig. Seine Gedanken rasten. Was hatten sie mit Jackson gemacht? Eigentlich spielte das keine Rolle, denn er würde niemals den Befehl zur Übergabe der Republic
geben. Trotzdem beschäftigte sich sein Geist mit der Frage. Und es gab nichts, was ihn davon ablenken konnte. Nur den dunklen Raum und die Erinnerung an den Schrei den er gehört hatte. Damit war ausreichend Material vorhanden um ihn zu beschäftigen, bis der Mann wieder kam.
Im Maschinenraum wurde die lange Wartezeit genutzt, um die nötigsten Reparaturen durchführen zu können. So konnten sie die Zeit sinnvoll nutzen. Allerdings waren die Möglichkeiten der Ingenieure begrenzt. Nicht alle benötigten Ersatzteile waren im Lager vorhanden. Bestimmte Komponenten konnten sie nur in einer Werft der Föderation erhalten. Doch diese waren verschwunden, ebenso wie die dazugehörige Technologie. So musste viel improvisiert werden. Nicht benötigte Systeme wurden abgeschaltet und deren Teile für die Reparatur verwendet. Das führte zwar zu einer Verringerung des Komforts an Bord, aber damit konnten sie leben.
Doch auch mit diesen Maßnahmen war es unmöglich, alle Schäden zu beheben. Die Hüllenbrüche mussten von den Reparaturmaßnahmen völlig ausgeschlossen werden. Zum einen, weil für die großen Flächen eine Werft mit schwerem Gerät benötigt wurde, zum anderen, weil in der derzeitigen heiklen Lage ein Außeneinsatz am Schiff ausgeschlossen war.
So herrschte vor allem im Maschinenraum geschäftige Hektik. Die Ingenieure gingen zumeist still ihrer Arbeit nach. Reparaturteams, die Schäden im ganzen Schiff reparierten, kamen und gingen. Trotzdem war es eine koordinierte Hektik, die professionell abgewickelt wurde. Chefingenieurin Wendy Brooks hatte ihre Teams gut eingeteilt und somit für höchste Effizienz gesorgt. Inzwischen konnte auch sie sich der eigentlichen Arbeit zuwenden, da derzeit keine Koordinationsaufgaben anfielen.
Plötzlich hallte ein lauter Fluch durch den Maschinenraum und ließ die Ingenieure in ihrer Arbeit innehalten. Umständlich kam Wendy Brooks aus einer der Verbindungsröhren gekrochen, die den Zugang zu verschiedenen Leitungen gewährten, die quer durch das Schiff liefen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und weiteren Flüchen auf den Lippen kam sie auf die Beine. Ihre Hände streckte sie dabei vor sich aus, um nirgendwo mit ihnen anzustoßen. Beide Hände waren feuerrot und blutig. Blasen hatten sich auf der Haut gebildet.
„Mrs. Kruger, drehen Sie die Energiezufuhr zu Leitung 534 ab. Das Provisorium hält nicht“, rief sie einer Kollegin zu, die vor einer der Konsolen stand und die Anzeigen studierte.
Die Gerufene erholte sich langsam von ihrem Schreck und tat wir ihr geheißen. Dass ihre Chefin so fluchen konnte war ihr bisher noch nicht unter gekommen. Erst dann bemerkte sie die Verletzungen, die Brooks hatte.
„Meine Güte“, entfuhr es ihr entsetzt.
„Ja, nicht schön“, gab Brooks mit zusammengebissenen Zähnen zurück.
Kruger stellte sofort eine Verbindung zur Krankenstation her und rief ein Notfallteam in den Maschinenraum. Dann sah sie wieder zu Brooks. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“ fragte sie unsicher.
Brooks starrte auf ihre Hände. Die Schmerzen ließen langsam nach. Allerdings war das aufgrund des Zustandes ihrer Hände wohl eher ein schlechtes Zeichen. „Nein“, sagte sie schließlich. Dann fiel ihr Blick wieder auf die Verbindungsröhre. „Sperren Sie Leitung 534. Niemand darf den Plasmafluss wieder öffnen, solange die Leitung nicht ordnungsgemäß repariert wurde.“
Kruger nickte und trat wieder an ihre Konsole, um den Befehl auszuführen.
Nur wenige Augenblicke später kam das medizinische Notfallteam herein. Elizabeth Williams war persönlich dabei. Ihr Blick fiel sofort auf die Hände der Chefingenieurin. „Was ist passiert?“ wollte sie wissen.
„Wir haben eine Plasmaleitung repariert. Zumindest provisorisch. Leider hat es nicht so funktioniert, wie ich dachte.“ Sie verzog das Gesicht. „Die Nahtstelle ist gebrochen und das Plasma hat sich entzündet.“
Während Brooks erzählte holte die Ärztin ein Hypospray aus ihrer Tasche und verabreichte es Brooks. Sofort ließen die Schmerzen vollends nach. Dann nahm Williams ihren Scanner und besah sich die Verbrennungen genauer.
„Du hattest Glück, dass es nur deine Hände getroffen hat. Ein Plasmafeuer in einer der Röhren hätte auch leicht anders ausgehen können“, sagte Williams während der kurzen Untersuchung.
Wendy Brooks war sich auch ohne die Ermahnung Elisabeths der Gefahr bewusst, in der sie sich befunden hatte. Wäre es zu einer Verpuffung des Plasmas gekommen, dann hätte das Feuer die gesamte Röhre ausgefüllt. Eine Chance zu entkommen hätte es dann nicht mehr gegeben. Im Mindesten hätte sie schwerste Verbrennungen davon getragen, wenn es sie nicht gar getötet hätte. Von daher schätzte sie sich glücklich, dass es nur ihre Hände erwischt hatte. Und mit dem Stand der Medizin und Dr. Williams‘ Fähigkeiten war sie sich sicher, dass sie bald wieder in Ordnung war.
„Irgendjemand musste die Leitung reparieren“, antwortete Brooks. „Wir hatten aber leider nicht mehr die passenden Teile dazu. Daher waren wir gezwungen zu improvisieren. Ich musste das selbst machen, um zu sehen, wie es funktioniert.“
„Ja, das hast du ja jetzt gesehen“, gab Elizabeth spitz zurück.
Brooks lächelte schief. „Nicht nur gesehen.“
Williams sah von den Anzeigen ihres Scanners auf. „Bedank dich bei deinem Schutzengel. Er hat heute Überstunden gemacht. Deine Hände weisen zwar schwere Verbrennungen auf, aber die sind oberflächlich. Die Hände sind noch intakt. Und nach der Heilung wirst du keine Folgeschäden davon tragen.“
Die Chefingenieurin atmete kaum merklich auf. Auch wenn sie tat, als ob es ihr nichts ausmachte und sie nur ihren Job gemacht hatte, die Angst, ihre Hände nicht mehr richtig gebrauchen zu können, war trotzdem vorhanden gewesen.
„Du kommst aber trotzdem noch mit auf die Krankenstation. Ich muss deine Hände noch behandeln, um zu vermeiden, dass die Verbrennung sich weiter voran arbeitet.“
Wendy nickte, stand auf und ging mit Elizabeth zur Krankenstation. Ihr war klar, dass eine unbehandelte Verbrennung das umliegende Gewebe weiter schädigen würde und die Verletzung sich so noch etwas ausbreitete, bis die Verbrennungen abkühlten.
Auf der Krankenstation verabreichte die Ärztin Brooks erst einmal ein Mittel, das die Verbrennungen lindern sollte. Es breitete sich im Blutkreislauf aus und kühlte von innen her. Dann musste sich Brooks einer knapp zweistündigen Behandlung unterziehen, die ihre beschädigten Zellen auf subatomarer Ebene reparierte. Es war zwar keine schmerzhafte Behandlung, aber eine äußerst langweilige, wie Brooks empfand. Sie konnte nichts weiter tun als dazusitzen und ihre Hände ruhig auf dem Operationstisch vor ihr liegen zu lassen. Sie durfte sich nicht bewegen, da sowohl der Scanner wie auch der hochauflösende Laser nur dann zuverlässig arbeiten konnten, wenn das Objekt der Behandlung sich nicht rührte. So musste sie zwei Stunden still sitzen, was ihr überaus schwer fiel. Wenn es wenigstens ihre Füße gewesen wären, dann hätte sie ein Buch halten und lesen können. Doch so verging die Zeit scheinbar wie in Zeitlupe. Aber sie schaffte es dann doch und auch der Alarm, der bei einer zu heftigen Bewegung ertönte, war nur zweimal zu hören gewesen.
Kritisch schaute Williams sich nochmals die Hände an. Sie drehte sie und betrachtete sie genau, obwohl äußerlich rein gar nichts mehr zu sehen war. Die Behandlung hatte sämtliche Zellschäden repariert. Trotzdem nahm Williams für die Untersuchung auch noch einen Scanner zu Hilfe, nur um ganz sicher zu gehen, dass sie auch wirklich nichts übersehen hatte. Schließlich sah sie zufrieden auf.
„Es ist alles in Ordnung. Du wirst vielleicht noch ein paar Schmerzen empfinden, wenn das Hypospray nachlässt. Das ist aber normal. Solche Phantomscherzen sind nach solchen Verletzungen üblich, da das Gehirn eine so plötzliche Heilung nicht so schnell verarbeiten kann.“
„Elizabeth, ich weiß“, winkte Wendy lächelnd ab. „Es ist nicht meine erste Verbrennung.“
Williams sah sie einige Augenblicke an, lächelte dann aber auch. „Richtig. Okay, dann bist du entlassen. Sei aber trotzdem etwas vorsichtiger. Und komm vorbei, falls etwas sein sollte.“
„Natürlich“, nickte Brooks. „Vielen Dank. Aber jetzt wartet noch ein wenig Arbeit auf mich.“ Bevor Elizabeth etwas dazu sagen konnte war sie verschwunden. Nicht, dass die Ärztin ihr noch eine Zwangspause verordnete. Dazu hatte sie einfach keine Zeit.
Kopfschüttelnd sah Williams ihr nach. Sie wusste sehr wohl, warum Brooks sich so schnell aus dem Staub gemacht hatte. Dabei hätte eine Pause ihr sicherlich gut getan. Immerhin war sie schon viel zu lange auf den Beinen. Aber Williams wusste auch, dass die Chefingenieurin keine Ruhe finden würde, bis nicht alles wieder funktionierte. Das Schiff war wie ein Teil von ihr und sie konnte es einfach nicht sehen, wie ihr Baby beschädigt war. Außerdem wollte sie Sanawey das bestmögliche Schiff bieten, wenn er wieder an Bord war. Und die Arbeit lenkte sie von den Sorgen um den Captain ab, mit dem sie ja auch eine gute Freundschaft verband.
„Dr. Williams?“ riss sie eine leise Stimme hinter ihr aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um. Vor ihr stand eine dunkelhaarige Frau, die sich unsicher umsah. Sie war etwas kleiner als die Ärztin und hatte eine zierliche Figur. Elizabeth war sich sicher, die Frau zu kennen. Dann fiel es ihr wieder ein. Es war Sandra Hill. Sie war eine der Assistentinnen im Maschinenraum und hatte unter den Ereignissen des letzten Jahres mehr gelitten als die meisten anderen. Sie war lange in psychiatrischer Behandlung gewesen und hatte auch jetzt noch regelmäßige Sitzungen bei Dr. Bozman. Bis zuletzt war nicht sicher gewesen, ob sie überhaupt mit auf die Mission kommen würde. Aber die Psychologen hatten dann kurzfristig ihre Zustimmung erteilt, unter dem Vorbehalt, dass sie auch an Bord regelmäßige Sitzungen mit dem Bordcounselor durchführte. Daher befand sie sich nun wieder mit an Bord. Wie sie mit der derzeitigen Situation zurechtkam, entging allerdings Williams‘ Kenntnissen.
„Hallo Mrs. Hill“, grüßte die Ärztin freundlich. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ist Mr. Real hier? Ich habe gehört, er wäre hier.“ Unsicherheit lag in ihrer Stimme. Wieso war sie nervös, Elizabeth galt doch als ganz umgänglich?
„Ja, er liegt dort hinten“, deutete Williams ihr den Weg. „Allerdings ist er derzeit nicht ansprechbar. Er liegt im Koma.“ Sorgenfalten bildeten sich auf der Stirn der Ärztin.
„Wie schlimm ist es?“
„Das kann ich derzeit noch nicht sagen. Wir werden abwarten müssen.“ Elizabeth Williams wollte nicht zu viele Auskünfte geben. Sie wusste nicht, wie Hill zu George Real stand. Und es war nicht ihre Art Informationen über ihre Patienten an Unbeteiligte Dritte weiterzugeben.
„Kann ich zu ihm?“ wollte Hill wissen.
„Natürlich“, gab Williams ihr den Weg frei. Sie musste ihre Neugier zügeln. Zu gerne hätte sie gewusst, was Real mit Hill zu schaffen hatte und welche Verbindung es zwischen den beiden gab. Doch ging sie das nichts an, daher sah sie Hill nur kurz nach, ging dann aber in ihr Büro.
Sandra Hill trat zögernd an den Vorhang, der Real vom Rest der Krankenstation abschirmte. Damit sollte seine Privatsphäre respektiert werden und zudem sollte es ihn vor allzu neugierigen Blicken schützen. Sie schob den Vorhang so zur Seite, dass sie hinein kam, Real aber trotzdem noch vor Blicken geschützt war. Sie trat an sein Bett und sah ihn an. Er wirkte blass. Seine sonst so kräftig dunkle Haut war heller als üblich. Er hatte die Augen geschlossen. Eine Maschine beatmete ihn künstlich. Offenbar war es schlimmer, als Williams sie hatte glauben lassen wollen.
„Hallo George“, sagte sie leise. „Ich bin es. Sandra. Sandra Hill. Ich nehme an, du erinnerst dich.” Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht zur Anzeige der Systeme. Noch immer piepste das Lebenserhaltungssystem in regelmäßigen Abständen. Unverändert. Aber was hatte sie auch erwartet? Dass er beim Erkennen ihrer Stimme aufwachen würde?
„Ich dachte, ich sehe mal nach dir“, fuhr sie in ihrer einseitigen Unterhaltung fort. „Übrigens, das mit der Glatze gefällt mir. Steht dir. Vielleicht kannst du mir ja irgendwann sagen, seit wann du das so hast. Und was du überhaupt so getrieben hast, im letzten Jahr. Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Sie stockte und sah ihn an. Was sollte sie sagen? Sie wollte ihm so viel sagen. Aber machte das jetzt Sinn, wenn er es ohnehin nicht mitbekam? Aber vielleicht war es auch gerade dann möglich. Sie war es los und ob er es verstand, war wahrscheinlich ohnehin nicht von Bedeutung. „Wieso bist du mir damals aus dem Weg gegangen? Was hatte ich dir getan? Und wieso hast du nie auf meine Kontaktaufnahmen reagiert?“ Sie dachte an das letzte Jahr. Nach dem Angriff der Adrac auf das Schiff hatte er ihr wieder Hoffnung gegeben, nachdem sie davon überzeugt gewesen war sterben zu müssen. Die daraufhin aufkeimenden Gefühle zwischen ihnen hatte er ganz plötzlich zunichte gemacht, ohne je zu erklären warum. Das hatte sie tief getroffen. Zuerst wusste sie nicht, was sie machen sollte. Aufgrund des Erlebten war sie ohnehin kaum in der Lage ihre Gefühle zu ordnen oder mit irgendwas zurecht zu kommen. Nachdem sie zurück auf der Erde waren und sie die Behandlung begonnen hatte, war nach und nach ihr Vertrauen zu sich selbst wieder zurückgekehrt. Und nach drei Monaten hatte sie es soweit geschafft, dass sie versucht hatte Kontakt zu Real aufzunehmen. Doch er hatte alles abgeblockt und war nicht bereit gewesen mit ihr zu reden. Ihr war klar, sie musste irgendetwas falsch gemacht haben, doch war sie sich keiner Schuld bewusst. Und er hatte es ihr nie erklärt. Hätten ihre Vorgesetzten ihr nicht befohlen, wieder an Bord der Republic
zu kommen, sie hätte allein wegen Real das Schiff gewechselt.
Und nun lag er hier vor ihr, halb tot. Er konnte zwar nicht mehr vor ihr davonlaufen, aber er konnte ihr auch keine Fragen beantworten. Hatte sie seine sture Weigerung, mit ihr zu reden, schon fast um den Verstand gebracht, machte sie sich nun Sorgen, weil es ihm schlecht ging. Und sie konnte wieder nichts tun. „Ich würde wirklich zu gerne wissen, wieso du mir vor einem Jahr so plötzlich den Rücken zugekehrt hast. Ich hätte dich gebraucht. Und ich hatte geglaubt, du wüsstest das.“ Sie berührte seine Hand. „Werde bitte schnell wieder gesund. Wir haben noch so manches zu klären. Aber ich glaube noch immer, dass es nur ein Missverständnis war. Jetzt werde erst einmal gesund. Alles andere ist unwichtig.“ Sie nahm ihre Hand weg, weil ihr plötzlich einfiel, dass es ihm vielleicht nicht gefallen könnte. Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war hier aufzutauchen. Was, wenn er es gar nicht gewollt hätte und sich sein Zustand jetzt deswegen verschlechtern würde?
„Ich geh dann mal wieder“, sagte sie leise. „Ich komme dich aber bestimmt wieder besuchen. Machs gut.“ Schnell trat sie vor den Vorhang und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sonst niemand mehr im Raum war. So konnte sie unbemerkt und ohne fragende Blicke auf sich zu ziehen, die Krankenstation verlassen.
Sanaweys Gedanken rasten. Immer wieder fragte er sich, was geschehen war. Ob er etwas vergessen hatte. Oder etwas übersehen. Vom Entdecken der Xindi-Waffe bis zur Landung auf der Erde ging er alles nochmals durch. Jede Entscheidung stellte er in Frage. Immer und immer wieder. Immer die gleichen Gedanken. Zeit genug hatte er ja. Ein Teufelskreis.
Er musste an den Schrei auf dem Gang denken. Jackson? Was würden sie wohl mit ihr machen? Er fühlte sich verantwortlich für sie. Vielleicht mehr als für die beiden andern. Jackson hatte schon zu viel erleben müssen an Bord der Republic
. Eigentlich hatte er ihr in nächster Zeit jeglichen Ärger ersparen wollen.
Er hatte viel Zeit zum Nachdenken. Ihm war bewusst, dass das genau das Ziel dieser Isolation war. Man wollte ihn zermürben um ihn dann zu brechen. Diesen Erfolg wollte er seinen Gegnern auf keinen Fall gönnen. Und doch musste er sich eingestehen, dass diese Folter ihre Wirkung nicht ganz verfehlte. In der Dunkelheit verlor er jegliches Zeitgefühl. Und die Tatsache, dass er noch nicht einmal wusste, wer genau sein Gegner war tat sein Übriges.
Irgendwann, nach einer für Sanawey unendlich langen Zeit, öffnete sich die Türe wieder. Grelles Licht fiel herein und brannte Sanawey in den Augen. Er musste sie schließen und den Kopf zur Seite drehen, so sehr blendete ihn das Licht. Seine Augen hatten sich inzwischen an die absolute Dunkelheit gewöhnt gehabt.
So sah er nicht, wie der Mann wieder auftauchte und seinen Tisch und seinen Stuhl aufbaute. Erst nachdem die Türe wieder geschlossen war und ein fahles Licht von der Decke her den Raum erleuchtete, konnte Sanawey seine Augen wieder öffnen.
Der Mann im dunklen Anzug hatte bereits Platz genommen und breitete gerade seine Unterlagen aus. Er stellte auch das kleine Mikrofon wieder auf und schaltete es ein. „Guten Morgen, Captain“, sagte er schließlich.
Morgen? fragte sich Sanawey unwillkürlich. War es nicht erst wenige Stunden her, dass der Mann da gewesen war? Dann hätte er ihn da ja mitten in der Nacht aufgesucht, wenn jetzt morgen war. Das glaubte Sanawey nicht. Offenbar gehörte das zum Spiel. Irritation, so dass er jegliches Zeitgefühl verlieren sollte. Ein kleines Teil im Puzzle, das ihn letztendlich brechen sollte. Daher antwortete Sanawey gar nicht erst.
Der Mann sah nur kurz auf, ignorierte Sanaweys Schweigen dann aber. Er kritzelte mit einem Stift noch etwas auf seine Papiere. Dann holte er eine Flasche Wasser aus einer Tasche, die am Tisch integriert war. Nachdem er sie geöffnet hatte setzte er sie an seine Lippen und trank einen Schluck. Danach stellte er sie demonstrativ auf den Tisch.
Erst in diesem Moment merkte Sanawey wie ausgetrocknet sein Hals war. Bisher hatte er sich gedanklich zu sehr mit der Situation beschäftigt um auf sich selbst zu achten. Doch nun stelle er fest, dass ihn Hunger und vor allem Durst plagten. Wie lange war er schon hier? Da er das nicht wusste, konnte er auch nicht mehr sagen, wann er zuletzt etwas getrunken hatte.
Der Mann registrierte Sanaweys unbewussten Blick zur Wasserflasche. „Sie haben Durst?“ fragte er und klang dabei völlig neutral. Offenbar ließ er sich nichts anmerken um selbst keine Angriffsfläche für sein Opfer zu bieten.
Sanawey schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Der Mann musste wissen, dass er am Verdursten war.
„Sie sind sehr unhöflich, Captain. Hatten Sie etwa keine gute Kinderstube?“ stichelte der Mann mit ruhiger Stimme. Er stand auf und ging vor Sanawey auf und ab. „Sie erwidern meinen Gruß nicht und Sie beantworten meine Frage nicht. Es war keine vorgeschriebene Frage. Es war eine Frage, die aus Mitgefühl heraus kam. Small Talk, wenn Sie so wollen. Doch Sie ignorieren mich. Das ist nicht gerade höflich. Und dafür soll ich Ihnen auch noch etwas zu trinken geben?“ Seine Stimme klang aalglatt. Er wurde nicht laut, nicht ausfällig. Und er betonte genau die richtigen Passagen. Er war offenbar perfekt ausgebildet worden für diese Art von Verhör. „Ich bin nicht Ihr Feind, Captain. Ich mache hier nur meinen Job, weil dieser einfach getan werden muss. Und da ich ja eigentlich ein recht umgänglicher Typ bin, werde ich über all das hinweg sehen. Es ist ganz einfach. Sie bekommen etwas zu trinken, wenn Sie mir meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Schweigen Sie weiterhin, bekommen Sie nichts.“
Sanaweys Blick löste sich von der Flasche und wandte sich wieder seinem Peiniger zu, er sagte jedoch kein Wort.
Den Blick schien der Mann jedoch als Aufforderung zu verstehen, denn er fragte: „Wie lautet Ihr Name?“
„Die Frage hatten wir das letzte Mal schon. Und sie kennen die Antwort.“
„Dann wiederholen Sie sie“, forderte der Mann ihn unbeeindruckt auf.
Sanawey wusste nicht recht, was er machen sollte. Dieses Spiel war lächerlich. Und doch todernst. Ihm war bewusst, dass das zur psychologischen Folter dazu gehörte. Umso mehr ein Grund sich dagegen zu wehren. Das ging aber nicht durch stures Schweigen, sondern nur durch angedeutetes mitmachen, um dann im entscheidenden Moment auszuscheren und damit seinem Peiniger vor den Kopf zu stoßen. Vielleicht konnte er auf die Art eine ungeplante Reaktion hervorrufen und damit den Verlauf des Gespräches ändern.
„Ich bin Captain Sanawey, Kommandant des Raumschiffes Republic
“, sagte er schließlich.
„Woher kommen Sie?“
„Aus Kansas.“
„Was ist Ihr Auftrag hier?“
„Ich habe keinen Auftrag“, betonte Sanawey gepresst. Hunger und Durst quälten ihn, der Bewegungsmangel und der dunkle Raum machten ihm zu schaffen. Er musste mit sich selbst ringen, um seinem Frust nicht nachzugeben.
„Sie wollen mir also weismachen, dass Sie eigenmächtig und ohne Befehl handeln“, schlussfolgerte der Mann und blieb direkt vor Sanawey stehen.
Der Indianer sah ihn groß an. Welche kranken Gedanken hatte sein Gegenüber? „Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Oh, ich glaube Sie verstehen mich sehr gut. Sie wollen einen Alleingang vortäuschen, um Ihre Auftraggeber und Mitverschwörer zu decken. Aber glauben Sie ja nicht, wir wären dumm. Die Wahrheit wird ans Licht kommen.“
„Sie sind ja paranoid.“ Verächtlich schüttelte Sanawey den Kopf.
„Wer unterstützt Sie?“
Sanawey war versucht dem Mann eine Story von Verschwörern zu erzählen. Irgendetwas, das eine tolle Verschwörungstheorie ergeben würde. Er hielt sich jedoch zurück. Wahrscheinlich würden die Verantwortlichen hier alles für bare Münze nehmen und Maßnahmen einleiten, die für noch mehr Chaos sorgen würden. Und Sanawey wollte nicht für das Leiden Unschuldiger verantwortlich sein, die es garantiert treffen würde.
„Wer unterstützt Sie?“ wiederholte der Mann. Wie beiläufig nahm er die Flasche und trank einen weiteren Schluck. Dann hielt er die Flasche in der Hand und hantierte damit vor Sanawey Gesicht herum.
„Meine Crew“, antwortete Sanawey schließlich ehrlich.
„Sind das nur Menschen?“
„Nein. Wir haben auch Andorianer und Denobulaner an Bord.“
„Denobulaner“, wiederholte der Mann langsam. „Danke. Ich denke, Sie haben sich das hier verdient.“ Er hob die Flasche.
Da Sanaweys Hände gefesselt waren setzte der Mann ihm die Flasche an den Mund und ließ ihn langsam trinken. Sanawey machte erst kleine Schlücke, da sein Hals viel zu rau war um gleich mehr aufnehmen zu können. Dann wurden seine Schlücke großer. Als der Mann die Flasche schließlich weg nahm hätte er sich fast verschluckt.
Der Mann ging zu seinem Tisch zurück und fing an, diesen zusammen zu klappen. Verwundert schaute Sanawey ihm zu. War es das etwa schon wieder? Der Mann hatte doch kaum etwas gefragt. Wie wollte er mit diesen Aussagen etwas anfangen? Selbst wenn er den Sinn verdrehte, wovon Sanawey ausging, ließ sich mit den wenigen Angaben nichts anfangen.
Ein Hustenanfall ließ ihn seine Gedanken unterbrechen.
Der Mann sah kurz auf. „Es fängt wohl an“, sagte er wie zu sich selbst.
Erschrocken horchte Sanawey auf. Es fängt an? Was?
Als ob der Mann seine Gedanken erraten hätte erklärte er: „In dem Wasser befand sich ein Gift. Keine Sorge, es ist nicht tödlich. Allerdings wird es Sie von jeglichem Ballast befreien. Wenn Sie verstehen was ich meine. Es ist nicht sonderlich angenehm. Ihr Magen und ihr Darm werden sich entleeren, auf jede Art die Sie sich vorstellen können. Dann wird Ihr Geist hoffentlich freier sein und kooperieren.“
„Aber Sie...“, stotterte Sanawey.
„Ich habe aus derselben Flasche getrunken, ja. Aber ich habe vorher ein Gegengift genommen. Außerdem gewöhnt man sich nach Jahren des Dienstes daran.“ Er nahm den Tisch unter den Arm und ging zur Tür. „Ich komme wieder, wenn man Sie und den Raum von der Schweinerei gesäubert hat und sich auch der Gestank wieder verzogen hat. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.“ Mit diesen Worten verschwand er.
Sanawey sah sich um. Verzweiflung stand in seinen Augen. Er war noch immer an den Stuhl gefesselt. Aber selbst wenn er frei gewesen wäre, es gab keine Toilette in dem Raum. Diese verfluchten Bastarde ließen nichts aus. Schweiß brach ihm aus den Poren. Ihm wurde heiß. Sein Atem ging schneller. Ekel erfasste ihn, wenn er an das Bevorstehende dachte. Und Scham. Eine unglaubliche Scham. Er wollte nicht darüber nachdenken wie es werden würde. Aber er konnte an nichts anderes mehr denken. Und dann spürte er, dass es losging.
Lautlos trat der dunkel gekleidete Mann an die Tür. Seine Hände streckten sich zum Türgriff aus. Er wollte möglichst keinen Lärm machen, da er die Person auf der anderen Seite überraschen wollte. Ein psychologischer Trick, um so einen ersten Eindruck zu hinterlassen, der den anderen gefügiger machen sollte.
Hinter ihm lag ein langer, hell erleuchteter Gang. Türen im Abstand von wenigen Metern gingen links und rechts ab. Es waren Stahltüren mit schweren Schlössern versehen. Niemand, der sich auf der anderen Seite einer solchen Tür befand würde ohne Hilfe von außen hinaus kommen. Und genau das war auch der Sinn dieser Einrichtung.
Hier wurden die größten Staatsfeinde der irdischen Regierung inhaftiert. Und hier wurden sie nach Hintermännern, Organisationen und Plänen befragt. Dabei gab es keine einschränkenden Regeln, keine hinderlichen Vorschriften, die die Verhöre nur unnötig erschwert hätten. Am Ende zählte nur die Information, die man von den Häftlingen erhalten konnte. Wie man diese bekam war nicht wichtig. Zudem gab es hier keine Menschenrechte. Wer hier inhaftiert wurde war für den Rest der Welt nicht mehr existent. Es gab kaum jemanden, der diese Einrichtung lebend wieder verließ. Menschenrechtsorganisationen wussten nicht einmal, dass diese Einrichtung existierte. Einen Ort wie diesen konnten sie sich wahrscheinlich nicht einmal vorstellen. Diese Träumer einer besseren Welt gingen davon aus, dass verschwundene Regimekritiker einfach ermordet worden waren. Was sicherlich für die Betroffenen auch besser gewesen wäre. Die psychische Folter sowie die tatsächliche körperliche Gewalt hatten bisher noch jeden gebrochen. Und so wurden aus selbstbewussten, laut auftretenden Persönlichkeiten weinende und bettelnde Tiere, die am Ende alles berichteten und um einen schnellen Tod winselten.
Der Mann mochte seinen Job. Es war ein gutes Gefühl all diese Macht über Leben und Tod, über Elend und Verzweiflung in den Händen zu halten. Und wenn er wieder einen Menschen gebrochen hatte und die erhaltenen Informationen an seine Vorgesetzten weitergeben konnte, dann spürte er, dass ihn niemand aufhalten konnte. Dann war er der mächtigste Mensch im Universum. Welcher Job sonst konnte einem dieses Gefühl geben? Daher hatte er seine Berufswahl in all den Jahren auch noch nicht ein einziges Mal bereut. An Mitgefühl für seine Opfer dachte er im Traum nicht. Sie waren schließlich Feinde des Staates und hatten seiner Meinung nach damit jegliche Rechte verspielt. Sie verdienten den Tod. Und wenn dieser lang und schmerzhaft sein musste, um an alle Informationen zu kommen, dann war es eben so.
Nun hatte er eine neue Herausforderung bekommen. Zu seinem neuen Fall konnte ihm niemand genaueres sagen. Keiner wusste wer er war oder woher er kam. Nicht einmal seine genauen Absichten waren bekannt. Dies war seine beste Chance endgültig zu beweisen, dass er der beste Verhörspezialist des Planeten war. Und diese Chance wollte er nutzen. Obwohl die Zuteilung dieses Falles eigentlich schon Bestätigung genug war.
Eine offizielle Berufsbezeichnung für seine Arbeit gab es nicht. Inoffiziell nannte er seinen Beruf Inquisitor. Dieser Name gab die Macht wieder, die er in den Händen hatte.
Mit einem schnellen Ruck öffnete er die Türe. Der Raum hatte bisher in völliger Dunkelheit gelegen. Nun strahlte das helle Licht des Ganges in den Raum. Der in der Mitte des Raumes an einen Stuhl gefesselte Mann musste durch das Licht nun geblendet werden. Seine Augen, die sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten würden nun schmerzen und sich mit Tränen füllen.
Doch überraschenderweise zuckte der Mann nicht zusammen, so wie es eigentlich passieren sollte. Genau genommen gab er gar keine Reaktion von sich.
Dies vermerkte sich der Inquisitor im Hinterkopf. Er holte einen vorbereiten, zusammengeklappten Tisch und einen Stuhl und trat dann, ohne den Gefangen zu beachten, in den Raum. Sofort gingen die Lichter an der Decke an. In aller Ruhe baute er den Tisch und den Stuhl auf und setzte sich dann. Aus seiner Tasche packte er ein paar Bögen Papier aus und einen Stift. Dann las er etwas auf dem Papier durch. Noch immer hatte er den Gefangenen nicht beachtet. Schließlich sah er kurz gedankenverloren auf. Seine Stirn legte sich in Falten und es machte den Eindruck, als hätte er einen Gedanken, den er nicht ganz fassen konnte. Dann stand er auf und drehte sich zur Tür um. Sie stand noch immer offen. Über sich selbst lächelnd ging er zur Tür und schloss sie. Danach nahm er wieder Platz und las weiterhin seine Papiere.
So verging Minute um Minute. Mit der Zeit wurde er unruhig. Eigentlich durfte das nicht so lange gehen. Bisher hatte jeder Gefangene nach wenigen Minuten das Gespräch begonnen. Niemand hielt das so lange aus. Doch dieser Mann schien ihn genauso zu ignorieren wie er ihn. Das ging nun schon über eine halbe Stunde. So konnte das nicht weitergehen. Der Inquisitor sah auf und sah den fremden Mann an. Dabei fiel ihm auf, dass dieser ihn mit einem bohrenden Blick fixiert hatte. Er schien nicht die geringste Beeinträchtigung zu haben und das obwohl er schon seit einem Tag hier im Dunkeln saß, ohne Wasser oder andere Nahrung. Offenbar ein schwieriger Fall. Doch er würde ihn knacken, da war er sich sicher.
„Wissen Sie wo Sie sich hier befinden?“ fragte er den Gefangenen schließlich.
Der Mann antwortete nicht. Sein Blick blieb weiterhin bohrend.
„Wir können es auf die harte Tour machen oder auf meine. Es liegt bei Ihnen.“
Wieder reagierte der Mann nicht. Der Inquisitor spürte wie Wut in ihm aufsteigen wollte. Eine Reaktion, die völlig unprofessionell war. Eigentlich hatte er sich das abtrainiert. Doch dieser Mann brachte ihn mit seiner Ruhe etwas aus dem Konzept.
„Sehen Sie die Schnallen an Ihrem Stuhl? Die, mit denen Ihre Hände und Füße festgemacht sind? Sie sind an einen Generator angeschlossen. Sollten Sie meine Fragen nicht beantworten, so werden Sie einen Stromschlag erhalten. Und mit jedem Schlag wird die Intensität höher. Ungefähr beim zwölften Stromschlag werden Sie sterben. Ich nehme nicht an, dass Sie das wollen. Sie sollten daher besser kooperieren. Ich werde keine Frage wiederholen. Fangen wir an. Wie ist Ihr Name?“
Wieder schwieg der Mann. Er zeigte keinerlei Reaktion. Sein Blick haftete noch immer auf dem Inquisitor. Hätte er nicht ab und zu geblinzelt, man hätte meinen können, er wäre eine Puppe.
„Na schön, wie Sie wollen“, sagte der Inquisitor und versuchte dabei möglichst gleichgültig zu klingen. Normalerweise war es ihm auch gleichgültig. Er erfüllte schließlich nur seinen Job. Doch dieser Mann hatte ihn herausgefordert. Aber er würde ihn schon noch brechen, wie er bisher jeden gebrochen hatte.
Er betätigte eine Taste auf seinem Tisch und der Mann erlitt einen Stromschlag. Jedoch schien der Stromschlag ihm kaum etwas anzuhaben. Nur kurz schloss er die Augen, um danach wieder den durchdringenden Blick aufzunehmen.
Der Inquisitor beschloss das erst einmal zu ignorieren. „Wie ist Ihr Name?“ wiederholte er seine Frage.
Doch der Mann schwieg weiterhin beharrlich. Es war zum Verrücktwerden. Verstand der Mann ihn vielleicht gar nicht? Er wirkte so vollkommen anders, fremdartig, obwohl es sicher weit seltsamere Außerirdische gab. Seine Augenbrauen bogen sich nicht um die Augen sondern liefen in einem weiten V-förmigen Winkel auseinander. Seine Ohren liefen nach oben hin spitz zusammen. Und das waren schon alle augenscheinlichen Unterschiede. Doch bot er mit einem bohrenden Blick, seiner Ruhe und seinem Aussehen fast einen dämonischen Anblick.
„Verstehen Sie mich überhaupt?“
Wieder keine Reaktion.
„Sie sollten besser kooperieren. Wir haben Ihre Freunde in unserer Gewalt. Wenn Sie nicht reden, dann werden Ihre Freunde dafür bezahlen müssen.“
Wie auf Knopfdruck drang der markerschütternde Schrei einer Frau durch die Tür.
„Reden Sie mit mir“, sagte der Mann eindringlich. „Dann muss Ihre Freundin nicht länger leiden.“
Doch der fremde Mann schwieg immer noch. Er hatte nicht einmal mit den Wimpern gezuckt.
Langsam aber sicher konnte der Inquisitor seine Wut in sich aufsteigen spüren. Warum musste man ihm einen solchen aussichtslosen Fall übertragen? Wie würde er nur dastehen, wenn er versagte? Um sein Opfer doch noch gefügig zu machen gab er ihm drei weitere Stromschläge, deren Wirkung sich jedes Mal steigerte. Aber der Mann gab immer noch keine Reaktion von sich. Nicht einmal ein kleiner Laut oder ähnliches bei den Stromschlägen. Er musste eine enorme mentale Stärke haben.
Der Inquisitor sog scharf die Luft ein. Dann stand er auf, kam um den Tisch herum und stand seinem Opfer direkt gegenüber. Er sah ihn einige Momente lang an, dann holte er aus und schlug ihm mit der Faust direkt ins Gesicht.
Die Mundwinkel des Mannes platzten bei dem Schlag auf und Blut quoll aus der Wunde. Grünes Blut. Der Inquisitor verzog das Gesicht. Für ihn zeigte die Farbe des Blutes eindeutig an, dass dieser Mann einer minderen Lebensform angehören musste.
Er sah ein, dass es hier kein Weiterkommen gab. Bei diesem Mann musste die Taktik geändert werden. Sollten sich die Spezialisten für die direkte Folter erst um ihn kümmern. Vielleicht war er danach empfänglicher für die Psychospiele.
Ohne weiter auf den Gefangenen oder den Tisch zu achten ging der Inquisitor zur Tür und verließ den Raum. Sollten sich andere um die Gerätschaften kümmern.
Als die Tür ins Schloss fiel erloschen auch die Deckenlichter und ließen Sohral wieder in vollkommener Dunkelheit zurück.
SECHS
Benommen hing Sanawey auf dem Stuhl, an den man ihn gefesselt hatte. Die Schmerzen in Armen und Beinen spürte er nicht mehr. Auch wusste er nicht, wie lange er bereits hier festgehalten wurde. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Dunkelheit, die Stille, und dann wieder die immer gleichen Verhöre forderten seinen Tribut. Nachdem das Gift seinen Körper wieder verlassen hatte war er erschöpft auf dem Stuhl gesessen. Der Gestank, der im Raum hing war bestialisch gewesen. Und sie hatten ihn so eine scheinbar unendlich lange Zeit sitzen lassen. Eine Demütigung. Schließlich waren sie zu viert gekommen. Sie hatten Sauerstoffmasken auf und Schutzanzüge an getragen. Nachdem sie ihn losgemacht hatten war er zusammengesackt. Er war viel zu erschöpft gewesen, um sich groß zu wehren. So hatten sie ihn ausgezogen und grob gewaschen. Auch der Rest des Raumes war gesäubert und desinfiziert worden. Danach hatten sie ihn wieder auf den Stuhl gesetzt und gefesselt. Er konnte nur hoffen, dass seine Offiziere nicht dasselbe durchmachen mussten.
Danach war der Mann wieder gekommen. In aller Seelenruhe setzte er sich auf seinen Stuhl und sah Sanawey groß an. „Guten Tag, Captain. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht. Bitte entschuldigen Sie die Geschehnisse, aber Sie haben noch immer Informationen, die Sie uns vorenthalten. An diese müssen wir herankommen. Wenn Sie uns endlich alles sagen würden, was wir wissen wollen, dann würde das alles auch für Sie enden. Sie könnten danach gehen. Sie wären nicht frei, aber Sie würden eine wesentlich bessere Unterkunft bekommen. Eine, von der aus Sie auch die Sonne sehen könnten. Es liegt allein bei Ihnen.“
Mühsam hob Sanawey den Kopf und sah den Mann an. „Wenn Sie...“ begann er mit brüchiger Stimme, konnte dann jedoch nicht mehr weiter sprechen. Das verabreichte Gift hatte ihn mehrmals erbrechen lassen. Sein Hals war nun so rau, dass er nicht mehr sprechen konnte.
Der Mann schien das zu merken, denn er nahm einen kleinen Becher zur Hand, riss den Deckel ab und trat neben Sanawey. Er hielt ihm den Becher an den Hals, doch der Captain machte keine Anstalten etwas zu trinken.
„Captain, diesmal können Sie es ohne Befürchtungen trinken. Glauben Sie mir. Warum sollten wir sie nochmal vergiften? Sie haben bereits alles von sich gegeben, da macht eine Wiederholung keinen Sinn. Hier sind Mineralstoffe drin, die Ihr Körper nun unbedingt benötigt. Wie ich schon gesagt habe, wir wollen Ihnen nichts tun. Wir brauchen nur die Informationen. Und wie sollen Sie die uns geben, wenn Sie nicht sprechen können. Das hier wird Ihnen helfen.“
Sanawey glaubte ihm kein Wort. Doch wenn er jetzt die Chance hatte etwas zu trinken, dann konnte er kaum widerstehen. Und wenn es die Chance war, seinem gebeutelten Hals etwas Gutes zu tun, warum dann nicht? So ließ er es zu, dass der Mann ihm das Getränk verabreichte. Es waren nur zwei Schluck, doch merkte Sanawey sofort, wie es ihm wieder etwas besser ging.
Zufrieden lächelnd trat der Mann wieder an seinen Tisch und nahm Platz. „Sehen Sie, das war doch gar nicht so schwer“, sagte er dann. „Und nun, da es schon so gut läuft, sagen Sie mir doch, woher Sie kommen und welche Pläne Sie hier verfolgten.“
Sanawey schüttelte innerlich den Kopf. Also gut. Er würde dem Mann die Wahrheit sagen, auch wenn er sich sicher war, dass dieser das nicht verstehen würde. Und so schilderte er die Begegnung mit der Xindi-Waffe und die Vorkommnisse, die seitdem geschehen war.
Der Mann hörte ihm aufmerksam zu. Nichts in seinem Mienenspiel deutete auf seine Meinung zu dem Gehörten hin. Als Sanawey fertig war legte der Mann seinen Stift sorgfältig zur Seite und sah den Captain einfach nur an. Er schwieg einige Minuten und hielt Sanawey dabei mit seinem Blick fixiert. „Eine interessante Geschichte“, sagte er schließlich. „Mehr ist es allerdings nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so naiv sind und meinen, wir würden eine solche Geschichte glauben. Ich werde die Aufzeichnung darüber löschen. Wir möchten die Wahrheit von Ihnen hören. Wo kommen Sie her und welche Auftrag haben Sie hier.“
Sanawey konnte es kaum fassen. Sollte er eine Lüge erzählen, die den Verantwortlichen hier besser passte? Das würde er auf keinen Fall tun. Er wollte gerade etwas sagen, als der Mann ihn unterbrach.
„Ich will jetzt keine Antwort von Ihnen. Denken Sie über die Frage nach. Und denken Sie über folgende Worte nach: Kooperation bedeutet Wahrheit. Und Wahrheit macht frei. Die Freiheit ist des Menschen höchstes Gut. Und das wollen wir bewahren. Dazu brauchen wir Ihre Unterstützung.“
Damit packte er zusammen. Bevor er den Raum verließ drehte er sich noch einmal um und sah Sanawey an. „Damit Sie die Worte nicht vergessen werde ich sie wiederholen lassen.“
Wie aufs Stichwort drang aus einem Lautsprecher, der sich an der Zellendecke befand eine monotone, aber eindringlich laute Stimme. „Kooperation bedeutet Wahrheit. Und Wahrheit macht frei. Die Freiheit ist des Menschen höchstes Gut. Und das wollen wir bewahren. Dazu brauchen wir Ihre Unterstützung. Kooperation bedeutet Wahrheit. Und Wahrheit macht frei. Die Freiheit ist des Menschen höchstes Gut. Und das wollen wir bewahren. Dazu brauchen wir Ihre Unterstützung. Kooperation bedeutet Wahrheit...“ Die Worte wiederholten sich in einer Endlosschleife.
Die Intensität des Lichtes wurde deutlich erhöht und er Raum erstrahle in grellem Licht. So ließ der Mann Sanawey zurück.
Sanawey versuchte die Stimme zu ignorieren, doch es gelang ihm nicht. Er war bereits viel zu geschwächt und die Stimme zu laut. So ließ er sich nahezu ohnmächtig berieseln. Er konnte nicht einmal versuchen mit ein wenig Schlaf wieder Kräfte zu sammeln. Denn sowohl das Licht als auch die Stimme sorgten dafür, dass er keine Ruhe fand. Schlafentzug. Genau darauf lief es hinaus. Ein uraltes, aber bewährtes Mittel. Und Sanawey war sich sicher, die Stimme und deren Worte würden sich in seine Gedanken brennen und er würde sie auch noch hören, wenn sie längst wieder schwieg.
Drake saß auf seinem Bett und starrte zum Fenster hinaus. Sein Blick verlor sich irgendwo zwischen den Sternen, er nahm sie nicht einmal war. Die zerwühlten Laken seiner Decke lagen quer im Bett. Die Beleuchtung hatte er ausgeschaltet. Die einzige Lichtquelle im Raum war der Bildschirm eines kleinen Pads, auf dem er seinen privaten Posteingang überflogen hatte. Allerdings war nichts dabei gewesen, das ihn interessiert hätte.
Der Computer bestand aus einem etwa Din A 5 großen Monitor, über den alle Befehle eingegeben wurden. Hier konnte sowohl über eine virtuelle Tastatur gearbeitet werden wie auch direkt auf dem Monitor geschrieben werden. Die Eingaben wurden dann verarbeitet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gab es bereits die ersten dieser Geräte, die sich in der Folgezeit immer weiter durchsetzten und dann schließlich die Notebooks abgelöst hatten. Die Leistungsfähigkeit dieser Geräte hatte immer weiter zugenommen. Mit solch einem Touch-Screen-Computer konnte man sich mit sämtlichen Computern an Bord einfach vernetzen um an die Daten und Kommandosteuerungen zu gelangen. Besonders beliebt war das Gerät bei den Ingenieuren auf Außeneinsätzen. Sie waren leicht und konnten mit ein wenig Improvisation selbst an außerirdische Computer angeschlossen werden. So konnte man schnell an Informationen aus den zu untersuchenden Daten kommen.
Im Privaten wurden sie gerne benutzt um schnell ein paar Information aufzuschreiben, um Termine zu speichern oder seinen Briefverkehr zu regeln. Ebenso für alles andere, für das ein elektronischer Speicher benötigt wurde. Sie waren mit dem Hauptcomputer des Schiffes verbunden und konnten bei einem Schiffswechsel oder bei Landurlaub leicht mitgenommen werden.
Während seiner heutigen Schicht hatte Drake sich kaum auf die Probleme konzentrieren können. Seine Gedanken waren immer wieder abgeschweift und zu Elane zurückgekehrt. Er hätte sie nicht küssen sollen. Das war ein Fehler gewesen, das wusste er jetzt. Es war einfach zu früh dafür gewesen. Er hätte sie zuerst noch mehr beeindrucken sollen. Er hätte sie erst davon überzeugen müssen, dass er genau der Richtige für sie war. Und wenn sie es nicht erkannte hätte, dann wäre es immer noch besser gewesen als guter Freund in ihrer Nähe zu sein. Nun war wohl auch das nicht mehr möglich.
Sie ging ihm aus dem Weg. Heute hatte er sie nicht ein einziges Mal gesehen. Und gemeldet hatte sie sich auch nicht. Es war zum Heulen. So hilflos hatte er sich noch nie gefühlt. Bisher gab es kaum eine Frau, die ihn abgewiesen hatte. Und wenn das doch einmal vorgekommen war, dann war das nicht weiter tragisch gewesen. Es gab ja genug andere. Doch diesmal wollte er keine Andere. Er wollte nur Elane. Nur sie konnte er nicht haben, so wie es aussah. So etwas war ihm noch nie passiert.
Vielleicht wäre es das Beste, wenn er sie sich aus dem Kopf schlagen würde. Er musste sie einfach nur vergessen, dann könnte er wieder so leben wie früher. Doch dazu hätte man den Teil seines Gehirns heraus operieren müssen, in dem die Gedanken an sie saßen.
Der Bildschirm des kleinen Gerätes blinkte kurz und zeigte ihm an, dass er weitere Post erhalten hatte. Nur kurz sah er hin, dann wandte er sich wieder den Sternen zu. Seine Gedanken drehten sich weiterhin um Elane und den fraglichen Abend. So weit war es also mit ihm gekommen. Er, Drake Reed, saß zusammengesunken auf seinem Bett und wusste nicht mehr was er machen sollte. Das war nicht gut. Sein Blick verfinsterte sich etwas. Nein, er musste etwas dagegen tun. Es konnte schließlich nicht sein, dass eine Frau ihn derart aus dem Konzept brachte. Sie hatte ihn verzaubert und dagegen musste er etwas unternehmen. Er musste den Bann brechen. Er musste sie vergessen. Sie tat ihm einfach nicht gut. Sicherlich würde alles besser werden, wenn er den Kontakt zu ihr auf das dienstliche Mindestmaß herunterfahren würde. Mit der Zeit mussten die Gefühle dann schließlich vergehen und dann wäre wieder alles wie früher.
Entschlossen packte er das Pad und beschloss, die anstehende Post durchzusehen. Nur auf andere Gedanken kommen. Es brachte schließlich nichts hier Trübsal zu blasen.
Die neueste Meldung war von Elane. Und sofort setzte sein Herz einen Schlag aus. Mit zittrigen Fingern tippte er auf das Symbol, das den Brief öffnete. Dann las er:
Hallo Drake, tut mir leid, wenn ich so spät noch störe, aber ich wollte noch etwas wegen neulich Abend klar stellen, das sollte nicht so stehen bleiben. Ich war ziemlich überrascht von Deinem Kuss. Darauf war ich nicht vorbereitet. Zumal ich nie daran gedacht habe. Du warst halt einfach Drake. Ein guter Freund und ich dachte, Du könntest so was wie mein bester Freund werden. An mehr hatte ich nie gedacht. In Deiner Nähe habe ich mich wohl gefühlt, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass ich Dir etwas beweisen muss. Bei Dir konnte ich so sein wie ich bin. Ich musste mich nicht verstellen oder Dich beeindrucken. Du warst für mich einfach ein neutraler Mensch, wie ein androgynes Wesen.
Du weißt, dass ich eine schwierige Zeit hinter mir habe. Und unsere derzeitige Situation trägt auch nicht gerade zur Beruhigung bei. Ich bin einfach nicht bereit jetzt eine neue Beziehung einzugehen. Sei mir bitte nicht böse. Und jetzt da ich weiß was Du fühlst bin ich mir ziemlich unsicher und weiß einfach nicht genau, wie ich mich Dir gegenüber verhalten soll. Vielleicht sollten wir einfach so weitermachen als wäre nichts passiert. Was meinst Du? Würde mich freuen, wenn Du Dich meldest. Liebe Grüße. Elane.
Drake starrte den Monitor an. Nun wusste er es. Sie interessierte sich nicht für ihn. Schon wieder eine neue Erfahrung. Allmählich wurden es etwas zu viele neue Erfahrungen, auf die der teilweise gerne verzichtet hätte. Sie sah nur einen Freund in ihm. Wie frustrierend diese Erkenntnis sein konnte. Ja, es stimmte, sie war älter als er, aber war er deswegen weniger Mann? Offenbar, denn sie sah in ihm ja wohl keinen. Sie hatte ihn gedanklich enteiert. Einen schlimmeren Dämpfer für sein Ego konnte es kaum geben.
Was sollte er nun tun? Sie hatte den ersten Schritt getan, nun war er an der Reihe. War es die Chance, die er wollte? Er konnte weiterhin in ihrer Nähe sein und wer weiß, vielleicht würde sie sich doch noch in ihn verlieben. Andererseits wollte er sie doch vergessen. Abstand aufbauen und Zeit gewinnen, um die Gefühle wieder abklingen zu lassen. Und nach diesen Zeilen war das wohl das Vernünftigste.
Er wusste nur einfach nicht, ob er vernünftig sein wollte. Seine Gefühle waren so widersprüchlich wie noch nie in seinem Leben. Auf der einen Seite wollte er nie wieder etwas mit ihr zu tun haben und auf der anderen Seite konnte er kaum der Versuchung widerstehen ihr zu antworten. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle mit ihr getroffen.
Aufgebracht ging er in seinem Quartier auf und ab. Ihm war, als ob auf seinen Schultern Engel und Teufel sitzen würden, um ihm immer neue Argumente für das Für und Wider ins Ohr zu flüstern. Seine Gedanken drehten sich nur um Elane. Und immer wenn er eine Entscheidung getroffen hatte stieß er sie wieder um. Es war frustrierend. In dieser Situation beneidete er die Vulkanier um ihre Emotionslosigkeit. Sie würde ihm jetzt viel Aufregung ersparen.
Im Nachhinein hätte er nicht mehr sagen können, wie viel Zeit vergangen war. Irgendwann hatte er eingesehen, dass er zu keiner Entscheidung mehr kommen würde. Außerdem war es schon sehr spät und sein Dienst morgen würde seine gesamte Aufmerksamkeit erfordern. Nein, er konnte nicht weiter darüber nachdenken. Er drehte sich dabei ohnehin nur im Kreis. Es war Zeit zu schlafen. Und morgen würde die Welt ohnehin schon wieder ganz anders aussehen. Vielleicht ergab sich etwas, an das er heute nicht gedacht hatte. Und vielleicht ließ sich damit das eine oder andere Problem lösen. Oder vielleicht auch alle.
Nur unbewusst nahm Sanawey wahr, dass der Mann wieder im Raum stand. Und mit seinem Eintreten wurde auch das Licht auf normal zurückgefahren und die Stimme schwieg endlich. Es kam ihm vor, als hätte die Stimme stundenlang auf ihn eingeredet. Ruhe hatte er dabei nicht gefunden. Und der Schlafmangel machte ihm allmählich schwer zu schaffen. Er konnte kaum noch klar denken.
Der Mann schien zufrieden zu sein mit dem was er sah. Offenbar glaubte er den Captain nun endlich gebrochen zu haben. Er setzte sich und fing wieder an Fragen zu stellen, doch Sanawey sah keinen Sinn mehr darin. Offenbar würde er hier in dieser seltsamen Welt sterben, das stand für ihn inzwischen fest. Sie würden ihn nie gehen lassen, egal wie viele Fragen er beantwortete. Und herausfinden konnte er auch nichts. Sein Peiniger schien bestens ausgebildet zu sein. Er war ganz gewiss kein Anfänger. Er gab einfach nichts preis. Er war so aalglatt, Sanawey bekam ihn einfach nicht zu fassen.
Trotz seines desolaten Zustands war er nicht bereit irgendwelche Auskünfte zu geben. Auf keinen Fall würde er seinen Peinigern nachgeben. Daher schwieg er beharrlich. Irgendwann war der Mann dann wieder abgezogen, nicht ohne ihn nochmals daran zu erinnern, dass er sein Leben nur durch zufriedenstellende Antworten würde retten können.
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Er hatte geschworen die Föderation und damit die Erde zu beschützen. Und er hatte bereits einige Kämpfe gegen fremde Aggressoren überstanden. Und nun würde er hier sterben. Hier, auf der Erde, getötet von Menschen. So hatte er sich das nie vorgestellt, aber die Ironie gefiel ihm. Der Tod machte ihm nichts mehr aus. Dann hätte das hier wenigstens ein Ende. Das einzige, das ihn wirklich störte war, dass er nicht mehr herausfinden würde, was hier eigentlich geschehen war. Er konnte spekulieren, aber ob er die Wahrheit wirklich erkannt hatte, das würde er nie erfahren. Und das ärgerte ihn.
Wieder flog die Tür auf und der in schwarz gekleidete Mann trat ein. Wortlos blieb er stehen und sah auf Sanawey hinab. Sanawey hatte Mühe, den Blick auf ihn gerichtet zu halten, daher entging ihm zunächst, dass zwei weitere Männer den Raum betreten hatten. Sie waren hinter ihn getreten und standen nun still da.
„Sie haben Glück, Captain“, sagte der Mann. Dann gab er den beiden ein Zeichen.
Sanaweys Reaktion war nicht schnell genug und so konnte er seine Überraschung nicht verbergen, als die beiden hinter ihm an seinen Stuhl heran traten. Sie lösten seine Fesseln und stützten ihn dann, bevor er vom Stuhl rutschen konnte. Unsanft hoben sie ihn hoch und schleiften ihn, halb taumelnd aus dem Raum. Mühsam versuchte Sanawey auf den Beinen zu bleiben und Schritt zu halten. Es gelang ihm auch einigermaßen, nur einmal stolperte er, wurde jedoch rücksichtslos weiter gezerrt.
Schließlich erreichten sie einen gefliesten Raum mit heller Beleuchtung. Das Licht schmerzte in Sanaweys Augen. Tränen verschleierten ihm den Blick, so dass er zunächst nichts Näheres erkennen konnte. Die Männer ließen ihn los. Sanawey taumelte, fing sich jedoch auf wackligen Beinen wieder. Langsam wandte er sich um. Die beiden Männer waren zurück getreten und hatten dem Mann in Schwarz wieder Platz gemacht.
„Ziehen Sie sich aus“, befahl dieser, ohne irgendeine Gefühlsregung in der Stimme.
„Was wird das hier?“ fragte Sanawey und seine Stimme klang stärker als er erwartet hatte.
„Ziehen Sie sich aus“, wiederholte der Mann einfach.
Sanawey verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein.“
„Widerstand ist zwecklos“, entgegnete der Mann. „Tun Sie es oder Sie werden sterben.“
„Dann töten Sie mich.“ Sanawey sah ihn herausfordernd an. Und als keine Antwort kam fuhr er fort: „Wenn Sie die Erlaubnis dazu hätten, dann hätten Sie es doch schon längst getan. Aber Sie dürfen es nicht. Denn ich werde noch gebraucht.“
Ein humorloses Lächeln huschte über das ansonsten so versteinerte Gesicht. „Captain, bitte überschätzen Sie sich nicht. Ihre Crew besteht aus vielen weiteren Personen.“
„An die Sie nicht herankommen“, warf Sanawey ein.
„Jeder von ihnen kann uns Informationen geben“, fuhr er unbeeindruckt fort. „Aber es stimmt. Wenn wir Sie hätten töten wollen, dann hätten wir das bereits getan. Lebend sind Sie jedoch viel interessanter für uns. Und Sie werden uns auch noch die gewünschten Informationen geben.“
„Das werden wir sehen.“
„Ja, das werden wir.“ Er sah ihn nachdenklich an. „Und nun, ziehen Sie sich aus.“ Bevor Sanawey etwas erwidern konnte hob er die Hand. „Sie bekommen noch eine Seife und werden hier duschen. Mit Verlaub, Ihnen haftet ein übler Geruch an. Danach werden Sie neu eingekleidet. Sie erhalten außerdem ein Essen. General Everson möchte mit Ihnen sprechen, allerdings wäre Ihr derzeitiger Zustand nicht sehr passend.“
Sanawey sah ihn zögernd an. „Sie wollen mich am Leben halten um Ihre Spielchen weiter treiben zu können. Was, wenn ich da nicht mitmache?“
„Dann kommen Sie zurück in Ihre Zelle und werden dort bis zum Ende Ihres Lebens verbleiben. Es ist Ihre Entscheidung.“
Nach kurzem Zögern griff Sanawey nach der ihm dargebotenen Seife. Sie mochten hier mit ihm Katz und Maus spielen, aber es war auch eine Chance wieder zu Kräften zu kommen. Heute leben, morgen kämpfen. Es hatte keinen Sinn für nichts in der Zelle zu sterben. Vielleicht bot sich ihm die Gelegenheit zur Flucht. Oder wenigstens die, weitere Informationen zu sammeln.
Nachdem er den Gestank der letzten Tage abgelegt hatte, bekam er einen grauen Einteiler als Kleidung, offenbar die Gefängniskluft. Danach wurde er tatsächlich in einen Raum gebracht, in dem ein reichlich gedeckter Tisch stand. Nun ja, reichlich gedeckt war sicherlich übertrieben, aber für Sanawey hatte es den Anschein, nach den Tagen des Hungerns. Es gab Brötchen, Wurst und Käse, Gemüse und Obst. Genug jedenfalls um ihn satt zu machen. Aufgrund der Tage ohne essen, bekam er ohnehin nicht viel hinunter. Sein Körper hatte sich bereits auf das Hungern eingestellt.
Schließlich wurde er zum Fahrstuhl gebracht. Das Bewegungsmoment verriet ihm, dass es nach oben ging. Als sich die Lifttüren öffneten breitete sich wieder ein Gang vor ihm aus, nur mit dem Unterschied, dass große Fenster die linke Seite säumten. Die Kronen einzelner Bäume, die offenbar zu einer Allee gehörten, wiegten sich leicht im Wind. Sanawey war, als hätte er seit Jahren keine Bäume mehr gesehen. Er war so ergriffen, dass er sich erst durch den Stoß einer Wache in die Seite in Bewegung setzte. Sie gingen den Gang entlang, der an einer großen, doppelflügeligen Türe endete. Als sie näher kamen wurde ein Flügel der Türe geöffnet. Sanawey sah in einen großen, saalähnlichen Raum. Die Wände waren mit Regalen und Schränken verbaut. Der Boden bestand aus Parkettdielen und an der Decke zeigten sich Malereien, wie sie sonst nur in Schlössern zu sehen war.
Seine Begleiter, die ihn eskortieren, blieben an der Türe stehen und so zögerte auch Sanawey.
„Kommen Sie herein“, rief eine tiefe Stimme aus dem Raum. Sanawey tat wie ihm geheißen.
In der Mitte des Raumes stand ein mächtiger Eichenschreibtisch. Ein Computerbildschirm stand darauf, ebenso wie einige Stapel Papier, Ordner und ein Datenpad. Dahinter saß ein fülliger Mann. Er mochte auf die sechzig zugehen. Seine Haare hatte er zum größten Teil eingebüßt, nur ein schneeweißer Kranz war ihm geblieben. Sein rundliches Gesicht fing an zu lächeln, als er Sanawey sah und er winkte ihn zu sich heran. „Willkommen, Captain. Kommen Sie her und setzen Sie sich. Ich bin begierig darauf Sie kennen zu lernen.“
Sanawey ging gemäßigten Schrittes auf ihn zu und ignorierte die ihm dargereichte Hand. Er setzte sich wortlos in einen der Sessel, die vor dem Schreibtisch standen und sah den Mann an. Die Uniform spannte sich über den Bauch und an den Rangabzeichen auf den Schultern konnte man erkennen, dass er General war.
Der General zog seine Hand zurück, räusperte sich und setzte sich dann wieder auf seinen Stuhl. „Nun, Captain, ich hoffen, Sie haben nicht gleich den schlechtesten Eindruck von uns bekommen.“
Sanawey zog die Augenbrauen hoch. „Welchen Eindruck soll man denn bekommen, wenn man eingesperrt und verhört wird?“
„Das müssen Sie verstehen. Bei Feinden der Erde müssen wir Vorsicht walten lassen.“
„Sie halten uns für Feinde der Erde?“
„Das müssen wir doch“, verteidigte sich der General gut gelaunt. „Die Menschheit ist so vielen Gefahren ausgesetzt im Weltall. Wir wären mit Sicherheit längst vernichtet worden, wenn wir nicht so vorsichtig wären.“
Sanawey schüttelte den Kopf. „Freunde und Verbündete macht man sich so aber auch nicht.“
General Everson wiegte leicht den Kopf. „Sicher, Sie haben Recht. Doch die Zahl der freundlich gesonnenen Völker ist leider nicht besonders hoch.“
„Kein Wunder, bei dem Empfang“, murmelte Sanawey.
„Doch lassen Sie uns von etwas anderem reden“, lächelte Everson wieder. Er griff nach einer Teekanne und goss zwei Tassen ein. „Möchten Sie Tee?“
Sanawey wusste nicht recht, was er tun sollte, also ließ er sich darauf ein.
General Everson reichte ihm eine Tasse mit der Frage: „Wo kommen Sie eigentlich her?“
Nun versuchte man es also auf diese Weise, dachte Sanawey. Mit der psychischen Folter hatten sie bei ihm nichts erreicht. Offenbart dachten sie, auf die nette Tour könnte es funktionieren. Aber vielleicht ließe sich daraus ja etwas machen. Darum lächelte Sanawey zurück. „So läuft das nicht, General. Aber ich hätte einen Vorschlag. Ich beantworte eine Ihrer Fragen und danach beantworten Sie mir eine Frage. Und so wechseln wir uns ab.“
Everson nippte am Tee und nutze die Gelegenheit, um nachzudenken. „Einverstanden“, sagte er schließlich. „Ihr Schiff hat eine unvorstellbare Größe. Selbst die Klingonen haben keine solch großen Schiffe. Haben Sie die Technologien dazu von einer uns bisher noch unbekannten Rasse erhalten? Vielleicht mit dem Ziel die Erde zu vernichten? Wo genau kommen Sie her?“
„Wir kommen von der Erde. Allerdings von einer scheinbar anderen Erde“, versuchte Sanawey zu erklären. „Meine Erde ist Teil eines großen Völkerbundes, der Vereinigten Föderation der Planeten.“
„Interessant. Führt Ihre Erde diese Föderation an? Und wo liegt Ihre Erde?“
„Jeder Planet der Föderation hat die gleichen Stimmrechte. Die Erde bildet da keine Ausnahme“, erklärte Sanawey geduldig. „Hier scheint es so etwas wie eine Föderation nicht zu geben. Die Erde ist eine Allianz mit Andorra eingegangen, haben wir bereits erfahren.“
„Das ist richtig. Wir sind vor etwa fünfzig Jahren eine Allianz mit den Andorianern eingegangen. Uns schien es ratsam nach Verbündeten zu suchen. Es gab einfach zu viele seltsame Völker, bei denen man nicht weiß, was man von denen halten soll. Die Andorianer sind zwar blau und haben Antennen, doch sind sie uns noch am ähnlichsten. Es war leicht, mit ihnen in Kontakt zu kommen und auch zu bleiben. Wir haben die gleichen Interessen und sind vom gleichen Schlag. Unsere Allianz dient beiden Seiten. Ist das bei Ihnen nicht so?“
„Die Andorianer gehörten mit zu den Gründungsmitgliedern der Föderation. Auch wir sehen in ihnen zuverlässige Partner. Allerdings sind sie für meinen Geschmack etwas zu misstrauisch. Wir sehen in den Vulkaniern die engsten Verbündeten. Wenn man einmal ihre rational logisch Art akzeptiert hat sind es angenehme Wesen.“
Everson sah ihn fragend an. „Vulkanier?“
Nun war es an Sanawey überrascht die Augenbrauen anzuheben. „Sie kennen die Vulkanier nicht? Menschenähnlich, spitze Ohren und einen grünlichen Schimmer auf der Haut.“ Als Everson verneinend den Kopf schüttelte erklärte Sanawey: „Die Vulkanier waren die erste außerirdische Rasse, zu der wir Kontakt hatten. Am 04. April 2063, nach dem ersten Warpflug von Zafrem Cockrane, hatten sie die Warp-Spur entdeckt und waren daraufhin zur Erde gekommen. Sie halfen uns bei den ersten Schritten ins All. Sie halfen uns auch dabei die sozialen Probleme der Erde zu lösen und das Volk zu einen. Wir haben keinen Hunger mehr und keine Armut. Die einzelnen Regierungen wurden aufgelöst und die Menschheit hat sich in Frieden geeint.“
„Also bestimmen in Ihrer Welt diese Vulkanier über die Geschicke der Menschen“, schlussfolgerte Everson.
„Nein“, lächelte Sanawey nachsichtig. „Sie gehören zwar mit zu den Gründungsmitgliedern der Föderation, aber nur wenige Vulkanier versehen ihren Dienst bei der Sternenflotte. Die meisten Vulkanier verlassen ihren Heimatplaneten nur selten und haben sich der Wissenschaft verschrieben. Wenn Sie die Vulkanier nicht kennen, wie verlief der erste Kontakt dann hier?“
„Am 04. April 2063 fand auch unser erster Warpflug statt. Aber niemand nahm danach Kontakt zu uns auf. Die Welt war weiterhin geteilt. Die östliche Koalition, die nach dem Krieg nur noch auf dem Papier bestand, witterte in den Raumflügen eine Gefahr und wollte das Projekt sabotieren. Jedoch ohne Erfolg. Die konkurrierenden Mächte brachten kein gemeinsames Projekt zustande. Dann kam der erste Warp 2 Flug. Zafran Cockrane war persönlich an Bord. Mit einer Live-Übertragung sollte vom Flug berichtet werden. Hier kam es dann zum ersten Kontakt. Ein fremdes Schiff griff die Adventure
an. Mit wenigen Treffern hatten die Fremden unser Schiff zerstört. Erst sehr viel später haben wir erfahren, dass es Klingonen waren.“ Everson seufzte. „Das Unglück hatte auch sein gutes. Die Regierungen der Erde haben verstanden, dass wir zusammen halten müssen. So wurden die Erdstreitkräfte gegründet. Und auch wenn es hier noch viele Streitereien gab, so hat es am Ende doch ganz gut funktioniert. Die einzelnen Regierungen unterstützen das Militär bis heute mit Truppen, Material und vor allem Geld. Unser zweiter außerirdischer Kontakt, diesmal mit den Andorianern, verlief besser. Wir konnten Handelsbeziehungen aufbauen. Und nach unserem Krieg gegen die Tellarieten, die Erzfeinde der Andorianer, haben wir mit den Blauen eine Allianz gebildet.“
„Sie haben gegen die Tellariten Krieg geführt? In unserem Universum war dieses Volk nie besonders kriegerisch“, wunderte Sanawey sich.
„Das waren sie auch nicht. Allerdings waren es Händler. Sie haben Waffen an die Klingonen verkauft. Waffen, die regelmäßig gegen unsere Schiffe und Kolonien verwendet wurden. Das mussten wir unterbinden.“
„Die Tellariten waren?“ wiederholte Sanawey und betonte dabei das letzte Wort besonders.
„Ja, waren. Wir haben sie vollständig vernichtet. Eine andere Lösung war damals nicht gesehen worden. Selbst während des Krieges wurden weiterhin Waffen an die Klingonen geliefert. Eine dauerhafte Lösung wurde nur in der Vernichtung der Tellariten gesehen. Moralisch sicher fragwürdig, allerdings hatte es uns auch einen Verbündeten eingebracht. Und schließlich hatten wir die Tellariten gewarnt.“
„Wie bitte?“ fuhr Sanawey auf. Er musste sich mühsam beherrschen, als er fortfuhr. „Mit einem gewonnenen Verbündeten rechtfertigen Sie einen Völkermord?“
„Ich will die Taten nicht rechtfertigen“, erwiderte Everson schroff. „Es war keine Sternstunde in der menschlichen Geschichte. Aber immerhin ging es um unsere Zukunft. Hätten wir nicht so gehandelt, wie wir es taten, dann wären wir es vielleicht, die heute nicht mehr existieren würden.“ Er nahm einen kleinen Schluck des Tees und stellte dann seine Tasse energisch auf dem Tisch ab. „Es ging um die Zukunft der Menschheit. Und Tatsache ist nun einmal, dass seit dem Ende der Tellariten und dem damit verbundenen Ende der Waffenlieferungen, die Klingonen keinen weiteren Vorstoß Richtung Erde mehr gewagt hatten. Geheimdienstberichten nach hat sie der Stopp der Waffenlieferung sogar härter getroffen als wir zu hoffen gewagt hatten.“
„Das rechtfertigt noch keinen Völkermord. Ihre Darstellung zeugt von Arroganz und Hochmut.“
Eversons Blick wurde finster. „Die Rettung der Erde rechtfertigt alles. Letztlich geht es nur um das Überleben der Menschheit.“
„Aber zu welchem Preis?“ wollte Sanawey wissen. Er hatte das Gefühl in einem Albtraum gefangen zu sein. „Sie retten die Menschheit, vernichten aber gleichzeitig alles, woran die Menschen glauben?“
„Woran glauben denn die Menschen?“ gab der General gereizt zurück. „An den Frieden? Daran, dass alle Lebewesen gleich sind? An Moral? Und wie erklären Sie sich dann die Jahrtausende voller Krieg, Mord und Tyrannei? Es ist den Menschen noch nie um Moral und Gerechtigkeit gegangen. Und selbst diejenigen, die immer davon predigten haben die Grundsätze fallen lassen, sobald sie die Macht erlangt hatten, die sie benötigt hätten, um ihre Moralvorstellungen durchzusetzen. Es gibt in der menschlichen Geschichte nur wenige Persönlichkeiten, die die noble menschliche Moral in einem gewissen Maße durchsetzen konnten. Und es hatte nie lange Bestand gehabt.“
„Also gibt man gleich auf?“ Sanawey bemühte sich, einen vorwurfsvollen Tonfall zu vermeiden, doch es gelang ihm nicht ganz. „Sollte es nicht das Ziel sein immer zu versuchen die Menschheit zu verbessern und die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen?“
Everson sah ihn durchbohrend an. „Sie scheinen, Ihren Schilderungen nach, aus einer perfekten Welt zu kommen, Captain. Aber wir leben in keiner perfekten Welt. Wir kämpfen um das Überleben der Menschheit. In jeder Hinsicht. Unsere Welt ist bedroht von außen und von innen. Von außen durch die Waffen unserer Feinde und von innen durch eine Vermischung mit außerirdischen Genen. Wir müssen die Menschheit davor bewahren unterzugehen. Wir haben keine andere Wahl als uns zur Wehr zu setzen. Sie verurteilen uns dafür, aber Sie mussten wohl noch nie um die Existenz Ihrer Welt fürchten. Sie können sich vielleicht Ihre hohen moralischen Grundsätze leisten. Was aber wäre, wenn Sie in einer vergleichbaren Situation wären wie wir? Wenn der Kampf ums Dasein Ihr Leben bestimmt hätte. Meinen Sie nicht, Sie würden ähnlich denken? Sie verurteilen uns, ohne uns wirklich zu kennen. Wer ist hier arrogant und hochmütig?“ Everson war immer ruhiger geworden, doch betone er jedes Wort. Offenbar glaubte er selbst an seine Rechtfertigung.
„Ich will nicht abstreiten, dass ich ähnlich denken würde, wäre ich in Ihrer Welt aufgewachsen“, begann Sanawey vorsichtig. Er durfte nicht zu viel riskieren. Aber er brauchte noch ein paar Informationen und vielleicht war dies der einzige Weg. Daher wollte er Everson nicht zu sehr verärgern. Einfach zurückstecken wollte er aber auch nicht. „Das heißt aber noch lange nicht, dass es richtig ist. Und nur weil es bisher so war muss es nicht so weiter gehen. Sie können Ihre Meinung ändern. Auch Sie können in dieser Welt etwas bewirken, wenn Sie daran glauben und es versuchen. Verloren hat, wer es gar nicht erst versucht. Glauben Sie im Ernst, die Menschheit hat auf Dauer eine Chance zu überleben, wenn Sie auf Konfrontation gegenüber anderen Völkern gehen?“
„Sie kennen anscheinend das Universum nicht.“ Mehr wollte Everson wohl nicht mehr zu dem Thema beitragen.
Sanawey sah ihn an. In seinem Kopf formte sich ein Gedanke. Aus all den Informationen, die er hier erhalten hatte, kombiniert mit den Erfahrungen, die sie auf dem Rückflug zur Erde gesammelt hatten, ergab sich ein Bild. Der Gedanke gefiel ihm nicht, doch musste es so sein. Es konnte nicht anders sein. Eine Theorie geisterte in seinem Kopf herum. Nun ergab auch alles einen Sinn. Zwar hatte er keine Beweise, war sich aber doch so sicher, dass er es wagte den Punkt anzuschneiden. „Die Vergangenheit wurde verändert“, platzte es aus ihm heraus. „Jemand hat die Vergangenheit verändert und somit das gesamte Universum aus den Fugen geworfen. Darum ist die Geschichte anders verlaufen. Darum geschieht all das hier. Wir müssen den Zeitpunkt finden, an dem die Zeitlinie verändert wurde. Nach allem was ich gehört habe, scheint es der erste Kontakt zu sein. Helfen Sie mir die Zeitlinie zu reparieren und der Menschheit wird es wieder gut gehen.“
Everson sah ihn entsetzt an. Mehrere Sekunden lang brachte er kein Wort heraus, fast schien es, als könne er nicht glauben, was er gehört hatte. Schließlich sagte er: „Sie wollen, dass wir die Zeitlinie manipulieren?“
„Nein, nicht manipulieren. Wieder richtig stellen“, betonte Sanawey.
„Wer sagt denn, dass diese Zeitlinie falsch ist? Bisher habe ich nur Ihre Behauptungen. Ich habe nicht das Gefühl, dass das hier falsch ist. Immerhin habe ich schon mein ganzes Leben hier verbracht. Das kann nicht falsch gewesen sein. Und nur mal angenommen, rein hypothetisch, wir würden die Zeitlinie verändern, was soll dann aus dieser Zeitlinie werden? Milliarden Menschenleben würden auf dem Spiel stehen.“
„Es würde sich für alle zum Besseren wenden“, beschwor Sanawey ihn.
„Das sagen Sie. Aber wir alle hier haben ein Leben und eine Vergangenheit. Sie sagen, unsere Welt hat sich anders entwickelt. Sie wollen die Zeitlinie der letzten zweihundert Jahre ändern? Wissen Sie, was das bedeutet? Das Schicksal sehr vieler Menschen wäre anders verlaufen. Unzählige Menschen wären gar nicht erst geboren worden. Was soll aus diesen Menschen werden? Sollen Sie einfach verschwinden, ohne dass sich jemand an sie erinnert?“
„Diese Menschen hätten niemals geboren werden dürfen.“ Sanawey überging Eversons aufschnauben und fuhr fort, ehe der General etwas sagen konnte. „Und was für Ihre Welt gilt, gilt auch für meine. Unzählige Menschen, die existiert haben, sind einfach verschwunden. Und die meisten Menschen wurden um ihr Leben, um ihre Chancen betrogen. Wir haben eine Gesellschaft entwickelt, in der alle Menschen gleich sind, in der jeder dieselben Möglichkeiten hat sich zu entfalten. Wie viele Talente bleiben bei Ihnen unentdeckt, weil sie zur sozialen Randgesellschaft gehören? Wir müssen den Schaden wieder gut machen.“
„Nein“, fuhr Everson auf. „Was Sie da behaupten ist unmöglich. Es geht Ihnen doch nur darum, die zu vernichten. Die Menschheit zu vernichten. Aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann sind sie Feinde der Menschheit. Für Sie gibt nur einen Weg. Übergeben Sie uns Ihr Schiff. Ihre gesamte Crew wird auf der Erde weiterleben können. Sie können sich hier neue Existenzen aufbauen. Sie werden über die gesamte Erde verteilt und von den jeweiligen Staaten versorgt. Es wird Ihnen an nichts fehlen. Sie dürfen sich Arbeit suchen und versuchen, aus uns eine bessere Gesellschaft zu machen, wenn Sie das unbedingt wollen. Aber Sie alle werden nie wieder einen technischen Beruf ausüben dürfen. Vergessen Sie Ihre Welt.“
„Das werden wir nicht.“
„Captain, denken Sie bitte darüber nach.“ Everson war wieder ruhiger geworden und sprach fast beschwörend auf ihn ein. „Was würden Sie denn tun, wenn Ihnen jemand mit einer etwas weiterentwickelten Technologie gegenüberstände und Ihnen sagt, dass Ihre Welt nicht die Richtige ist und dass die Zeitlinie geändert werden müsste? Würde Sie dem zustimmen?“ Sanaweys Schweigen deutete er als Zustimmung. „Sehen Sie. Warum sollten wir uns anders verhalten? Sie haben keine Beweise für Ihre Behauptungen außer Ihren Schilderungen. Unsere Welt mag nicht perfekt sein, aber sie ist lebenswert. Sie erzählen, Ihre Welt wäre technisch und vor allem moralisch weiterentwickelt. Aber Ihre Schilderungen klingen fast zu perfekt um wahr sein zu können. Im Übrigen brauchen Sie sich mit Ihrem Auftreten und Ihren Forderungen nicht zu wundern, wenn man sie als Gefahr einstuft. Und der Vorwurf der gegen Sie erhoben wird, dass Sie die Erde vernichten wollen ist demnach auch gar nicht so falsch. Sie wollen unsere Erde vernichten.“
Sanawey schüttelte nur den Kopf. Everson war ein sturer Idiot, der leider auf seine Weise recht hatte.
„Denken Sie darüber nach, Captain“, wiederholte Everson und stand auf. „Sie haben noch Zeit dazu, denn Sie werden noch einige Zeit unser Gast sein.“
Wie auf ein Zeichen kamen zwei Soldaten durch die Tür und warteten dort.
„Die beiden Gentlemen werden Sie in eine Zelle begleiten. In eine etwas bessere als die Letzte. Leisten Sie bitte keinen Widerstand, es würde sich nicht lohnen.“
Sanawey erhob sich wortlos. Er hatte nichts erreichen können. Everson war auf nichts eingegangen. Es war frustrierend, auch wenn er nichts hatte erwarten dürfen. Aber immerhin hatte er etwas mehr darüber erfahren, was passiert sein konnte. Bevor er zur Tür ging sprach er den General noch einmal an. „Wo sind meine Offiziere?“
Everson tat erst so, als wüsste er nicht, wovon Sanawey sprach, gab dann Erkennen vor und meinte: „Sie sind ebenfalls unsere Gäste. Die Frau war in Ihrer Nachbarzelle. Sie ist leider ähnlich stur wie Sie. Der Fremde, wie nannten Sie seine Rasse doch gleich, Vulkanier, ist ein sehr spezielles Wesen. Grünes Blut war uns bisher unbekannt. Außerdem zeigt er sich völlig unbeeindruckt von Suggestionen. Ich fürchte, ich kann ihn unserer Wissenschaftsabteilung nicht auf Dauer vorenthalten. Dort wird man sicher jedes Molekül an ihm untersuchen und danach konservieren wollen. Und der Andorianer ist nicht mehr hier. Um ihn wollte sich die andorianische Regierung direkt kümmern.“
Angewidert verzog Sanawey das Gesicht. „Sie sind ein Ekel.“ Dann ging er zur Tür, um sich zu seiner Zelle eskortieren zu lassen.
Bevor er den Raum verlassen konnte rief Everson ihm noch hinterher: „Es war sehr nett, dass Sie mir beim Tee Gesellschaft geleistet hatten. Das sollten wir bei Gelegenheit wiederholen.“
Sanawey reagierte nicht und verließ den Raum. Die letzten Worte Eversons hatten ihn regelrecht angewidert. Er würde sich über eine leere Zelle jetzt direkt freuen.
„Ich bin im Meeting“, rief Elizabeth Williams ihren Assistenten zu, dann verschwand sie zur Tür hinaus. Sie war früh dran, aber der Betrieb auf der Krankenstation ließ ihr das gerade zu und sie wollte weg sein, bevor noch etwas Neues kam. Es war ruhiger geworden. Alle Verletzten waren behandelt, die meisten hatten die Krankenstation inzwischen wieder verlassen können. Nur vier Crewmitglieder hatte es so schlimm erwischt, dass sie sich noch immer in Behandlung befanden. Doch war ihr Zustand glücklicherweise stabil. Einzig Reals Zustand war weiterhin äußerst kritisch. Sie hatten alles getan, was in ihrer Macht lag, doch schwebte er noch immer in Lebensgefahr. Einzig die Einrichtungen auf der Erde hätten ihm vielleicht helfen können. Doch diese existierten nun nicht mehr. Das machte Williams große Sorgen, denn ohne diese Hilfe würde Real sterben, da war sie sich sicher.
Für Real konnte sie gerade nicht mehr tun und bei ihren Assistenten war er in guten Händen. Nun musste sie sich um jemand anders kümmern. Sie machte sich Sorgen um Drake Reed. Sie hatte ihn in den letzten Tagen nur wenig gesehen, doch als er heute kurz in der Krankenstation vorbei geschaut hatte war sie erschrocken. Er sah furchtbar aus, fand sie. Natürlich hatte er gerade eine große Verantwortung auf sich geladen. Ohne Captain und erstem Offizier war er der Commander der Republic
. Er trug die Verantwortung für Schiff und Besatzung. Und sollten seine beiden Vorgesetzten nicht zurückkehren, dann musste er herausfinden was geschehen war und entscheiden wie es weiter gehen sollte.
Doch es waren nicht nur diese Probleme, die ihn beschäftigten. Das spürte sie. Irgendetwas anderes beschäftigte ihn. Sie wusste zwar nichts genaueres, aber sie kannte ihn gut genug um zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Daher war sie etwas früher zur Besprechung aufgebrochen. Sie hoffte noch einige Worte mit Drake unter vier Augen wechseln zu können.
Als sie den Besprechungsraum betrat war Reed bereits anwesend. Er stand am Fenster und schaute sorgenvoll hinaus. Unten drehte sich die Erde und strahlte ihnen in leuchtendem Blau und Weiß entgegen. In der Fensterscheibe spiegelte sich Reed verzerrt wieder. Seine Stirn lag in Falten und er schien über etwas angestrengt nachzudenken, denn er reagierte nicht, als sie den Raum betrat.
„Hallo Drake“, grüßte sie ihn vorsichtig. Sie wollte ihn nicht erschrecken.
Er fuhr trotzdem herum und sah sie groß an. „Hallo Elizabeth. Schön dich zu sehen.“
Sie kam auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. „Wie geht es dir?“ wollte sie wissen.
Er lächelte matt. „Wie soll es mir schon gehen? Der Captain wird vermisst ebenso seine Stellvertreterin. Das Universum scheint zu spinnen, denn hier ist alles ungefähr hundert Jahre alt, aber trotzdem ganz anders wie vor hundert Jahren. Wir sind von feuerbereiten Raumschiffen umstellt und haben reichlich Schäden davon getragen. Aber abgesehen davon ging es mir noch nie besser.“ Sein Sarkasmus wurde mit jedem Wort stärker.
Elizabeth fand das nicht sonderlich lustig. Ernst sah sie ihn an. „Ich glaube dir kein Wort. Abgesehen von den ganzen Problem geht es dir so schlecht wie noch nie. Habe ich recht?“
Drake schnaubte und wandte sich wieder dem Fenster zu. „Wie kommst du auf so etwas?“
„Ich kenne dich schon lange genug. Und falls dir das nicht reicht, dann nenne es weibliche Intuition.“
Er verschränkte die Arme vor der Brust und schloss kurz die Augen. „Ja, du hast recht“, sagte er leise. Er zögerte noch kurz, aber dann musste es heraus. „Ich habe Elane Watts geküsst.“
Erstaunt zog Elizabeth die Augenbrauen hoch. „Du hast was? Sie passt doch gar nicht in dein sonst übliches Schema.“
„Nein“, gab er knapp zurück.
„Und es ist nur bei einem Kuss geblieben?“ spekulierte sie.
Er zögerte. „Ja. Was aber nicht an mir lag.“
„Sie konnte dir widerstehen? Die Frau muss ich näher kennen lernen“, stichelte Elizabeth. „Und das bereitet dir jetzt schlaflose Nächte?“
Reed ignorierte ihren Sarkasmus. Genaugenommen tat er ihm sogar weh. „Ich liebe sie“, sagte er leise. „Ich bekomme sie nicht mehr aus meinem Kopf, aus meinen Gedanken.“
Elizabeth lag eine weitere spitze Bemerkung auf der Zunge, aber dann merkte sie, dass Reed es ernst meinte. Ihr fiel beinahe der Unterkiefer runter. Sie war sprachlos.
Drake wandte sich wieder ihr zu. „Ich kann an nichts anderes mehr denken als an sie. Dabei ist sie unmöglich. Und dick. Und sie ist peinlich. Und sie fällt überall auf. Aber sie ist so wundervoll dabei. Allerdings empfindet sie nicht das Gleiche für mich.“
„Oh, Scheiße“, murmelte Elizabeth. Sie konnte es kaum glauben, dass Reed sich tatsächlich verliebt haben sollte. Das passte so gar nicht zu ihm.
„Sie will, dass wir Freunde sind“, fuhr Reed fort.
„Autsch.“ Sie verzog das Gesicht. Lass uns Freunde bleiben. So ziemlich der schlimmste Satz, den man sagen konnte, wenn der andere Gefühle für einen hatte. Und trotzdem ein Klassiker, den wohl so ziemlich jeder schon einmal zu hören bekommen hatte. Elizabeth konnte nachvollziehen wie Drake sich fühlte.
„Es tut einfach weh sie zu sehen und zu wissen, dass sie nicht das Gleiche fühlt. Das Blöde dabei ist, dass ich ihr nicht aus dem Weg gehen kann. Solange ich das Kommando habe vertritt sie mich an der Ops. Das heißt, wir müssen zusammenarbeiten. Sie kommt auch gleich zu dieser Besprechung. Und mich zerreißt es immer fast, wenn ich sie sehe.“
„Das glaube ich“, sagte Elizabeth nachdenklich. Sie wollte Drake helfen, wusste nur nicht wie. Letztendlich musste er da alleine durch. Sie konnte ihm nur zuhören.
„Ich denke, ich werde ihr Angebot annehmen und ihr Freund bleiben. Auf die Art kann ich wenigstens in ihrer Nähe sein.“
„Dich muss es ja wahnsinnig erwischt haben, wenn du das wirklich auf dich nehmen willst.“
„Ja, ich...“ Reed brach ab. Die Tür hatte sich geöffnet und die Führungskräfte traten ein. Damit war die Gelegenheit für ein vertrauliches Gespräch vorbei. Sie mussten die Fortsetzung verschieben.
Die Besprechung selbst ging nicht sonderlich lange. Es gab nicht viel Neues. Aufgrund verschiedener abgefangener Meldungen konnte nun sicher gesagt werden, dass sich die gefangenen Crewmitglieder nicht mehr in Genf aufhielten. Wo sie allerdings festgehalten wurden war unklar.
Auch die Reparaturen liefen nur schleppend. Es gab zu wenig Ersatzteile an Bord. Und neue Teile von der Erde konnte sie kaum bekommen. So wurde verbaut was noch da war, bei anderen Reparaturen wurde improvisiert.
Drake empfand die Besprechung als Belastung. Zwar hatte er sich gut im Griff und er war sich sicher, dass ihm niemand etwas ansah. Aber innerlich litt er. Elane war bezaubernd wie immer. Sie wirkte völlig normal. Ihr war ebenfalls nichts anzumerken. Nicht einmal er sah etwas Ungewöhnliches. Zwischendurch lächelte sie ihn sogar an. Dabei kribbelte es in seinem Bauch wieder. Wie sollte er es anstellen diese Frau je wieder zu vergessen? Er war sich sicher, dass ihm das nie gelingen würde.
Nachdem die Besprechung beendet war zogen sich die Führungskräfte zurück, um wieder ihrer Arbeit nachzugehen. Elane ließ sich auffallend Zeit. Und so zog es auch Elizabeth Williams vor schnell zu gehen. Hier schien es gleich ein Gespräch zu geben, das sie auf keinen Fall stören wollte. Sie würde später nochmals mit Drake reden.
Nachdem alle den Raum verlassen hatten wandte Elane sich Drake zu. „Wir hatten in den letzten Tagen wenig Zeit zum Reden“, begann sie.
„Ja.“ Drake hatte das Gefühl kein Wort heraus zu bekommen.
„Wie geht es dir?“
„Oh, super“, log er. „Und dir?“
„Ja, auch gut. Hättest du Lust, dich heute Abend mit mir zu treffen. Wir könnten die Bar aufsuchen und ein wenig plaudern.“
Reed lächelte. „Gerne.“ Im Hinterkopf hörte er eine Stimme, die ihn erinnerte, dass er sie vergessen wollte. Doch er hörte nicht darauf. Diese Stimme würde er wegsperren, so dass er sie nicht mehr hören konnte.
„Schön. Dann bis heute Abend.“ Sie wandte sich um und verließ den Raum.
Drake sah ihr nach. Er konnte es kaum fassen. Er kam sich vor wie ein pubertierender Jüngling, der zum ersten Mal ein Date mit einem Mädchen hatte. Er schien zu schweben. Und das, obwohl es noch nicht einmal ein Date war. Zumindest nicht aus ihrer Sicht. Ihm war es egal, wie sie es bezeichnete. Er freute sich drauf wieder Zeit mit ihr zu verbringen.
SIEBEN
Die Sonne war längst untergegangen. In einem Randbezirk Los Angeles hörte man immer wieder dumpfe Schläge durch die Straßenschluchten hallen. Riesige Wolkenkratzer säumten die Straßen, deren obere Enden sich in der dunklen Nacht verloren. Nur einige Häuser bildeten vor dem Mond eine Silhouette. Der leichte Wind wehte Plastiktüten und Plastikbecher über den Gehweg. Grell leuchtende Werbereklamen flimmerten an Häuserwänden und von Tafeln herunter. Ein fast taghelles Licht, das allerdings so quietschbunt war, dass man Kopfschmerzen davon bekam. Sie versuchten die Bewohner und Touristen zu verschiedenen Kaufgelegenheiten und Angeboten zu locken. Und in diesem Teil der Stadt waren es nicht gerade die seriösesten Angebote. Da blinkten Geldscheine und nackte Frauen, Traumstrände und Schwebeflitzer von den Anzeigen und ermunterten die Passanten zum Geldausgeben.
Ein bereits etwas älteres Paar, das sich offenbar verlaufen hatte, irrte eng umschlungen durch die Straßen. Immer wieder schauten sich die zwei etwas eingeschüchtert um. Ihnen war nicht sonderlich wohl in ihrer Haut. Dieses Viertel war so alt, dass nicht einmal öffentliche Terminals vorhanden waren, an denen man die Straßenkarten aufrufen konnte. So blieb den beiden nichts weiter übrig als weiter zu irren, bis sie zum nächsten Viertel kamen.
Einige leicht gekleidete Damen warfen ihnen Blicke hinterher, aber hielten sich ansonsten zurück. Sie wussten wohl, dass an diesen zwei nichts zu verdienen war.
Nur hin und wieder zischte ein Schwebeflitzer an ihnen vorbei. Zu schnell, um ihn anzuhalten und um nach dem Weg zu fragen. Meistens dröhnte laute Musik aus den Flitzern. Laute, moderne Musik der Jugend. Musik, die in den Ohren der meisten Älteren nur noch weh tat.
Eilig liefen sie an einer der Kneipen vorüber, aus der nur dumpfe Schläge zu hören waren. Bassschläge der Musik. Erst als sie vorüber waren blieb der Mann plötzlich stehen. Seine Frau, die davon völlig überrascht war, hätte ihn fast umgerannt.
„Ich werde da hineingehen und einmal fragen wohin wir gehen müssen“, sagte der Mann.
„Schatz, bist du sicher, dass wir nicht einfach weitergehen sollten? Irgendwann werden wir schon aus dieser Gegend heraus finden“, flehte sie angstvoll.
Ihr Mann schaute an den Häuserschluchten entlang nach oben zum Mond. „Oder wir verlaufen uns völlig und werden womöglich noch überfallen. Nein, ich frage jetzt“, entschied er und klang dabei zuversichtlicher, als er sich fühlte.
Dann ging er zügig auf die Kneipe zu. Seine Frau kam hinter ihm her, hin und her gerissen von der Angst den Laden zu betreten und der Angst alleine vor der Tür stehen zu bleiben. Als sie vorsichtig die Tür öffneten kam ihnen warme, schwere Luft entgegen. Der Rauch in der Kneipe hatte nun endlich einen Abzug gefunden und wehte den beiden ins Gesicht. Hustend wandte sich die Frau ab, folgte aber doch ihrem Mann, als er die Kneipe betrat.
Im Inneren sah die Kneipe lange nicht mehr so schäbig aus wie von außen. Allerdings war es fast genauso dunkel wie draußen. Ein leichtes rötliches Licht lag in der Luft und beleuchtete die holzverzierten Wände und die Polstermöbel. Es gab dem Ganzen ein sehr schummriges Aussehen. Zu wummernder Musik tanzen auf drei Flächen Stripteasetänzerinnen. Ihre sehr obszönen Bewegungen verschlugen den beiden fast die Sprache. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Schnell wandten sich beide ab und suchten an der Bar nach jemand halbwegs vertrauenswürdigem. Schließlich stießen sie einen Mann an, dessen Alter man leicht auf Mitte Vierzig hätte schätzen können. Bei genauerem Hinsehen erkannte man jedoch, dass er wohl zehn Jahre jünger sein musste und einer jenen Menschen war, die nach dem Genuss von Alkohol sichtlich alterten. Seine dunklen Haare sahen aus, als hätten sie schon seit langem keinen Kamm mehr gesehen. Lässig saß er auf seinem Barhocker, an die Bar gelehnt und starrte mit glasigen Augen in Richtung der Tanzflächen.
„Entschuldigen Sie, Mister“, schrie der ältere Mann, um gegen die hämmernden Beats anzukommen.
Nur langsam drehte der Mann seinen Kopf und sah sie an. Der Anblick erschrecke den Alten. Halb geschlossene trübe Augen starrten ihn an. Augen, die garantiert nicht nur vom Alkohol getrübt waren. Da mussten auch noch andere Stoffe im Spiel sein.
„Entschuldigung, könnten Sie uns sagen, wo wir die nächste U-Bahnstation finden, die uns ins Zentrum bringen kann?“ rief der alte Mann erneut und seine Frau versteckte sich hinter ihm. Immer wieder warf sie einen schüchternen Blick in die Bar. Und wenn ihr Blick die nackten Mädchen streifte, dann zeigte sich noch eine Spur von Ablehnung und Erniedrigung in ihren Augen. Sie fühlte sich alles andere als wohl und es war nicht nur die Angst, die dieses Unwohlsein auslöste.
Der junge Mann an der Bar starrte sie lange an und der Fragesteller war sich nicht einmal sicher, ob sein Gegenüber eigentlich verstanden hatte, was er von ihm wollte. So verstrichen einige Sekunden, die dem älteren Mann vorkamen wie eine Ewigkeit. Seine Zuversicht schwand und auf einmal hatte er das Gefühl hier vielleicht gar nicht mehr lebend herauszukommen. Die hämmernden Beats durchdrangen ihn, die rötliche Beleuchtung ließen seine Augen flimmern und der Blick dieses jungen Mannes....
„Na klar“, lallte der Gefragte schließlich etwas undeutlich. „Sie gehen raus, nach links die Straße hoch bis zur zweiten Kreuzung und dann rechts. Schon sind Sie an einer Haltestelle.“
Der Ältere sah in noch einige Sekunden an, so überrascht war er, doch eine Antwort bekommen zu haben. Und dann auch noch so eine präzise. Dann wurde er unsanft von seiner Frau angestoßen. „Komm, lass uns gehen“, sagte sie leise.
Noch im Umdrehen fegte sie ihn leise an: „Das hätten wir auch alleine gefunden, wenn du ein bisschen mehr Geduld gehabt hättest. Aber du musstest ja unbedingt hier hereinkommen.“ Der Rest ihrer Anklage ging in den hämmernden Beats unter.
Der Mann an der Bar wandte sich zu einem Mann um, der neben ihm saß. „Also hier tauchen Gestalten auf, Chris. Die zwei waren ja wohl wirklich zum Schießen. Und haste die Frau gesehen.“ Er musste so heftig anfangen zu lachen, dass er fast vom Stuhl gefallen wäre. „Ich glaub, der arme Mann hat daheim nicht viel zu melden.“
Chris, der neben ihm saß, wirkte lange nicht so betrunken wie sein Freund. Er war ein wenig größer, hatte rotblondes Haar und sah aus wie ein männliches Model für Parfümwerbung. Auch er lachte, aber nicht so ausgiebig.
„Oh Mann“, kriegte sich sein Freund langsam wieder ein. Er starrte wieder zu den Mädchen hinüber und meinte dann ungewöhnlich ernst. „Ich werde den Laden hier vermissen, Chris. Und die Mädchen. Weißt du, das werden für eine sehr lange Zeit die letzten Titten sein, die wir hier zu sehen kriegen.“
Chris schüttelte über die Gedankengänge seines Freundes nur den Kopf. Er nahm einen Schluck von seinem Bier und meinte dann: „Du wusstest was dich erwartet, als du dich für diese Mission gemeldet hattest.“
„Ich muss total high gewesen sein, als ich mich dazu hab überreden lassen. Übrigens von dir.“ Er hob den Zeigefinger und drohte spaßeshalber. „Eigentlich dachte ich, wir könnten es uns nach dem Ausschlachten der Technologie aus dem Schiff gut gehen lassen. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher ist das. Wir haben hier doch alles was wir brauchen.“ Er deutete hinüber zu den strippenden Frauen. „Was brauchen wir denn mehr?“
„Du hast dich gemeldet, weil du der beste Pilot dieses ganzen Systems bist, Joe“, erinnerte ihn sein Freund. „Und die brauchen dich. Wir brauchen dich.“
„Ich habe mich für diese Mission gemeldet, weil ich keinen Job hatte“, hielt Joe ihm entgegen. „Ich bin der beste Pilot sagst du? Aber wieso wollte mich dann niemand einstellen?“ Sein Ton wurde langsam herausfordernd. Es war seine letzte Nacht hier, da wollte er Spaß haben und nicht mit seinem Freund streiten und diskutieren.
„Du hast keinen Job, weil du dich nicht unterordnen kannst“, rief Chris aufgebracht zurück. „Du kannst dich nicht an Regeln halten. Du kommst grundsätzlich zu spät.“
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Die Beats schlugen durch sie hindurch und so stickig wie die Luft hier durch die Zigaretten war, so vernebelt waren ihre Köpfe. Dann grinste Joe und sagte: „Ich komme nicht immer zu spät. Frag mal Celine dort hinten.“
Auch sein Freund musste grinsen. „Ich glaube, wir sollten gehen. Morgen wird ein harter Tag und ich habe keine Lust bei dem Überfall mein Essen der letzten Tage wieder von mir zu geben.“
„Du hast recht“, gab Joe zu Chris' Überraschung zu. „Wir sollten mit dem Alkohol und den Drogen für heute Schluss machen.“ Er trank seinen Rest Bier mit einem Zug herunter und warf die Flasche dann zu Boden. „Geh du ruhig heim, ich werde den letzten Tag meines Lebens noch einmal genießen, bevor wir morgen womöglich erschossen werden.“
„Was hast du vor?“
„Ich werde mir die da hinten klar machen für heute Nacht.“ Grinsend sah er Chris an. „Und zwar alle beide. Wir sehen uns morgen dann.“ Damit stand er auf und schwankte davon.
Chris schüttelte nur den Kopf. Er kippte sein restliches Bier hinunter und stand dann auf. Auch ihm drehte sich alles, aber wenigstens konnte er noch stehen ohne zu schwanken. Noch einmal ließ er seinen Blick durch die Bar schweifen. Joe hatte sich zu einer rassigen Blondine und ihrer Begleiterin an den Tisch gesetzt. Offenbar kannte er sie. Und wenn Chris sich nicht täuschte waren die beiden Tänzerinnen in diesem Laden.
Kopfschüttelnd bat er den Barkeeper ihm ein Taxi zu bestellen. Aber ein langsames, dessen Luftkissen gut federte. Er hatte keine Lust sich heute noch zu übergeben. Dann lief er leicht torkelnd zum Ausgang, während Joe mit den beiden eine andere Türe zu einem privaten Zimmer nutzte.
Lustlos betrat Reed die Brücke um seinen Dienst anzutreten. Er war zwei Stunden zu früh dran, doch er konnte ohnehin nicht schlafen. Zu viele Dinge beschäftigten ihn und rasten in seinem Kopf herum, so dass er einfach keine Ruhe fand. Da konnte er auch hier sitzen, um im Falle eines Falles sofort entscheiden zu können. Doch erst mal konnte er wieder nichts weiter tun als warten. Sie wussten noch immer nicht, wo das Außenteam festgehalten wurde. So lange sie das nicht wussten waren jegliche Aktionen nutzlos. Es war frustrierend. So kamen sie einfach nicht weiter. Und das, obwohl die Transporter endlich wieder funktionierten.
Seufzend nahm Reed im Kommandosessel Platz. Am liebsten hätte er das Kommando abgegeben und wäre in seinem Bett unter die Decke gekrochen. Für ihn war weit mehr als nur diese Situation frustrierend. Irgendwie ging gerade alles was er anpackte gründlich schief.
Wieder wanderten seine Gedanken zum gestrigen Abend. Zu seinem Treffen mit Elane. Sie waren gemeinsam in die Bar gegangen, um sich dort zu unterhalten. Reed war schon mit einem unguten Gefühl hin gegangen. Wie sollte er sich auch gut fühlen? Er traf sich mit der Frau, die ihm sein Herz geraubt hatte und es fest in Händen hielt, aber lediglich Freundschaft von ihm wollte. Und nun wusste sie auch noch, was er für sie fühlte. Wie konnte man da unbefangen auftreten?
Entsprechend mühsam war der Anfang auch gewesen. Sie waren sich gegenüber gesessen und hatten kaum zwei Sätze hintereinander gesprochen. Es war zum Davonlaufen gewesen. Und einige Zeit lang hatte Reed auch daran gedacht den Raum zu verlassen. Doch nach und nach war das Gespräch dann in Gang gekommen. Und es war tatsächlich möglich gewesen, dass er sich in ihrer Nähe wieder entspannen konnte. Und ihr war es wohl ebenfalls so ergangen, denn auch sie war nach und nach lockerer geworden. So war es doch noch ein wunderbarer Abend geworden. Reed hatte sich richtig gut gefühlt. Und zwischendurch hatte er sogar vergessen, wie es um sie beide stand. Sie hatten miteinander gescherzt und gelacht. Es war tatsächlich so gewesen, als hätte es diesen fatalen Kuss nie gegeben.
Umso schlimmer war es für ihn gewesen, als er danach alleine in seinem Quartier gesessen war. Die Hand, die sein Herz bereits im Würgegriff hatte, schien sich noch fester zusammen zu ziehen. Gab es denn keinen Weg dafür zu sorgen, dass sie dasselbe empfinden würde? Aber Liebe konnte nicht erzwungen werden, dessen war er sich bewusst. Wenn sie nichts für ihn empfand, dann konnte er das nicht ändern. Er musste es akzeptieren und lernen damit umzugehen. Auch wenn es ein langer und harter Weg werden würde.
Sie hatte sich in derselben Nacht noch einmal bei ihm gemeldet. Sein Monitor hatte ihm eine neue Nachricht angekündigt. Da er ohnehin noch wach gewesen war hatte er sie auch gleich gelesen. Sie hatte sich darin bei ihm für den schönen Abend bedankt. Und sie ließ ihn wissen, dass sie es ganz toll fände, dass sie ihn wieder habe. Als Freund. Er würde immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnehmen.
Als ob sein Schmerz nicht schon groß genug wäre schlug sie noch einmal in die Wunde. Er wollte einen besonderen Platz in ihrem Herzen haben, aber eben einen anderen. Ihm war zum Heulen zumute gewesen, auch wenn keine Tränen kamen.
In seinem Schmerz hatte er auch schon daran gedacht, ob er nicht mit dem Captain reden sollte und um eine Versetzung auf ein anderes Schiff bitten sollte. Doch dann würde er sie gar nicht mehr sehen. Und dieser Gedanke entsetzte ihn genauso, wie der Gedanke, immer in ihrer Nähe zu sein, ohne dass sie ihre Meinung änderte. So oder so, er würde wohl mit keiner Entscheidung glücklich werden.
„Captain, der Computer hat eine Nachricht abgefangen“, riss Lieutenant Paulsen ihn aufgeregt aus seinen Gedanken. Paulsen hatte gerade Dienst an der Ops. „Wir wissen nun wo unser Außenteam festgehalten wird.“
„Endlich“, stieß Reed hervor. Das war die erste gute Nachricht seit Tagen. Sofort stellte er eine Verbindung zur Sicherheitsabteilung her. „Lieutenant Holgrem, bringen Sie Ihr Sicherheitsteam sofort in den Transporterraum. Es geht los. Wir haben den Captain lokalisiert.“
„Ja, Sir“, bestätigte Kasaja Holgrem kurz. Dann unterbrach sie die Verbindung, um mit ihrem Team sofort in den Transporterraum zu rennen. Verschiedene Teams hatten sich seit dem Verschwinden des Außenteams abwechselnd bereitgehalten, um auf ein Signal hin sofort eine Rettungsmission starten zu können. Das waren anstrengende Tage für die Sicherheitsabteilung gewesen. Vor allem das Warten ging den Leuten auf die Nerven. Holgrem hatte es aber gut verstanden ihr Team trotzdem auf höchstem Niveau zu halten. Jetzt, wo sich Real auf der Krankenstation befand und Zien gefangen war, hatte sie das Kommando über die Sicherheit. Und sie schlug sich wacker.
Reed stand vom Kommandosessel auf und trat zu Paulsen an die Ops. „Wo befinden sich unsere Leute?“ wollte er wissen. Die Situation erforderte seine ganze Aufmerksamkeit und es gelang ihm tatsächlich einige Zeit nicht an Elane zu denken.
„Die Information, die wir abfangen konnten, sprechen eindeutig für ein Gebäude in der Bucht von San Francisco“, berichtete Paulsen. „Bisher stand dort das Hauptquartier der Sternenflotte. Unsere Scanns haben gezeigt, dass sich dort ein großer unterirdischer Komplex befindet. Dort müssen sie festgehalten werden.“
„Können wir sie anhand der Lebenszeichen identifizieren?“
„Nein. Ich kann aus diesem Bereich gar keine Lebenszeichen empfangen. Es muss eine Art Energieabschirmung geben. Das ist auch der Grund, weshalb wir das Rettungsteam nicht direkt hinein beamen können. Wir müssen sie im Erdgeschoss absetzen. Danach können sie sich weiter vorarbeiten. Dorthin müssen sie dann auch zurückkehren, um wieder herausgebeamt zu werden.“
„Verdammt riskant“, murmelte Reed. „Wir haben also keine Ahnung was uns dort erwartet? Es könnte sich eine ganze Armee dort versteckt halten.“
„Wäre möglich“, antwortete Paulsen und stürzte dann die Lippen. „Aber wieso sollte das der Fall sein? So wie die Anlage aufgebaut ist, würde ich sagen, dort unten will man etwas verstecken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich allzu viele Leute dort aufhalten. Wenn der Komplex geheim ist, dann wird sich auch das Wachpersonal in Grenzen halten.“
„Hoffen wir es. Wir werden auf jeden Fall reingehen, es könnte unsere einzige Chance sein.“ Er trat wieder zum Kommandosessel und stellte eine Verbindung zum Transporterraum her. Holgrem und ihr Team waren inzwischen dort angekommen. Reed unterrichtete sie schnell über die Erkenntnisse.
„Wir bringen sie zurück“, gab Holgrem noch zuversichtlich als Antwort, dann ging sie zu ihrem Team auf die Transporterplattform. Insgesamt waren sie ein Team aus zwölf schwer bewaffneten Männern und Frauen. Sie bildeten einen Kreis, damit ihnen niemand nach der Rematerialisierung in den Rücken fallen konnte. „Phaser auf Betäubung“, befahl sie noch. Die Aufregung, die sie noch bis vor wenigen Augenblicken gespürt hatte, verflog allmählich, nun da es losging. Es war ihre erste Mission, bei der sie den Befehl inne hatte und damit letztlich auch die Verantwortung trug. Das wollte sie auf keinen Fall vermasseln.
Ein letztes Mal prüfte ein jeder seine Waffe. Bis auf Holgrem und einen weiteren Offizier trugen alle ein Phasergewehr bei sich. Die Waffe hatte eine größere Energiequelle und konnte somit auch größere Hindernisse aus dem Weg räumen. Außerdem konnte man diese Waffe länger einsetzen, bis die Energie zur Neige ging.
Die zwei anderen hatten nur die üblichen Handphaser. Das war einfacher mit der Handhabung, da sie zusätzlich noch ihre Tricorder dabei hatten, mit denen sie die Umgebung scannen konnten. Auf die Art konnten sie sich orientieren und herausfinden, wo genau sich die Gesuchten befanden.
Nachdem alle ihr das Zeichen gegeben hatten fertig zu sein, nickte Holgrem Karja zu, die an den Konsolen des Transporters stand.
Der Energiestrahl erfasste das Team und begann, die Personen in einzelne Moleküle zu zerlegen. Dann wurden diese Moleküle über die Transporterleitungen zu den Sendebereichen an der Schiffsaußenhülle gemeldet und dort mit Subraumgeschwindigkeit an die Zielkoordinaten geschickt. Nach wenigen Sekunden fand sich das Rettungsteam in einem langen Gang wieder. Die Decke war hoch und mit hellem Holz vertäfelt. Der Boden war mit hellem Parkett ausgelegt und wirkte somit freundlich. Im Abstand von einigen Metern reiten sich Türen an der rechten Seite des Ganges aneinander. Links gaben große Fenster den Blick auf eine Baumallee frei sowie auf einen Parkplatz, der sich vor dem Gebäude befand. Sie waren im Erdgeschoss des Gebäudes.
Rasch erfasste Holgrem die Lage. In dem Gang waren sie weithin sichtbar. Es musste nur jemand durch eine der Türen den Gang betreten und schon waren sie aufgeflogen. Sie wollte aber auf jeden Fall so lange wie möglich unentdeckt bleiben. Eine wilde Schießerei würde sie nur aufhalten und die Mission gefährden.
„Direkt vor uns befinden sich Schächte in der Wand“, sagte sie während sie die Daten ihres Tricorders studierte. „Aufzugsschächte. Gut getarnt.“ Die Wand vor ihnen zeigte keinerlei Auffälligkeiten. Den Erbauern ging es ganz offenbar darum, diese Aufzüge geheim zu halten. „Es gibt auch keine Anzeichen auf ein Treppenhaus“, fuhr sie fort. „Allerdings gibt es neben dem Aufzugsschacht eine Art Notschacht. Sehr schmal, aber wohl der einzige Weg, wenn wir den Aufzug nicht benutzen wollen. Ich wette, dort werden wir auch eine Leiter vorfinden.“
Sie gab ihren Leuten ein Zeichen und daraufhin sprengten sie mit ihren Waffen ein Loch in die von Holgrem bezeichnete Stelle. Das ging allerdings nicht ganz lautlos von sich, daher drängte sie ihre Leute eilig in den Schacht, bevor jemand sie sehen konnte. Wie sie richtig vermutet hatte befand sich dort eine Leiter, die in die Tiefe führte. Wahrscheinlich als Notaufstieg eingebaut, um auch im Falle eines Ausfalles des Aufzuges noch immer die Etagen wechseln zu können.
Während die Ersten in den Schacht kletterten sicherte der Rest des Teams den Gang. Holgrem betete, dass ihr Lärm unbemerkt geblieben war. Doch selbst wenn das der Fall war, sollte irgendjemand den Gang betreten, würde die Zerstörung der Wand entdeckt werden. Dann war es mit ihrer Unauffälligkeit vorbei. Doch darüber konnte sie sich jetzt keine Gedanken machen.
Schließlich waren alle im Schacht und Holgrem folgte als letzte. Sie hatte die Stellung gesichert, bis auch der letzte ihrer Leute auf dem Weg nach unten war.
Sprosse um Sprosse stiegen sie nach unten. Lieutenant Lane führte den Tross an. Mit seinem Tricorder sollte er nach einer geeigneten Stelle suchen, an der sie den Schacht verlassen konnten. Doch zu ihrem Glück gab es hier unten ganz reguläre Türen, durch die sie auf die einzelnen Etagen gelangen konnten. Offenbar war eine Tarnung hier unten nicht mehr nötig. Wer den Bereich einmal gesehen hatte gehörte zum eingeweihten Kreis. So stiegen sie hinunter, bis Lane es für angebracht hielt den Schacht zu verlassen. Laut seinen Anzeigen befand sich auch niemand in der unmittelbaren Nähe. So konnten sie den Gang betreten und die Stellung sichern bis sich alle sicher eingefunden hatten.
Holgrem kam als Letzte aus dem Schacht und wandte sich direkt an Lane: „Wohin jetzt?“ fragte sie leise.
Doch Lane sah etwas verzweifelt aus. „Ich weiß es nicht“, zuckte er schließlich die Achseln. „Hier sieht alles gleich aus. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob wir uns auf der richtigen Ebene befinden. Selbst diese gleichen sich.“
Holgrem sah sich den angezeigten Lageplan an. Vom Schiff aus hatten sie leider keine Einzelheiten der Gänge erkennen können, so dass sie sich nun direkt vor Ort darum kümmern mussten. Innerhalb des Abschirmungsfeldes schien es keine Beeinträchtigung beim Scannen zu geben. Die einzige Einschränkung war die Reichweite des kleinen Gerätes. Es reichte jedoch aus, um zu erkennen, dass dieser Teil der Einrichtung aus vielen Gängen zu bestehen schien. Die drei Ebenen darunter und darüber sahen jedoch exakt gleich aus.
„Wir können unmöglich alle Zellen überprüfen“, grübelte Holgrem. Sie hatte befürchtet, dass noch ein Haken kommen musste, denn bisher lief es einfach zu gut. „Zwei Teams“, entschied sie schließlich. „Wir suchen nach einem Computerterminal. Irgendwo gibt es sicherlich einen Zugang. Selbst in dieser primitiven Welt funktioniert nichts mehr ohne Computer. Daher sollte es so etwas auf jeder Ebene geben. Wenn wir dort Zugang erlangen könnten, dann können wir vielleicht herausfinden, wo sich unsere Leute befinden. Halten Sie Funkkontakt, aber bleiben Sie auf jeden Fall auf unseren Frequenzen.“ Sie wollte nicht gewünschte Zuhörer vermeiden.
Die anderen nickten, dann gingen sie in beide Richtungen des Ganges. Vorsichtig gingen zwei Offiziere voraus und sicherten die nächste Gangbiegung. Holgrems Blick wechselte immer wieder zwischen der Umgebung und dem Anzeigefeld ihres Tricorders. Sie wollte auf keinen Fall irgendetwas übersehen. Von der anfänglichen Aufregung, die sie erfasst hatte, war inzwischen nichts mehr übrig. Die professionelle Wahrnehmung ihrer Aufgaben hatte alles andere verdrängt.
Sie gab ihren Leuten das Zeichen weiter vorzurücken. Sie kamen an einigen Türen vorbei, die Aufgrund ihrer Beschaffenheit und ihrer Schließtechnik auf Gefängniszellen schließen ließen. Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, welche Gefangenen in einem Gefängnistrakt saßen, der nur über einen geheimen Aufzug als Zugang verfügte. Ein normales Gefängnis war das sicher nicht. Sie vermutete stark, dass jemand, der hierher kam, nie wieder gesehen wurde.
Der Gang war geradezu unheimlich lang. Und es gab auch keine Verzweigungen. Zwar hatte der Gang ein paar Biegungen, aber keinen weiteren Quergang, der abzweigte, keine Kreuzung zweier Gänge. Es war wie ein langer, gewundener Tunnel. Diese Tatsache würde eine teilweise Abriegelung im Notfall sicherlich vereinfachen. So ließe sich Abschnitt für Abschnitt sperren, ohne dass es einen weiteren Fluchtweg gab.
Je weiter sie kamen, desto seltsamer erschien es Holgrem. Niemand würde einen so wichtigen Raum mit Computerzugang so weit in einen Zellengang hinein verlegen, der bei Gefahr auch noch abgeriegelt wurde. Was, wenn es tatsächlich einem Teil der Gefangenen gelang zu fliehen? Dann musste der Gang gesperrt werden und die Flüchtlinge hätten ungehinderten Zugang zum Computersystem. Nein, sie mussten etwas übersehen haben. „Wir gehen zurück zum Aufzug“, entschied sie schließlich. „Wir werden uns dort nochmals genauer umschauen.“
Die anderen schienen überrascht, nickten aber nur und sicherten dann den Rückweg. Sie waren alle ausgebildete Soldaten, die gelernt hatten, sich in solchen Situationen strikt an die erteilten Befehle zu halten. In einer solchen Gefahrensituation ließ sich schließlich nicht über eine Entscheidung diskutieren. Zu langes Zögern konnte den Tod aller bedeuten.
Nachdem sie den Lift erreicht hatten scannte Holgrem nochmals ausführlich den Bereich. Ihrer Meinung nach konnte ein Raum, wie sie ihn suchten, nur in der Nähe des Einganges sein. Hier kamen die Verantwortlichen als erstes vorbei und konnten Berichte über die Verhöre einsehen und abgeben oder sich über den Zustand eines Gefangen informieren, bevor man ihm zu Leibe rückte. Nur hier machte es Sinn.
Schließlich deutete sie direkt auf die Wand gegenüber dem Lift. „Hier ist ein Raum. Ohne sichtbare Tür. Ich nehme an, das ist eine Sicherheitsvorkehrung vor eventuell flüchtenden Gefangenen. Irgendwo muss es auch einen Türöffner geben.“ Langsam suchte sie die Wand ab, sowohl unter Verwendung ihres Tricoders wie auch mit ihren eigenen Augen. Doch sie fand nichts. Der Türöffner war gut versteckt.
„Na schön“, nickte sie. Zuerst rief sie das zweite Team zurück. Eine weitere Suche war nicht nötig. Dann ermittelte sie mit den Messergebnissen die bestmögliche Stelle für einen gewaltsamen Durchbruch. Wieder gab sie ihren Leuten ein Zeichen und mit wenigen Schüssen hatten sie ein Loch in die Wand gesprengt, das groß genug war, um eine gebückt gehende Person hindurchzulassen.
Holgrem betrat als erste den Raum. Niemand war anwesend, aber sie erkannte sofort, dass sie den gesuchten Raum gefunden hatten. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, der offenbar als Besprechungstisch diente. Um ihn herum stand, sauber angeordnet, eine Reihe von Stühlen. Der Tisch selbst war leer. Doch ringsherum an der Wand entlang befanden sich die Computerbildschirme nebst Zubehör.
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der erste Schritt war geschafft. Nun galt es, sich in den Computer einzuhacken. „Lane“, rief sie auf den Gang hinaus. Sofort stand der große, schlaksige Mann neben ihr. „Nehmen Sie sich einen der Computer vor und finden Sie unsere Leute.“
„Ja, Sir“, nickte er. Er nahm vor einem Computer Platz und machte sich sofort an die Arbeit. Für einen kurzen Moment sah Holgrem ihm noch über die Schulter. Dann wollte sie sich gerade abwenden, als sie aus dem Augenwinkel heraus ein kleines rotes Licht entdeckte, das unter dem Besprechungstisch pulsierte. „Verdammt“, stieß sie verärgert hervor. Offenbar hatten sie mit der Sprengung den Alarm ausgelöst. Daran hätte sie auch früher denken können. „Den Gang sichern“, rief sie laut. „Wir wurden entdeckt.“
Sofort nahm das Team eine Verteidigungsstellung ein. Ein paar der Männer liefen den Gang in beide Richtungen bis zur jeweils ersten Gangbiegung zurück und gingen dahinter in Deckung. So konnten sie den Lift überwachen, waren aber selbst geschützt. Einen Überfall aus den Gängen, die ganz offensichtlich Sackgassen waren, hatten sie nach ihren Erkenntnissen nicht zu befürchten. Der Rest ging direkt in der gesprengten Lücke der Wand vor dem Lift in Stellung. So konnten sie das Überraschungsmoment besser nutzen. Mit ihren Gewehren konnten sie nun im Bereich der Lifttüren jeden Zentimeter des Ganges abdecken. So verharrten sie angespannt.
Holgrem wandte sich wieder Lane zu. „Wie kommen Sie voran?“
„Das System ist passwortgesichert“, gab er zurück. „Ich brauche einige Minuten.“
„Ich glaube kaum, dass Sie die haben“, gab sie ungerührt zurück. Ob er damit mehr Druck spürt oder nicht interessierte sie nicht.
Sie begab sich zum Loch in der Wand und sah hinaus. Von hier aus hatte sie, direkt vor sich, den Lift in optimaler Schusslinie.
Plötzlich zerriss ein lauter Knall die Luft und hallte schmerzhaft laut durch den Gang. Weitere folgten und auch das Summen von Phasern war zu vernehmen. Der Lärm kam von der linken Gangseite. Zwölf Soldaten des Gegners war es gelungen, von der anderen Seite in den Gang vorzurücken und fiel nun den Sicherheitsoffizieren der Republic
in den Rücken. Diese waren so sehr auf den Lift konzentriert gewesen, dass sie völlig überrumpelt worden waren.
„Projektilwaffen“, entfuhr es einem der Offiziere, als er den Knall identifiziert hatte. „Das ist ja absolut antiquiert.“
„Aber trotzdem wirkungsvoll“, gab Holgrem zu bedenken. „Und offenbar gibt es doch noch einen weiteren Zugang zu diesem Teil des Ganges. Es sind keine Sackgassen. Wir hätten es gründlicher absuchen müssen.“
Sie deutete nach links und sah, wie sich die Offiziere dort im Gang unter Sperrfeuer zu ihnen zurückzogen. Einer von ihnen hielt sich eine blutende Wunde an der Schulter. Während der wenigen Schritte, die sie ungeschützt zurücklegen mussten, wurden sie von feindlichen Kugeln zugedeckt. Von den sechs Mann erreichten nur noch zwei den Raum.
„Sofort hier herein“, befahl Holgrem laut. Sie sah die kommende Katastrophe schon vor ihrem geistigen Auge. Wenn sich jetzt die Lifttüren öffneten, dann saßen ihre Offiziere draußen auf dem Gang ohne Schutz da.
Nacheinander kamen sie durch die Öffnung. Holgrem kam es vor wie eine Ewigkeit. Inzwischen waren auch die Offiziere aus der anderen Gangbiegung eingetroffen. Auch sie waren überrascht worden und hatten einige Treffer einstecken müssen. Fast alle bluteten an irgendwelchen Wunden. Wie durch ein Wunder konnten sich die Verbliebenen aber noch auf den Beinen halten.
Und dann geschah es. Bevor sich alle in den kleinen Raum zurückziehen konnten öffneten sich die Aufzugtüren und zwölf schussbereite Soldaten eröffneten augenblicklich das Feuer. Die drei Sicherheitsoffiziere, die sich noch auf dem Gang befanden, hatten nicht einmal die Chance zu reagieren. Ein Kugelhagel ging auf sie nieder und brachte ihnen tödliche Verletzungen ein. Noch bevor sie zu Boden gegangen waren hatten mehrere Geschosse sie bereits durchbohrt. Ihr Blut breitete sich auf dem glatten Boden aus.
Holgrem hielt, nach einem ersten Schreck, mit ihrer Waffe dagegen. Aus der Deckung des Raumes heraus konnte sie relativ sicher das Feuer erwidern. Ihre Offiziere folgten ihrem Beispiel, wobei immer nur zwei Personen gleichzeitig schießen konnten. Mehr Platz ließ die Öffnung nicht. Trotzdem gelang es ihnen, ihre Widersacher in Schach zu halten.
Holgrem wusste, dass sie in der Falle saßen. Sobald sie heraus kamen würden sie von den Kugeln niedergestreckt werden. Und einen anderen Ausgang gab es nicht. Zudem konnte sie sich nicht vorstellen, dass die fremden Soldaten solange warten würden, bis sie einen Ausweg gefunden hatten. Nicht mehr lange und sie würden die Wand sprengen. Wenn die Republic
-Crew dabei noch nicht umkam, dann waren sie danach den Kugeln hilflos ausgesetzt.
Sie hatte versagt, das war ihr jetzt klar. Die Mission war gescheitert, sieben Mann bereits tot. Doch noch konnte sie sich mit ihrem Versagen nicht befassen. Sie musste noch schauen, wie sie das restliche Team in Sicherheit bringen konnte. Die Leute verließen sich auf sie.
„Lane“, rief sie und trat zu ihm hinüber.
Dieser sah sie entsetzt an. „Sie sind nicht hier.“
Auch Holgrems Augen wurden weit. „Was heißt das? Hatten wir falsche Informationen?“
„Nein, sie waren hier. Aber sie wurden vor einigen Stunden verlegt. Ein Schiff sollte sie zu einer Einrichtung auf dem Mond bringen.“
Das durfte doch nicht wahr sein. Ein unbändiger Zorn erfasste Holgrem. Darüber, dass sie ihre Leute in einer aussichtslosen Mission in einen sinnlosen Tod geführt hatte. Am liebsten hätte sie ihre Angreifer mit bloßer Hand getötet, so wütend war sie. Ihre Leute waren völlig umsonst gestorben. Und sie saßen in der Falle und das ganz ohne Chance, dass jemals die Hoffnung auf einen erfolgreichen Verlauf der Rettungsmission bestanden hätte.
Es war ruhig geworden. Die Schüsse hatten aufgehört. Niemand sagte ein Wort, alle warteten auf das Kommende.
Holgrem sah sich um und ihre Verzweiflung wuchs. Es gab keinen Ausweg. Sie konnten unmöglich auf den Gang hinaus ohne getötet zu werden. Auch wenn sie ein weiteres Loch in eine der anderen Wände sprengen würden, sie würden überall in einer der angrenzenden Zellen landen. Keine wirkliche Alternative. Es gab nur den Lift und die Notleiter, die sie herunter gekommen waren. Diese lag zwar direkt auf der anderen Gangseite, aber dennoch unerreichbar weit weg, denn die Schützen ihrer Gegner würden sie alle töten, bevor sie das kurze Stück zurückgelegt hätten. Oder?
„Lane, kommen Sie von hier aus ins gesamte Computernetz?“ fuhr sie herum.
„Ja, es sieht so aus“, antwortete er vorsichtig. „Was suchen Sie?“
„Können Sie die Energie abschalten. Und zwar die für den gesamten Komplex?“
„Ich versuche es“, sagte er und tippte wie wild auf der Tastatur herum. „Aber dann sitzen wir im Dunklen. Wollen Sie dann etwa ungesehen zum Ausgang kommen?“
„Das würden wir nicht schaffen“, hielt sie entgegen. „Aber wenn wir damit das Energiefeld abschalten könnten, dann könnte die Republic
uns direkt an Bord holen.“
Diese Aussicht schien neue Energie in Lane freizusetzen, denn er hämmerte noch schneller auf die Tastatur ein.
Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen. Dann rief eine dunkle Stimme über den Gang: „Werft die Waffen raus und kommt dann mit vorgestreckten Händen heraus. Es gibt keinen Ausgang für euch.“
Holgrem sah Lane an, doch der schüttelte den Kopf. Offenbar war er noch nicht soweit. Sie brauchten also Zeit. Und es lag an ihr, ihm die Zeit zu besorgen. „Was bekommen wir als Sicherheiten?“ rief sie zurück.
„Ihr seid nicht in der Lage irgendwelche Sicherheiten zu verlangen“, kam die schroffe Antwort.
„Wir mögen zwar keine Chance mehr haben, aber wir werden uns bis zum letzten Mann wehren. Auch Ihre Verluste können noch steigen“, gab sie zu bedenken und dachte an die getroffenen Soldaten im Lift. Sie hatten es geschafft ein halbes Dutzend von ihnen auszuschalten. Dass diese nur betäubt waren musste ja erst einmal niemand erfahren.
Ein Lachen war die Antwort. „Ihr seid seltsame Terroristen. Ihr schadet uns nicht im mindestens mit euren Schreckschusspistolen. Meine Männer sind nur betäubt, im Gegensatz zu euren.“
Mist, er hatte es doch gemerkt. „Wir sind keine Terroristen.“
„Ach nein? Dann macht ihr hier also nur eine Besichtigungstour?“ Sein Ton wurde plötzlich wieder drohend. „Ihr habt zehn Sekunden Bedenkzeit, danach werdet ihr sterben. Der gesamte Raum wird von uns gesprengt werden.“
Holgrem fuhr herum. „Lane“, zischte sie.
Doch dieser reagierte nicht. Noch immer konzentrierte er sich voll auf seinen Bildschirm.
„Noch fünf Sekunden“, drang es von draußen herein.
„Lane.“
Plötzlich ging das Licht aus und es war stockdunkel. Nicht einmal mehr die Hand vor Augen war zu sehen. Immerhin befanden sie sich unter der Erde. Es gab keine einzige Lichtquelle. Selbst der Computer an dem Lane noch eben gearbeitet hatte war dunkel.
Blitzschnell griff Holgrem zu ihrem Kommunikator und klappt ihn auf.
„Republic
. Außenteam erfassen und rauf beamen. Alle Personen in diesem Raum. Sofort.“
Wenige Augenblicke später spürte sie das vertraute Pickeln des Transporters. Noch bevor sie sich vollständig aufgelöst hatte sah sie noch, wie in die Dunkelheit hinein plötzlich der Schein einer Explosion drang und zeigte, dass die Wand vor ihr in sich zusammenfiel. Dann stand sie wieder auf der Transporterplattform, zusammen mit dem verbliebenen Rest ihres Teams.
„Gott sei Dank“, stieß sie hervor.
Karja sah sie fragend an. „Wo ist der Rest Ihres Teams?“ Auf der Plattform standen nur fünf mitgenommen wirkende Personen.
Holgrem sah sich um. Bis auf die sieben getöteten Offizier waren alle mit ihr herausgebeamt worden. Sie sah Karja wieder an und schüttelte leicht den Kopf. Eine Geste, die nicht missverstanden werden konnte.
„Und die Gesuchten?“
Holgrem sah die junge Indianerin an. Sie wusste, dass der vermisste Captain ihr Vater war. Entsprechen bitter musste die Enttäuschung sein, dass er nicht mit dabei war. „Sie waren nicht mehr dort“, sagte sie. Das Stöhnen einer ihrer Leute ließ sie herumfahren. Sie hatten Verletzte. Um die mussten sie sich zuerst kümmern.
Noch bevor sie etwas sagen konnte rief Karja: „Ich verständige die Krankenstation. Danach sollten Sie sich bei Mr. Reed melden.“
Holgrem nickte. Sie freute sich nicht unbedingt darauf, ihm die Nachricht vom Misserfolg zu überbringen.
Nach seiner Unterredung mit General Everson war Sanawey in den unterirdischen Gefängnistrakt zurück gebracht worden. Seine Zelle hatte sich inzwischen verändert. Der Stuhl, auf dem er solange gefesselt war, befand sich nicht mehr im Raum. Stattdessen gab es an der Wand nun eine Pritsche. Und im Eck befanden sich sanitäre Anlagen für die menschlichen Bedürfnisse. Trotzdem blieb es eine karge und unfreundliche Gefängniszelle. Und nachdem Sanawey unsanft hinein gestoßen worden war, hatte man die Türe hinter ihm verriegelt.
Da er noch immer entkräftet war von den letzten Tagen, hatte er sich auf die Pritsche gesetzt. Eigentlich hatte er die Situation analysieren wollen. Doch sein Kopf verweigerte ihm den Dienst. In den letzten Tagen hatte er einfach schon zu viel gegrübelt und zu wenig geschlafen. Zwar hatte er bei Everson neue Erkenntnisse erhalten, doch war er jetzt zu erschöpft. So war er einfach nur dagesessen und hatte die Wand angestarrt.
Plötzlich packten ihn zwei starke Hände am Arm und schüttelten ihn. Erschrocken fuhr er hoch. Zwei Soldaten mit Gewehren im Anschlag standen vor ihm und sahen ihn grimmig an. Sanawey saß noch immer auf der Pritsche, musste aber eingenickt sein. Er hatte nicht mitbekommen wie jemand die Zelle betreten hatte. Wie lange er weg gewesen war wusste er nicht. Waren es nur Minuten? Oder vielleicht mehrere Stunden? Er bezweifelte, dass die beiden Soldaten ihm die Frage beantworten würden.
„Aufstehen“, befahl einer der beiden, als sie merkten, dass ihr Gefangener wieder wach war.
Langsam stand Sanawey auf. Er wollte nichts überstürzen. Erstens wollte er zeigen, dass er das Tempo bestimmte und zweitens war er sich nicht sicher, in wieweit seine Kräfte zurückgekommen waren und wie stabil er auf den Beinen war. Sich die Blöße geben zu stürzen, wollte auf gar keinen Fall.
Die beiden deuteten ihm mit ihren Gewehren, dass er sich zur Tür begeben sollte. Als Sanawey ihnen zu langsam ging, gaben sie ihm einen groben Stoß. Auch sie hatten ein Interesse daran, dass ein Gefangener ihnen nicht auf der Nase herum tanzte. Und den beiden machte es sicherlich auch Spaß Macht über einen anderen zu haben.
Sie führten Sanawey durch den Gang in eine andere Zelle. Dort stand wieder der Mann in seinem dunklen Anzug, der ihm so viele Fragen gestellt hatte. Er wirkte auch diesmal etwas arrogant und hochmütig. Während Sanawey zwischen den beiden Soldaten stehen bleiben musste trat der Mann einen Schritt auf ihn zu und sah ihn ernst an.
„Sie hätten einfach kooperieren können, Captain“, sagte der Mann schließlich. „Sie hätten uns und auch sich selbst viel Ärger erspart. Aber Sie mussten es ja unbedingt auf die harte Tour versuchen. Tja, Captain, es tut mir leid, aber nun liegt es nicht mehr in meiner Hand.“ Seinem Tonfall nach schien es gerade so, als sei er überzeugt davon, dass er auf zivilisierte Art und Weise an Informationen hatte kommen wollen. „Sie werden nicht länger unser Gast sein. Ihr Schicksal haben Sie sich selbst zuzuschreiben.“
„Was haben Sie mit mir vor?“ wollte Sanawey wissen.
Statt zu antworten gab er den beiden Soldaten mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er mit dem Gefangenen fertig war. Sofort packten die beiden ihn links und rechts am Arm. Er hatte das Gefühl, in einen Schraubstock eingespannt zu sein. So wurde er grob und ohne Rücksicht noch ein Stück durch den Gang gezerrt, bis sie zu einem Aufzug kamen.
Mit diesem fuhren sie ein paar Etagen nach oben. Allerdings nicht so weit, wie bei seinem Gespräch mit dem General. Denn als sich die Aufzugstüren wieder öffneten lag ein weiterer Gang vor ihnen. Und dieser unterschied sich nicht im Mindesten von dem Gang vorher. Hätte Sanawey nicht gespürt, wie sich der Lift nach oben bewegt hatte, er hätte schwören können wieder im selben Gang zu stehen. Sie folgten dem Verlauf des Ganges bis dieser nach einer Gangbiegung ins Freie führte.
Die Dämmerung war bereits weit vorgeschritten, die Sonne hinter dem Horizont verschwunden. Im verblassenden Licht des Tages erkannte Sanawey, dass sie sich im Hinterhof des großen Gebäudes befanden, in dem er gestern mit Admiral Everson zusammengetroffen war. Direkt vor ihm lag ein großer asphaltierter Platz ohne dass sich irgendwo etwas grün zeigte. Und mitten auf dem Platz stand ein Shuttle, in einem matten, dunkelgrauen Anstrich ohne irgendwelche Kennungen, die den Besitzer verraten hätten. Es war etwas kleiner als die Shuttles der Republic
, konnte aber sicherlich zehn Personen fassen.
Die Soldaten stießen Sanawey zur offenen Tür und zwangen ihn einzusteigen. Drinnen wurde er von zwei weiteren Soldaten in Gewahrsam genommen, die ihn unsanft auf eine Sitzbank an der Außenwand zwangen. Mit geübten Griffen ketteten sie Sanawey fest.
Erst jetzt kam der Captain dazu, einen Blick in das Shuttle zu werfen. Außer den zwei Soldaten hier befanden sich zwei weitere vorne im Cockpit. Neben ihm saß zu seiner Überraschung Sylvia Jackson. Und auf der gegenüberliegenden Bank Sohral und Zien. Der Andorianer war anscheinend doch hier gefangen gehalten worden, obwohl Everson behauptet hatte, er wäre nach Andoria ausgeliefert worden.
„Commander, wie geht es Ihnen?“ wandte er sich sofort an Jackson.
Statt einer Antwort bekam er einen Schlag ins Gesicht. Einer der Soldaten hatte ihn mit der Faust geschlagen und brüllte nun: „Es wird nicht geredet.“
Sanawey schmeckte Blut und spürte wie es ihm warm aus der Nase über den Mund lief. Am relativ schnellen Abklingen der Schmerzen spürte er, dass seine Nase zwar blutete, aber offenbar nicht gebrochen war.
Jackson nickte ihm zu und gab ihm damit zu verstehen, dass sie in Ordnung war. Soweit das eben unter diesen Umständen ging. Auch Sohral deutete ein Nicken an. Nur Zien reagierte nicht. Er wirkte seltsam benommen. Erst jetzt bemerkte Sanawey, dass dem Andorianer eine seiner Antennen fehlte. In deren Stelle ragte nur ein Stumpf aus dem weißen Haar hervor, der mit blauem Blut verkrustet war.
Sanawey hatte sich mit den Andorianern befasst, als er erfahren hatte, dass ein Vertreter dieser Rasse auf seinem Schiff Dienst tun würde. Daher wusste er, dass die Antennen auch den Gleichgewichtssinn der Andorianer regelten. Fehlte eine bekam der Betreffende Probleme sich auf den Beinen zu halten. Auch Übelkeit gehörte zu den Nebenwirkungen. Zum Glück wuchsen die Antennen wieder nach. Dies konnte allerdings bis zu zehn Tagen dauern. Bis dahin würde es Zien nicht besonders gut gehen.
Nachdem nun alle an Bord waren wurde die Luke geschlossen. Die beiden Soldaten setzten sich zwischen die Gefangenen, so dass eine Unterhaltung nicht mehr möglich war.
Mit einem leisen Surren starteten die Motoren und das Shuttle hob ab. Sie verließen den Hof des Gebäudes und gewannen in einem weiten Bogen langsam an Höhe. Zu langsam. Wäre das Ziel irgendwo im All gewesen hätte der Aufstiegswinkel stärker nach oben deuten müssen. Auch der weite Bogen war ungewöhnlich.
Nach wenigen Minuten stand der Copilot auf und kam nach hinten. Dabei hatte er seine Hände seltsam umständlich in den Taschen. Als er sich zwischen den beiden Soldaten befand, die noch immer auf ihren Plätzen saßen, blieb er stehen. „Alles in Ordnung?“ wollte er wissen.
„Ja, Sir“, meldeten die Soldaten pflichtbewusst.
„Gut“, lächelt der Copilot. Dann krachten zwei Schüsse unmittelbar hintereinander durch das Shuttle. Die Jacke des Copiloten hatte nun zwei Löcher, aus denen es leicht rauchte. Die beiden Soldaten sackten blutüberströmt in sich zusammen. Je ein großes Loch klaffte auf ihrer Stirn aus dem Blut quoll.
Ungerührt wandte der Copilot sich um und ging ins Cockpit zurück.
Erstaunt und entsetzt zugleich sah Sanawey ihm nach. Was ging hier vor sich?
„Ist es getan?“ fragte der Pilot.
„Ja, Joe“, antwortete der Copilot. „Steuer unser Ziel an.“ Bis jetzt lief alles nach Plan und reibungsloser als sie gedacht hatten. Erst am späten Nachmittag hatten sie sich Zugang zu den Shuttlehangars geschaffen, in denen die Dienstshuttles der Regierung untergebracht waren. Einer der Wachposten hatte sich ihnen angeschlossen, nachdem er einen nicht kleinen Betrag auf seinem Konto gehabt hatte. Der Rest war ein Kinderspiel gewesen. Im Hangar selbst war es vergleichsweise düster gewesen. Es hatte viele dunkle Ecken gegeben, in denen man sich gut verstecken konnte. Als die beiden Piloten schließlich kamen und auf ihr zugeteiltes Shuttle zuhielten, wurden sie lautlos niedergemacht. An deren Stelle hatten Joe und Chris dann das Shuttle bestiegen und waren zum Gefängnishof geflogen. Über die Verlegung der Gefangenen waren sie aufgrund der Kontakte ihrer Organisation bestens informiert gewesen.
„Ist gut, Chris.“
Die Kursänderung war deutlich zu spüren. Statt nach oben ging es nun steil nach unten. Durch den abrupten Kurswechsel waren die beiden Leichen von der Bank zu Boden gefallen. Worüber Sanawey etwas erleichtert war, da der tote Soldat neben ihm zuerst auf seine Schulter gefallen war und er sich aufgrund seiner Fesseln nicht von ihm hatte befreien können.
Der Copilot kam wieder zurück und stieg über die Toten hinweg. „Passen Sie gut auf“, wandte er sich an die Gefangenen. „Sie befinden sich nun in unserer Gewalt. Kooperieren Sie besser mit uns, wenn Sie nicht so enden wollen.“ Er stieß bedeutungsvoll mit der Fußspitze gegen einen der Toten. „Wir werden gleich landen. Dann werden Freunde von mir Sie in Empfang nehmen und in Sicherheit bringen. Sie sind dann vor einem Zugriff der Erdstreitkräfte geschützt.“
„Ich nehme an, dafür sollen wir Ihnen dankbar sein“, meinte Sanawey sarkastisch.
„Sie können Ihre Dankbarkeit unter Beweis stellen, indem Sie nützlich für uns sind. Leisten Sie keinen Widerstand, das wäre sinnlos. Es liegt auch in Ihrem Interesse. Je länger das Umsteigen auf ein anderes Fahrzeug dauert, desto schneller werden die Truppen der Regierung da sein. Und das kann nun wirklich nicht Ihr Ziel sein.“ Damit wandte sich wieder um und ging zurück ins Cockpit.
Sanawey überlegte fieberhaft, wie sie die Situation für sich nutzen konnten. Vielleicht war das ihre einzige Chance zur Flucht. Aber solange er nichts genaueres wusste musste er sich darauf verlassen, dass ihm vor Ort etwas einfiele und seine Crew ihn unterstützte.
Nur wenige Minuten später landeten sie in einem Wald. Auf der kleinen Lichtung warteten bereits ein Militärlaster und ein Schwebegleiter.
Die beiden Piloten steigen als erste aus. Sie redeten kurz mit den Wartenden draußen, doch Worte waren im Shuttle nicht zu verstehen. Kurz darauf wurden die Gefangenen einzeln nach draußen gebracht und im Schwebegleiter wieder festgekettet. Die beiden Piloten nahmen wieder am Steuer Platz. Dann setzte sich zuerst der Militärlaster in Bewegung und verließ die Lichtung. Der Schwebegleiter flog dicht über dem Boden in die entgegengesetzte Richtung davon.
Der Sinn dieser Aktion war Sanawey sofort klar. Ihre Entführer mussten das Regierungsshuttle schnell loswerden, da es sicherlich mit einem Peilsender ausgestattet war und somit leicht aufgespürt werden konnte. Der Laster diente zur Ablenkung. Offenbar hofften die Entführer, mit den Reifenspuren die Verfolger auf eine falsche Fährte locken zu können. Der Gleiter wiederum ließ keine Spuren zurück. Somit war es nahezu unmöglich ihnen zu folgen.
Diese Entführung musste aufwendig geplant worden sein, obwohl sicherlich nicht viel Zeit zur Verfügung gestanden hatte. Die Verlegung der Gefangenen war bestimmt eine kurzfristige Entscheidung gewesen. Und da sich ihre Entführer bisher als sehr wachsam herausgestellt hatten, mussten sie wohl noch etwas länger auf eine Chance zur Flucht warten.
Mit erhobenen Hauptes, aber doch pochendem Herzen, betrat Kasaja Holgrem den Besprechungsraum. Commander Reed hielt sich dort gerade auf und wartete auf sie wegen eines Gesprächs unter vier Augen. Normalerweise fanden solche Gespräche im Bereitschaftsraum des Captains statt. Doch die Stellvertreter eines Captains nutzten den Raum nur, wenn von vornherein feststand, wie lange der Captain ausfallen würde. Und selbst dann war es den meisten Stellvertretern unangenehm. Es wurde allgemein als schlechtes Zeichen gesehen, bedeutete es doch, dass man es sich auf dem Platz eines anderen bereits bequem machte. Außerdem gab man der Crew damit zu verstehen, dass der Captain nicht mehr wieder kommen würde. So zog es auch Reed vor, auf den Besprechungsraum auszuweichen.
Nachdem das Rettungsteam wieder an Bord gebeamt war und die Verwundeten versorgt waren, hatte Reed Holgrem zu einem Gespräch gebeten. Er wollte genau wissen, was geschehen war. Denn er musste den Bericht für die Sternenflotte fertigen. Und, was noch schlimmer war, die Angehörigen der Toten informieren. Ob er sie für das verantwortlich machen würde, was geschehen war, wusste sie nicht. Sie fühlte sich aber ohnehin bereits schuldig genug. Sie hatte bei ihrem ersten Kommando nicht nur versagt, sie hatte auch sieben tote Kollegen zu verantworten. Das nagte an ihrem Gewissen, auch wenn sie sich erst einmal nichts anmerken lassen wollte. Sie und auch ihre toten Kollegen waren Sicherheitsoffiziere. Jeder einzelne wusste um die Gefahr, die dieser Job mit sich brachte. Und doch gab jeder alles dafür. Auf sie verließen sich alle anderen an Bord. Und jeder von ihnen würde sein Leben geben, um die Crew zu retten. Das wurde schließlich von ihnen erwartet.
Reed erwartete sie bereits. Er saß am Kopfende und starrte auf den Tisch vor ihm. Mit den Gedanken war er offenbar weit weg.
Holgrem blieb an der Tür stehen, nahm Haltung an und räusperte sich dann.
Langsam sah Reed auf. „Lieutenant“, grüßte er dann ernst. „Bitte, setzen Sie sich.“
„Ja, Sir.“ Sie kam näher und nahm seitlich von ihm Platz.
„Können Sie mir sagen, was da unten geschehen ist?“ Er versuchte möglichst ohne irgendeine Erregung in der Stimme zu sprechen, doch ihm war anzumerken, dass er gehofft hatte, so ein Gespräch niemals führen zu müssen.
„Die Anlage war gut gesichert. Es muss sich bei dem Komplex um ein Hochsicherheitsgefängnis handeln“, begann sie und berichte dann von den Ereignissen. Sie berichtete auch, dass die Gefangenen bereits verlegt worden waren. Damit standen sie wieder am Anfang ihrer Suche. Die Spur war kalt.
Nachdem sie ihren Bericht abgeschlossen hatte grübelt Reed noch einige Zeit über die Ereignisse nach. Für Holgrem zogen sich diese Minuten unangenehm lange hin und ihr wurde warm. Womöglich hatte sie ihre Karriere mit diesem Auftrag weggeschmissen. Und Reed hielt sich in Schweigen anstatt etwas zu sagen. Jede Antwort wäre besser als diese Ungewissheit.
„Sie sind ein hohes Risiko eingegangen, als Sie die Wand zum Computerraum beschossen hatten. Ihnen hätte bewusst sein müssen, dass das einen Alarm auslösen würde“, sagte er schließlich. „Und Sie hätten die Gänge gründlicher nach weiteren Eingängen untersuchen müssen, so dass Ihnen niemand in den Rücken fallen kann.“
„Wir hatten keine Alternative“, sagte sie überzeugt. „Der Zugang zu dem Raum war nicht ersichtlich. Und ein Abbruch der Mission stand nicht zur Debatte. Wir hätten keine zweite Chance bekommen, nachdem wir bereits so weit gekommen waren. Und die Gänge gaben keinerlei Hinweise auf weitere Zugänge.“ Dass sie trotzdem gründlicher hätte sein müssen, war ihr durchaus bewusst.
Reed nickte. „Danke, Lieutenant. Ich werde dem Captain nach dessen Rückkehr die Fakten darlegen. Er wird dann entscheiden in wessen Verantwortung der Fehlschlag der Rettungsmission fällt.“
Holgrem nickte und stand auf. Bevor sie sich in Richtung Tür wandte zögerte sie aber noch. „Commander, darf ich fragen, wie Ihre Empfehlung lauten wird?“
Reed sah sie an. Sie stand aufrecht und stramm vor ihm, wie man es von einem Untergebenen erwarten konnte, und sah gerade aus zum Fenster des Besprechungsraumes hinaus. Ihre Anspannung verbarg sie hinter der militärischen Fassade. Er wollte sie nicht unnötig auf die Folter spannen, das empfand er nicht als fair. Immerhin kannte er aus seiner früheren Zeit noch diese Gespräche. Und damals hatte er da immer auf der Seite gestanden, die jetzt Holgrem einnahm. „Ich werde ein Seminar empfehlen, in dem Sie nochmals über Führungsrollen unterwiesen werden. Und bis zur Genesung von Mr. Real oder Mr. Ziens Rückkehr leiten Sie weiterhin die Sicherheitsabteilung.“
Holgrem nickte. „Ja, Sir. Danke, Sir.“ Dann wandte sie sich um und verließ den Raum. Mit versteinerter Miene lief sie bis zum Lift. Erst als sich die Türen hinter ihr schlossen und sie sicher sein konnte, dass sie jetzt niemand überraschen konnte, ließ sie die Schultern sinken und atmete erst einmal tief durch. Wenn der Captain Reeds Empfehlung folgen würde, und daran hatte sie keine Zweifel, dann würde dieser Zwischenfall keine negativen Auswirkungen für sie haben. Sie konnte ihre Karriere weiter verfolgen. Wie sie mit ihrem Gewissen fertig werden würde wusste sie allerdings noch nicht. Sie musste mit dem Tod ihrer Kollegen zurechtkommen. Zwar war sie weit davon entfernt sich irgendwas anmerken zu lassen, doch war es nichtsdestotrotz eine Belastung. Auch wenn ihr bewusst war, dass bei einer weiteren Karriere als Sicherheitsoffizier, diese Toten nicht die letzten sein würden, die sie würde verantworten musste.
Reed unterdessen atmete erst einmal tief durch als Holgrem den Raum verlassen hatte. Er war vor diesem Gespräch mindestens so angespannt gewesen wie die Sicherheitsoffizierin. Es war die erste Aussprache dieser Art, die er führen musste und er hoffte, für eine lange Zeit auch die Letzte. Gerade als er sich auf dem Stuhl für einen Augenblick zurücklehnen wollte wurde er auf die Brücke gerufen.
Seufzend stand er auf. Auf diesem Schiff schien es keine ruhigen Momente zu geben. Aber wenigstens kam man dann nicht zum Nachdenken. So schnell er konnte begab er sich zur Brücke. Paulsen, der an der Ops Dienst hatte, wandte sich sofort an ihn. „Commander, wir wurden gerufen. Ein Mann, der sich selbst nur Chris nannte, hat sich gemeldet. Er wollte umgehend den kommandierenden Offizier sprechen. Um was es geht, wollte er uns nicht sagen.“
Reed zog die Augenbrauen hoch. Das hörte sich ja sehr interessant an. „Na dann, auf den Schirm“, befahl er und trat vor den Kommandosessel.
Auf dem Bildschirm erschien ein relativ junger Mann, mit kurzem blondem Haar. Seine blauen Augen bildeten einen auffälligen Kontrast zu der schwarzen Farbe, die er sich als Tarnung ins Gesicht gemalt hatte.
„Wer sind Sie?“ wollte er sofort wissen.
„Ich bin Commander Drake Reed. Die Republic
untersteht derzeit meinem Befehl. Mit wem habe ich die Ehre?“
„Nennen Sie mich einfach Chris. Commander, wir haben Ihre Offiziere. Alle vier. Sie sollten uns augenblicklich Ihr Schiff übergeben.“
Reeds Augen wurden groß. Was war das denn für eine Forderung? Entweder hatte er es mit Anfängern zu tun oder mit geistig leicht Zurückgebliebenen. Wie stellte sich dieser Chris das vor?
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Paulsen nach der Offenbarung Chris’ unauffällig einige Befehle an seiner Konsole eingab. Reed war sofort klar, dass er versuchte den Standort dieses Chris aufzuspüren, in dem er die Verbindung zurückverfolgte.
„Chris, hören Sie mir zu“, begann Reed langsam und schlug einen beruhigen Tonfall an.
„Nein, Sie hören mir zu“, unterbrach Chris sofort. „Sie übergeben uns Ihr Schiff. Ihre Crew wird das Schiff auf der Stelle mit den Rettungskapseln verlassen. Nur Sie, Mr. Reed, bleiben an Bord und werden unserem Team das Hangartor öffnen, sobald wir in Reichweite sind.“
Reed hätte am liebsten laut gelacht, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Bevor er etwas erwidern konnte fuhr Chris fort: „Sie haben zehn Minuten um die Rettungskapseln zu starten. Dann werden wir die erste Geisel töten. Und alle zehn Minuten eine weitere. Mit der Frau fangen wir an.“
„Dann gehen Ihnen in vierzig Minuten die Druckmittel aus“, sagte Reed etwas zu flapsig.
„Ich bin mir sicher, wir werden uns vorher einigen“, erwiderte Chris eiskalt. Dann unterbrach er die Verbindung.
Reed fuhr sich mit der Hand über den Mund. Und er hatte gedacht, der Tag wäre schon schlimm und schlimmer könnte es nicht mehr werden. Dann sah er zu Paulsen. „Haben Sie ihn?“
„Er hatte sein Signal über mehrere Satelliten und Bodenstationen umgeleitet. Mit der hiesigen Technik wäre eine Rückverfolgung wohl nicht möglich gewesen, aber ja, ich habe ihn.“
„Ja“, knurrte Reed kurz und ballte eine Faust. Das war ein Anfang. Zehn Minuten waren allerdings verdammt knapp. Da konnte er kein Sicherheitsteam zusammenstellen und hinunter beamen. Zumal eine solche Befreiungsaktion bei solchen Geiselnehmern sicherlich nicht unbemerkt bliebe und in einem Blutbad enden würde. Aber beamen... Er schnippt mit den Fingern. „Das ist es“, rief er aus, was ihm einige verwunderte Blicke bescherte.
„Paulsen, können Sie in Chris’ Nähe vulkanische und andorianische Lebenszeichen ausmachen?“
Der Angesprochene sah ihn fragend an.
„Er sagte, sie hätten alle vier in ihrer Gewalt, dann müssen sie doch zu orten sein.“
„Ja“, sagte Paulsen und gab den Sensoren den entsprechenden Befehl. Wenige Momente später hatte er sie entdeckt.
„Weitere Lebenszeichen in der Nähe?“ Reeds Aufregung wuchs.
„Zwei menschliche in unmittelbarer Nähe. Weitere im Umkreis.“ Er gab das Bild auf den Bildschirm.
„Das sind unsere Leute“, sagte Reed und deutete auf die vier Lebenszeichen, die dicht beieinander standen und mit roten, grünen und blauen Punkten Menschen, Vulkanier und Andorianer kennzeichnete.
„Woher wissen Sie das?“ frage Paulsen skeptisch
„Ich weiß es. Geben Sie die Koordinaten an den Transporterraum weiter. Und sagen Sie Kasaja Holgrem, Sie soll augenblicklich ein Sicherheitsteam in den Transporterraum kommen lassen. Ich werde auch dort sein.“ Mit diesen hektischen Worten stürmte er zum Lift und verließ die Brücke. Wie von der Tarantel gestochen rannte er durch die Gänge zum Transporterraum. Karja sah überrascht auf, als sie Reed hereinstürmen sah.
„Bereithalten zum Beamen“, rief Reed atemlos.
Karja legte schnell ihr Datenpad zur Seite, das sie in der Hand gehalten hatte, und trat an die Konsole.
In diesem Moment stürmte ein achtköpfiges, bewaffnetes Sicherheitsteam in den Raum und blieb vor Reed stehen.
Dieser deutete auf die Transporterplattform. „Sichert die Plattform.“
Sofort nahmen die Bewaffneten Aufstellung und hielten die Waffen schussbereit im Anschlag.
„Karja“, wandte sich Reed dann an die Indianerin. „Beamen Sie die vier Lebenszeichen, die gemeldet wurden, an Bord.“ Bei diesem Befehl konnte er sich ein leises Grinsen nicht unterdrücken. Und während sich die vier auf der Plattform materialisierten stellte er sich vor, wie die Entführer schauen würden, sobald sie merkten, dass ihre Gefangenen fort waren.
Die vier stellten sich tatsächlich als die Vermissten heraus. Und sie schienen auf den ersten Blick weitgehend unversehrt zu sein. Das Sicherheitsteam nahm die Waffen zurück und trat beiseite, damit die vier die Plattform verlassen konnten.
„Captain, schön Sie wieder an Bord zu haben“, begrüßte Reed seinen Vorgesetzten mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, das allerdings schlagartig verschwand, als er das Blut an Sanaweys Schulter sah.
„Das ist nicht meines“, winkte Sanawey ab. „Unsere Befreier gingen nicht gerade zimperlich mit unseren Wachen um“, erklärte er knapp, wobei er das Wort Befreier ironisch betonte.
„Verstehe“, nickte Reed nur, obwohl er kein Wort verstand. Er wollte sich auch lieber nicht vorstellen, was der Captain und die anderen durchgemacht hatten. Die Eindrücke, die er auf der Brücke bekommen hatte, langten ihm voll und ganz.
„Kümmern Sie sich um Jackson, Zien und Sohral“, raunte der Captain Reed im Vorbeigehen zu. „Bringen Sie sie zur Krankenstation.“
Reed nickte nur und fragte sich insgeheim, wie er das schaffen sollte. Lächelnd wandte er sich den dreien zu. „Sie sollten sich von Dr. Williams untersuchen lassen. Sie sehen etwas mitgenommen aus.“
Bevor Sanawey den Transporterraum verlassen konnte warf er seiner Tochter noch einen aufmunternden Blick zu. Er hätte sie gerne kurz in den Arm genommen. Zu oft hatte er die letzten Tage gedacht, er würde sie nie wieder sehen. Ihr Verschwinden würde garantiert zu einer Reaktion führen, auf die sie selbst reagieren mussten. Eilig lief er zum Lift. „Brücke“, befahl er dort. Bevor die Lifttüren sich schließen konnten betrat Sohral noch schnell den Lift. Dass auch er sich erfolgreich vor einem Besuch auf der Krankenstation drücken konnte war nicht allzu verwunderlich.
„Unsere Entführung durch die Rebellen ist inzwischen wohl auch bei den Verantwortlichen der Erdregierung bemerkt worden. Glauben Sie, die Erdstreitkräfte werden uns angreifen?“ fragte Sanawey den Vulkanier.
„Das ist anzunehmen. Allerdings hatten wir beim letzten Angriff festgestellt, dass sie uns nichts anhaben können“, erinnerte Sohral ihn ruhig.
„Ja“, nickte Sanawey. Zu mehr kam er nicht mehr, da sich vor ihm die Lifttüren wieder öffneten. Mit einem schnellen Schritt stand er auf der Brücke. Alle Anwesenden drehten ihre Köpfe Sanawey zu und er konnte die Erleichterung in ihren Gesichtern darüber erkennen, dass sie ihren Captain wieder hatten. Eventuelle Glückwünsche zur Rettung winkte er schnell ab. Dafür hatten sie nun wirklich keine Zeit.
„Mr. Tworek“, wandte er sich an den Steuermann. „Lassen Sie uns...“
Plötzlich gab das Deck unter ihm nach und Sanawey stürzte ohne einen Halt zu finden ins Leere. Aus dem Augenwinkel heraus konnte er noch sehen, wie auch Sohral zu Boden ging. Mit einem Mal heulten die Alarmsirenen auf. Für einen Sekundenbruchteil herrsche völlig Dunkelheit als die Beleuchtung ausfiel, um im nächsten Augenblick flackernd wieder anzuspringen.
„Bericht“, bellte Sanawey und versuchte sich mühsam wieder aufzurappeln. Sein erster Versuch schlug fehl. Seine linke Schulter schien vor Schmerzen beinahe zu explodieren. Es war ihm unmöglich den Arm zu bewegen ohne dass ihm schwindelig wurde. Mit der rechten Hand tastete er nach seinem Kommandosessel und zog sich umständlich daran hoch.
„Wir wurden getroffen“, meldete ihm schließlich Paulsen, der sich wieder aufgerappelt hatte und sich über seine Konsole beugte. „Eines der Erdschiffe hat auf uns geschossen.“
„Unmöglich“, brummte Sanawey durch zusammengebissene Zähne. Nur langsam konnte er sich in den Kommandosessel setzen. „Nicht mit einer solchen Feuerkraft.“
„Offenbar doch. Vielleicht hatten wir sie unterschätzt.“
„Na schön. Steuermann, bringen Sie uns raus hier.“
Kaum hatte Sanawey den Befehl gegeben als er spürte, wie die Republic
rasant beschleunigte. Mit einem schnellen Blick erkannte er, dass Tworek an der Konsole saß. Offenbar hatte der Halbvulkanier schon alles für einen schnellen Start vorbereitet. Sanawey wurde bewusst, dass Tworek nicht einmal nach einem Kurs gefragt hatte. Eine Eigenschaft, die der Captain schätze. Seine Offiziere dachten mit. Und dass nur Tworek auf eine solch waghalsige Idee kommen konnte, derart schnell zu beschleunigen, so dass selbst die Trägheitsdämpfer das nicht abfangen konnten, hätte Sanawey eigentlich klar sein müssen.
Sohral hatte sich inzwischen ebenfalls an seiner Konsole eingefunden. Den Sturz hatte er offenbar ohne Schaden überstanden. Zumindest war ihm außer den Spuren der Gefangenschaft nichts weiter anzumerken. Sanawey dagegen war sich nicht sicher was er von seinem Arm halten sollte. Langsam ließen zwar die Schmerzen nach, aber auch jegliches weitere Gefühl.
„Unsere Schilde sind bei dem Treffer zusammengebrochen“, meldete Paulsen von seiner Station. Er hatte inzwischen wieder Platz genommen und seine Daten analysiert. „Ein weiterer Treffer dieser Intensität hätte uns vernichten können.“ Seine Stimme zitterte leicht. Offenbar wurde er sich erst jetzt darüber bewusst, wie gefährlich es wirklich gewesen war.
„Captain.“ Sohral hatte sich zum Kommandosessel umgewandt. Er stand wie üblich akkurat da und hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Langsam fuhr Sanawey zu ihm herum. „Was haben Sie, Mr. Sohral?“ brachte er knapp hervor. Die Beherrschung der Schmerzen forderte seine ganze Konzentration.
„Die Erdstreitkräfte scheinen eine Möglichkeit gefunden zu haben, wie sie ihre Feuerkraft erhöhen konnten.“
„Ist mir aufgefallen“, unterbrach Sanawey ihn sarkastisch. „Mich interessiert vor allem wie?“
„Offenbar konnten sie ihre gesamte Energie so bündeln, dass sie imstande waren einen konzentrierten Phaserstrahl abzugeben. Allerdings scheint es dabei zu Überlastungen auf deren gesamtem Schiff gekommen zu sein. Die Sensorenaufzeichnungen sprechen dafür, dass diese Überlastungen sämtliche Energieleitungen zerstört haben. Das Schiff selbst ist daraufhin explodiert.“
„Explodiert?“ wiederholte Sanawey ungläubig, fuhr dann aber zusammen, als seine Schulter nach einer ungeschickten Bewegung erneut schmerzte. „Das sollte sie davon abhalten einen solchen Schuss nochmals zu wiederholen.“
„Unwahrscheinlich“, entkräftete Sohral seine Hoffnungen. „Ein zweites Schiff hatte bereits auf uns geschossen. Nur Mr. Tworeks waghalsiges Manöver hatte uns vor einem Treffer bewahrt.“ Lag Tadel in Sohrals Stimme? Offenbar war ihm nicht entgangen, dass Tworek nicht so konsequent bei den vulkanischen Lehren blieb, wie er sich das wohl erhofft hatte.
„Sie opfern ihre eigenen Leute und Schiffe, nur um uns aufzuhalten?“ Sanawey schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist ja Wahnsinn.“
Chris und Joe standen zusammen mit vier weiteren Mitgliedern ihres Entführungsteams zusammen um einen Klapptisch herum. Alle starrten gespannt auf das große, mobile Funkgerät, das auf dem Tisch aufgebaut war. Vor wenigen Minuten hatten sie es geschafft, die Botschaft an das fremde Raumschiff abzusetzen. Nun warteten sie gespannt auf die Antwort. Niemand von ihnen konnte ahnen, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt ohne Geiseln da standen. Das Summen des Transporters war ihnen nicht aufgefallen.
Sie befanden sich in einem ausgedehnten Waldgebiet am Fuße der Rocky Mountains. Eine Lichtung diente ihnen als vorübergehende Kommandozentrale. Die Bäume rings herum standen so dicht, dass es kein Durchkommen für schweres Gerät gab. Diese Lichtung mit Lastwagen oder gar Panzern erreichen zu wollen war aussichtslos. Somit konnten sie hier nur unter Aufbringung größter logistischer Mühen überwältigt werden. Und bis der schwerfällige Apparat des Militärs das bewerkstelligen konnte, wären sie als kleine mobile Terrorgruppe längst über alle Berge. Allerdings rechnete ohnehin niemand von ihnen damit, hier entdeckt zu werden. Ihre Aktion war umfassend geplant und gut vorbereitet. Sie hatten keine Spuren hinterlassen, die hätten zurückverfolgt werden können. Bis irgendwelche offiziellen Stellen Wind von der Sache bekommen würden, wäre bereits alles wieder vorbei.
Zusätzlich bot die Gegend noch einen weiteren Vorteil. Sie befanden sich im Vorland der Rockys. Immer wieder bildeten Felsformationen natürliche Hindernisse. Unweit der Lichtung formten diese Felsen eine nach drei Seiten abgeschirmte Fläche, auf der sie die Gefangenen festgebunden hatten. Von hier konnten sie nicht fliehen, noch waren sie zu sehen. Und sie konnten wiederum nicht über den die Felsen schauen, um zu sehen, was ihre Entführer taten.
„Sie haben noch zwei Minuten“, brummte ein bulliger Mann mit breitem Stiernacken. Er schien, als würde er langsam unruhig werden ob der anhaltenden Funkstille.
„Sie werden tun was wir sagen“, meinte ein anderer Mann ruhig. „Spätestens wenn eine der Geiseln tot ist fressen die uns aus der Hand.“
Sie hatten alle schwarze Tarnkleidung an, die sie auf irgendwelchen verworrenen Wegen aus alten Militärbeständen bekommen hatten.
Wieder breitete sich Schweigen aus. Joe sah sich um. Das Zwitschern der Vögel in einem nahen Baum machte ihn nervös. Offenbar gab es dort Junge, denn immer wenn sich ein Elternteil dem Baum näherte ging ein wildes Gezwitscher los, das erst endete, wenn der Vogel wieder abflog.
Joe musste sich beherrschen um ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte er seine Waffe gezogen und den Vogel im Landeanflug abgeschossen. Doch das hätte der Stiernacken niemals toleriert. Er war ihrer aller Anführer und er hatte den Coup überhaupt erst geplant und möglich gemacht. Seinen wirklichen Namen kannte Joe nicht. Den kannte vermutlich niemand, wahrscheinlich nicht einmal mehr er selbst. Bekannt war er als Big D.
Wieder fingen die Jungvögel an zu zwitschern. Joes Finger zuckten, er konnte sich aber zurückhalten. Er lenkte sich ab, in dem er an die nächsten Schritte der Operation dachte. Auch er war sich sicher, dass sie zuerst eine Geisel würden töten müssen. Danach würden die Fremden ihr Schiff sicherlich aufgeben. Sie ließen ihre Kameraden wohl kaum im Stich. War das geschehen, würde sein Team mit einem gestohlenen Militärshuttle zum Raumschiff fliegen. Zur Sicherheit hatten sie sich Militärcodes beschafft, die ihnen einen freien Flug verschaffen würden. Sobald sie das Schiff hatten würden sie sich damit den Weg freikämpfen. Mit der überlegenen Technologie und vor allem den Waffen konnten sie jedes Schiff überwältigen. Es sollte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie durch Piraterie auf Handelsschiffe zu unermesslichem Reichtum kommen sollten. Und auf unabsehbare Zeit würde ihnen niemand das streitig machen können. Sie wären die mächtigsten Menschen im Universum. Einem Leben in Sorglosigkeit und Überfluss sollte nichts mehr im Wege stehen.
Joe konnte gar nicht genug von den Gedanken bekommen. Er würde rauschende Feste feiern, mit den besten Getränken, den schönsten Frauen und den teuersten Drogen. Sein Leben würde ein einziger Rausch sein.
Die Stimme Big D’s riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah zu ihm hinüber und blickte in ein feuerrotes Gesicht. „Sie wagen es meine Frist achtlos ablaufen zu lassen?“ Wutentbrannt schickte er Joe zu den Gefangenen. „Bring die Frau. Sie wird für die Arroganz dieser Leute als erste dran glauben müssen. Du Chris, stell eine Verbindung zu diesem Schiff her.“
Die Angesprochenen taten wie ihnen geheißen, während der Rest sich einigermaßen beunruhigt ansah. Zwar hatten alle damit gerechnet, aber dass es letztlich doch so kam sorgte trotzdem für etwas Nervosität.
Unvermittelt kam Joe zurückgerannt. Er lief so schnell er konnte und wäre dabei beinahe gestolpert. „Big D“, rief er und blieb dann vor ihm stehen. Trotz der kurzen Strecke, die er gelaufen war, war ihm die Luft knapp geworden. Er sollte mehr trainieren, doch bald würde das kein Problem mehr sein, dann musste er nie wieder rennen. „Big D, die Gefangenen sind weg“, rief er aufgeregt.
„Was?“ brachte der Bulle von einem Mann noch hervor. Dann brach er in Hektik aus. „Sofort das Lager und die Umgebung absuchen. Und bereit halten alles abzubrechen um den Rückzug anzutreten.“ Er wollte bereit sein für alle Konsequenzen. Der Verlust der Gefangenen kam einer Katastrophe gleich. Entweder waren sie geschickter als er gedacht hatte und sie konnten sich befreien, was er allerdings bezweifelte. Oder sie waren befreit worden. In diesem Fall hätte man sie entdeckt und sie mussten sehen, dass sie wegkamen. Noch aber zögerte er den endgültigen Befehl zum Rückzug zu geben. Denn das würde endgültig bedeuten, dass sie alles aufgeben mussten. Alles, worauf sie gehofft hatten. Und alles worauf sie so lange hingearbeitet hatten. Dann wäre alles zunichte. So klammerte er sich an die vage Hoffnung, die Gefangenen auf der Flucht noch fassen zu können, während der Rest alles zum Aufbruch vorbereitete.
Plötzlich huschten Schatten über den Himmel. Shuttles bezogen Position über den Bäumen und warfen Sprengsätze ab, die das Lager einkreisten und die Entführer zwangen weiter in der Mitte zusammenzurücken. Dann seilten sich blitzschnell Soldaten aus den Shuttles ab.
„Schießt sie ab“, befahl Big D laut und traf mit dem ersten Schuss einen Soldaten, der sofort tot zu Boden fiel.
Der Rest folgte seinem Beispiel. Es kam zu einem wilden Schusswechsel mit den bereits gelandeten Soldaten. Mehrere Regierungssoldaten fielen noch tödlich getroffen zu Boden. Doch letztlich war es ein ungleicher Kampf. Big D und seine Leute konnten nicht verhindern, dass die Soldaten sie einkreisten. Dabei konnten diese die Bäume als Deckung nutzen, während die Entführer schutzlos mitten auf der Lichtung standen.
Einer nach dem anderen sank tödlich getroffen zu Boden.
Joe wollte es nicht wahrhaben. Sie waren doch so nahe am Ziel gewesen. Wie hatte das geschehen können? Was war nur mit den Gefangenen geschehen? Voller Wut schoss er seine Waffe ab und traf zwei weitere Soldaten. Ihm war sehr wohl bewusst, dass sie keine Chance hatten. Dazu war die Übermacht zu groß. Aber er wollte auf keinen Fall kampflos sterben.
Für das plötzliche Auftauchen des Militärs gab es nur eine Erklärung. Sie hatten den Funkspruch an das fremde Schiff abgefangen und zurückverfolgen können. Etwas, dass sie eigentlich mit einem Störsender zu verhindern gehofft hatten. Offensichtlich hatte dieser Sender aber nicht ganz so gut funktioniert wie geplant.
Neben ihm stöhnte Chris kurz auf und brach dann leblos in sich zusammen. Joe gab seiner Frustration nach. Den sicheren Tod vor Augen stürmte er auf den Waldrand zu und schoss so wild um sich wie er nur konnte. Bereits nach wenigen Schritten spürte er wie er an der Schulter getroffen wurde. Der Schmerz ließ ihn taumeln und er verlor das Gleichgewicht. Noch im Fallen trafen ihn zwei weitere Kugeln in die Brust und zerrissen seine Lunge. Leblos blieb er der Länge nach im Gras liegen. Die Entführer wurden von den Soldaten aufgerieben, bis niemand mehr am Leben war.
Drake bog um eine Gangbiegung und stieß beinahe mit Elane Watts zusammen. Dicht beieinander blieben beide überrascht stehen und sahen sich an.
„Entschuldige, ich war gerade etwas in Gedanken“, fand Elane als erstes die Worte wieder.
„Ich auch“, erwiderte er platt. Er macht einen zögernden Schritt zur Seite. Elane folgte ihm mit einem halben Schritt.
„Ich hatte gerade an dich gedacht“, sagte sie, fuhr aber fort, ehe Drake Hoffnungen bekommen konnte. „Ich wollte dir noch zur Rettung des Außenteams gratulieren. Das hast echt super gemacht.“
„Ach was, das hätte jeder andere auch so gemacht“, winkte er ab.
„Das glaube ich nicht“, gab sie entschieden zurück. „Du hast die Gelegenheit genutzt, den Captain zu retten. Du bist ein Held. Für mich auf jeden Fall“, lächelte sie.
Er musste ebenfalls lächeln und sah sie verschmitzt an. „Schade nur, dass Helden immer selbstlos handeln und keine Belohnung bekommen.“
„Ja, das ist wirklich ein Pech. Für dich“, gab sie spitz zurück. „Aber das stimmt ohnehin nicht ganz. Helden fordern keine Belohnung, bekommen aber meist trotzdem eine.“
„Und was bekomme ich?“ wollte er wissen und sah ihr dabei tief in die Augen.
„Schau mich nicht so an.“ Ihre Augen verengten sich ein wenig. „Was willst du denn?“
Das weist zu genau, dachte Drake. „Da lasse ich mich überraschen. Ich darf ja nichts fordern, sonst bin ich kein Held.“
Sie musste lachen. „Na schön“, sagte sie und gab ihm dann einen dicken Kuss auf die Wange.
Reed musste seine Enttäuschung verbergen. Natürlich freute er sich über jede noch so kleine Berührung von ihr. Es war jedes Mal elektrisierend und verursachte ihm eine wohltuende Gänsehaut. Auch wenn er hinterher jedes Mal noch mehr litt. Und eigentlich hatte er auch gar nicht mehr von ihr erwartet. Erwarten dürfen. Trotzdem stellte sich eine irrationale Enttäuschung ein. Er lächelte jedoch tapfer. Was blieb ihm sonst auch übrig?
„Bei so einer Belohnung muss ich wohl noch öfters Heldentaten begehen“, sagte er grinsend.
„Glaub ja nicht, dass es das immer gibt“, gab sie schnippisch zurück.
„Nein? Wird es etwa noch besser?“
Während des kleinen Wortwechsels machten beide immer wieder kleine Schritte zur Seite und doch irgendwie aufeinander zu. Es machte den Eindruck, als ob sie sich gegenseitig lauernd umkreisten, Nähe suchend und doch die Distanz wahrend. Und scheinbar schienen sie beide ihren Gefallen daran zu haben.
„Das klären wir bei deiner nächsten Heldentat.“
„Ich bin gespannt.“
Überraschenderweise gab sie ihm nochmals einen Kuss auf die Backe. „Spinner“, sagte sie leise, dann machte sie einen großen Schritt zur Seite. Das Knistern, das in der Luft gelegen hatte, war mit einem Mal verflogen.
„Ich muss weiter, mein Dienst fängt an“, entschuldigte sie sich verlegen. Dann lief sie eilig den Gang entlang.
Seufzend sah Drake ihr nach. Wieso musste das alles so schwierig sein? Ob er es jemals schaffen würde, nur eine gute Freundin in ihr zu sehen? Irgendwie bezweifelte er es. Schließlich war er noch immer der Meinung, sie war seine große, einzig wahre Liebe.
Aber da er ihr wohl kaum zu ihrem Dienst hinterher laufen konnte, setzte er den Weg zu seinem Quartier fort. Aber der Gedanke, jetzt auf der Brücke aufzutauchen und Elane vor den Augen aller zu küssen reizte ihn. Schließlich wollte er aller Welt mitteilen, wie sehr er sie liebte. Nur, dass zwischen ihnen nichts lief, erinnerte er sich. Bis auf Elizabeth würde wohl nie irgendjemand von seinem Geheimnis, seiner geheimen Liebe, erfahren.
ACHT
„Captain, wir erreichen das vulkanische System“, meldete Tworek von seiner Station aus.
Angespannt hob Sanawey den Kopf. Nachdem sie die Erde hinter sich gelassen hatten, waren sie auf direktem Weg nach Vulkan geflogen. Aufgrund der logisch ruhigen Art der Vulkanier und aufgrund ihres weiten Fortschrittes im Bereich der Wissenschaft, hofften sie hier Hilfe zu bekommen. Und da die Menschen diese Rasse noch nicht kannten würden sie nun hoffentlich Antworten erhalten.
Einen Tag hatte der Flug gedauert. Die vier Befreiten hatten die Gelegenheit genutzt, um sich zum einen medizinisch versorgen zu lassen und zum anderen, um sich von den Strapazen zu erholen. Natürlich hatte Sanawey es sich aber nicht nehmen lassen, bei der Ankunft am Planeten Vulkan wieder im Kommandosessel zu sitzen.
„Gehen Sie außerhalb des Systems auf Impulsgeschwindigkeit“, befahl er. „Wir wollen die Vulkanier nicht überfallen. Wenn die Menschen die Vulkanier nicht kennen, dann kann es sein, dass sie sich für ein zurückgezogenes Leben entschieden haben. Und da wollen wir nicht mit der Tür ins Haus fallen. Wir sollten uns langsam nähern.“
„Aye, Sir“, bestätigte Tworek. Wenig später fielen sie aus dem Warptransit und näherten sich der Umlaufbahn des Planeten Vulkan.
Sanawey hatte sich zu Sohral umgewandt. Nachdem der Wissenschaftsoffizier darauf aber nicht reagierte, beschloss Sanawey ihn direkt zu fragen. „Können die Sensoren schon irgendetwas ausmachen? Gibt es Anzeigen dafür, ob die Vulkanier überhaupt eine Raumfahrt betreiben?“
Sohral schwieg noch einen weiteren Moment und studierte seine Daten. „Nein, bisher deutet nichts auf eine raumfahrende Zivilisation hin. Auch nicht auf eine technologische Zivilisation im prästellaren Zeitalter. Es gibt kein Hintergrundsignal oder andere Signale, wie sie beispielsweise durch Funkwellen entstehen würden.“
Sanawey legte seine Stirn in Falten. Eigentlich hatte er gehofft, hier Antworten zu finden. Doch wie es aussah gab es nur noch mehr Fragen. Er hoffte inständig, dass es für die Stille einen einfachen und logischen Grund gab. Nicht noch ein Rätsel. Dafür stand mit Sicherheit niemandem an Bord der Sinn.
Quälend langsam vergingen die Minuten während die Republic
weiter in das Sonnensystem hineinflog. Sie passierten die äußersten Planeten und näherten sich weiter Vulkan. Die vulkanische Sonne leuchtete hell vor ihnen. Die Vulkansonne war größer und heller als die irdische Sonne. Und auf Vulkan selbst herrschten daher auch wesentlich höhere Temperaturen.
„Captain, die Sensoren können Vulkan nicht entdecken“, meldete Sohral schließlich. Und auch wenn er ruhig sprach, so war sich Sanawey fast sicher, ein leichtes Zittern in der Stimme des sonst so stoischen Vulkaniers bemerkt zu haben.
„Was heißt das?“ fragte Sanawey gedehnt und stand langsam auf. Irgendetwas in seinem Magen zog sich zusammen. Ein ungutes Gefühl oder eine Vorahnung.
„Vulkan existiert nicht. Auf der Umlaufbahn gibt es ein Trümmerfeld, das auf die einstige Existenz eines Planeten deutet. Es erstreckt sich über einige hundert Kilometer und umkreist auf der Umlaufbahn Vulkans die Sonne.“
„Vulkan wurde zerstört?“ fragte Sanawey und er klang, als könne er das gar nicht glauben.
„Die Fakten lassen nur diesen Schluss zu.“
„Wie? Wann? Und von wem?“
„Die Chancen, all das noch herauszufinden, stehen schlecht. Momentan kann ich dazu nichts sagen. Eventuell geben uns die Trümmer Aufschluss über die Zeit des Geschehens.“
Sanawey nickte. Er konnte es nicht fassen. Wie konnte der gesamte Planet zerstört sein? Und er hatte so gehofft hier Antworten zu finden. Langsam nahm er wieder im Kommandosessel Platz. „Mr. Tworek. Bringen Sie uns zu den Überresten des Planeten.“
„Ja, Captain“, erwiderte der Halbvulkanier und seine Stimme zitterte eindeutig. Offenbar konnte er seine Gefühle nicht ganz so gut unterdrücken wie Sohral. Kein Wunder, schließlich musste er mit den intensiven Gefühlen seiner klingonischen Seite fertig werden. Und Vulkan war für eine Hälfte von ihm die Heimat.
Überhaupt war Sanawey überrascht, wie gut es Sohral gelang ruhig zu bleiben. Ihm selbst ging die Zerstörung Vulkans schon nahe, wie musste es erst Sohral ergehen. Immerhin handelte es sich um seine Heimat. Da musste doch eine Reaktion kommen, egal wie gut man die Gefühle unter Kontrolle hatte.
Langsam näherten sie sich dem ehemaligen Planeten. Je näher sie kamen, desto deutlich wurde das Ausmaß der Zerstörung. Auf dem Bildschirm deutete sich das langgezogene Trümmerfeld ab. Die meisten der Überreste kreisten noch immer um die Sonne und hatten sich dabei über eine größere Fläche verteilt. Nach und nach wurden dann die einzelnen Gesteinsbrocken sichtbar. Dass es sich dabei einmal um einen Planeten gehandelt hatte, war nicht mehr zu erkennen. Insgesamt ähnelte die Gegend mehr dem Asteroidengürtel des irdischen Sonnensystems, wenn auch ein wenig ungleich verteilt.
Wieder wandte Sanawey sich seinem Wissenschaftsoffizier zu. Doch dieser reagierte nicht. Er analysierte ruhig und konzentriert die eingehenden Sensorendaten. Nur mühsam konnte Sanawey dem Impuls wiederstehen, an Sohrals Seite zu treten und ihm tröstend die Hand auf die Schulter zu legen. Oder wenigstens ein paar tröstende Worte zu spenden. Doch er wusste, dass Sohral das nicht im Mindesten gewollt hätte. Für solche menschlichen Verhaltensweisen hatte er nichts übrig.
„Haben Sie bereits irgendwelche Infos für uns?“ fragte Sanawey schließlich.
Der Vulkanier sah nur kurz auf. „Die Analyse der Daten wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich werde Ihnen Bescheid geben, sobald ich etwas habe.“ Seine Stimme war nicht mehr ganz so ruhig wie sonst, auch wenn das sicher niemand bemerkt hätte, der ihn nicht so gut kannte wie Sanawey.
Sanawey zog die Augenbrauen hoch. War da etwa unterdrückte Wut in Sohrals Stimme? Womöglich eine Wut auf die Verursacher der Katastrophe dort draußen? Offenbar nahmen die Ereignisse den Vulkanier mehr mit, als er es zugegeben hätte. Aber wer konnte es ihm schon verübeln.
So blieb Sanawey nur die Möglichkeit zu warten bis Sohral Ergebnisse präsentierte.
Es dauerte zwölf Stunden bis Sohral um eine Besprechung bei Captain Sanawey bat. Erst dann hatte er, seiner Meinung nach, genug Daten, um mit diesen eine These aufstellen zu können. Gemeinsam saßen sie am Besprechungstisch im Bereitschaftsraum des Captains. Sanawey wollte erst wissen womit er es zu tun hatte, bevor er den Rest der Führungscrew unterrichten wollte. Womöglich gab es Konsequenzen, die er zuerst überdenken musste.
Sohral stellte seine These in aller Ausführlichkeit und Detailtiefe vor. Sanawey glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Immer wieder musste er den Vulkanier unterbrechen um Fragen zu stellen oder um einfach nur seiner Ungläubigkeit Ausdruck zu verleihen. Nie im Leben war ihm in den Sinn gekommen, welche Rolle Vulkan während seiner langen Geschichte gespielt hatte. Natürlich war ihm durchaus bewusst gewesen, welchen Einfluss die Vulkanier auf die Geschichte hatten. Besonders auf die der Menschen. Seit dem ersten Kontakt hatten sie vieles zum Guten gewendet für die Menschen. Doch soweit wie das, was Sohral ihm jetzt berichtete, wäre er niemals gegangen. Und doch klang es logisch.
Am Ende saß Sanawey da und starrte gegen die Wand des Raumes. Und zum ersten Mal hatte er das Gefühl die Last des Universums läge auf seinen Schultern. Nur dass diese zu schwach wären, um das meistern zu können. Ein Gefühl, dass er seit vielen Jahren, ja seit seiner ersten Mission nach der Akademie nicht mehr in diesem Ausmaß gehabt hatte. Es lähmte geradezu seine Gedanken. Mehr als je zuvor wurde ihm bewusst, dass sie die letzten Menschen waren, die das Universum noch kannten wie es sein sollte. Nur sie waren imstande alles wieder zurechtzurücken. Und sie waren alleine.
Schließlich sah er Sohral wieder an. „Bitte rufen Sie eine Besprechung der Führungscrew ein. Die anderen sollen wissen was Sie mir eben mitgeteilt haben. Und laden Sie die Damen Watts, Karja, Kasatsu und Bozman ein. Wir treffen uns in einer halben Stunde.“
Sohral nickte nur und verließ dann wortlos den Raum.
Sanawey versuchte seine Gedanken zu ordnen und sich irgendein Bild über das mögliche, weitere Vorgehen zu machen. Er blieb am Tisch sitzen und starrte weiter gegen die Wand, seine Gedanken waren allerdings sehr weit weg. Und nachdem die halbe Stunde vergangen war, konnte er nicht mehr sagen, was er eigentlich alles gedacht hatte, so sehr hatten seine Gedanken im Kreis gedreht.
Er betrat als letzter den Konferenzraum. Die Führungscrew sowie die weiteren eingeladenen Personen saßen bereits am Tisch und sahen ihm erwartungsvoll entgegen. Die Nachricht über den zerstörten Planeten hatte sich wie ein Lauffeuer im Schiff verbreitet. Jeder brannte darauf zu erfahren, was vorgefallen war. Sanawey hatte die Blicke der Crewmitglieder auf dem Gang gesehen. Jeder hoffte irgendetwas zu erfahren. Die Ungewissheit war furchtbar.
Nachdem er sich gesetzt hatte wandte er sich an die Anwesenden. „Die ersten Analysen aus den Messergebnissen liegen nun vor. Mr. Sohral hat die Trümmer des Planeten untersucht und erstaunliches herausgefunden. Vulkan ist bereits weit in der Vergangenheit zerstört worden.“
Überraschte und erstaunte Gesichter waren die Reaktion auf diese Eröffnung. Keiner der Anwesenden konnte sich erklären, wie so etwas passiert sein konnte.
„Wir vermuten, die Vernichtung Vulkans hat das ganze Universum verändert“, fuhr Sanawey fort. „Die Änderungen haben wir ja bereits zum Teil sehen können. Damit man das ganze Ausmaß verstehen kann und welche Bedeutung Vulkan für das Universum hatte, ist es wichtig die vulkanische Geschichte zu kennen. Mr. Sohral wird unser aller Gedächtnis noch einmal auffrischen. Bitte, Mr. Sohral“, übergab Sanawey das Wort an den Vulkanier.
„Die Geschichte Vulkans ist wesentlich älter als die Geschichte der Menschen“, begann Sohral sachlich mit seinen Ausführungen. „Allerdings nicht weniger blutig. Bis vor etwa 2000 Jahren irdischer Zeitrechnung waren wir Vulkanier ein sehr emotionales Volk, sogar etwas emotionaler als die Menschen. Wir ließen unseren Gefühlen freien Lauf und lebten sie aus. Dies führte dazu, dass auch auf Vulkan immer wieder Kriege unter einzelnen Nationen ausbrachen, die selbst für menschliche Verhältnisse brutal waren.
Vor 2150 Jahren befand sich Vulkan mitten in einem nuklearen Weltkrieg. Allerdings verlief dieser Krieg anders als der 3. Weltkrieg auf der Erde. Auf der Erde wurde ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen, nachdem der Krieg weite Teile des Planeten verwüstet hatte. Auf Vulkan war ein solches Kriegsende nicht in Sicht. Meine Vorfahren waren so von Hass erfüllt, dass es nur ein Ende des Krieges geben konnte: die komplette Vernichtung meines Volkes. Während dieses Krieges erkannte der Philosoph Surak, dass es nur einen Weg geben konnte die Spirale aus Hass und Gewalt zu beenden. Die Logik. Die Logik hat keinen Platz für Emotionen. Und entzieht damit jedem Krieg seine Grundlage. Seiner Meinung nach konnten die Vulkanier nur überleben, wenn sie jeglichen Emotionen entsagten.
Beim Volk fanden Surak’s Lehren großen Anklang. Wie bei jedem Krieg litt die Zivilbevölkerung am meisten unter den Zerstörungen. Hunger und Seuchen grassierten auf ganz Vulkan. Die Vulkanier erkannten die Logik in Suraks Vorschlägen. Sie fingen an seinen Lehren zu folgen. Zuerst wenige doch mit der Zeit verbreitete sich die Botschaft und schließlich setzte sich die Logik durch. Nur dadurch wurde das Volk von Vulkan gerettet.
Allerdings waren nicht alle Vulkanier mit Suraks Lehren einverstanden. Und so verließen geschätzte fünfzigtausend Vulkanier den Planeten. Bis vor dreißig Jahren wusste niemand, etwas über das Schicksal dieser Auswanderer. Heute wissen wir, dass sie den Planeten Romulus besiedelt hatten und das romulanische Imperium erschaffen haben.“
Sohral machte eine kurze Pause ehe er fortfuhr. „In dieser Zeitlinie wurde Vulkan zerstört ehe Surak seine Lehren verbreiten konnte. Daher kam es nie zu der Auswanderung und auch nicht zur Gründung des romulanischen Reiches. Mein Volk konnte keinen Einfluss auf andere Völker nehmen. Auch fand der Erstkontakt der Menschen nicht mit meinem Volk statt sondern erst Jahre später mit den Andorianern. Das Fehlen der Vulkanier hat dazu beigetragen, dass sich die Dinge in dieser Zeitlinie anders entwickelt haben. Die Föderation wurde nie gegründet. Dieses Machtvakuum, ebenso wie das Machtvakuum, das durch das Fehlen der Romulaner entstanden war, hatte dafür gesorgt, dass die verbliebenen Völker wesentlich mehr Platz im Weltraum haben.“
„Aber wieso ist der Stand der Technik hier im 23. Jahrhundert dann vergleichbar mit unserem 22. Jahrhundert?“ wollte Zien wissen. Er war noch nicht wieder ganz fit, doch ging es ihm schon deutlich besser. Seine verletzte Antenne war zwar noch nicht nachgewachsen, doch hatte sich sein Körper inzwischen an den Verlust angepasst. Und dieses Meeting hatte er auf keinen Fall verpassen wollen.
„Der Konkurrenzkampf, den es in unserer Zeitlinie gab, war ungleich höher als hier. Wie allen bekannt sein dürfte fördert der Konkurrenzkampf die Entwicklung und die Forschung. Und leider ist es eine Tatsache, dass bei den meisten Völkern die größten Fortschritte während eines Krieges stattfanden. Das Fehlen der Romulaner und einer starken Föderation hat aller Wahrscheinlichkeit nach dazu geführt, dass die Völker sich über eine längere Zeitspanne auf ihren Teil des Weltraumes konzentrieren konnten, ehe man auf Fremde stieß. Somit gab es keinen Zwang, der für eine schnellere Entwicklung der Technik hätte sorgen können.“
„Für mich stellt sich viel mehr die Frage, wie wir unsere Zeitlinie wieder herstellen können“, forcierte Sanawey das Thema wieder. Dieses Universum mochte ja noch so faszinierend sein und Raum zum Spekulieren geben, aber letztendlich ging es nur darum, die Zeit wieder richtig zu stellen.
„Das ist die Frage, auf die wir bisher noch keine Antwort gefunden haben“, räumte Sohral ein. „Da wir noch nicht wissen, wie Vulkan zerstört wurde, haben wir auch noch keinen Ansatz gefunden, wie wir die Zerstörung verhindern können.“
„Könnte es etwas mit der Xindi-Waffe zu tun haben?“ spekulierte Sanawey.
„Nun, es ist zumindest nicht ausgeschlossen. Allerdings darf ich Sie daran erinnern, dass die Ausrichtung der Waffe auf die Erde zielte, nicht auf Vulkan. Zudem weisen die Überreste Vulkans keine Strahlungsrückstände einer Waffe auf. Es könnte auch eine ganz andere Ursache für die Zerstörung des Planeten geben.“
„Aber wenn man das Unmögliche ausschließt muss das, was noch übrig bleibt, die Lösung sein, so unwahrscheinlich es sein mag“, zitierte Sanawey den Leitspruch der vulkanischen Wissenschaftsakademie. „Also können wir die Xindi-Waffe nicht ausschließen.“
„Die Waffe ist als Auslöser unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, gab Sohral zu.
„Na schön. Spekulieren bringt uns nicht weiter. Wir müssen die Zerstörung Vulkans verhindern. Das bleibt als Ziel stehen. Würde uns eine Zeitreise weiterhelfen? Wenn wir in die Zeit der Zerstörung zurückreisen?“
„Davon würde ich derzeit abraten“, sagte Sohral. „Wir wissen noch nicht, was genau für die Zerstörung des Planeten die Ursache ist. Solange das unklar ist, sollten wir diese Zeit nicht verlassen. Womöglich benötigen wir zur Rettung des Planeten eine Technologie, die vor zweitausend Jahren noch nicht existierte. Zudem ist eine exakte Zeitreise nahezu unmöglich.“
„Dazu braucht man doch nur einen DeLorean und einen Flux-Kompensator“, murmelte Reed. Watts, musste sich ein Grinsen verkneifen, was ihr nicht ganz gelang. Die anderen verstanden den Verweis auf den Film Zurück in die Zukunft
nicht.
Sohral hob nur leicht die rechte Augenbraue an und fuhr dann fort: „Wir müssen zuerst noch weitere Daten sammeln und auswerten, ehe wir eine Entscheidung treffen können. Wir sollten aber auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass wir die Zeitlinie womöglich nicht wieder ändern können“, gab Sohral zu bedenken. „Die Konstellation ist sehr komplex. Womöglich werden wir die Änderung akzeptieren müssen und uns auf ein Leben hier einstellen.“
Bedrückte Gesichter waren die Folge. Zwar war sich jeder dieser Konsequenz bewusst gewesen, solange es allerdings niemand ausgesprochen hatte, konnte das noch verdrängt werden. Und irgendwie gab es doch immer einen Ausweg. Dieser Albtraum konnte doch kaum zur Realität werden. Diese Zeitlinie war so anders, dass es doch kaum wahr war. Hier zu leben konnte sich keiner vorstellen. Es war fast so, als würde man einem modernen Menschen sagen, er müsste in einer Zauberwelt voller Feen und Zwerge leben.
„Wie können ausgerechnet Sie das sagen?“ frage Williams schließlich. „Es handelt sich um Ihr Volk, das vernichtet wurde. Außer Lieutenant Saron und Ihnen gibt es im ganzen Universum keine Vulkanier mehr.“
„Dessen bin ich mir bewusst“, antwortete Sohral ruhig. „Trotzdem ist es eine logische Konsequenz, mit der wir uns befassen müssen. Die Chancen eine so weit zurückliegende Katastrophe verhindern zu können liegen unter fünf Prozent. Zumal wir den Grund für die Katastrophe nicht kennen. Es wäre durchaus möglich, dass mein Volk seinen eigenen Planeten zerstört hat. Eine Verkettung solch komplexer Zusammenhänge ist nur schwer zu beeinflussen und zu verändern. Daher ist es logisch, wenn wir anfangen hier Kontakte zu knüpfen. Alleine werden wir, trotz überlegener Technologie, auf Dauer keine Überlebenschance haben. Aber wenn wir eingreifen, können wir diesem Universum vielleicht helfen. Aber dazu müssen wir akzeptieren, dass wir hier nicht mehr weg können.“
„Niemals“, sagte Sanawey entschlossen. „Wir werden einen Weg finden. Und wenn es unser ganzes Leben dauern wird.“
Zustimmendes Nicken der Anwesenden war die Folge. Sohral akzeptierte dies ohne Widerspruch. Vielleicht war er aber auch der Meinung, dass sich die Ansichten mit der Zeit ändern würden, wenn der Erfolg ausblieb.
Sanawey stand auf. „Erarbeiten Sie Ideen und Konzepte, wie wir den Schaden wieder gut machen können. Ich will alle hören, auch wenn sie noch so phantasievoll sind.“ Damit verließ er den Raum. Mit verkniffenen Gesichtern machten sich die anderen ebenfalls auf den Weg.
Für die Gerüchteküche waren die Ergebnisse hieraus wie Öl, das ins Feuer gegossen wurde. Es wurde munter darüber spekuliert, ob die Xindi nun an der Zerstörung Vulkans beteiligt waren oder was sonst der Grund gewesen sein könnte.
Die Sonne stand noch nicht sonderlich hoch am Himmel als die Bewohner der Stadt langsam ihr Tagwerk aufnahmen. Ein Tagwerk, das von hohen körperlichen Anstrengungen geprägt war. Die Kolonie, die vor einigen Jahrzehnten auf diesem Planeten gegründet worden war, war noch immer im Aufbau begriffen. Das Wachstum war noch nicht beendet. Ständig kamen neue Auswanderer von der Erde, die dort keine Perspektiven mehr sahen und auf ein neues, bessere Leben in der weit entfernen Kolonie hofften. In einer Kolonie, die so weit weg war, dass die Sorgen hoffentlich nicht hinterher kommen konnten. So wuchs die Kolonie unaufhörlich. Der Stadtrand verschob sich immer weiter nach außen, um den stetigen Zustrom an Neuankömmlingen aufnehmen zu können.
Der Planet war für die Besiedelung durch Menschen geradezu ideal. Er besaß keine höheren Lebensformen, die den Einwanderern irgendwie hätten gefährlich werden können. Auch die natürlich vorkommenden Bakterien stellten für das menschliche Immunsystem keine Herausforderung dar. Im schlimmsten Fall mussten Neuankömmlinge einige Wochen unter ärztlicher Aufsicht Medikamente einnehmen, bis sie sich an die neuen Umwelteinflüsse gewöhnt hatten.
Die klimatischen Bedingungen waren denen der gemäßigten Zonen der Erde ähnlich. Durch die gerade Achse im Verhältnis zur Umlaufbahn um die Sonne gab es keine Jahreszeiten. Das Klima war durchgehend gleich und erlaubte somit den Anbau von Nutzpflanzen das ganze Jahr hindurch. Was auch dringend nötig war, um alle Einwanderer ernähren zu können.
Die Sonne, die von Wissenschaftlern lange vor dem ersten Flug ins All Ceti Alpha getauft wurde, war zudem eine ruhige Sonne. Sie strahlte gleichmäßig, ohne dass ihre Aktivität sonderlich schwanken würde. Eine wichtige Voraussetzung, da Energieschwankungen nicht ohne Auswirkungen auf die näheren Planeten waren und zumeist Katastrophen auslösten.
Insgesamt war diese Kolonie, die den Namen Terra Ceti trug, ein Paradies. Vor allem im Vergleich zur völlig übervölkerten Erde. Mehr als achtzehn Milliarden Menschen lebten in dieser Zeitlinie mittlerweile auf dem Heimatplaneten. Die meisten davon in Armut und ewigem Hunger. Die Folgen waren Spannungen, die sich in manchen Teilen der Erde immer wieder in kleineren Kampfhandlungen entluden. Zu einem offenen Krieg kam es jedoch nie, da die Weltmächte China, Indien und die nordamerikanische Union jeglichen Krieg im Keim erstickten. Zu hoch war die Angst, bei einem Krieg auf der Erde für Außerirdische schwach und uneins zu wirken und damit eine Invasion zu provozieren.
Die Überbevölkerung der Erde hatte letztlich aber dazu geführt, dass die Belastungen für das Klima immer weiter gestiegen waren. Hatten die Wissenschaftler bereits zur Jahrtausendwende warnend die Finger erhoben, so wurde der Klimawandel durch den dritten Weltkrieg erst einmal gebremst. Die Menschheit hatte am Abgrund gestanden und war gar nicht mehr in der Lage den Klimawandel weiter voran zu treiben. Doch ähnlich wie Ungeziefer hatte sich die Menschheit schneller von dem schweren Schlag erholt als irgendjemand geahnt hätte. Was folgte war der rasanteste Aufstieg einer Art, den die Erde je erlebt hatte. Mit dem Wissen aus der Zeit vor dem Krieg und neuen Erkenntnissen war der Menschheit eine sprunghafte Vermehrung gelungen. Die unzähligen Toten des Krieges waren nach wenigen Generationen mehr als ersetzt und in den folgenden zweihundert Jahren hatten sich die Menschen auf unglaubliche achtzehn Milliarden ausgebreitet. Außer auf dem Mond und dem Mars gab es vier weitere Kolonien, die im All verstreut waren.
Das Abschmelzen der Polkappen sowie die Vernichtung fast aller Waldflächen hatte allerdings katastrophale Auswirkungen. Der Sauerstoffgehalt der Erde war im Begriff zu sinken. Auch das gesamte Ökosystem stand auf der Kippe. Wichtige Lebewesen, die das System am Laufen gehalten hatten, waren ausgestorben. Das Ökosystem hatte Löcher, durch die ein Wal hätte schwimmen können, wenn es diese Säuger noch gegeben hätte.
Und wieder warnten die Wissenschaftler, wie sie es seit dem Jahrtausendwechsel fast ununterbrochen getan hatten. Doch diesmal ging es nicht um irgendwelche Folgen des Klimawandels, denn diese hatten sich bereits alle fast ausnahmslos eingestellt. Diesmal ging es darum, dass die Erde wohl nicht mehr lange in der Lage wäre überhaupt ein Lebewesen ernähren zu können. Die Durchschnittstemperatur hatte in den letzten zweihundert Jahren um insgesamt zwölf Grad zugenommen. Das Leben in den Ozeanen war aufgrund dieser Wärme und der Umweltverschmutzung fast vollständig zusammengebrochen. Fisch war unerschwinglich teuer und stand eigentlich auf der Liste der verbotenen Speisen. Doch wie immer war ein solches Verbot kaum durchzusetzen. Der Schwarzmarkt blühte und es war zu erwarten, dass solange weiter gegessen wurde, bis wirklich kein Fisch mehr existierte.
Der Mensch aber merkte in seiner Überheblichkeit und Arroganz noch immer nicht, dass er sich selbst die Grundlagen des Lebens entzog. Und so lebten die meisten Menschen weiter, wie sie es seit Generationen getan hatten: verschwendend, zerstörend und ohne an die Folgen zu denken. Was seit knapp einhundert Jahren ohnehin nicht mehr relevant war. Der Menschheit war der Sprung zu den Sternen gelungen. Neue Welten konnten kolonisiert werden. Auf einmal stand scheinbar unendlich viel Land zur Verfügung. Was den wenigsten dabei bewusst war: Nicht jeder auf den ersten Blick möglich Planet war für eine Besiedelung geeignet. Die meisten Planeten waren entweder zu heiß oder zu kalt. Oder bereits von höheren Lebewesen besiedelt. Dabei mussten es nicht unbedingt intelligente und zivilisierte Lebewesen sein. Es reichte schon, wenn ein Planet einen größeren Bestand an übergroßen Raubtieren vorzuweisen hatte. Eine Besiedelung war damit ausgeschlossen, denn kein Kolonist verspürte großes Interesse auf einem Planeten zu leben, auf dem man ständig aufpassen musste, um nicht gefressen zu werden. Der ausgeprägte Überlebensinstinkt für die Wildnis, den die Menschen vor Jahrtausenden noch hatten, war inzwischen nicht mehr vorhanden. Die Menschen waren bequem geworden und sich des Lebens viel zu sehr bewusst, um sich einer solchen Gefahr freiwillig auszusetzen.
Stimmte scheinbar alles an einem Planeten, dann war noch immer die Zusammensetzung der Bakterien und Viren zu analysieren. Hier lauerte eine unsichtbare Gefahr, deren man auch mit modernster Technologie kaum Herr werden konnte.
Zuletzt blieben dann nur noch wenige Planeten, die als Kolonie geeignet waren. Und die meisten waren für menschliche Verhältnisse noch immer extrem. Jedoch hatten diese Planeten meist auch die größeren Ressourcen und lohnten sich, ausgebeutet zu werden. Daher nahmen viele Auswanderer auch solche Unannehmlichkeiten in Kauf und schufteten in größter Hitze unter fremden Sonnen um mitzuverdienen am Abbau und Verkauf dieser Ressourcen. Die meisten träumten jedoch vergeblich. Denn außer harter Arbeit und vielen Verletzungen brachten diese Jobs nicht sehr viel ein. Dann noch einmal aufzubrechen, um woanders sein Glück zu suchen, konnten sich die Wenigsten leisten. Fast jeder, der die Erde verließ, verbrauchte damit seine gesamten Ersparnisse und machte trotzdem noch Schulden, die sie fest in die Hände skrupelloser Ausbeuter brachten. Und dann mussten sie ihre Schulden abarbeiten, mussten aber für das tägliche Leben weitere Schulden machen. Auf diese Art kamen sie in einen Teufelskreis, aus dem kaum jemand ausbrechen konnte, und der sie fest an ihre Gläubiger band.
Nachdem die ersten Kolonien gegründet waren und inzwischen stabil liefen, fassten immer mehr Menschen den Entschluss, die Erde zu verlassen. Täglich verließen sie mit Auswandererschiffen den Heimatplaneten, um in der Fremde ihr Glück zu suchen. Nicht alle erreichten ihr Ziel. So manche Schiffe waren in technisch schlechtem Zustand, so dass sie nie wieder gesehen wurden und aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo im All explodiert waren oder mit ausgefallenem Antrieb zur tödlichen Falle für die Insassen wurden.
Trotzdem kamen in den Kolonien noch immer so viele Flüchtlinge an, dass dieses wilde Wachstum für die Stadtplaner, die sich um den Bau von Versorgungsleitungen kümmern mussten, eine echte Herausforderung war. Alles musste so organisiert werden, dass jeder neue Einwanderer möglichst schnell sein Dach über dem Kopf hatte und trotzdem alle Sicherheitsbestimmungen, wenigstens im Groben, eingehalten wurden. Und es musste schnell gebaut werden. Die Massenquartiere, in denen die Einwanderer erst einmal Unterschlupf finden mussten, waren übervoll. Es war fast so, als kämen für einen, der das Lager verlassen konnte, zwei neue Bewohner hinzu.
Auf Terra Ceti lebten inzwischen insgesamt mehr als hundertdreißigtausend Menschen, verteilt auf fünf große Siedlungen. Und täglich wurden es mehr. Ein Ende war nicht abzusehen, im Gegenteil. Sollten sich die Vorhersagen der Wissenschaftler bewahrheiten, so mussten alle Einwohner der Erde in den nächsten Jahrzehnten den Heimatplaneten verlassen, da er dann völlig unbewohnbar sein würde.
Aber bis dahin war noch Zeit, dachte Isaac Oket und zog den Vorhang am Fenster zurück, durch das er noch eben auf die Stadt hinaus geschaut hatte. Wie immer erfüllte ihn Stolz, wenn er die Stadt aus einem Büro über dem Senatsraum betrachtete. Seit knapp vierzig Jahren beeinflusste er als Senator das Schicksal der Kolonie mit, die letzten zwanzig davon als Senatspräsident. Sie hatten viel erreicht. Die Kolonie war im Aufstreben und die Wachstumskurve zeigte steil nach oben. Es war nicht immer einfach gewesen, doch irgendwie hatten sie es immer geschafft. Derzeit war es verhältnismäßig ruhig, wobei er sich sicher war, dass die Probleme größer werden würden, wenn der Exodus von der Erde weiter so ansteigen würde.
Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn, als er sich wieder seinem Schreibtisch zuwandte. Mit den tiefen Ringen unter den zusammengekniffenen Augen wirkte er wesentlich älter als fünfundsechzig Jahre. Die Haare auf seinem Kopf waren weit zurückgewichen und hatten einen ergrauten Haarkranz zurückgelassen.
Erschöpft ließ er sich in seinem Sessel nieder. Der bevorstehende Markt machte ihm Gedanken. Durch die neuen Siedler hatten sie die Zufahrtswege stark zugebaut, so dass es nun schwieriger wurde den großen Platz zu erreichen. Das würde nicht allen Händlern gefallen, dessen war er sich bewusst. Und so grübelte er schon seit Stunden an einer Lösung des Problems, war jedoch noch keinen Schritt weiter. Allerdings musste er eine Lösung finden. Der Markt war zu wichtig für die Kolonie, als dass er unter Besucherschwund leiden durfte. Jedes halbe Jahr trafen sich Händler aus den benachbarten Systemen hier, um untereinander ihre Waren zu verkaufen oder neue Handelsware einzukaufen. Die unterschiedlichsten Völker trafen sich dann hier. Der Kolonie brachte dies nicht nur den Kontakt zu den anderen Völkern, sondern auch die Möglichkeit mitzuhandeln. Und zusätzlich einen Anteil am Gewinn der Verkäufer. Das war der Preis, dass hier gehandelt werden durfte. Zu Beginn, vor vielen Jahren, hatte Oket noch Bedenken gehabt wegen der Steuern. Doch dann hatte er mitbekommen, dass die Händler bereit waren den Preis zu zahlen. Zwar unter Murren, doch hielten sich die Beschwerden insgesamt in Grenzen. Zu lukrativ war das Geschäft trotz allem. Denn nirgendwo in den benachbarten Systemen gab es etwas Ähnliches. Zum Teil lag es daran, dass die jeweiligen Gesellschaftssysteme so etwas einfach nicht kannten oder aber dass es aufgrund religiöser Gründe nicht gestattet war. Und oft war einfach nur die Angst oder die Vorurteile vor den Fremden der Grund, weshalb man fremden Händlern mit Skepsis begegnete und froh war, wenn sie einzeln kamen und nicht alle auf einmal. Damit war der Markt von Terra Ceti etwas besonders und für die Händler die einmalige Gelegenheit auch untereinander zu handeln und Waren direkt vergleichen zu können. Und um sich gegenseitig auf die Finger zu schauen. Das alles hatte sich schnell herumgesprochen und so wuchs der Markt von Mal zu Mal. Inzwischen kamen Händler von Völkern, die die Menschen vorher noch nie gesehen hatten. So kam beim letzten Markt ein Händler, der als Heimatplanet Cardassia angegeben hatte. Wo auch immer das liegen mochte.
Plötzlich wurde die Türe aufgestoßen und schwer atmend trat Bobby Steen ein. Keuchend blieb er vor dem Schreibtisch stehen und rang nach Luft. Was Oket gut verstehen konnte. Das Büro lag zwar direkt über dem Senatsraum, da dieser aber eine deutlich höhere Decke hatte als ein normaler Raum, lag Okets Büro, gemessen an einem normalen Gebäude, im vierten Stock und es gab keinen Lift.
Bobby Steen war ein kleiner, etwas dicklicher junger Mann, der seit einigen Wochen sein Gehilfe war. Er war ein Freund der Familie, der bei einem Unfall vor zwei Jahren seine Eltern verloren hatte. Seitdem lebte er bei Pflegeeltern. Mit Hilfe von Psychologen hatte er den Schock des Unfalles überwunden. Nun sollte er langsam einer Aufgabe zugeführt werden, die er bewältigen konnte. Und Oket schlug vor, dass er erst einmal bei ihm etwas Erfahrung sammeln konnte. Manchmal bereute er diesen Anflug von Hilfsbereitschaft allerdings. Bobby war zwar ein netter Junge, aber etwas unbeholfen und schusselig. Zudem schien es so, dass er sich mit dem Einhalten von Regeln schwer tat und oft das machte, was er für richtig hielt. Zwar wurde er in wenigen Wochen achtzehn, doch geistig war er noch nicht ganz so weit.
Sein Haar war kurz geschnitten und eine zierliche Brille saß auf seiner Nase, hinter der kleine, unruhige Äuglein hervorlugten. Aufgrund der offensichtlichen Anstrengungen leuchtete sein Gesicht knallrot. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.
Oket sah ihn von seinem Platz aus über den Schreibtisch hinweg an und wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war. Als er schließlich der Meinung war, lange genug gewartet zu haben, sprach er den Eindringling an. „Bobby, was gibt es, das so wichtig ist, um einen derartigen Auftritt zu rechtfertigen?“
„Wir...äh... ich...die Erde“, stotterte Steen und pumpte noch immer Luft wie ein Maikäfer.
„Sprich bitte in ganzen Sätzen mit mir“, mahnte Oket gedehnt. Er war es irgendwie leid. Wann würde Bobby es endlich lernen, dass er entweder mehr trainieren oder eben einfach etwas langsamer gehen musste? Dass es um seine Kondition nicht zum Besten stand musste doch auch er bereits gemerkt haben. Aber als Gehilfe des Senatsvorsitzenden hatte er wohl den Eindruck es allen beweisen zu müssen. Dass er dabei etwas schusselig wirkte schien zumindest ihm nicht aufzufallen.
„Die Erde hat uns kontaktiert“, brachte Bobby Steen schließlich hervor. Er schnaufte noch immer, wenngleich es schon deutlich besser wurde. „Sie haben uns eine Order übermittelt.“ Er schwenkte ein Stück Papier in der Hand.
Oket folgte dem Papier kurz mit den Augen. Dann sah er wieder Bobby an. „Ich bin sicher, du hast es schon gelesen. Was also steht darin?“
Bobby hatte immerhin den Anstand kurz rot zu werden, was angesichts seines bereits roten Kopfes eine echte Kunst war. Denn eigentlich sollte eine Anweisung der Erde immer erst zum Senatspräsidenten gehen, bevor es irgendjemand anderes in der Kolonie erfuhr. „Es geht um den bevorstehenden Markt“, sagte er schließlich und versuchte betont unschuldig zu klingen. „Die Erdregierung hat uns angewiesen, den Markt entweder abzusagen oder aber wenigstens für außerirdische Besucher zu sperren.“
„Was?“ fuhr Oket auf. Er verlor für einen Moment seine Selbstbeherrschung und seine Augen blitzten grimmig. Als er sah, wie Bobby zusammenzuckte, maß er sich innerlich zur Ordnung. Wenn er ausfallend wurde, dann war niemandem geholfen. Darum kam seine nächste Frage wieder gewohnt ruhig heraus. „Gibt es eine Begründung für diese bodenlose Frechheit?“
„Es heißt hier, dass man den Verdacht habe, die Außerirdischen könnten hier Informationen sammeln, um der Erde dann zu schaden.“
Oket schnaubte verächtlich. Die Paranoia auf der Erde nahm immer größere Ausmaße an. Vor Jahrzehnten, als man das erste Mal auf extraterrestrische Lebewesen traf, da war der Schock groß gewesen. Die Klingonen hatten das irdische Schiff zerstört ohne selbst Schaden genommen zu haben und demonstrierten damit ihre Überlegenheit. Seitdem konnte kein friedlicher Kontakt zu anderen Völkern dieses Trauma mehr verdrängen. Und die derzeitige Regierung übertraf mit ihren Maßnahmen alles Bisherige. Die Angst vor Fremden wurde geradezu geschürt. Außerirdischen wurde die Schuld für so ziemlich alles angelastet. Die Stimmung auf der Erde wurde immer fremdenfeindlicher. Offiziell wurden zwar diplomatische Beziehungen gepflegt, tatsächlich aber hatte die Erde keinen echten Kontakt mehr zu anderen Völkern. Einzig die Andorianer hielt man für gleichberechtigt. Nur sie wurden noch als Partner anerkannt. Und das vermutlich auch nur, weil die Menschheit ohne einen Verbündeten gegen die beiden Großmächte, das klingonische Reich und die Xindi-Union, auf verlorenem Posten stehen würde. So bildete die terranisch-andorianische Allianz einen Gegenpol und damit eine gewisse Sicherheit. Dieses Gleichgewicht der Kräfte wollte man auf der Erde offenbar nicht aufs Spiel setzten.
„Wie stellt man sich das auf der Erde denn vor?“ stellte Oket laut die Frage, ohne sie wirklich an seinen Gegenüber gerichtet zu haben. „Der Markt ist unsere einzige Chance, Geld zu verdienen. Er ist unsere wichtigste Einnahmequelle. Ohne ihn können wir die Kolonie fast schon gar nicht mehr am Leben erhalten. Wir können uns dieser Vorgabe nicht beugen.“
„In der Anweisung der Erde steht außerdem noch, dass man die Erdstreitkräfte schicken wird, wenn wir die Außerirdischen auf den Planeten einreisen lassen“, ergänzte Bobby noch kleinlaut. Er wollte ungern an die Geschehnisse von Terra Nova erinnern, die zwar bereits mehr als zehn Jahre zurücklagen, aber noch immer in der Erinnerung eines jeden Bewohners sämtlicher Kolonien war.
Oket stapfte wutentbrannt an Bobby Steen vorbei und riss ihm beim Vorübergehen das Dokument aus den Händen. Bevor er den Raum verließ wandte er sich noch einmal kurz um. „Ruf eine Senatssitzung ein. Das duldet keinen Aufschub. Sofort.“ Dann verließ er den Raum.
Bobby atmete tief durch. Verdammt, warum nur musste er der Überbringer einer solchen Nachricht gewesen sein? Nicht nur, dass nun wahrscheinlich jeder an diesen Tag denken musste, wenn man ihn sah, nein, jetzt hatte er auch noch den Aufwand und den Stress eine außerordentliche Senatssitzung einzuberufen. Mit hängenden Schultern lief er Oket hinterher.
Überglücklich saß Reed auf seinem Stuhl. Glückgefühle durchströmten ihn und raubten ihm fast den Verstand. Er saß hier in der Bar zusammen mit Elane. Sie hatte ihn gebeten sich heute mit ihr treffen. Ziemlich kurzfristig sogar. Offenbar wollte sie heute Abend ein wenig Spaß haben und wusste genau, dass das bei einem Treffen mit ihm ganz sicher der Fall sein würde. So wie eben immer, wenn sie sich getroffen hatten.
Und genau so war es wieder gekommen. Sie scherzten und lachten über die kleinsten Kleinigkeiten. Dass sie dabei auffielen störte sie nicht. Seit der Entdeckung des zerstörten Planeten herrschte eine bedrückte Stimmung an Bord. Diese durchbrachen sie eben. Doch es störte sie nicht.
Reed war einfach nur glücklich, dass er Zeit mit ihr verbringen konnte. Und wenn sie so scherzten, dann konnte er sogar fast vergessen, dass sie nur Freundschaft von ihm wollte.
Wie immer redete sie mit ihren Händen und ihrem Kopf, machte Gesten und fuchtelte wild herum. Und er lachte sich jedes Mal kaputt, wenn sie auf diese Art etwas erzählte. Bei diesen Bewegungen kam es auch hin und wieder vor, dass sie ihn berührte und jedes Mal erschauderte er angenehm. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte sie gar nicht mehr aufhören dürfen ihn zu berühren.
Als sie ihn nochmals wegen seiner Rettung des Captains lobte, streichelte sie sogar kurz über seinen Handrücken. Ein wunderbares Gefühl, bei dem er eine Gänsehaut bekam.
Reed schaute ihr in die Augen. Er wusste nicht genau, ob sie etwas erreichen wollte oder was hier vor sich ging. Er selbst konnte ohnehin nicht mehr klar denken. Ihre ständigen Berührungen machten ihn ganz schwindelig. Dass die vielen Berührungen kein Zufall sein konnten, das signalisierte ihm noch eine Stimme irgendwo in seinem Hinterkopf. Ob er sich die Häufigkeit der Berührungen aber nur einbildete oder nicht, konnte er unmöglich sagen. Zu allem Überfluss traute er sich selbst nicht mehr. Zu normalen Zeiten hätte er solche Gesten als eindeutige Einladung verstanden und wäre ohne zu zögern zum nächsten Teil übergegangen. Aber da er ihren Standpunkt kannte interpretierte er ihre Gesten sicher falsch. Und er wollte nicht schon wieder den Fehler machen sich mehr zu erhoffen, als wirklich dahinter steckte.
„Was ist los mit dir? Du bist so ruhig“, stellte sie fest und sah ihn herausfordernd an. Er hatte den Eindruck ein eindeutiges Feuer in ihren Augen zu sehen.
Was sollte er sagen? Dass er verrückt nach ihr war und es kaum noch ertragen konnte ihr einfach nur gegenüber zu sitzen? Er wollte sie küssen. Er wollte sie berühren und liebkosen. Er wollte sie ganz und gar. Er hatte das Gefühl innerlich tausend Tode zu sterben, weil sie nicht mehr wollte. Sollte er ihr das etwa sagen? „Ich bin etwas platt“, log er daher. „Die letzten Tage waren anstrengend.“
„Oh“, sagte sie leise und es klang etwas enttäuscht. „Dann lass uns gehen.“
„Nein, nein, so schlimm ist es nicht“, wehrte er schnell ab. Auch wenn er sich schrecklich fühlte, so wusste er doch, dass er sich noch schlimmer fühlen würde, wenn er wieder alleine in seinem Quartier war.
„Doch, lass uns gehen“, bestand sie drauf und stand auch schon auf.
Sie will mich loswerden, dachte er und ein Stich der Enttäuschung traf ihn. Doch um länger darüber nachzudenken hatte er keine Zeit mehr. Er stand ebenfalls auf und gemeinsam verließen sie die Bar. Als sie durch den Gang zum Lift gingen, lief sie so dicht neben ihm, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Sie duftete herrlich und benebelte seinen Verstand noch weiter. Ihm war fast so, als würde er auf Wolken gehen.
Sie schien ihn herauszufordern oder testen zu wollen, denn sie ging so nahe neben ihm, dass sie ihn schon berührte. Drake hatte das Gefühl das Knistern zwischen ihnen fast spüren zu können. Aus Reflex heraus, und weil er längst nicht mehr Herr über seinen Körper war, legte er einen Arm um sie. Sie sagte nichts dazu, gab aber auch durch nichts zu verstehen, dass es sie stören würde. Daher gingen sie genau so weiter bis sie vor Elanes Quartier standen.
Drake entließ sie aus seiner Umarmung und stellte sich direkt vor sie. „Ich danke dir für den schönen Abend.“
„Willst du noch kurz rein kommen? Auf einen Kaffee oder so?“ fragte sie ihn schnell. Vielleicht eine Spur zu schnell.
Zögernd sah Drake sie an. Das war seine Chance. Oder provozierte sie ihn nur? Er war sich so unsicher wie noch nie in seinem Leben. „Ich weiß nicht“, sagte er lahm.
„Ach, stell dich nicht so an.“ Sie öffnete die Tür zu ihrem Quartier und zog ihn mit hinein. Er stolperte hinter ihr her und blieb dann unschlüssig mitten im Raum stehen. „Ist deine Zimmergenossin nicht da?“ fragte er, als er sich daran erinnerte, dass sie ein Doppelquartier bewohnte.
„Nein“, antwortete Elane knapp.
Drake schluckte. Er hatte auf eine Anstandsdame gehofft, da er für nichts mehr garantieren konnte. „Na schön. Ich nehme einen Kaffee“, sagte er und drehte sich zu ihr um.
Sie stand plötzlich direkt vor ihm. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Sie sah ihm in die Augen und er hatte das Gefühl sich völlig darin zu verlieren. Bevor er irgendwie reagieren konnte beugte sie sich vor und küsste ihn. Ihre Lippen waren wunderbar weich. Nach seiner ersten Überraschung erwiderte er den Kuss. Zuerst vorsichtig, dann immer leidenschaftlicher. Ihre Zunge schob sich fordernd in seinen Mund. Sie war plötzlich außer Rand und Band. Gerne gab er ihrem Drängen nach und erwiderte ihre Leidenschaft. Seine Hände fuhren ihr zärtlich den Hals entlang. Er spürt ihr Beben durch den Kuss hindurch. Sie hatte ihn mit ihren Händen umschlugen und fuhr ihm zärtlich den Rücken hinauf.
Nach einem scheinbar unendlichen langen Kuss löste sie sich einen Augenblick von ihm, doch nur ihm das Hemd zu öffnen. Er ließ es einfach zu Boden fallen und erzitterte unter ihren zärtlichen Berührungen.
Es dauerte nicht lange und sie hatten den Weg zu ihrem Bett gefunden. Auf dem Weg dorthin hatten sie nach und nach alle Kleidungsstücke verloren, um sich schließlich innig küssend auf ihrem Bett wieder zu finden. Elane lag auf dem Rücken und Drake näherte sich ihr langsam mit ungezügeltem Verlangen. Sanft fuhren seine Finger ihre Beine hinauf und streichelten zärtlich ihre Oberschenkel. Elane erschauderte unter seinen Liebkosungen.
Behutsam und unter einem leisen Keuchen drang er in sie ein, während seine Finger ihre empfindlichen kleinen Knospen berührten.
„Ich liebe dich“, hauchte er ihr ins Ohr.
Elane nahm seinen Kopf liebevoll in die Hände und zog ihn zu sich heran. Ein langer, feuchtwarmer Kuss folgte. Dann richtete er sich ein wenig auf und lächelte sie versonnen an, während er sich weiterhin langsam und gefühlvoll in ihr bewegte.
Der Senatsraum umfasste fast die gesamte unterste Ebene des Gebäudes. Lediglich der Eingangsbereich und zwei Besprechungsräume ergänzten das Erdgeschoss noch. Die Senatoren saßen um einen großen Tischkreis, in dessen Mitte ein Bild des Planeten angebracht war. Um den runden Raum herum standen im Abstand von zwei Metern Säulen, die die Decke abstützten und einen kleinen Säulengang bildeten, in dem man im Kreis herum durch den Raum wandeln konnte. Die Decke selbst war so bemalt, dass man den Eindruck gewinnen konnte, eine Kuppel über sich zu haben. Und durch die ausgeklügelte Beleuchtung sah es zudem so aus, als dringe Sonnenlicht durch die Kuppel. Was gar nicht möglich war, da sich darüber noch ein weiteres Stockwerk befand.
Alle neunundzwanzig Senatoren waren anwesend. Niemand hatte diese Sondersitzung verpassen wollen. Und niemanden hatte es bei dieser Nachricht auf dem Stuhl gehalten. Wie es zu erwarten gewesen war, gab es einen heftigen Aufruhr, als die Anweisung der Erde bekannt gegeben wurde. Ihre Empörung und Wut brachten Senatoren lautstark zum Ausdruck. Niemand wollte sich ein solches Diktat aufzwingen lassen. Zwar unterlag man als Kolonie der Rechtsprechung der Erde, doch das hieß noch lange nicht, dass man alles hinnehmen musste, was von dem fernen Heimatplaneten kam. Wilde Diskussionen wurden geführt. Alle redeten laut durcheinander.
Isaac Oket beteiligte sich nicht an den Diskussionen. Er hatte zwei Stunden Zeit gehabt, um die Nachricht zu verarbeiten. Zwar war er noch immer wütend auf die Erdregierung, aber er hatte sich soweit beruhigen können, um wieder klar zu denken. Es galt einen kühlen Kopf zu bewahren, nur dann konnten sie eine Lösung finden. Den Ärger der Senatoren konnte er allerdings nur zu gut nachvollziehen. Daher gab er ihnen einige Minuten, ehe er sie zur Ordnung rief. In der erzwungenen Ruhe, die nun entstand, konnte man den anhaltenden Zorn noch immer in den Mienen eines jeden Einzelnen erkennen.
„Dieses Dekret, dass uns vor wenigen Stunden erreicht hatte, kann so nicht akzeptiert werden“, sagte Oket laut und erntete lauten Beifall dafür. „Wir sollten der Erde eine Antwort formulieren, in der wir unsere Position darlegen und aufzeigen, dass wir auf die außerirdischen Händler nicht verzichteten können.“
„Darauf werden sie nie eingehen. Das ist Papierverschwendung“, warf Henry John ein, ein junger Mann, der erst seit der letzten Wahl im Senat saß und hier auf Terra Ceti geboren worden war. Er war kein Sympathieträger. Dazu trug weder sein Verhalten noch sein Aussehen bei. Er hatte kurz geschorene Haare und eine geierartige Hakennase. Er war ein Querulant, der es jedoch verstand, genau den Ton des Volkes zu treffen.
„Ignorieren wir die Nachricht, dann wenden wir uns ganz offen gegen die Erde. Einen solchen Konflikt können wir nicht riskieren. Einen solchen Machtkampf würden wir verlieren“, hielt ein anderer Senator dagegen. „Die Erde würde die Streitkräfte schicken und uns mit Gewalt ihren Willen aufdrücken. Wie auf Terra Nova.“
Die Erinnerungen an diese Ereignisse waren alles andere als beruhigend. Vor etwas mehr als zehn Jahren hatten die Kolonisten der ältesten irdischen Kolonie, Terra Nova, sich geweigert, die neu festgesetzten Steuersätze zu bezahlen. Sie erschienen zu willkürlich und bedrohten viele Existenzen in der Kolonie. Trotz mehrfacher Drohungen der Erdregierung hatten die Kolonisten nicht nachgegeben. Sie hatten Waren für die Erde zurückgehalten und irdischen Schiffen die Landung verweigert. Die Kolonie hatte die Erde ganz offen boykottiert. Diese Provokation hatte sich die Erde nicht gefallen lassen können. So kam es, dass vier Wochen nach dem Erlass des neuen Steuergesetzes vier Zerstörer der Erdstreitkräfte die Umlaufbahn des Planeten erreicht hatten. Den Bodentruppen, die danach auf dem Planeten gelandet waren hatten die Kolonisten nichts entgegenzusetzen. Die Truppen hatten die Kontrolle des Planeten übernommen, die Regierung abgesetzt und buchstäblich jeden Kolonisten in Haft genommen. Die meisten Kolonisten waren nie wieder gesehen worden. Wahrscheinlich wurden sie in geheimen Gefängnissen festgehalten oder waren bereits tot. Danach wurden neue Kolonisten angesiedelt. Ein großes Militärlager und offene Truppenbewegungen sorgten seitdem dafür, dass es in der Kolonie ruhig blieb.
Seit diesem Zeitpunkt stand der Name Terra Nova nicht mehr für die Hoffnungen, die sich die Siedler einst bei der Auswanderung auf eine neue Erde gemacht hatten, sondern war ein Synonym dafür, dass die Erde ihren festen Griff um die Kolonien niemals aufgeben würde.
„Wir können unsere Lage aber nicht mit Terra Nova vergleichen“, gab Henry John unbeeindruckt zurück. „Wir sind viel weiter von der Erde entfernt.“
„Entfernungen spielen keine Rolle“, rief eine Stimme dazwischen.
„Wir können uns wehren.“
„Womit denn? Wir haben keine Armee. Wir haben kaum Waffen. Wie sollen wir uns gegen eine ausgebildete Armee wehren? Wir haben Kinder und alte Menschen hier. Was soll aus ihnen werden, wenn wir einen Aufstand wagen?“ gab eine Senatorin zu bedenken.
„Es ist doch nicht das erste Mal, dass die Erde unser Schicksal bestimmen will“, fuhr John fort ohne auf den Einwand zu reagieren. „Ständig wird uns vorgegeben, wie wir uns verhalten sollen. Wie wir bestimmte Dinge erledigen sollen. Dinge, die man auf der Erde gar nicht entscheiden kann, weil man dort nicht weiß, wie es hier wirklich zugeht. Und mit den Steuern, die wir zahlen müssen, könnten wir unsere Kolonie weiter ausbauen. Stattdessen geht das Geld an die Erde und versickert dort in dubiosen Kanälen. Es kommt so gut wie nichts davon uns zugute. Dieses neue Dekret ist nur ein weiterer Höhepunkt auf einer langen Liste. Wir sind eine stabile Kolonie. Wir können uns selbst versorgen. Und wir brauchen die Erde nicht mehr. Darum spreche ich aus, was alle hier denken. Wir sollten uns endgültig von der Erde lossagen. Wir müssen unabhängig werden. Und zur Verteidigung können wir uns Waffen kaufen. Wir bilden eine eigene Armee aus. Und es gibt sicher einige Völker, die uns im Kampf gegen die Erde unterstützen würden.“
Schweigen folgte diesen Worten. Teils ungläubig, teils entsetzt sahen die Senatoren Henry John an. Seine Worte waren geradezu ungeheuerlich. Ein Kampf gegen die Erde? Wie konnte er sich das nur vorstellen?
„Ich muss Sie zur Ordnung mahnen, Mr. John“, sagte Oket schließlich streng. „Der Aufruf zur Unabhängigkeit ist ein gefährlicher Gedanke. Ein Gedanke, der hier im Senat nichts verloren hat. Dies ist zudem ein Weg, den wir nicht gehen werden. Jeder weiß, dass niemand der Erdregierung so skeptisch gegenüber steht, wie ich. Aber von Unabhängigkeit sind wir noch weit, sehr weit entfernt. Denn noch sind wir Kinder der Erde, auch wenn einige von uns hier geboren wurden und die Erde noch nie selbst gesehen haben. Zudem sind wir lange nicht so eigenständig, wie dies einigen unserer jungen Bewohner manchmal erscheinen mag. Und wir werden garantiert nicht gegen Menschen kämpfen.“
„Wir müssen kämpfen, wenn wir frei sein wollen“, gab John ungestüm zurück.
„Die Diskussion ist beendet“, mahnte Oket ruhig, aber dennoch mit gefährlichem Unterton, nachdem er sich mit schnellem Blick auf die restlichen Senatoren versichert hatte, deren Unterstützung zu erhalten. „Wir werden eine offizielle Antwort absetzten, in der wir erklären, warum wir auf den Markt und seine Besucher nicht verzichten können.“
Verächtlich schnaubend ließ Henry John sich auf seinen Stuhl fallen. Seiner Meinung nach waren die alten Männer und Frauen viel zu ängstlich, um die Kolonie noch länger leiten zu können. Wer nichts wagte, der konnte auch nichts verändern. So würden sie sich niemals von der Erde lösen können. Er musste wohl selbst etwas unternehmen.
Nach der Senatssitzung, als alle Senatoren das Gebäude verlassen hatten, sah Oket, dass ein Senator noch anwesend war. Es war der altehrwürdige Simon Powell. Er war mit seinen 96 Jahren der älteste Senator und gleichzeitig der Alterspräsident. Sein Rat war immer gefragt. Und wenn er etwas sagte, was nicht sehr oft der Fall war, so galten seine Worte mehr als die eines anderen. Gedankenverloren saß er noch immer auf seinem Platz und sein Blick verlor sich irgendwo im Raum. Es schien, als wäre der alte Mann mit seinen Gedanken nicht mehr hier.
Oket ging langsam auf ihn zu und räusperte sich dabei immer wieder. Er wollte ihn nicht erschrecken. Aber wenn es etwas gab, dass Powell beschäftigte, dann wollte er es wissen. Nicht, dass Oket sich selbst und seinem Urteil nicht traute, dazu hatte er selbst schon genug erlebt. Doch Simon Powell dachte vielleicht an etwas, an das sonst niemand dachte. Und wenn nicht, dann sollte man seine Sorgen wenigstens zu zerstreuen versuchen.
Simon Powell sah auf, als sich Oket direkt neben ihm nochmals räusperte. „Ah, Isaac, du bist es.“ Seine Stimme war rau und tief. Die ohnehin schon zahlreichen Falten in seinem Gesicht schienen noch tiefer geworden zu sein.
„Was denkst du?“ fragte Oket ihn.
Powell sah ihn aus blassen Augen an. „Uns stehen schwere Zeiten bevor“, sagte er dann langsam. „Die Einheit der Kolonie steht auf dem Spiel. Die Jungen stürmen kompromisslos nach vorne und wollen die Erde am liebsten weit hinter sich lassen. Sie verstehen nicht, dass es Zeit braucht, unsere Bindung zur Erde zu lösen. Viel Zeit. Wir, die wir die Erde noch kennen, können die Verbindung nicht so einfach lösen, auch wenn wir von ihr fortgegangen sind und auch nie wieder zurückkehren möchten. Trotzdem sind wir mit der Erde verbunden.“ Er seufzte und nur sein rasselnder Atem war im Raum zu hören. „Die Antwort wird die Erdregierung nicht zufriedenstellen“, sagte er dann. „Sie werden ihr Dekret um jeden Preis durchsetzen müssen. Sie würden sonst an Glaubwürdigkeit verlieren und Gefahr laufen, dass andere Kolonien ebenfalls Anweisungen der Erde ignorieren.“
Oket nickte nachdenklich. „Daran habe ich auch schon gedacht. Ich hatte auch nicht erwartet, dass sie einfach so einlenken würden. Aber wenn wir uns damit etwas Zeit verschaffen könnten, dann hätten wir viel gewonnen. Wir müssen die Reaktion der Erde nur so lange hinauszögern, bis der Markt vorüber ist. Und bis zur nächsten Saison entspannt sich die Situation vielleicht.“
Der strenge Blick von Simon Powell traf ihn. „So naiv bist du doch nun wirklich nicht, oder? Die Erdregierung wird sich nicht so lange an der Nase herumführen lassen. Und ihre Reaktion wird die eines verärgerten Löwen sein. Ich sage es nur ungern, aber vielleicht hatte Henry John Recht.“
„Wir sollen einen offenen Aufstand gegen die Erde wagen?“ Oket sah ihn ungläubig an. Einen solchen Vorschlag hätte er von dem alten Mann nicht erwartet.
Powell lächelte nachsichtig. „Nein, dazu sollten wir es nicht kommen lassen. Nicht von uns aus. Aber er hat Recht, wenn er sagt, wir sollen uns bei den Außerirdischen nach Verbündeten umschauen. Und zwar nach solchen, die uns helfen würden, ohne uns danach unterwerfen zu wollen. Und die es nicht auf die Erde abgesehen haben.“
Oket runzelte die Stirn. „Einen solchen Verbündeten zu finden dürfte schwer werden. Wir haben kaum etwas zu bieten. Und einen strategischen Vorteil bietet eine Allianz mit uns auch nicht. Wer uns nicht gerade in sein Herrschaftsgebiet aufnehmen möchte wird kein Interesse an einer Hilfe haben.“
„Ich habe nicht gesagt, dass es einfach wird“, brachte Powell mühsam hervor, während er langsam aufstand und sich seinen Stock, der an den Tisch gelehnt war, heranzog. „Du solltest aber darüber nachdenken. Aber beeile dich, viel Zeit wirst du nicht haben. Wenn die Truppen der Erde eintreffen brauchen wir einen Verbündeten.“ Dann wandte er sich um und verließ langsam schlurfend den Raum. Im Hinausgehen murmelte er noch: „Ich hatte gehofft, dass ich so etwas nicht mehr erleben muss.“
Isaac Oket blieb als einziger im Saal zurück. Mit einem Mal war ihm bewusst geworden, dass er vermutlich der schwierigsten Aufgabe seines Lebens gegenüber stand. Und er dabei noch nicht einmal sonderlich viele Entscheidungsmöglichkeiten hatte. Urplötzlich war sein gesamtes Lebenswerk bedroht. Das Schicksal der gesamten Kolonie stand auf dem Spiel und er konnte kaum etwas dagegen unternehmen. Es war, als hätten die Mächte des Universums ihre Karten verteilt. Und er hatte die Schlechtesten bekommen. Das Spiel nahm nun seinen Lauf und die einzige Wahl, die ihm blieb, war die, auf welche Weise er verlieren wollte. Nur ein Wunder konnte ihnen jetzt noch helfen. Und an Wunder glaubte er nicht.
Müde schlug Reed die Augen auf. Verwirrt sah er sich um. Das war nicht sein Quartier. Dann fiel sein Blick auf Elane, die neben ihm lag und noch schlief. Die Bettdecke umhüllte sie nicht vollständig. Als er sie so sah fiel ihm wieder ein was geschehen war. Es war wunderbar gewesen. So hatte er Sex noch nie erlebt. Bisher war es für ihn ein einfaches Vergnügen gewesen. Er hatte ja keine Ahnung wie viel besser es war, wenn solche intensiven Gefühle mit im Spiel waren.
Ihr Anblick weckte bei ihm das Bedürfnis sie berühren zu müssen. Er musste einfach sicher gehen, dass sie echt war und er sich nicht nur alles einbildete. Doch bevor er dazu kam fiel sein Blick auf die Uhr.
In zehn Minuten begann sein Dienst. Zwar wollte der Captain ihm einen Tag frei geben, nachdem er doch einiges zu meistern gehabt hatte, während er das Kommando über das Schiff innehatte. Doch Reed hatte großspurig abgelehnt mit der Begründung, dass derzeit alle über ihre Grenzen gingen. Und der Einsatz gehöre nun einmal zu seinem Job.
Nun bereute er die Entscheidung. Doch jetzt gab es kein zurück mehr. Zärtlich fuhr er Elane mit den Fingerspitzen den Rücken hinauf. Dann hauchte er ihr einen Kuss in den Nacken. „Ich liebe dich“, murmelte er.
Dann blieb ihm nichts anderes übrig als schnell in seine Klamotten zu springen. Er musste in sein Quartier, duschen und frische Kleidung anlegen. Zum Dienst kam er damit auf jeden Fall zu spät, aber daran konnte er jetzt nichts mehr ändern. Gerade als er sich angezogen hatte wünschte Elane ihm einen guten Morgen. Sie lag noch im Bett und hatte sich die Decke über die Schultern gezogen.
„Wo gehst du hin?“ wollte sie wissen.
„Ich muss zum Dienst.“ Er klang nicht gerade begeistert.
„Okay, genehmigt.“ Sie lächelte ihn müde an. „Bereust du, was passiert ist?“
„Nein, niemals“, lächelte er glücklich zurück, nur um dann wieder etwas besorgter drein zu schauen. „Du etwa?“
„Nein. Ich frage mich nur, wie es nun weitergehen soll.“
„Mach dir darüber bitte keine Gedanken.“ Er kniete vor dem Bett nieder und sah ihr direkt in die Augen. „Lass es einfach geschehen. Dann werden wir sehen wohin es führt. Es kommt ohnehin anders als man denkt.“ Er küsste sie und sie erwiderte den Kuss leidenschaftlich.
„Ich liebe dich“, sagte er als er wieder aufstand.
„Wir sehen uns heute Abend“, erwiderte sie und sah ihm nach.
NEUN
Die Republic
lag noch immer im vulkanischen System. Zwar war die Distanz zum Trümmerfeld des ehemaligen Planeten vergrößert worden, um Kollisionen zu vermeiden. Doch diese Position wurde nun seit sieben Tagen gehalten und niemand wusste, wie lange sie noch dort verweilen würden. Diese Bewegungslosigkeit drückte schwer auf das Gemüt der Crew. Doch wo hätten sie auch sonst hin sollen?
Wendy lief durch die Gänge des Schiffes in Richtung Bereitschaftsraum des Captains. Sie wusste, dass Sanawey sich derzeit dort aufhielt. Die Offiziere, denen sie begegnete, grüßte sie mit einem leichten Nicken, ging aber wortlos an ihnen vorbei.
Nachdem sie Sanaweys Büro erreicht hatte nahm sie dort am Besprechungstisch Platz und stützte ihre Ellenbogen auf. Zischend ließ sie ihren Atem entweichen und sah Sanawey an. Der saß an seinem Schreibtisch und sah sie über seinen Bildschirm hinweg fragend an.
„Wie lange willst du die Position hier noch halten?“ fragte Wendy etwas patziger als sie eigentlich beabsichtigt hatte.
„Wohin willst du denn?“ fragte Sanawey zurück.
Wendy seufzte und rieb sich die Augen. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht verärgern. Aber dieses Trümmerfeld da draußen trägt nicht gerade zur Beruhigung der Nerven bei.“
„Schon in Ordnung“, winkte Sanawey ab. „Ich finde den Anblick auch bedrückend. Und dabei ist es nicht einmal meine Heimatwelt. Ich möchte nicht in Sohrals Haut stecken.“ Er dachte kurz darüber nach wie sich der Vulkanier wohl fühlen mochte. Ob er überhaupt etwas fühlte? „Wir werden hier bleiben, bis unseren Leuten eingefallen ist, wie wir den Schaden wieder reparieren können.“
„Das ist nicht dein Ernst?“ Wendy war empört. „Was ist, wenn es länger dauert? Wir können es uns unmöglich erlauben zu lange hier zu bleiben.“
„Wie meinst du das?“
„Ganz einfach: Es scheint keine simple Lösung für das Problem zu geben. Wir werden in diesem Universum noch eine ganze Weile fest hängen. Wir können uns aber nicht weg verstecken. Mit Sicherheit suchen die Erdstreitkräfte schon nach uns. Da sollten wir wenigstens etwas über unsere Gegner herausfinden, bevor wir entdeckt werden. Oder hast du etwa Lust nochmal die Gastfreundschaft auf der Erde in Anspruch zu nehmen?“
Sanawey sah sie schief an. „Sprich weiter. Du willst mir doch noch mehr sagen.“
„Lass uns herausfinden, wem wir hier trauen können und wem nicht. So wie Sohral es uns empfohlen hat. Wir brauchen Verbündete. Die bekommen wir aber nicht, wenn wir uns hier ewig verstecken. Außerdem hat das Schiff so große Schäden, dass wir nicht alles alleine reparieren können. Wir brauchen Ersatzteile, die wir nicht an Bord haben. Wir brauchen einen sicheren Hafen, den wir anlaufen können, um auch unsere Außenhülle zu reparieren. Und wir müssen einige Systeme abschalten, um sie zu reparieren. Das geht aber nicht, solange wir auf uns alleine gestellt sind.“
Sanawey seufzte. „Und wo sollen wir deiner Meinung nach hin? Die Erde kommt nicht in Betracht. Andoria wird keinen Deut besser sein. Und Vulkan existiert nicht mehr. Wir haben keine Verbündeten. Niemand wird uns helfen. Und wer uns aufnimmt, der wird nur auf unsere Technologie aus sein.“
„Das bestreite ich ja gar nicht“, lenkte Wendy ein. „Aber alleine kriegen wir das Schiff nicht mehr flott. Und in der Föderation gibt es auch noch andere Welten. Wir sollten bei einer von denen mal vorbeischauen. Und im Zweifel würde ich auch etwas Technologie tauschen. Nicht gerade Waffen“, hob sie abwehrend die Hände, bevor der Captain etwas sagen konnte. „Etwas Medizintechnik wird wohl kein Volk ablehnen.“
Nachdenklich sah Sanawey zum Fenster hinaus. Von dieser Seite des Schiffes konnte er die Trümmer Vulkans nicht sehen. Nur die Sterne strahlten in der vertrauten Art und Weise. „Und wir können das Schiff hier nicht reparieren?“ fragte er schließlich.
„Nein, völlig unmöglich. Wir tun was wir können, aber es bleiben zu viele Systeme beschädigt. Ich muss dringend empfehlen, dass wir Systeme wie die Sensoren abschalten und reparieren.“
„Wenn wir die Sensoren abschalten sind wir blind“, erinnerte Sanawey sie.
„Ja. Deshalb brauchen wir die Augen anderer“, wies Wendy ihn nochmals darauf hin.
Sein Blick kam zurück und er sah sie direkt an. „Stell eine Liste mit den Schäden auf, die wir nicht reparieren können und füge Prioritäten hinzu. Ich werde Jackson anweisen mögliche Völker auszuwählen, die uns freundlich gesinnt sein könnten und bereit wären zu helfen. In zwei Tagen werde ich dann unser weiteres Vorgehen entscheiden.“
Sie sah ihn dankbar an. „Das werde ich machen. Und ich werde die Crew informieren. Das wird sie sicherlich erleichtern.“
„Als ob eine Fahrt ins Ungewisse besser wäre“, murmelte Sanawey. „Hier sind wir wenigstens sicher.“
„Manchmal ist Sicherheit nicht alles. Wichtiger ist es, das Gefühl zu haben, es weiter geht“, widersprach sie heftig. Auch sie konnte das Warten nur schwer ertragen.
Sanawey schaute sie nachdenklich an. Sie mochte Recht haben, den meisten Menschen war das sicherlich wichtiger, auch wenn sich dessen niemand bewusst war. Ruhelosigkeit gehörte nun mal zu den Eigenarten der Menschen. „Ich kann das verstehen“, gab er zu. „Aber für mich ist im Moment die Sicherheit wichtiger. Die Sicherheit des Schiffes und der Crew. Denn ich bin für jeden Einzelnen hier verantwortlich.“
Wendy stieg das Blut in den Kopf und sie fühlte sich auf einmal ertappt. Sie hatte Sanawey innerlich beschuldigt, dass er zu zaghaft handelte und sich hier versteckte anstatt endlich zur Tat zu schreiten. Sie hatte ihm insgeheim schon vorgeworfen ängstlich zu sein. Nun erkannte sie, dass er die Situation noch viel differenzierter betrachten musste. Sie waren alleine, gestrandet in einem fremden Universum. Sie waren auf sich gestellt und konnte nicht einfach um Hilfe rufen. Und natürlich war Sanawey als Captain für sie verantwortlich. Er trug die Last der Sicherheit für das Schiff sowie für den Erfolg der Mission.
Auf einmal tat er ihr leid. Er musste mehr ertragen, als die meisten Menschen sich vorstellen konnten. Und er stand damit völlig alleine.
Sie sah ihn an. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“ wollte sie wissen.
Müde lächelte er sie an. „Habe einfach etwas Geduld mit mir.“
Die Vorbereitungen für den Markt wurden unentwegt weiter fortgesetzt. Sowohl der Marktplatz selber, wie auch die angrenzenden Markthallen mussten geputzt und kleinere Schäden ausgebessert werden. Da diese Einrichtungen nur zweimal im Jahr benötigt wurden, sammelte sich jede Menge Staub und Unrat an, da auch Vögel die Hallen nutzen, um dort unter dem Dach ihre Nester zu bauen. Marderähnliche Wesen sorgten zudem immer wieder dafür, dass kleinere Löcher in den Metallwänden entstanden, die es zu flicken galt.
Am meisten Aufwand verursachte die Instandsetzung der Zufahrtstraße vom Flugplatz aus. Dieser Weg war noch immer nicht asphaltiert. Da die benötigten Baumaterialien rar waren und nur mit sehr hohen Kosten von der Erde importiert werden konnten, hatte man beschlossen, zuerst die Wege innerhalb der Ortschaften wetterfest zu machen. Durch die rasante Ausweitung der Siedlungen wurde jeder weitere Asphalt auch sofort wieder zum Ausbau benötigt. Für die Zufahrtsstraße zum Flugplatz blieb daher nur die Lösung, einen Steinweg anzulegen, der für die Löcherbildung äußerst anfällig war. Und bevor die Händler mit ihren Waren kamen, wollte man die Straßen wieder soweit herrichten, dass sie ohne größere Gefahren für Fahrzeuge passierbar waren. Schließlich konnte die Kolonie es sich nicht erlauben auch nur einen Händler zu verlieren.
Niemand dachte bisher daran, den Anforderungen der Erde nachzukommen. Zwar hatten die Senatoren absolutes Stillschweigen vereinbart und niemandem davon erzählt, doch trotzdem kursierten bereits die wildesten Gerüchte unter den Arbeitern. Eine solche Nachricht ließ sich nicht zurückhalten. Und ohne genauere Informationen wurde ungeniert spekuliert und hinzugedichtet.
Entlang der Zufahrtsstraße zum Flugplatz arbeitete ein Trupp von sieben Personen an den letzten Ausbesserungen. Die Löcher, die der Regen in die steinige Straße gewaschen hatte und die dann durch schwere Fahrzeuge noch vertieft worden waren, mussten zugeschüttet und dann mit der Walze eben angepasst werden. Beim Fahren sollte keine Unebenheit zu spüren sein. Zudem sollte das fest gewalzte Gestein so gut sitzen, dass er sich nicht so schnell wieder löste. Als Baumaterial diente das poröse Gestein eines nahegelegenen Steinbruches. Der Stein an sich war zu nichts weiter zu gebrauchen, als zum Bau dieser Straßen. Ultrahocherhitzt wurde das Gestein weich und ließ sich dann gut als Straße auftragen. Erkaltete der Stein wieder wurde er zur Fahrbahn, auf der sich die Fahrzeuge gut fortbewegen konnten. Der Nachteil war, dass der Stein nicht gleichmäßig stabil war. So konnten Wind und Wetter an vielen Stellen der Straße schaden. Außerdem löste sich die Steinstraße langsam auf. Dies war vor allem daran zu merken, dass immer eine Staubschicht auf der Straße lag, die von darüber fahrenden Fahrzeugen aufgewirbelt wurde. Doch war diese Straße noch immer besser, als ein Weg ohne Belag, der sich bei jedem Regen in eine Schlammgrube verwandelte. Und sie war einfach herzustellen, mit Materialien, die der Planet hergab.
Ein vorüber fahrender Lastwagen unterbrach kurz die Arbeiten des Bautrupps. So standen die sechs Männer und eine Frau am Straßenrand und beobachteten den Laster, der noch einige Dinge zum Flugplatz brachte, um dort den Ankömmlingen des Marktes die Ankunft zu verschönern. Und natürlich war auch bei dem Bautrupp die Anweisung der Erde das Gesprächsthema schlechthin.
„Glaubt ihr, die Erde wird ihre Truppen schicken?“ wollte der Jüngste der Truppe wissen und bemühte sich, seine Angst zu verstecken.
„Nein, niemals“, versuchte ihn der Vorarbeiter zu beruhigen. „Wir sind für die Erde viel zu wichtig, als dass man uns angreifen würde.“
Die Frau sah ihn skeptisch an. „Wie meinst du das, Malcom?“
„Ganz einfach. Wir sind die Kolonie, die am meisten Geld einbringt. Niemand zahlt so viele Steuern wie wir“, erklärte der Mann und wischte seine dreckigen Hände über seinen wohlbeleibten Bauch. Sein ganzer Anzug war bereits dreckig. Zwei Brandlöcher zeugten von der heiklen Arbeit, das Gestein zu verflüssigen und dann in den Schlaglöchern zu platzieren. „Überfällt uns die Erde, wird das den Einnahmen schaden. Und das kann sich die Erde gar nicht leisten. Sie ist auf das Geld angewiesen, das wir ihr bringen.“
„Und warum wollen sie uns dann mit diesem Dekret schaden?“ brachte ein anderer Mann hervor.
„William Russel, wie immer denkst du nicht nach. Die Erde fährt eine harte Politik gegenüber den Außerirdischen. Da konnten sie doch nicht zulassen, dass die Außerirdischen hier zum Markt kommen. Also haben sie etwas gesagt, in dem Wissen, dass wir es ohnehin ablehnen werden. Dann wird das Thema vergessen und die Gelder sprudeln weiter. Hauptsache die Erdregierung kann sagen, dass sie doch etwas getan hat. Das Ergebnis interessiert dann niemanden mehr. Ist doch logisch, oder?“
Die anderen nickten oder murmelten ihre Zustimmung. Insgesamt schienen sie alle eher schlichteren Gemütes zu sein.
„Ich kenn mich mit Politik eben aus“, sagte Malcom wichtig. „Der Bruder meines Schwagers arbeitet für die Erdregierung. Da bekommt er so manches mit. Und das erfahre dann wiederum ich.“
„Und das hat er dir auch so erzählt?“ fragte William Russel skeptisch.
„Natürlich nicht so direkt. Das darf er ja schließlich auch nicht. Aber aus seinen vielen Erzählungen weiß ich, wie Politik funktioniert. Daher weiß ich auch, wie Politiker denken und kann ebenfalls so denken.“
„Ich wusste noch nicht einmal, dass du überhaupt denken kannst“, rief einer der Männer und sorgte damit für allgemeines Gelächter.
„Ich zeig euch gleich, was es heißt zu denken. Und jetzt denke ich, dass es Zeit wird wieder an die Arbeit zu gehen“, knurrte Malcom und scheuchte den Trupp auf. Murrend kamen sie auf die Beine und manche warfen noch schnell ihre Zigarettenkippen weg.
William Russel saß ans Steuer der Maschine, mit der sie den Stein zum Schmelzen brachten und steuerte sie über das nächste Schlagloch. Wenn er die richtige Position erreicht hatte, dann würde die weiche Gesteinsmasse direkt in das Schlagloch laufen. Was im Normalfall auch funktionierte. Nur hin und wieder kam es vor, dass der flüssige Stein daneben lief und sich dann einen Weg suchte. Wer dann nicht rechtzeitig zur Seite springen konnte, der musste mit schwersten Verbrennungen so schnell wie möglich medizinisch versorgt werden. Im schlimmsten Fall konnte das den Verlust der Beine bedeuten. Da der Stein aber nicht komplett flüssig wurde, und sich damit nicht wie Lava verhielt, war die Gefahr nicht ganz so hoch. Die Fließgeschwindigkeit war nicht sonderlich hoch.
Nur jetzt fiel es Russel schwer sich zu konzentrieren. Er brauchte mehrere Anläufe, bis das Gefährt richtig stand, was ihm den Spott seiner Kollegen einbrachte. Ständig musste er an die Worte seines Chefs denken. Was für ein ausgemachter Blödsinn. Seine Ausführungen waren lange nicht so logisch, wie er selbst glaubte. Es war unterstes Stammtischniveau. Und dass die Ablehnung des Dekrets keine Konsequenzen haben würde konnte er nicht glauben. Wenn diese Kolonie wirklich so wichtig war, wie Malcom behauptete, dann würde die Erde erst recht eingreifen, um ihre Interessen zu wahren. Er mochte vielleicht nur ein einfacher Arbeiter sein, aber für dumm verkaufen lassen wollte er sich nicht.
So beschäftigte ihn dieser Gedanke auch noch, als er schließlich nach Hause ging. Noch immer in Gedanken versunken betrat er das kleine Haus, das er zusammen mit seiner Familie bewohnte. Es hatte gerade einmal zwei Zimmer. Eigentlich zu wenig. Seine beiden Kinder mussten sich ein Zimmer teilen, während seine Frau und er im Wohnzimmer in Klappbetten schliefen. Doch mehr konnten sie sich nicht leisten. Sie hatten ihre gesamten Ersparnisse, die ohnehin nicht sehr üppig waren, aufgebraucht, als sie die Erde verlassen hatten. Der Flug war teuer gewesen, doch es war eine Hoffnung auf eine bessere Welt. Sie kamen aus armen Verhältnissen und hatten noch nie viel besessen. Hier sollte alles besser werden, ihre Kinder eine Chance erhalten die Schule zu besuchen, vielleicht sogar zu studieren. Sie sollten eine faire Chance für die Zukunft erhalten. So waren ihre Pläne, als sie vor fünf Jahren hierhergekommen waren.
Inzwischen hatte sich Ernüchterung eingestellt. Für sie hatte sich kaum etwas geändert. Der Job brachte nicht viel ein und seine Frau fand keine Arbeit. Es gab zu viele Neuankömmlinge, die einen Job suchten. So machten sie hier so weiter, wie es auf der Erde auch immer gewesen war. Einzig die Hoffnung, dass die Kinder die Schule besuchen konnten, hatte sich erfüllt. Ob es allerdings für ein Studium reichen würde war unwahrscheinlich. Dazu hatten sie einfach zu wenig Geld.
„Papa, Papa“, überfielen ihn seine Töchter schon an der Tür und nahmen ihn in den Arm. „Spiel mit uns“, sagten sie dann und sahen ihn mit großen Kinderaugen an.
Er lächelte und fuhr ihnen zärtlich über die dunklen Haare. „Später. Ich bin heute sehr müde“, entschuldigte er sich.
„Och menno“, schmollten die beiden, zogen sich dann aber zurück, um alleine weiter zu spielen. William sah ihnen hinterher. Wenn er sie so sah, dann spürte er, dass es eigentlich nichts gab, das ihm fehlte. Er war mit einer schönen Frau und zwei wunderbaren gesunden Töchtern gesegnet. Spielte es da eine Rolle, dass sie in beengten Verhältnissen wohnten?
Doch wenn er an die Zukunft dachte, dann wurde ihm mulmig zumute. Er fürchtete um die Sicherheit seiner Kinder. Wenn die Erdregierung wirklich das Militär schickte, dann würde es schrecklich werden. Auch er kannte die Geschichten von Terra Nova und deren Ereignisse. Wenn sich hier etwas ähnliches wiederholte, dann waren alle Menschen hier in Gefahr. Doch das schien die Senatoren wohl nicht zu interessieren. Wie sonst ließe sich erklären, warum sie entgegen aller Vernunft das Dekret der Erde abgelehnt hatten. Wäre es so schlimm gewesen, es zu akzeptieren? Es hatte doch anscheinend nur den Aufenthalt von Außerirdischen verboten. Und das war doch nichts Schlimmes. Ohne die Außerirdischen hätten die Menschen vielleicht wieder die Chance etwas Geld zu verdienen. Das sollte doch sowieso das oberste Ziel sein.
„Geht es dir gut, Schatz?“ riss seine Frau ihn aus den Gedanken.
„Ja, natürlich“, sagte er matt lächelnd und gab ihr einen Kuss. „Ich bin nur sehr müde. Der Tag war anstrengend.“
Er setzte sich auf einen Stuhl am Tisch und sah zum Fenster hinaus. Gerne würde er in die Geschehnisse eingreifen, doch war er ein viel zu kleines Licht dazu. Was konnte er schon ausrichten? Dabei war er sich sicher, dass er es besser machen würde. Wenn ihm das Schicksal doch nur eine Chance geben würde.
Aufgeregt rannte Bobby Steen die Treppen im Senat nach oben. Das war nun schon das zweite Mal diese Woche, wie er frustriert feststellen musste. Und während er immer mehr ins Schwitzen kam und sein Atem schneller wurde, kam es ihm so vor, als würden die Treppen ihn verhöhnen. Denn es war fast so, als ob es mit jedem Mal mehr Stufen werden würden. Nur allein um ihn zu ärgern. Um ihm klar und deutlich zu zeigen, dass er unsportlich und dick war.
Als er schließlich oben ankam blieb er kurz schnaufend stehen. Er musste er wieder zu Atem kommen. Dann drehte er sich um und hielt den Stufen den ausgestreckten Mittelfinger entgegen. Von der Treppe ließ er sich nicht verhöhnen. Eilig lief er den Gang entlang und klopfte schließlich energisch an die Türe am Ende des Ganges.
Ein kräftiges Herein veranlasste ihn einzutreten. „Ich habe eine Nachricht für Sie, Mr. Oket“, brachte er schwer atmend hervor und streckte den Arm aus.
Stirnrunzelnd sah Oket ihn über den Rand seiner schmalen Lesebrille hinweg an. „Das wird jetzt aber hoffentlich nicht zur Gewohnheit, dass du ständig mit irgendwelchen Nachrichten hier eintriffst. Bis letzte Woche konnten doch auch alle Nachrichten warten, bis ich fertig war und sie mir dann geholt habe.“
„Ja, Sir, aber das ist wirklich wichtig.“ Bobby streckte noch immer den Arm hin und wünschte sich, Isaac Oket würde ihm die Nachricht endlich abnehmen, damit er sich setzten konnte, um seinen Atem beruhigen zu können.
„Du hast sie wieder gelesen?“
„Ja, Mr. Oket. Und Sie sollten das auch ganz schnell tun.”
Seufzend nahm er dem Jungen das Papier aus der Hand und faltete es auseinander. Seine Augen überflogen schnell das Dokument, während Bobby Steen sich auf einen freien Stuhl fallen ließ, der dabei ein knirschendes Geräusch von sich gab.
„Das ist unglaublich“, rief Oket so laut aus, dass Bobby sofort wieder auffuhr.
„Tut mir leid, aber dem Stuhl ist bestimmt nichts passiert. Ich...“
„Was redest du da?“ unterbrach ihn Oket verwirrt. „Ich meinte die Nachricht. Schnell, schicke Commander Adrian Cruz zu mir. Auf der Stelle.“
Bobby verdrehte die Augen und nickte. Warum musste immer alles so schnell gehen? Die Welt ging bestimmt auch nicht unter, wenn man sich ein paar Minuten mehr Zeit ließe. Dann verließ er eilig den Raum.
Isaac Oket trat nachdenklich zum Fenster und starrte hinaus. Die erste kurze Euphorie war schnell einer Ernüchterung gewichen. Letztlich hatte die Nachricht noch gar nichts zu sagen. Auch seinen ersten Gedanken, Lorat und T’Lor zu informieren, verwarf er wieder. Jetzt galt es Ruhe zu bewahren und die Situation zu untersuchen. Die Wahrscheinlichkeit eines Kontaktes war einfach zu gering. Vermutlich hatte sich jemand zufällig dorthin verirrt. Je mehr er darüber nachdachte, desto logischer erschien ihm das. Trotzdem war es die erste Meldung dieser Art überhaupt.
Nach einem kräftigen Klopfen trat ein Mann mittleren Alters ein. Sein Lockenkopf fiel sofort auf, auch seine kräftige Statur, die sich unter der schwarzen Lederjacke spannte. Er begrüßte Oket mit einem festen Händedruck und nahm dann auf dem ihm angebotenen Stuhl Platz.
„Sie haben mich rufen lassen“, begann er.
„Ja, das ist richtig, Mr. Cruz.“ Oket schien nach den richtigen Worten zu suchen, die die Dringlichkeit unterstreichen sollten ohne gleich zu wichtig zu wirken. „Es gab einen gemeldeten Kontakt. Wir brauchen Sie nun für eine Aufklärungsmission. Sie müssen in das Sperrgebiet fliegen, das wir überwachen, und nachsehen, wer sich dort herumtreibt. Irgendjemand hält sich dort auf.“
Überrascht zog Cruz die Augenbrauen an. Damit hatte er nicht gerechnet. „Wie lange überwachen wir dieses Gebiet jetzt schon? Seit fünfundzwanzig Jahren? Bisher ist noch nie jemand dort gewesen. Wissen Sie schon etwas über unseren Besucher?“
„Nein. Die Sonden sind nur darauf programmiert einen Kontakt zu registrieren und dann eine Meldung abzusetzen. Ich kann Ihnen daher nicht sagen, was oder wer Sie dort erwartet. Genau das sollen Sie herausfinden. Und falls es unerwünschter Besuch ist, wovon ich ausgehe, dann vertreiben Sie ihn. Das haben wir in unserem Auftrag so zugesagt. “
Cruz nickte nur. Die Befehle waren ihm nur zu gut bekannt. Immerhin stand er als Captain des Aufklärungsschiffes immer auf Abruf für genau diese Mission bereit, von der er schon geglaubt hatte, dass sie nie kommen würde.
„Wann können Sie starten? Wir brauchen so schnell wie möglich Gewissheit“, betonte Oket die Wichtigkeit.
„Im Prinzip sind wir startbereit. Lassen Sie mich die letzten Vorbereitungen treffen, dann können wir in zwei Stunde aufbrechen.“
Oket wirkte erleichtert. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen könnte. Aufgrund der angespannten Lage mit der Erde wusste er nicht, wie lange sie noch Gelegenheit hatten herauszufinden, was dort vor sich ging. Schließlich ging es darum, ein Versprechen einzulösen, von deren Gegenleistung sie schon lange profitierten. Darum wollte er daran trotz aller sonstigen Probleme festhalten. „Das ist gut“, sagte er einfach und stand auf. „Dann will ich Sie auch nicht länger aufhalten. Beeilen Sie sich bitte. Wir sind alle sehr angespannt.“
Cruz nickte und verabschiedete sich mit einem Händedruck.
Oket sah noch kurz zur Tür, die sich hinter Cruz geschlossen hatte und fragte sich, warum das ausgerechnet jetzt passieren musste. Jetzt, da sie sich eigentlich auf die Spannungen mit der Erde konzentrieren mussten. Sie hatten noch immer keine Antwort auf die Ablehnung des Dekrets erhalten, obwohl das nun bereits zwei Tage zurücklag. Diese seltsame Funkstille machte ihn etwas nervös. Das Fehlen einer Reaktion hatte er absolut nicht erwartet. Und er befürchtete, dass diese Ruhe kein gutes Zeichen war.
Doch im Moment konnte er kaum etwas tun. Und es gab noch immer die Probleme des Marktes. Und das Hauptproblem, dass der Zugang zum Marktplatz durch neue Bauten beengt war. Es war nur noch eine Woche, bis die ersten Händler eintrafen. Dann musste er eine Lösung parat haben. Also machte er sich wieder daran und hoffte, dass ihm bald eine Lösung zuflog. Mit krumm gebeugtem Rücken stand er am Schreibtisch und betrachtete den neusten Lageplan der Siedlung. Die Linien fingen an, vor seinem Auge zu verschwimmen als er konzentriert jede Möglichkeit durchging, die ihm einfiel.
Ein zaghaftes Klopfen ließ ihn aufsehen. Dieses Klopfen war im Unbekannt. Wer würde ihn denn jetzt wieder stören?
Nachdem er den Wartenden hereingerufen hatte, öffnete sich langsam die Türe und Bobbys rundes Gesicht sah vorsichtig herein. „Mr. Oket, bitte entschuldigen Sie, dass ich schon wieder störe, aber es gibt weitere Nachrichten.“
Isaac Oket verdrehte die Augen. Zum einen wegen Bobby, weil er sich es wohl sehr zu Herzen genommen hatte, dass sein Chef nicht ständig neue Nachrichten zugespielt bekommen wollte und sich nun kaum noch traute. Und zum anderen wegen der Tatsache, dass es schon wieder etwas ganz dringendes gab. Diese Woche war eindeutig nicht normal. „Na schön“, winkte er seinen Assistenten heran. „Dann bring mir die Nachricht.“
Bobby überreichte sie ihm schnell und blieb dann neugierig stehen, während Oket die Nachricht las. Dann blickte der Ältere auf und sah ihn wie aus weiter Ferne an. „Was ist los? Was steht darin?“ wollte Bobby wissen, der die Nachricht ausgerechnet dieses Mal nicht schon vorab gelesen hatte.
Doch statt zu antworten sah Oket wieder auf das Papier und las noch einmal. Offenbar wusste er nicht, was er davon halten sollte. Was Bobby für ein ganz schlechtes Zeichen hielt. Wenn sein Chef und Mentor nicht mehr weiter wusste, dann war alles zu spät.
Oket war sich tatsächlich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte. Die Nachricht stammte von der Erdregierung. Und sie war eine Antwort auf ihre Meldung. Man wolle die Angelegenheit prüfen, hieß es darin. Dafür würde in zwei Tagen ein Sondergesandter auf Terra Ceti eintreffen, der sich die Lage direkt vor Ort anschauen sollte. Und danach würde die Erdregierung entscheiden, wie in der Sache weiter vorgegangen werden sollte.
Entweder war dies eine gute Nachricht, die eine faire Beurteilung erlaubte und Hoffnung machen konnte auf ein Fortbestehen des Marktes. Oder es war nur eine Hinhaltetaktik, bis die Truppen der Erde bereit waren um dann zuzuschlagen, während sich die Kolonie noch in Sicherheit wog. Der derzeitigen Regierung würde er alles zutrauen. Sie hatte in den letzten Monaten oft genug gezeigt, wie skrupellos man gegen anders denkende vorgehen konnte.
„Wir müssen den Senat informieren“, sagte Oket schließlich mehr zu sich selbst. „In zwei Tagen werden wir sehen, wo wir stehen.“
Sanawey musste keine zwei Tage mehr warten, um eine Entscheidung zu treffen. Diese wurde ihm vom Schicksal abgenommen. Er war gerade auf dem Weg zur Brücke, als die Alarmsirene plötzlich anfing zu heulen. Fast im selben Moment verfiel Sanawey in einen Laufschritt, um den Turbolift zur Brücke zu erreichen.
„Captain, ein fremdes Schiff ist in diesem Sektor aufgetaucht und hält direkten Kurs auf uns“, meldete Reed ihm sofort, nachdem er die Brücke betreten hatte.
„Irgendwelche Anzeichen, wer es sein könnte?“ Sanawey setzte sich in den Kommandosessel und wandte sich dann Sohral zu.
„Die Bauart lässt Rückschlüsse auf einen leichten Jäger zu, irdischer Bauart. Aber da uns die Konstruktionen dieses Universums nicht geläufig sind, steht diese These auf wackeligem Grund.“
„Ich vertraue darauf, dass sich Dinge ähnlich wiederholen“, meinte Sanawey. „Wenn es Menschen sind, dann haben sie uns wohl gefunden. Und ich dachte, sie wären nun zufrieden, da sie uns los sind.“
„Sollen wir verschwinden?“ fragte Reed.
„Nein“, entschied Sanawey. „Ein Schiff dieser Größe dürfte uns kaum gefährlich werden. Ich will abwarten was geschieht. Aber Mr. Zien, halten Sie sich bereit. Sollte das Schiff versuchen zu entkommen, dann legen Sie deren Antrieb lahm.“
„Ja, Sir“, nickte der Sicherheitsoffizier und seine Antennen bogen sich leicht nach vorne.
Schweigend warteten sie die nächsten Minuten ab. Das fremde Schiff kam weiterhin näher. Entweder lag das in deren Absicht oder sie hatten die Republic
noch nicht entdeckt. In jedem Fall musste es bald zu einer Reaktion der Fremden kommen.
„Captain, sie rufen uns“, erlöste Reed schließlich alle aus der Anspannung.
„Dann bin ich ja mal gespannt, was sie uns zu sagen haben. Auf den Schirm“, befahl Sanawey.
Auf dem Bildschirm erschien die Brücke des fremden Schiffes. Wie das Schiff selbst war auch die Brücke relativ klein. In der Mitte saß ein menschlicher Captain. Lockige Haare bedeckten seinen Kopf. Die Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, jedoch zeugten die kleinen Fältchen um die Augen, dass er offenbar viel lachte. Ein militärisches Design suchte man an seiner Kleidung vergebens. Soweit es zu sehen war trug er eine schwarze Lederjacke ohne irgendwelche Abzeichen, was Sanawey sofort an die Begegnung mit dem Piraten Craigs erinnerte. Die zwei weiteren Personen auf der Brücke saßen so nahe bei ihm, dass sie automatisch mit auf dem Bildschirm erschienen. Auch bei ihnen handelte es sich um Menschen.
„Ich bin Adrien Cruz“, stellte er sich vor. „Wer sind Sie und was haben Sie hier zu suchen?“
Etwas erstaunt stellte sich auch Sanawey vor. Er hatte erwartet, dass ihre Verfolger wüssten wen sie jagten. Aber offenbar war das nicht der Fall. „Wir sind hier um ein paar Forschungsdaten zu überprüfen“, fuhr er fort.
„Hier gibt es nichts zu erforschen“, gab Cruz unwirsch zurück. „Woher kommen Sie genau? Eine Föderation der Planeten ist mir nicht bekannt.“ Der scheinbar grundsätzlich unfreundliche Tonfall in diesem Universum ging Sanawey allmählich ziemlich auf die Nerven.
„Wir kommen von weiter weg“, wich Sanawey der Frage aus.
„Verschwinden Sie aus dem System. Schnüffler der Erdstreitkräfte können wir hier nicht gebrauchen. Und hier gibt es rein gar nichts außer ein paar Steinen.“
Der Mann wusste offenbar wirklich nicht mit wem er es zu tun hatte. Er hielt sie für Menschen aus dieser Zeitlinie. Wieso sollte er auch etwas anderes annehmen? Schließlich begegnete man nicht jedem Tag Menschen aus einem anderen Universum.
„Warten Sie“, rief Sanawey, bevor Cruz die Verbindung beenden konnte. „Wir sind hier um die Überreste Vulkans zu erforschen.“ Mit dem Namen des Planeten hatte er Cruz etwas Futter gegeben und konnte dessen Reaktion abwarten. Die kam prompt.
„Woher kenne Sie den Namen des Planeten?“ fragte er misstrauisch. „Kein Mensch kennt den Namen. Dieser Planet ist vor mehr als zweitausend Jahren zerstört worden. Und mit ihm sein Name.“
Sanawey fiel auf, dass der Mann sich zwar wunderte, woher sie den Namen kannten, nicht aber über den Namen selbst. Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu. „Sie kennen den Namen des Planeten? Woher?“
„Das tut nichts zur Sache“, erwiderte er schroff. „Was wissen Sie über den Planeten?“
Der Captain nickte Sohral zu, worauf dieser aufstand und neben ihn trat. Dadurch geriet er in den Fokus der Übertragungskamera und wurde für die Männer auf dem fremden Schiff sichtbar. „Weil mein Wissenschaftsoffizier mir das gesagt hat.“
Cruz riss nun völlig überrascht die Augen auf. „Sie haben Vulkanier an Bord? Wie kann das sein?“ Die Erkenntnis brachte ihn völlig aus dem Konzept.
„Sie kennen das Volk? Sie sagten doch eben, Vulkan wäre vor zweitausend Jahren zerstört worden. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Sie irgendetwas über dieses Volk wissen können“, argumentierte Sohral logisch. „Als Vulkan zerstört wurde, befand sich die Menschheit noch in der Antike.“
„Vulkan ist vor so langer Zeit zerstört worden. Daher stellt sich die Frage, woher Sie kommen?“ Das Misstrauen war echter Neugier gewichen.
„Eine Täuschung scheinen Sie auszuschließen“, stellte Sanawey fest.
„Niemand weiß wie die Vulkanier ausgesehen haben. Die Zerstörung des Planeten hat alle Spuren und Zeugnisse ausgelöscht.“
„Dann können Sie aber auch nicht wissen, wie Vulkanier ausgesehen haben.“ Sanawey war verwirrt. Cruz widersprach sich selbst, hatte er den Eindruck. Der Mann spielte Spielchen und Sanawey hätte gerne den Grund dafür erfahren.
„Wir wissen, wie sie ausgesehen haben, denn in unserer Organisation gibt es Vulkanier.“
Jetzt war es Sanawey, der überrascht die Augen aufriss. Selbst Sohral hob die rechte Augenbraue an. Offenbar hatte ihn diese Aussage ebenso überrascht. Falls dieser Mann die Wahrheit sagte, dann war die Situation viel komplexer als sie bisher den angenommen hatte.
„Captain Sanawey, ich denke, wir sollten uns unterhalten. Direkt“, schlug Cruz vor. „Wir haben einiges zu besprechen. Sie werden viele Fragen haben und ich ebenso. Ich weiß nicht, woher Sie kommen und wer Sie sind. Doch ich würde das Risiko eingehen und auf Ihr Schiff kommen, so dass wir reden können.“
„Sie setzen viel Vertrauen in uns. So plötzlich“, konnte Sanawey sich die Bemerkung nicht verkneifen.
„Das ist wahr. Aber wenn Sie Vulkanier an Bord haben, dann ändert das alles.“
Sanawey nickte. „In Ordnung. Wir werden Sie auf unser Schiff beamen...“
„Beamen?“ Cruz schüttelte energisch den Kopf. „Niemals. Diese Technologie ist viel zu neu, als dass ich sie an mir testen lassen würde. Wir werden andocken und ich werde dann zu Ihnen hinüber kommen.“
„Mr. Reed, weisen Sie den Steuermann des Jägers ein. Backbord Luke“, befahl Sanawey. „Wir werden Sie erwarten, Mr. Cruz.“
„Ich komme unbewaffnet. Sie können die Kavallerie also im Stall lassen.“
„Danke für den Hinweis. Ich werde die Kavallerie trotzdem antreten lassen“, gab Sanawey trocken zurück.
„Wie Sie meinen“, zuckte Cruz die Achseln, dann unterbrach er die Verbindung.
Stirnrunzelnd sah Sanawey seinen Wissenschaftsoffizier an. „Können Sie sich das erklären?“
„Nein. Aber das muss ich auch nicht. Das wird Mr. Cruz übernehmen.“
Sanawey war weniger optimistisch. „Da bin ich mir derzeit noch nicht so sicher.“ Dann wandte er sich zum Andorianer um. „Mr. Zien, postieren Sie ein Sicherheitsteam an der Andockluke. Ich will, dass der Eingang bewacht wird, solange sich das fremde Schiff dort befindet. Nicht, dass sich noch ungebetener Besuch an Bord schleicht.“
Unterdessen kam der kleine Jäger längs zur Republic
und näherte sich der Untertassensektion. Langsam schwebte er neben dem Schiff. Neben der Republic
wirkte der Jäger völlig winzig und verloren. Es hätte auch nur ein wenig gefehlt, und der Jäger hätte auf das Shuttledeck der Republic
gepasst. Aber eben nur beinahe. So sorgten ein paar Meter dafür, dass ein Andockmanöver durchgeführt werden musste, dass seit vielen Jahren niemand mehr gemacht hatte. Zumindest in der Zeitlinie der Republic
nicht. Hier war das wohl ein völlig normales Manöver, denn der Pilot des Jägers schien das mit einer Routine durchzuführen, als ob er noch nie etwas anderes gemacht hätte.
„Er schien auf jeden Fall heftiges Interesse an uns zu haben, seit er Sie gesehen hatte“, dachte Sanawey laut nach, während er das Schiff auf dem Bildschirm beim Andocken beobachtet. „Davor hätte er uns am liebsten zum Teufel geschickt.“
„Das ist doch eine Falle“, mutmaßte Reed.
„Kümmern Sie sich um das Docking“, wies Sanawey ihn zurück. „Aber Ihren Gedanken hatte ich auch schon.“ Sanawey wollte derzeit nichts ausschließen. Zu unübersichtlich war die Sache. „Klar ist nur, Ihr Volk, Mr. Sohral, ist anscheinend in jeder Zeitlinie rätselhaft.“
Wenig später standen Sanawey, Sohral und Dr. Williams sowie ein Sicherheitsteam von sechs Mann an der Andockschleuse. Das Schiff hatte vor wenigen Minuten angedockt und Adrien Cruz war nun bereit an Bord zu kommen.
Als er durch die Andockluke kam hing sein Blick wie hypnotisiert an Sohral. Er baute sich auch direkt vor ihm auf und hob die Hand zum Vulkaniergruß. „Lebe lang und in Frieden“, sagte er feierlich. „Es ist mir eine Ehre Sie kennen zu lernen.“
Sohral erwiderte den Gruß höflich, blieb aber selbst für seine Verhältnisse reserviert.
„Sie werden viele Fragen haben“, wandte Cruz sich an Sanawey. „Die habe ich aber auch. Ich nehme an, Sie haben einen Raum vorbereitet, in dem wir uns ungestört unterhalten können.“
„Das ist richtig“, nickte Sanawey, um Höflichkeit bemüht. „Zuvor wird Dr. Williams Sie aber noch eingehend scannen. Wir wollen vermeiden, dass Sie einen Krankheitserreger an Bord bringen, der die Crew gefährdet.“
Cruz sah ihn stirnrunzelnd an. „Wenn Sie das für nötig halten.“
„Das tun wir allerdings.“ Sanawey sah zu, wie Williams mit dem Scanner Cruz von oben bis unten abtastete. „Wir müssen vorsichtig sein. Wir haben hier bisher noch nicht allzu gute Erfahrungen gemacht“, erklärte Sanawey weiter.
Nachdem die Prozedur beendet war nickte Williams ihrem Captain zu. „Er ist sauber.“
„Danke“, lächelte Sanawey. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Er lud Cruz ein. Zusammen mit Sohral und zwei Sicherheitsoffizieren gingen sie zum Besprechungsraum, der auf diesem Deck lag. Sanawey hatte diesen kleinen Raum ausgewählt, in dem nur selten Besprechungen der Führungscrew stattfanden. Aber er hatte vermeiden wollen, dass Cruz durchs halbe Schiff geführt werden musste. Er traute ihm nicht. Es war viel zu seltsam, dass dieser Mann anscheinend mit einem eigentlich längst ausgestorbenen Volk zusammenarbeitete.
Nachdem sie sich gesetzt hatten ergriff Sohral das Wort. „Woher wissen Sie so viel über Vulkanier?“
Cruz lächelte. „Sie kommen direkt zur Sache. Etwas anderes hätte ich von einem Vulkanier auch nicht erwartet.“
„Dann klären Sie uns genauso direkt auf“, forderte Sanawey ihn auf.
„Zuerst muss ich etwas über Sie erfahren“, wehrte Cruz ab. „Das Risiko, Ihnen etwas zu erzählen, ohne dass ich Sie kenne, ist zu groß.“
„Wen fürchten Sie?“ Sanawey wollte ebenso wenig etwas über sich und die Crew preisgeben wie Cruz. Auf gar keinen Fall wollte er dem potentiellen Gegner Informationen überlassen ohne selbst welche zu erhalten. Aber hatten sie am Ende eine Wahl, wenn sie weiterkommen wollten?
„Die Erdregierung und ihre Handlanger natürlich.“ Cruz sah sie an, als kämen sie aus einer anderen Welt.
„Wir gehören aber nicht dazu“, wehrte Sanawey ab.
Cruz lächelte humorlos. „Sie können mir viel erzählen. Ihre Uniformen kenne ich nicht, aber das muss nichts heißen. Vielleicht wurde wieder einmal eine neue Geheimorganisation gegründet, um uns endgültig aufzuspüren. Ich würde gerne glauben, dass Sie auf unserer Seite stehen. Aber geben Sie mir etwas dafür. Zum Beispiel woher Sie kommen und woher Sie, Mr. Sohral, kommen.“
Sanawey sah zur Sohral hinüber. Zustimmend nickte dieser leicht. „Wir stammen aus einem Paralleluniversum“, begann Sanawey eine leicht modifizierte Version. Die komplette Wahrheit musste Cruz nicht erfahren. Womöglich reagierte er ähnlich wie die Menschen auf der Erde, wenn er den Verdacht bekam, dass sie versuchten, den Zeitverlauf zu manipulieren. „Durch einen Unfall kamen wir hierher. Derzeit sind wir auf der Suche nach einem Rückweg. Die Erdregierung war uns hierbei nicht sonderlich hilfreich, daher mussten wir einen Ort suchen, an dem wir erst einmal sicher waren. Und da die Menschen hier keine Vulkanier kennen, während es bei uns enge Verbündete sind, dachten wir, hier vielleicht Hilfe zu bekommen. Dass Vulkan in diesem Universum nicht mehr existiert, wussten wir nicht.“
Skeptisch sah Cruz ihn an. „Und Sie glauben im Ernst, dass ich Ihnen diese Geschichte abnehme? Das klingt ja eindeutig nach der blödesten Lügengeschichte, die sich die Erdspitzel je haben einfallen lassen.“
„Nun, unsere Geschichte hat Spuren an unserem Schiff hinterlassen“, gab Sanawey zu bedenken.
„Die auch sonst woher kommen können.“
„Und wir haben zwei Vulkanier an Bord. Und einen Halbvulkanier. Wir haben eine umfangreiche Datenbank über Vulkan und deren Bewohner, da Vulkan Mitglied in der Föderation der Planeten ist.“
„Können Sie uns dieses Wissen überlassen? Wir würden das gerne überprüfen.“ Cruz versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er diese Daten haben wollte.
„Nicht ohne nähere Informationen Ihrerseits“, lehnte Sanawey ab.
Cruz legte den Kopf schief. Es war als wäge er die Risiken ab. Ihm war anzusehen, wie er innerlich mit sich selbst kämpfte. Getrieben von seiner Neugier, gehemmt von seiner Angst. Die Neugier schien sich schließlich über seine Bedenken hinwegzusetzen, denn er fing an zu erzählen: „Ich komme von Terra Ceti, einer Kolonie am Rande des irdischen Raumes. Wir sind so weit draußen, dass Schiffe der Erde Wochen benötigen, um uns zu erreichen. Ein Grund, warum wir im Prinzip auf uns alleine gestellt sind. Von der Erde bekommen wir keine Unterstützung. Dort kümmert man sich nur um die Angelegenheiten des Mutterplaneten. Nur zum Reglementieren und um Steuern einzutreiben kommen die Erdlinge zurück. Sie nehmen uns dabei so weit aus, dass wir keine eigenen Waren einkaufen und uns nicht weiterentwickeln können. Und damit werden wir immer abhängig sein von der Erde.
Terra Ceti ist kein Einzelschicksal. Es gibt noch weitere Kolonien mit ähnlichem Schicksal. Wir würden uns gerne für unabhängig erklären, doch die Erde erstickt jeden derartigen Versuch im Keim. Trotzdem kämpfen wir weiter. Auf jedem dieser Planeten gibt es Untergrundorganisationen, die dem Ziel weiter entgegenarbeiten. Wir halten losen Kontakt untereinander und informieren uns über die Schritte des Gegners.
Da wir aber unter ständiger Angst entdeckt zu werden operieren müssen, sind wir immer auf der Suche nach Verstecken und neuen Verbündeten. Einer dieser Erkundungsflüge führte uns vor 25 Jahren im benachbarten System zu einem Planeten mit einem Eisring. Darin entdeckten wir ein treibendes Schiff, ungefähr ein Viertel so groß wie Ihres. Es kostete uns einigen Aufwand es zu bergen, aber wir hofften darin etwas zu finden, das wir im Kampf für unsere Unabhängigkeit benutzen könnten. Die Bauart des Schiffes war völlig unbekannt, daher waren wir guter Dinge etwas Brauchbares darin zu finden. Was wir dann aber fanden waren kryogenische Kapseln. Gefriereinheiten. Es war ein antikes Schläferschiff. Wir fanden fünfzig Kapseln, aber nur noch drei waren intakt. Darin lagen menschenähnliche Wesen mit spitzen Ohren.“
„Vulkanier“, stellte Sanawey erstaunt fest. „Ihr Volk hatte sich auch mit Schläferschiffen beschäftigt?“ wandte er sich erstaunt an Sohral. Das war ihm völlig neu.
„In der Zeit vor der interstellaren Raumfahrt gab es diese Versuche. Allerdings wurden insgesamt nur vier dieser Schiffe gestartet. Eines der Schiffe wurde Jahrhunderte später wieder entdeckt. Sie waren auf dem Rückflug nach Vulkan und wurden von moderneren Schiffen überholt. Von den drei anderen wurden über die Zeit hinweg nur noch Trümmer gefunden.“
„Hier war das nicht so. Dieses Schiff war intakt“, fuhr Cruz fort. „Wir weckten die Vulkanier auf. Von ihnen lernten wir ihre Geschichte. Demnach war ihre Mission ein Erfolg gewesen und sie waren nach Vulkan zurückgekehrt. Fünfhundert Jahre nach ihrem Start. Aber dort fanden sie nur noch Trümmer vor. Ihr Heimatplanet war zerstört. Anderen Lebewesen waren die Vulkanier bis dahin noch nie begegnet. Da taten sie das einzige, das Ihnen logisch erschien. Sie legten sich wieder schlafen um dann, irgendwann in der Zukunft wieder zu erwachen, in der sie wieder eine Heimat finden konnten.
Nachdem sie sich mit unserer Situation vertraut gemacht und erkannt hatten, dass jeder weitere Schlaf nur das Unvermeidliche hinausgezögert hätte, beschlossen sie, bei uns zu leben und sich unserem Kampf anzuschließen. Die einzige Gegenleistung, die sie forderten war, dass wir das System Vulkan überwachen, für den Fall, dass weitere Vulkanier zurückkehren. Daher haben wir Sie jetzt hier entdeckt“, schloss Cruz seine Erzählung.
Sanawey lehnte sich zurück. Er wusste nicht recht, was er von der Geschichte halten sollte. Vulkan wurde allem Anschein nach vor Tausenden von Jahren zerstört, und doch sollte es noch Vulkanier geben? Dieses ganze Universum schien irgendwie völlig verdreht zu sein. Normal war hier wohl gar nichts. Und diese Geschichte, die Cruz ihnen servierte, toppte noch alles. Andererseits war sie schon wieder so verrückt, dass es vielleicht auch stimmen konnte. „Und haben die Vulkanier Ihnen auch gesagt, was Sie dann mit den Entdeckten machen sollten?“ wollte Sanawey wissen.
„Wir sollten sie empfangen, ihnen die Situation erklären und sie dann mitbringen. Unsere Vulkanier hätten gerne mit diesen Vulkaniern gesprochen.“
„Das würden wir auch gerne“, betonte Sanawey. „Bringen Sie uns bitte zu Ihren Vulkaniern.“
Cruz lächelte verschlagen. Es war ganz offensichtlich, dass er Sanawey und seinen Leuten nicht traute. „Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich das mache. Ich weiß nicht wer Sie sind und woher Sie kommen. Ihre Erklärung von einem Paralleluniversum kann ich wirklich nicht glauben.“
„Wir Ihre Geschichte ebenfalls nicht“, gab Sanawey offen zu. „Aber Sie sollten die in diesem System entdeckten Vulkanier doch mitbringen. Wir haben hier Vulkanier. Und wir haben ebenfalls einiges zu klären. Also lassen Sie uns zusammenarbeiten. Vertrauen Sie uns. Wir haben mit Ihrer Erde nichts zu tun. Und wir werden Sie nicht verraten. Wir brauchen nur ein paar Erklärungen, für das was hier geschehen ist. Und dazu könnten ein paar mehr kluge Köpfe nicht schaden. Und so wie ich die Vulkanier kennen gelernt habe, sind das sehr kluge Köpfe. Zwar manchmal mit etwas wenig Phantasie, aber dafür absolut logisch.“ Er zwinkerte Sohral zu.
In Cruz‘ Kopf schien es zu arbeiten. Offenbar wusste er nicht, was er tun sollte. Die Chance, einen Vulkanier mit nach Hause zu bringen schien ihn zu reizen. Ebenso der Gedanke, ein Schiff wie die Republic
auf seiner Seite zu haben. Aber die Angst, einen Spion der Erde in seine Heimat zu bringen und damit den Tod und die Gefangenschaft all seiner Verbündeten zu verantworten, stand dem entgegen. So hatte er eine schwere Entscheidung zu treffen. „Welche Beweise haben Sie für Ihre Geschichte?“ fragte er schließlich.
„Abgesehen von uns?“ Sanawey sah zu Sohral hinüber. „Wir haben ein paar Dateien zusammengestellt. Nur geschichtliches, keine technischen Informationen, die Sie zu Ihrem Vorteil nutzen könnten. Historische Daten über den Planeten Vulkan und seine Geschichte. Daten, die nur die Vulkanier selbst aufgezeichnet haben können. Und einige Daten zur Föderation und deren Geschichte. Ich denke, das wird Sie interessieren.“ Sanawey übergab Cruz einen Datenchip. „Hier sind alle Informationen. Zeigen Sie das Ihren Leuten und beraten Sie sich. Wir werden auf Ihre Antwort warten.“
Zögernd streckte Cruz seinen Arm aus und nahm den Datenchip entgegen. „Sie werden jede Entscheidung respektieren?“ fragte er misstrauisch. „Auch wenn wir Ihnen sagen, dass wir nichts weiter von Ihnen hören wollen und dass Sie sich aus dem System zurückziehen sollen?“
„Wir würden das bedauern. Aber ja, wir würden das akzeptieren“, versicherte Sanawey.
Cruz legte die Stirn in Falten. Er war sich nicht sicher, ob er das glauben sollte. Wer würde schon freiwillig auf wichtige Informationen verzichten? Vor allem, wenn diese anscheinend so dringend benötigt wurden. Aber er konnte das jetzt nicht weiter hinterfragen. Insgeheim war aber wohl doch froh noch keine Entscheidung treffen zu müssen. So konnte er sich mit seinen Verbündeten beraten und dann eine abgestimmte Antwort geben. Er erhob sich und verließ, gefolgt von zwei Sicherheitsoffizieren, den Raum. Er würde sich auf sein Schiff begeben und die Daten sofort an seine Leute weiterleiten. Danach war zu entscheiden, wie sie weiter vorgehen wollten.
Nachdem Cruz den Raum verlassen hatte wandte Sanawey sich an Sohral. „Was halten Sie davon?“
Sohral blinzelte kurz. „Falls er die Wahrheit sagt, dann haben wir hier einen Verbündeten gefunden. Sie kämpfen für ihre Freiheit und Unabhängigkeit zur Erde. Wir müssen sie davon überzeugen, dass es in unserem Universum wesentlich besser um die Kolonien steht. Wenn wir es schaffen, ihn und die Vulkanier davon zu überzeugen, dass der Zeitablauf wieder korrigiert werden muss, dann sind wir einen großen Schritt weiter.“
„Ja, das denke ich auch“, erwiderte Sanawey nachdenklich. „Aber erst einmal können wir nichts weiter tun, als ihre Entscheidung abzuwarten.“
In einem etwas baufälligen Gebäude am Rande der Siedlung befand sich eine kleine Kneipe, die vor allem bei den Arbeitern der Unterschicht sehr beliebt war. Ihr Betrieb war nicht ganz legal, doch sahen der Senat und die Polizei großzügig darüber hinweg. Der kleine Kneipenbetrieb hielt die Arbeiter bei Laune. Eine Schließung hätte die Menschen verärgert und für zusätzliche Spannungen in der Siedlung gesorgt. Das wollten die Verantwortlichen vermeiden, da aufgrund der ständig eintreffenden Einwanderer die Lage der Kolonie ohnehin angespannt genug war. Wer bereits seit Jahrzehnten hier lebte sah seine Rechte in Gefahr, während die Neuankömmlinge ihre Gleichberechtigung einforderten. Konflikte waren damit vorprogrammiert. Da konnte eine Kneipe für ein friedliches Treffen sorgen. Und sollte es im alkoholumnebelten Zusammentreffen doch einmal zu einem Handgemenge kommen, so trug diese Art des Konflikts auch dazu bei, dass die Kontrahenten ihren Streit auf diese Weise beilegten ohne gleich ganze Gerichte damit zu beschäftigen.
Da die Stadt weiter in rasantem Tempo wuchs, musste die Kneipe auch immer wieder umziehen. Denn im Zentrum sollte die Kneipe auf keinen Fall stehen. Die Fertigbauweise machte das zwar relativ einfach, doch bei jedem Umzug schien das Gebäude danach etwas wackeliger zu stehen. So stand nicht die Frage im Raum, ob die Kneipe nicht irgendwann von selbst aufgeben musste, sondern nur wann das der Fall wäre.
Die Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte, erfüllte den Raum, was dafür sorgte, dass man sich für eine Unterhaltung schon fast anschreien musste. Der Lärmpegel der anwesenden Menschen tat sein Übriges. Rauchgeschwängerte, nach Tabak riechende Luft hing im Raum und sorgte für einen Schleier, durch den man das andere Ende des Raumes kaum sehen konnte. Das Atmen fiel schwer. Doch den Anwesenden schien das nichts auszumachen. Sie unterhielten sich, lachten laut oder grölten zur Musik mit. Insgesamt war die Stimmung ausgelassen und friedlich.
An diesem Abend saß auch William Russel zusammen mit ein paar Kollegen in der Kneipe. Er hatte den Tag über an den Hallen des Marktes gearbeitet, da die Straße inzwischen soweit wie möglich instand gesetzt worden war. Da es aber immer etwas zu tun gab, machte er sich keine Gedanken. Einzig die vielen neuen Arbeitskräfte, die mit den Einwanderungswellen in die Siedlung kamen, waren ein Grund zur Besorgnis. Und der derzeitige Konflikt zwischen der Erde und der Kolonieregierung um die Beteiligung Außeririscher am Markt. So gab es in der ganzen Kneipe eigentlich nur ein Thema.
„Was meint ihr, wird die Erde Truppen schicken?“ wandte Russel sich besorgt an seine Begleiter.
„Davon gehe ich aus“, kam die Antwort. „Die Erde wird diesen Affront unserer Regierenden kaum hinnehmen.“
„Und wann werden die Truppen hier erscheinen? Ich will nicht, dass meiner Familie etwas zustößt und würde sie vorher gerne in Sicherheit bringen. Wenn uns so etwas blüht wie auf Terra Nova, dann sind wir alle in Gefahr.“
„Wenn man das nur wüsste. Aber vielleicht ist es auch besser so, so kommt das Ende überraschend und wir können die letzten Tage noch genießen“, brummte der andere und setzte sein Glas zu einem kräftigen Schluck an.
Die Türe wurde geöffnet und zusammen mit einer Brise frischer Luft betrat ein Mann mit kurz geschorenen Haaren und einer geierartigen Nase den Raum. Er trug ähnlich zivile Kleidung wie die meisten hier, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er zur unteren Schicht der Kolonie gehörte. Ihm folgte ein dunkelhaariger Mann, der kaum besser aussah als der erste. Ein paar Köpfe drehten sich zur Tür um. Niemand kannte die Männer, was aber bei den vielen Neuankömmlingen auch kein Wunder war. So wurden die Gespräche fortgesetzt und die beiden nicht weiter beachtet. Was auch die Absicht der Männer war. Sie zogen es vor unerkannt zu bleiben. Schließlich würde es keinen guten Eindruck machen, wenn in einer solchen Kneipe ein Senator gesehen würde. Henry John und sein Begleiter nahmen an dem einzig noch freien Tisch Platz. Er saß mit dem Rücken direkt an William Russels Stuhl.
„Es ist unglaublich, dass der Senat unser aller Sicherheit wegen dieser Außerirdischen riskiert“, empörte sich ein hagerer Mann an Russels Tisch, dessen Zunge bereits schwer war vom Alkohol. „Ich mein‘, der Senat sollte das Volk repräsentieren. Und wer will die ganzen Außerirdischen schon hier haben. Die nehmen uns doch sowieso nur unsere Jobs weg.“
„Genau“, stimmte ein anderer zu. „Und gefährlich ist das Gesindel auch noch. Nehmt doch nur mal diese grünen Orioner mit ihrem Sklavenhandel. Nachdem die das letzte Mal hier waren, waren in unserer Nachbarsiedlung zwei Menschen verschwunden. Wenn das mal kein Zufall ist.“
„Wer ist dort verschwunden?“ wollte jemand wissen.
„Ich kenne keine Namen, aber es waren eine Frau und ein Mann.“
„Und du bist sicher, dass die zwei nicht einfach durchgebrannt sind, um es irgendwo miteinander treiben zu können?“ grölte der hagere Mann laut und alle stimmten in sein dreckiges Lachen mit ein.
„Vielleicht sollten wir die Dinge mit den Außerirdischen selbst in die Hand nehmen“, schlug Russel vor als das Lachen verebbte.
Die anderen sahen ihn erstaunt an. „Wie meinst du das?“ und „Was willst du denn machen?“ waren die Fragen mit denen sie auf ihn einstürmten.
„Ich weiß nicht genau. Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, der Erde ein Zeichen geben zu können, dass wir nicht alle so denken wie unsere Senatoren. Es gibt ein Gerücht, dass ein Sondergesandter der Erde kommt. Wir könnten versuchen, ob wir mit ihm reden können.“
„Na klar, weil der ja auch mit so jemandem wie dir redet, William“, höhnte ein Anwesender.
„Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass er mit uns reden muss. Ich will auf keinen Fall zusehen, wie meine Familie völlig unschuldig in Gefahr gerät.“
Die anderen brummten zustimmend.
Angestachelt fuhr William fort. „Vielleicht sollten wir alle die Landung der Außerirdischen verhindern und sie somit zur Umkehr zu zwingen. Oder wir überfallen sie auf dem Weg vom Flugplatz zum Markt“, sinnierte Russel weiter.
„Und dann? Willst du sie töten?“
William sah den Fragesteller mit glasigen Alkoholaugen und grimmigem Blick an. „Wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Und wenn wir den Außerirdischen damit zeigen können, dass sie hier unerwünscht sind...“
„Das ist nicht möglich. Wir hätten sofort die Polizei auf dem Hals“, gab jemand zu bedenken.
„Wenn wir uns alle erheben, dann ist auch die Polizei machtlos. Wir müssen irgendetwas unternehmen. Sonst teilen wir das Schicksal der Kolonisten von Terra Nova“, beharrte Russel auf seinem Standpunkt.
Niemand wollte sich wirklich auf Russels Seite stellen. Zwar waren sie grundsätzlich alle seiner Meinung, irgendetwas zu riskieren war jedoch niemand bereit. Auch Russel musste feststellen, dass alle Anwesenden zwar groß im Töne spucken waren, dann aber doch den Schwanz einzogen.
Die Musik dröhnte noch immer durch die Kneipe, und an den anderen Tischen ging es weiterhin hoch her. Doch an diesem Tisch herrschte betretenes Schweigen und jeder hielt sich an seinem Glas fest, um nicht ganz untätig zu sein. William Russel schüttelte enttäuscht und verständnislos den Kopf. Dann stand er auf. „Ich muss kurz auf die Toilette“, entschuldigte er sich. Kurz nachdem er weg war erhob sich am Nachbartisch Henry John und entschuldigte sich bei seinem Begleiter ebenfalls, dass er kurz raus müsse. Dann folgte er Russel auf die Toilette. Der Toilettenbereich war klein und nicht besonders sauber. Von den drei Urinalen waren nur zwei funktionsfähig. So stellte sich John direkt neben Russel.
„Hallo William“, grüßte er freundlich lächelnd.
Russel sah in skeptisch an. „Woher kennen Sie meinen Namen?“
„Ich saß am Nachbartisch und da habe ich unfreiwillig einen Teil Ihrer Unterhaltung mitbekommen“, erklärte John ihm Plauderton.
„Ach ja?“ Die Skepsis in Russel wuchs. Wurde er da etwa von einem Spitzel der Regierung angequatscht?
„Ja. Und ich teile Ihre Ansichten, was die Erde angeht. So wie die meisten hier. Aber im Gegensatz zu den meisten bin ich auch der Meinung, dass wir etwas tun sollten. Wir haben uns lange genug von der Erde Vorgaben machen lassen. Es wird Zeit, dass wir unsere eigenen Entscheidungen treffen.“
„Das wird wohl nie passieren. Zumindest nicht, solange ich lebe“, gab Russel zurück. Er hatte angebissen. „Die Erde wird uns nicht freigeben.“
„Nein, bestimmt nicht freiwillig. Es sei denn, etwas geschieht, das sie dazu zwingt uns freizugeben. Oder es gibt jemanden, der sie zwingen kann.“
Russel lächelte matt. „Wer sollte denn etwas in der Hand haben, das die Erde zur Aufgabe zwingt?“
„Vielleicht hat noch niemand etwas“, sagte John gelassen, wobei er das noch besonders betonte. „Aber morgen kommt der Sondergesandte der Erde. Sollte man ihn festhalten können, bis die Erde Zugeständnisse macht, dann hätten wir durchaus ein Druckmittel.“
„Die Erde wird wohl kaum wegen eines Gesandten die Kolonie aufgeben“, gab Russel zurück.
„Bei dem Gesandten handelt es sich aber um den Kolonieminister. Nicht ganz unwichtig, der Mann.“ Russels Schweigen deutete er als Zustimmung. „Allerdings glaube ich kaum, dass sich auf diesem Planeten jemand findet, der den Mut hätte, zu tun was notwendig ist. Obwohl er sich seines Platzes in der Geschichte sicher sein könnte. Naja, egal. War nett mit Ihnen zu plaudern.“ John schüttelte ab und verließ dann, ohne seine Hände zu waschen, den Raum. Er hatte Russel da, wo er ihn haben wollte, da war er sich sicher.
William Russel stand tatsächlich noch da und dachte nach. War das die Chance, auf die er gewartet hatte? Konnte er sein Leben und das seiner Familie nun zum Besseren wenden? Und womöglich noch das der ganzen Kolonie? Nachdenklich verließ er die Toilette, ging aber nicht zurück zu seinem Tisch, sondern verließ durch den Hinterausgang das Gebäude.
Als Henry John das bemerkte glitt ihm ein triumphierendes Lächeln übers Gesicht. Offenbar stand das Schicksal auf seiner Seite.
„Captain, Mr. Cruz ruft uns“, meldete sich Reed über das interne Kommunikationsnetz. Sanawey saß in seinem Bereitschaftsraum und ergänzte das Logbuch um einen aktuellen Situationsbericht. Seit Adrian Cruz das Schiff verlassen hatte war fast ein ganzer Tag vergangen. Was durchaus verständlich war, immerhin umfassten die Daten, die er bekommen hatte, Unmengen an Informationen. Bis sowohl er wie auch seine Verbündeten das alles gelesen und auch noch verarbeitet hatten, musste einige Zeit vergehen. Genau genommen hätte es leicht noch länger dauern können. Sanawey allerdings kam dieser eine Tag schon wie eine Ewigkeit vor.
„Ich komme sofort“, gab Sanawey als Antwort. Dann sprang er auf und verließ eilig den Raum. Was hatten wohl die Vulkanier dieses Universums zu den Daten gesagt? Zu den Daten, die von einer Welt erzählten, die Vulkan hier nie geworden war. Und wie würden sie auf ein Treffen mit Sohral reagieren? Fragen, auf die er bald eine Antwort haben würde. Hoffentlich.
Er betrat die Brücke und nickte Reed zu. Kurz darauf erschien das Gesicht Cruz’ auf dem Hauptbildschirm. „Mr. Cruz, schön von Ihnen zu hören“, grüßte Sanawey freundlich.
„Captain“, nickte der Angesprochene zurück, blieb allerdings ernst. In Sanawey schrillten die Alarmglocken. Irgendetwas war vorgefallen. Seine Befürchtungen wurden sogar noch übertroffen, als Cruz fortfuhr: „Captain. Wir haben uns entschieden und wir müssen Sie bitten, das System umgehend zu verlassen.“
„Wie bitte?“ entfuhr es Sanawey, so überrumpelt fühlte er sich von dieser Entscheidung. Er hatte fest mit einer Übereinkunft gerechnet. „Darf ich fragen wieso?“
„Die Gründe sind nicht wichtig. Sie sagten, Sie werden unsere Entscheidung respektieren. Also tun Sie das auch“, fertigte Cruz ihn kurz ab.
Sanawey seufzte, sah sich noch einmal zu seiner Crew um, und als die auch nichts weiter wusste nickte er. „In Ordnung. Es ist bedauerlich. Wir hätten einander viel zu bieten gehabt. Aber wir werden, wie versprochen, Ihre Entscheidung respektieren. Wir werden sofort abfliegen.“
Cruz nickte nur und beendete dann die Verbindung.
Sanawey ließ sich in den Kommandosessel nieder und schüttelte den Kopf. Dann sah er zu Tworek. „Sie haben es gehört. Bringen Sie uns fort.“
„Und wohin soll es gehen?“ wollte Tworek wissen und ein leicht aggressiver Unterton lag in seiner Stimme. Sohral zog tadelnd die rechte Augenbraue hoch. Da der Vulkanier dem Halbvulkanier allerdings den Rücken zugewandt hatte, konnte dieser das nicht sehen.
„Egal. Erst einmal raus aus dem System.“
Tworek zögerte, dann wandte er sich um. „Captain, darf ich offen sprechen?“
„Nur zu“, forderte Sanawey ihn auf.
„Warum bringen wir das Schiff nicht auf und zwingen sie dazu mit uns zusammenzuarbeiten?“
Sanawey sah ihn überrascht an. Eine solche Frage ausgerechnet von dem sonst so disziplinierten Halbvulkanier hatte er nicht erwartet. „Wir haben Ihnen unser Wort gegeben. Und daran werden wir uns halten.“
„Auch, wenn es unsere einzige Chance wäre den Zeitverlauf wieder richtig zu stellen?“ Tworek hatte einen provozierenden Tonfall angeschlagen. Offenbar wurde er mit der Situation schlechter fertig, als man von ihm erwartet hätte. Oder machte ihm noch etwas anderes zu schaffen als diese Situation? Wie anders wäre sonst dieser Emotionsausbruch zu begründen?
„Ja, auch dann. Es ist nicht unsere Art mit Gewalt vorzugehen.“ Sanawey blieb betont ruhig, obwohl es in ihm brodelte. Tworek war dabei seine Autorität vor der gesamten Crew anzugreifen. Er hatte einen Befehl gegeben und der war auszuführen.
Aber Tworek war offenbar noch nicht fertig. „Niemand würde je davon erfahren. Sobald die Zeitlinie wieder hergestellt ist werden all diese Personen niemals existiert haben.“
„Aber wir werden es wissen“, unterbrach Sanawey ihn. „Und ich bin nicht bereit unsere Grundsätze und die der Föderation über Bord zu werfen. Ich werde nicht alles verraten, woran wir glauben. Und jetzt setzen Sie einen Kurs, der uns aus dem System bringt.“ Sanaweys Tonfall war schärfer geworden. Er wollte Tworek eindeutig zu verstehen geben, dass die Diskussion nun beendet war und er auf die Ausführung des Befehles wartete.
Tworek nickte widerwillig, dann wandte er sich wieder seiner Konsole zu und gab den Befehl ein. Langsam wendete die Republic
und ließ dann das Trümmerfeld des ehemaligen Planeten hinter sich. In Gedanken ging Sanawey noch einmal durch, was sie falsch gemacht hatten. Aber er konnte nichts erkennen. Mit einem resignierten Kopfschütteln wandte er sich an Sohral.
„Captain, wir werden gerufen“, meldete Reed überrascht, noch bevor Sanawey etwas sagen konnte.
„Von wem?“ fuhr Sanawey herum.
Reed zog die Augenbrauen hoch. „Es ist Cruz.“
Überrascht stand Sanawey auf. „Dann wollen wir mal hören, was er zu sagen hat. Auf den Schirm.“
Wieder erschien Cruz’ Gesicht, diesmal allerdings freundlicher. „Captain, warten Sie. Sie dürfen uns begleiten. Meine Verbündeten wollen Sie kennen lernen und Erkenntnisse austauschen.“
Sanawey sah ihn verwundert an. „Wieso dieser plötzliche Gesinnungswechsel?“
„Es war ein Vertrauenstest. Sie haben Ihr Wort gehalten und wollten das System verlassen. Das war für uns der letzte Beweis, dass wir Ihnen trauen können. Sie scheinen zu Ihrem Wort zu stehen, das ist für eine Widerstandsgruppe wie uns sehr wichtig.“
Der Ärger, der in Sanawey schon aufkommen wollte, fiel wieder in sich zusammen. Zwar hatte er sich im ersten Moment etwas verschaukelt gefühlt, doch irgendwie konnte er das Vorgehen der Gruppe auch verstehen. Letztendlich war es auch nur wichtig, dass sie die Chance hatten einen Verbündeten zu gewinnen, mit dem sie vielleicht die Zeitlinie wieder korrigieren konnten.
„Wir werden Ihnen trotzdem noch keine Koordinaten für unsere Kolonie geben. Bitte folgen Sie uns einfach. Wir haben Ihrer Navigation einige Daten überspielt. Sie reichen für einen ersten Kurs. Wir werden Ihnen unterwegs weitere Aktualisierungen schicken. Ich hoffe, dieses Vorgehen ist für Sie akzeptabel.“
Sanawey nickte. Was hatte er denn für eine Wahl? „In Ordnung. Ich freue mich schon darauf, am Ziel wieder persönlich mit Ihnen zusammenzutreffen.“
„Die Freude liegt ganz bei mir. Bitte folgen Sie uns nun.“ Er brach die Verbindung ab.
Sanawey sah Tworek an. „Haben wir die erwähnten Navigationsdaten?“
„Ja, Captain.“
Das kleine Schiff auf dem Bildschirm nahm nun ebenfalls Fahrt auf, schlug einen Kurs ein und ging dann auf Warpgeschwindigkeit.
„Folgen Sie dem Schiff“, befahl Sanawey schließlich. „Passen Sie die Geschwindigkeit an. Ich nehme an, sie werden etwas langsamer sein als wir. Wir wollen sie nicht überholen.“
„Aye“, bestätigte Tworek. Kurz darauf befand sich auch die Republic
im Warptransit.
Sie folgten dem kleinen Schiff mehrere Stunden. Und mit jeder vergangenen Stunde stieg die Spannung an Bord. Die Führungscrew weigerte sich eine Pause einzulegen, da jeder dabei sein wollte, wenn sie am Ziel ankamen. Und da niemand wusste wohin es eigentlich ging, konnte das Ziel jederzeit erreicht werden. Oder aber auch erst in Stunden oder Tagen.
Das fremde Schiff war klein und die Technik selbst für dieses Universum bereits alt. Zu mehr als Warp 2 war es nicht in der Lage. Sanawey kam es so vor, als würden sie sich im Schneckentempo fortbewegen. Als sich die Zeit aber immer weiter in die Länge zog ordnete Sanawey schließlich eine Zwangspause an. Nur widerwillig verließ die Stammcrew die Brücke, um sich in die Quartiere zurückzuziehen. Zwar war klar, dass niemand wirklich würde schlafen können, aber wenigstens ein wenig Ruhe sollten sich alle gönnen. Sie alle mussten fit sein, wenn sie am Ziel waren. Dort würde es dann vermutlich so viele Termine geben, dass sie erst einmal keine Ruhe mehr haben würden. Doch wenn am Ende ein paar Informationen standen, dann würde sich die Mühe lohnen.
Auch Sanawey hatte sich schließlich zurückgezogen. Er musste seinen Leuten schließlich ein Vorbild sein, er konnte nicht etwas verlangen, von dem er selbst nicht bereit war es zu tun. Schlafen konnte er nicht, daher lag er mit einem Buch in der Hand auf der Couch in seinem Quartier. Seine Konzentration ließ allerdings zu wünschen übrig. Nach jedem Absatz fragte er sich, was er da gerade gelesen hatte. Und dann musste er es nochmals lesen, manchmal sogar zweimal. So kam er keine zwei Seiten weit ehe er sich aufsetzte und das Buch beiseitelegte. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und genoss für einige Augenblicke einfach nur die Stille.
Das Piepsen des internen Kom-Systems ließ ihn hochfahren. „Captain Sanawey, bitte auf die Brücke“, ertönte eine Stimme aus der Kommunikationseinheit.
Endlich, das erlösende Zeichen. Sie mussten sich am Ziel befinden, warum sollte er sonst zur Brücke gerufen werden. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm die funkelnden Sterne. Sie waren also unter Warp gegangen, ansonsten müssten die Sterne weiterhin schnell vorbeiziehende Streifen bilden. Eilig stand er auf und begab sich zur Brücke. Als er schließlich den Lift verließ wandte sich Tworek direkt an ihn. Der Halbklingone hatte offenbar seinen Dienst früher als gedacht angetreten. „Captain, wir sind auf halbem Impuls und folgen dem Schiff zum sechsten Planeten des Systems. Offenbar befindet sich dort unser Ziel.“
„Danke“, nickte Sanawey und nahm im Kommandosessel Platz. „Mrs. Watts, rufen Sie bitte die Führungsoffiziere auf die Brücke.“
„Ja, Sir“, nickte sie. Ihre Stimme verriet Enttäuschung. Offenbar wäre sie gerne geblieben. Hier bekam man die Ereignisse direkt mit, während man beim Dienst in anderen Teilen des Schiffes auf die offiziellen Berichte und Erzählungen angewiesen war. Die erst im Nachhinein zur Verfügung standen und auch nur halb so spannend waren.
Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie sie sich langsam dem Planeten näherten. Das System hatte eine Sonne, die etwa doppelt so groß war wie die der Erde. Insgesamt umkreisten acht Planeten das Zentralgestirn in größerer Entfernung. Aufgrund der Masse der Sonne und ihrer damit verbundenen Anziehungskraft war eine nähere Umlaufbahn auch gar nicht möglich. Jedes Objekt, das sich der Sonne näherte wurde von ihr gnadenlos angezogen, bis es schließlich in der Sonne verbrannte. Der sechste Planet des Systems war der einzige, der für menschliches Leben geeignet war. Er war etwas kleiner als die Erde. Aber genauso grün. Ein üppiger Regenwald bedeckte weite Teile des Planeten. Über dem Regenwald waren dicke Wolken zu sehen, die zeigten, dass das Klima auf dem Planeten intakt war. Hier eine Kolonie zu gründen und weiterhin zu versorgen war sicher nicht schwer. Die meisten Planeten waren nur mit großen Terraforming-Anstrengungen zu besiedeln. Und die wenigen, die von sich aus Leben tragen konnten, waren meist trocken und hatten wenig Wasser zu bieten. Ein Leben auf einem solchen Planeten war eine Herausforderung. Und doch lohnenswert, da es dort meist große Vorkommen an wichtigen Metallen gab.
Das kleine Schiff steuerte direkt auf den Planeten zu. Kurz bevor es in die Atmosphäre des Planeten eintrat meldete sich Cruz kurz und gab ihnen die Anweisung in eine geostationäre Umlaufbahn zu gehen. Sie würden weitere Informationen zu einem Treffen in Kürze erhalten.
Die angewiesene Umlaufbahn sorgte dafür, dass sie sich immer direkt über der Hauptsiedlung der Kolonie befanden. Auf diese Art war für die Kommunikation nicht darauf zu achten, ob sich das Schiff gerade auf der abgewandten Seite des Planeten befand. In einem solchen Fall hätte es dann Satelliten bedurft, die das Signal um den Planeten herum weiterleiten konnten. Aber Satelliten gab es hier keine.
Inzwischen war auch die komplette Führungscrew anwesend, so dass Sanawey sich direkt an seinen Wissenschaftsoffizier wenden konnte. Er wollte die Zeit des Wartens sinnvoll nutzen. Daher stand er auf und trat hinter Sohral an das kleine Geländer, das Ober- und Unterdeck trennte.
„Mr. Sohral, was haben wir an Informationen über diesen Planeten im System?“
„Wir befinden uns im Ceti-System“, erklärte der Vulkanier. „Vor uns liegt Ceti Alpha 6. In unserem Universum unbewohnt. Es gibt kaum fossile Ressourcen. Diese entstehen bei der Ablagerung organischen Materials über mehrere Jahrmillionen. Das Fehlen solcher Vorkommen lässt nur den Schluss zu, dass der Planet verhältnismäßig jung ist. Es gibt auch kaum Metallvorkommen oder irgendwelche anderen abbaurelevanten Ressourcen. Daher war er für die Föderation immer uninteressant.
In diesem Universum scheint das alles ebenfalls zuzutreffen. Die Scanns ergeben nichts anders. Der Planet hat zwei große Kontinente, einen, der sich vom Äquator ein wenig auf die Südhalbkugel erstreckt und der zweite, der fast die komplette Nordhalbkugel abdeckt und den Äquator dabei nur ein wenig streift. Der südliche Kontinent ist komplett von Urwald bedeckt, während der Hauptkontinent, bis auf die südlichen Ausläufer, von einer Gras- und Waldlandschaft beherrscht wird. Die Kolonisten haben sich hier niedergelassen. Durch die gerade Achse des Planeten zur Sonne gibt es keine Jahreszeiten, die den Kolonisten zu schaffen machen könnten.
Es gibt die Hauptstadt direkt unter uns, sowie vier weitere Städte weiter nördlich, direkt am Meer.“
Sanawey nickte nachdenklich und sah den Planeten auf dem Bildschirm an. Es machte Sinn, hier eine Kolonie zu gründen. Zwar gab es keine nennenswerten Reichtümer auf dem Planeten, aber als neuer Lebensraum, um die völlig überbevölkerte Erde zu entlasten, konnte es kaum etwas Besseres geben. In seinem Universum war das nie nötig gewesen, da durch den Kontakt zu den Vulkaniern die Technik sich viel schneller entwickelt hatte und somit bereits weit früher Kolonien auf anderen Planeten gegründet worden waren. Bevor die Erde hoffnungslos übervölkert war.
„Ceti Alpha 6“, murmelte er leise. „Wieso kommt mir dieser Name so bekannt vor?“
„Auf dem Nachbarplaneten, Ceti Alpha 5 wurde Khan Noonien Sing ausgesetzt“, half Sohral ihm auf die Sprünge.
„Richtig“, fiel es Sanawey wieder ein. „Der genetisch verbesserte Mensch aus den Eugenischen Kriegen. Ich hoffe für diese Kolonisten, dass das in diesem Universum nicht der Fall war.“
„Unwahrscheinlich“, bemerkte Sohral. „Khan wurde von der Enterprise
gefunden und dort ausgesetzt, nachdem er fast das Schiff an sich gebracht hatte und ein Crewmitglied getötet hatte. In diesem Universum gab es die Enterprise
in dieser Form noch nicht. Daher wurde die Botany Bay
wohl auch nie gefunden. In diesem Fall können Khan und seine Leute nicht hier sein.“
Sanawey nickte. Wie üblich hatte Sohral Recht. Khan war ein Überlebender der Eugenischen Kriege gewesen. Ein Krieg, der auf der Erde ausgetragen worden war, nachdem genmanipulierte Supermenschen die Macht an sich gerissen hatten und über den Rest der Menschheit geherrscht hatten. Nach einem Aufstand kam es zum Krieg, der vier Jahre lang getobt hatte. Danach waren die Supermenschen besiegt und die Menschheit selbst wieder frei. Khan und ein paar seiner Leute war es gelungen in einem Schläferschiff zu entkommen. Knapp zweihundert Jahre trieben sie durchs All, bis sie von Kirk und seiner Crew entdeckt und wiederbelebt worden waren. Diese Rettung hätte die Crew der Enterprise
fast mit dem Leben bezahlt, denn die Supermenschen wollten das Schiff übernehmen um sich damit die ihrer Meinung nach verdiente Macht zurückzuholen. Sie scheiterten dann aber doch und wurden auf Ceti Alpha 5 ausgesetzt. Von dort aus konnten sie ohne ein Schiff nie mehr entkommen.
„Konnten Sie feststellen, wo das Schiff von Mr. Cruz gelandet ist?“
„Etwas außerhalb der größeren Siedlung gibt es ein Art Flugplatz. Dort hat unsere Eskorte zur Landung angesetzt“, berichtete Sohral.
„Dann kann es ja noch dauern“, brummte Sanawey. Er war das Warten leid. „Bis Cruz in die Siedlung rüber ist und alles organisiert hat, wird wohl noch etwas Zeit vergehen.“ Er ging zurück zum Kommandosessel. Bevor er sich setzte ging sein Blick nochmals zu Sohral. Welche Art von Vulkaniern dort unten wohl wartete? Sie waren tausende Jahre älter. Ob sie anders waren als Sohral?
„Mr. Reed, informieren Sie Dr. Williams und Lieutenant Holgrem. Sie werden uns begleiten, wenn wir auf den Planeten gehen“, befahl er Reed. Ein Team von vier Personen würde ausreichen. Dr. Williams würde bestätigen können, ob es sich wirklich um Vulkanier handelte, Sohral wäre die Verbindung. Und da Zien aufgrund seiner Verletzung noch immer nicht hundertprozentig einsatzfähig war, musste Holgrem das Sicherheitsteam bilden.
Die innere Anspannung, die Cruz empfand, als er zum Flugplatz zurückfuhr, war unbeschreiblich. Es war wie man sich als Kind Weihnachten vorstellte. Die Vorfreude auf die Geschenke mit dem gleichzeitigen Bangen, ob auch das Richtige dabei war. Genauso kam Adrian Cruz sich auch vor. Die Daten, die er gesehen hatte, waren unglaublich gewesen. Mit diesen Leuten als Verbündeten brauchten sie die Erde nicht mehr zu fürchten. Damit hatte er letztendlich auch seine Mitstreiter überreden können den Fremden Vertrauen entgegenzubringen. Doch was, wenn es sich als Luftnummer entpuppte? Dann war er erledigt. Nie wieder würde man ihm vertrauen, schlimmer noch, er wäre als unfähiger Einfallspinsel gebrandmarkt, der allzu leichtfertig auf die Worte von Fremden vertraute. Er würde nicht einmal mehr in die Nähe irgendeiner Widerstandsbewegung kommen. Sein Kampf gegen die Erde wäre damit beendet. Und er konnte sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen. Schon sein ganzes Leben lang kämpfte er gegen die unfaire Behandlung, die den Kolonisten zuteilwurde.
Er gehörte zur zweiten Generation, die in der Kolonie geboren worden war. Für ihn und alle anderen, die mit der Zeit ebenfalls hier geboren worden waren, hatte die Erde kaum noch eine Bedeutung. Erinnerungen an die Erde konnten sie nicht besitzen und ihre Heimat war von Anfang an diese Kolonie gewesen. Für seine Generation war die Verbindung zur Erde mit der Großelterngeneration so weit weg, dass es fast schon keine Rolle mehr spielte. Die Erde, so lernten sie aus dem, was sie von den Älteren aufschnappten, war nur ein weit entfernter Planet, der die Kolonisten mit hohen Steuern belastete und dafür viel zu wenig Gegenleistung brachte. Die Steuern, so empfanden es die Kolonisten, kamen fast vollständig der Erde zugute. Viel zu wenig fand den Weg zurück. Die Menschen auf der Erde lebten im Überfluss während die Kolonisten jeden Tag um ihr Überleben kämpfen mussten. Zumindest war das die Meinung der Kolonisten.
Adrian hatte daher schon von klein auf mitbekommen, dass die Erde ihr Feind war. Als Kinder spielten sie immer Siedler und Erdenpolizei, wobei die Polizei die Siedler jagte. Für die Kinder war das ein Spiel, bei dem sie sich erst wenig dabei dachten. Doch je älter sie wurden, desto mehr wich das Spiel und ihnen wurde der Ernst der Lage bewusst.
Als Adrian sechzehn Jahre alt war, kam es zu einem Proteststurm gegen die Erde. Kolonien auf mehreren Planeten wagten es, die Steuern zurückzuhalten. Anreisende Steuereintreiber und Verwalter standen vor verschlossenen Türen und wurden mit Schmährufen davongejagt. Auch lieferten die Kolonien keine Waren mehr an den Mutterplaneten. Was die Erde hart traf. Die meisten Lebensmittel für die Bevölkerung der Erde kamen aus den Kolonien, da die Erde nicht genug produzieren konnte, um alle Menschen zu versorgen. Nach dem Boykott mussten Lebensmittel von Außerirdischen importiert werden, um die überbevölkerte Erde wenigstens halbwegs satt zu bekommen. Auch das Ausbleiben der Dilitumkristalle aus den Kolonien war ein Problem gewesen. Diese Kristalle waren notwendig um die Energieerzeugung aufrecht zu erhalten, sowohl auf der Erde als auch auf Raumschiffen. Ein Mineral, das auf der Erde nicht vorkommt. Daher schickten die Regierenden die Erdstreitkräfte, um die Aufstände niederzuschlagen.
An jenem schicksalhaften Tag waren sie auch nach Terra Ceti gekommen. Die Kolonisten waren bereit gewesen beizugeben, da sie einer militärischen Übermacht nichts entgegen zu setzen hatten. Doch die anrückenden Truppen hatten darauf keine Rücksicht genommen. Die ersten Menschen, die sie in der Siedlung angetroffen hatten, waren einfach erschossen worden. Zwölf Kolonisten. Danach waren die restlichen Menschen zusammengetrieben worden. Ihnen wurde fast alles abgenommen, was sie besessen hatten. Danach waren willkürlich Siedler als Aufrührer ausgemacht und von den Truppen abgeführt worden, darunter auch Adrians Vater. Sie hatten nie wieder von ihm gehört.
Seit diesem Tag stand für Adrian fest, dass er gegen die Erde kämpfen würde. Solange, bis die Kolonien frei waren. Auch wenn es sein ganzes Leben dauern würde. Und wie es bisher aussah würde es genau darauf hinauslaufen. Die Erde hatte mehr Truppen, die besser organisiert und ausgebildet waren, und hatte die bessere Technologie. Die Kolonisten dagegen waren meist Zivilisten, die noch nie vorher gekämpft hatten. Ihre Waffen entstammten irgendwelchen Altbeständen, die sie auf Schwarzmärkten erworben hatten. In einem offenen Kampf hätten sie niemals eine Chance. Den Aufständischen blieb daher nur die Guerillataktik, um der Erde immer wieder zu schaden, in der Hoffnung, dass diese es irgendwann leid war und nachgab. Doch das war nicht in Sicht. Es war ein Kampf zweier ungleicher Gegner, die sich aber trotz ihrer Unterschiede gegenseitig nicht endgültig besiegen konnten. Mal gewannen die Erdstreitkräfte eine Schlacht, dann gelang es den Kolonisten die Erde empfindlich zu treffen. Die Opferzahl auf beiden Seiten stieg unaufhörlich an. Und jedes Mal, wenn die Erde wieder einen Sieg davon tragen konnte und mehrere Kolonisten dabei ihr Leben verloren hatten, wurde der Hass auf die Erde größer. Und jedes Mal gab es Freiwillige, die die frei werdenden Lücken wieder füllten. Auf diese Weise drehte sich die Spirale der Gewalt weiter. Wenn nicht eine Seite einen entscheidenden Vorteil erlangen würde, dann konnte dieser Kampf noch hundert oder mehr Jahre weitergehen.
Mit diesen Fremden konnten sie vielleicht diesen entscheidenden Vorteil erhalten. Ihre Technologie war offenbar weiter entwickelt als die der Erde. Ihr Raumschiff war deutlich größer und damit im Kampf wohl überlegen. Vielleicht stand der Sieg näher als er je zu träumen gewagt hatte. Doch dazu musste er sie überzeugen sich auf die Seite der Kolonisten zu schlagen. Zwar war er der Meinung, dass das möglich war, immerhin hatte Captain Sanawey bereits angedeutet, dass der Kontakt zur Erde gründlich schief gelaufen war. Aber sicher sein konnte er sich nicht.
Neben ihm im Jeep saß Isaac Oket, das gewählte Oberhaupt der Kolonie und Mitglied des politischen Widerstands. Oket war fünfundsechzig. Sein Haar war bereits weiß und sein Gesicht von Wind und Wetter sowie einem Leben voller körperlicher Arbeit gezeichnet. Aber seine blauen Augen strahlten noch immer Entschlossenheit und Ehrgeiz aus.
Er war vor vierzig Jahren von der Erde gekommen. Niemand wusste etwas über seine Vergangenheit und seine Beweggründe, die Erde zu verlassen. Aber es musste etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein, denn er ließ kein gutes Haar an seinem einstigen Heimatplaneten. Die Kolonie hatte er in einer schweren Krise vorgefunden. Die Besiedelung lag bereits fünfzig Jahre zurück, doch es ging nicht recht vorwärts. Der Euphorie der Anfangsjahre hatten die harten Steuern der Erde ein Ende gesetzt. Der Krieg gegen die Tellariten war teuer gewesen und so waren die Steuern heraufgesetzt worden. Alles zum Wohle der Menschheit, die sich erst in Sicherheit wiegen durfte, wenn diese Bedrohung beseitigt war, wie es geheißen hatte.
Den Kolonisten war dieser Krieg jedoch egal gewesen. Die Tellariten hatten ihnen nie etwas getan. Wenn man mal von ihrer Verschlagenheit absah, dann waren sie sogar ganz gute Handelspartner gewesen. Mit ihrer Auslöschung war auch eine wichtige Einnahmequelle der Kolonie weggefallen.
Isaac Oket engagierte sich von Anfang an für die Kolonie. Für ihn war es offenbar die Chance es der Erde zu zeigen. Wenn er eine sich selbst versorgende Kolonie errichten konnte, die die Unabhängigkeit von der Erde erreichen würde, dann hätte er am Ende triumphiert. Und so trieb er die Kolonisten immer wieder zu Höchstleistungen an und hatte es geschafft, die Krise zu überwinden und ein stetiges Wachstum zu erreichen. Zur Unabhängigkeit hatte es jedoch bis heute nicht gereicht.
Zügig steuerte er den Wagen über die staubige Steinstraße zum Flugplatz. Der längst geplante Ausbau der Straße musste immer wieder verschoben werden, da sie nicht genügend Teer zusammen bekamen für den Straßenbelag. Ein Handicap für den Handel, da die Güter vom Flugplatz aus über die schlechten Straßen zu den Siedlungen gebracht werden musste. Besonders nach dem Markt, wenn die Straße von der ausgiebigen Nutzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden war. Dann reihten sich Schlaglöcher aneinander wie bei einem Schweizer Käse. Wenn dann noch die Regenzeit kam und diese Löcher ausschwemmte, dann wurde die Straße beinahe unpassierbar. Nur die Wege innerhalb der Siedlung waren asphaltiert. Das hatte Vorrang gehabt, da hier die meisten Menschen zu Fuß unterwegs waren. So konnte der Komfort wenigsten hier gehoben werden.
Sie schwiegen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Cruz hatte Oket bereits über alles informiert, was er selbst erfahren hatte. Sie hegten große Hoffnungen auf dieses Treffen, aber die Furcht in eine Falle zu treten und damit alles zu verlieren war dennoch gegenwärtig.
Schließlich bogen sie auf das Flugfeld ein. Der Flugplatz hatte eine lange Landebahn, da einige Völker, mit denen sie Handel trieben, Raumfahrzeuge besaßen, die beim Start und der Landung eine Bahn brauchten. Die meisten aber konnten senkrecht landen und starten.
Derzeit war nicht viel los. Die meisten Händler würden erst in den nächsten Tagen erscheinen, wenn der Markt unmittelbar bevorstand. Ohne den Markt zog es nur wenige Händler und Besucher in die Kolonie.
Sie fuhren am Tower vorbei und an einigen Lagerhallen, in denen die gehandelten Waren umgeschlagen werden konnten. Alles musste mit fahrenden Wagen in die Siedlungen gebracht werden, da die Kolonie nicht über Shuttles verfügte. Insgesamt standen der Kolonie nur drei Schiffe zur Verfügung, die im Vergleich zu den Schiffen der Erde nicht sonderlich groß waren, aber doch zu groß um innerhalb eines Planeten eingesetzt zu werden.
Mit einem abrupten Bremsmanöver brachte Oket den Wagen zum Stehen. Nur wenige Meter entfernt würde in einigen Minuten das Shuttle der Fremden landen. Sie verließen das Auto und lehnten sich gegen die Motorhaube. Oket sah dabei in den trüben Himmel und versuchte etwas zu erkennen. Doch außer Wolken war nichts zu sehen.
„Sie müssten sich doch bereits im Landeanflug befinden“, brummte er. „Offenbar halten sie nicht viel von Pünktlichkeit.“
Noch bevor Cruz etwas sagen konnte ertönte ein mechanisches Summen, dann materialisierten sich auf dem Landeplatz vier Personen. An den Uniformen erkannte Cruz sofort, dass es die erwarteten Gäste waren. Erstaunt sah er Oket an. Nicht im Traum hätte er daran gedacht sich selbst durch einen Transporter schicken zu lassen.
Die Fremden kamen näher. Der Mann mit der bronzefarbenen Haut sprach zuerst und wandte sich direkt an Oket. „Ich bin Captain Sanawey, vom Föderationsraumschiff Republic
. Ich danke Ihnen für die Einladung und freue mich hier zu sein.“ Er streckte ihm dabei die Hand entgegen.
Oket erwiderte den Händedruck. „Willkommen auf Terra Ceti, Captain. Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Ich bin Isaac Oket, der oberste Verwalter der Kolonie. Meinen Kollegen Adrian Cruz haben Sie ja bereits kennen gelernt.“
Sanawey nickte freundlich und schüttelte auch ihm die Hand. Dann stellte er seine Begleiter vor. „Dr. Elizabeth Williams, unsere Bordärztin, Kassaja Holgrem, Sicherheitsabteilung und Mr. Sohral, Wissenschaftsoffizier.“
Als der Vulkanier vorgestellt wurde blieben die Blicke der beiden Kolonisten gebannt in ihm hängen. Es war beinahe, als konnten sie nicht glauben, was sie sahen. Als ob ein Fabelwesen, das nur in Legenden existierte, plötzlich zum Leben erweckt worden wäre und vor ihnen stand. Vor allem Oket machte den Eindruck, als habe er bisher nicht glauben können, was Cruz ihm erzählt hatte. Was nicht verwunderlich war, wenn man bedachte, was mit Vulkan geschehen war.
„Willkommen“, wiederholte Oket schließlich noch einmal, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Bitte verzeihen Sie uns unsere Überraschung. Aber es grenzt an ein Wunder mal wieder einen Vulkanier zu Gesicht zu bekommen. Einen, den wir bisher noch nicht kannten.“
„Zudem ist Ihre Art zu reisen auch nicht gerade gewöhnlich“, ergänzte Cruz.
„Sie nutzen nicht die Transportertechnologie?“ platzte es aus Williams überrascht heraus.
„Nein, nicht für Lebewesen. Die Technologie ist noch nicht sicher genug. Selbst Waren werden nur selten gebeamt. Einige der Händler, die uns besuchen, beamen vor allem die großen Gegenstände. Aber niemand würde auf die Idee kommen, selbst da hindurch zu gehen. Alleine der Gedanke, sich in seine einzelnen Atome zerlegen zu lassen, ist schon abwegig“, erklärte Oket. Sein Tonfall ließ eindeutig die Schlussfolgerung zu, dass er der Meinung war, die Fremden hatten sich nur beamen lassen um ihre Überlegenheit zu demonstrieren.
Williams schien das jedoch nicht gemerkt zu haben. Sie ging auf Okets Antwort ein. „Da wo wir herkommen sind die Transporter das sicherste System überhaupt. Transporterunfälle sind extrem selten. Der letzte mir bekannte liegt gut acht Jahre zurück. Ohne Transporter würde unsere Welt nicht mehr funktionieren.“
Ob diese Worte Okets Meinung über die Angeberei der Fremden änderte oder nicht ließ er sich nicht anmerken. Stattdessen machte er eine einladende Geste zum Wagen. „Ich bin sicher, wir haben interessante Gespräche vor uns. Bitte, steigen Sie ein, wir sollten im vorbereiteten Raum des Senates weiter sprechen.“
Die Offiziere der Republic
folgten der Einladung und stiegen ein. Der Geländewagen bot Platz für sieben Personen, so dass es kein Problem gab alle unterzubringen. Sanawey kam sich vor wie bei einer Reise in die Vergangenheit. Ein Fahrzeug auf vier Rädern war auf seiner Erde nur noch in Museen oder bei ausgewählten Sammlern zu finden. Vom Surren des Motors her tippte er auf einen stromgetriebenen Motor. Ein besonders kraftvoller, wie er während der Fahrt feststellen musste. Aufgrund der technologischen Entwicklung bedurfte es auch nicht mehr besonders großer Batterien um eine solche Leistung zu ermöglichen. Eine primitive fossile Energiequelle als Antrieb, wie während des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, war damit nicht mehr nötig.
Als sie sich der Siedlung näherten sah Sanawey, dass es sich bei den Gebäuden zumeist um zweistöckige Bauten handelte, die sich alle mehr oder weniger glichen. Es waren Standardbauten der Erde, die bei Kolonisierungen häufig verwendet wurden. Auf diese Art ließ sich schnell und einfach eine erste Siedlung aufbauen, die den Kolonisten ein Dach über dem Kopf bescherte. Und wenn die Siedlung wuchs konnten die Gebäude auch leicht abgebaut und anderswo wieder aufgebaut werden. Genau das schien hier geschehen zu sein. Denn im Zentrum sah Sanawey massive Steinbauten, die sicher erst später entstanden waren. Um dafür Platz zu schaffen hatte man die ursprünglichen Gebäude an den Stadtrand verlagert und somit die Siedlung erweitert.
„Wir haben uns für diese massiven Steinbauten entschieden, da wir der Meinung sind, diese sind am ehesten geeignet lange Zeit ohne Wartung zu überstehen“, erklärte Cruz, der Sanawey Blick offenbar bemerkt hatte. „Auf der Erde sind es auch diese Gebäude, die heute noch am besten erhalten sind. Diese Bauten aus dem 17. und 18. Jahrhundert haben die Zeiten überdauert, während moderneres immer wieder abgerissen und ersetzt wird. Da wir aber hier nicht die Mittel dafür haben, müssen wir etwas Dauerhafteres erschaffen. Was übrigens auch mehr unserem ganzen Denken entspricht.“
Sanawey nickte beeindruckt. Wenn er das bisher Erfahrene richtig deutete, dann hatten die Kolonisten unter schwierigen Bedingungen wirklich ganze Arbeit geleistet.
Sie hielten vor einem Gebäude, dessen Eingangsbereich mit Säulen verziert war. Beeindruckt sah Sanawey hinauf. Es hatte etwas von einem römischen Tempel und doch wiederum seinen eigenen Stil. Drei Steinfiguren zierten das Dach über dem Eingang.
„Das ist unser Senat. Von hier aus regieren die gewählten Vertreter unsere Kolonie. Jede Stadt darf, abhängig von ihrer Größe, gewählte Vertreter in den Senat entsenden. Derzeit gibt es dreißig Senatoren“, erklärte Oket nicht ohne Stolz. „Die Statuen dort oben stellen die Gründungsväter der Kolonie dar. Natürlich bestand die erste Siedlergruppe aus deutlich mehr Personen, doch diese drei, Karl Weisz, Derek Umbogo und Chris Penn, waren die ersten Oberhäupter und sorgten dafür, dass die Besiedelung dieses Planeten erfolgreich verlief. Nach ihrem Tod wurde ihnen dort oben ein Denkmal gesetzt.“
Sie betraten das Gebäude. Glänzende Steinböden und eingemeißelte Verzierungen an den Wänden ließen die Gedanken an das römische Imperium nicht los. Vielleicht hatte es dort vor mehr als zweitausend Jahren einmal so ähnlich ausgesehen. Sanawey gelang auch ein kurzer Blick in den Senatsraum. Er war kreisrund. Ein Säulengang verlief ringsherum der Wand entlang. Im Raum selbst befand sich eine Tischreihe, die kreisrund durch den Raum verlief. Und in der Mitte war auf dem Steinboden das Bild des Planeten gemalt, das den besiedelten Teil dieser Welt zeigte. Der runde Tisch symbolisierte, dass niemand der Senatoren wichtiger war als ein anderer, erklärte Cruz. Und das Abbild des Planeten sollte sie stets daran erinnern, dass sie hier waren um dem Wohle der Kolonie zu dienen.
Der Besprechungsraum, den sie betraten, war aber dann doch mit einem rechteckigen Tisch ausgestattet. Ein Kompromiss an die Praxistauglichkeit. Runde Tische ließen einfach zu viel toten Raum zurück. Und ein Haus mit lauter runden Zimmern zu bauen war utopisch.
Sanawey nahm mit seinen Leuten auf der einen Seite des Tisches Platz, während Oket und Cruz sich auf die andere Seite setzten. Dort saßen bereits eine Frau und ein Mann, die sich als weitere Senatoren vorstellten.
Die Frau hieß Esther Barre und kam aus der zweitgrößten Siedlung. Ihr hageres Gesicht wurde von wirren dunklen Haaren umspielt, durch die sich bereits graue Strähnen zogen. Eine dunkle Brille saß auf ihrer Nase und gab ihr das Aussehen einer Eule. Ihr ganzer Körper war hager und ihre Hand so knochig, dass man bei einem Händedruck den Eindruck gewann, jeden Moment die Hand zu zerdrücken.
Der Mann war jünger und erst seit der letzten Wahl Senator. Er stellte sich als Henry John vor. Auch er war hier in der Siedlung geboren. Seine kurz geschorenen Haare ließen erkennen, dass er eigentlich blond war. Das auffälligste Augenmerk an ihm war seine große Nase, die sein Gesicht zierte und ihm ein geierähnliches Aussehen gab.
Alle anwesenden Senatoren gehörten dem politischen Widerstand an. Nicht alle Senatoren gehörten dazu, das erfuhren die Offiziere der Republic
erst später. Zwar wusste jeder, dass es den Widerstand gegen die Erde gab. Doch wer sich nicht aktiv daran beteiligte wurde in genauere Pläne nicht eingeweiht. Das sollte zum einen den Widerstand selbst schützen. Zum anderen aber auch die Personen, die nicht aktiv teilnahmen. Sollte der Widerstand auffliegen, dann konnten Unbeteiligte glaubhaft versichern, nicht zu wissen, was alles geplant wurde.
Etwas enttäuscht registrierte Sanawey, dass keiner der angekündigten Vulkanier im Raum war. Eigentlich war das doch der wichtigste Grund, weshalb sie sich hier befanden. Nun, sie würden fragen müssen, wenn sich die Gelegenheit bot.
Isaac Oket begrüßte die Gäste noch einmal offiziell und bot ihnen etwas zu trinken an. Besonders empfahl er dabei das örtliche Gewächs, das im Geschmack Kaffee ähnelte. Nachdem alle versorgt waren nahm Oket das Gespräch auf.
„Es ist uns eine große Freude, Sie hier bei uns begrüßen zu dürfen. Es kommt nicht oft vor, dass wir hier so bedeutende Gäste empfangen können. Bitte fühlen Sie sich hier ganz wie zu Hause und nehmen Sie unsere Einladung an, hier in unserer Kolonie einige freie Tage zu verbringen.“
Sanawey lächelte nachsichtig. Offenbar war es Oket wichtig noch seine Kolonie anzupreisen. Was er im Prinzip auch verstehen konnte, auch wenn er auf ganz andere Dinge zu sprechen kommen wollte.
„Unsere Kolonie wurde vor etwas mehr als neunzig Jahren gegründet. Wir waren die vierte menschliche Kolonie, die außerhalb des irdischen Sonnensystems gegründet worden war. Und die bis heute am weitesten entfernte von der Erde. Daher erreichen uns nur verhältnismäßig wenig der vielen Flüchtlingsschiffe, die die Erde verlassen um irgendwo anders ein neues Leben zu beginnen. Trotzdem muss ich zugeben, dass uns der rasante Bevölkerungsanstieg ein wenig Sorgen bereitet.“
„Wie können Sie hier alles für Ihren täglichen Bedarf beschaffen?“ wollte Sohral interessiert wissen. „Die Transportwege zur Erde sind lang und der Planet selbst besitzt nicht genügend Ressourcen.“
Oket setzte ein stolzes Lächeln auf. Offenbar gefiel es ihm, dass sich seine Gäste für die Kolonie interessierten. „Zum einen ist der Planet sehr fruchtbar“, begann er. „Wir können so ziemlich alles, was wir brauchen, selbst anbauen. Einige irdische Pflanzen wachsen hier, aber es gibt auch essbare einheimische Pflanzen. Und wir bauen wesentlich mehr an, als wir verbrauchen. So bleibt noch etwas für den Handel übrig. Zum anderen bietet unsere Lage einen Vorteil, den andere Planeten nicht haben. Wir befinden uns in einem Grenzgebiet. Mehrere fremde Rassen kreuzen hier ihre Wege. Wir bieten ihnen einen Platz zum Handeln an. Gegen eine kleine Gebühr versteht sich. So verdienen wir an den hier stattfindenden Märkten und können gleichzeitig noch Dinge kaufen, die wir selbst nicht produzieren können und verkaufen dabei auch unsere Überschüsse. Die Orioner fahren wahnsinnig auf grüne Äpfel ab“, lächelte Oket.
„Faszinierend“, meinte Sohral und hob die rechte Augenbraue an. Das war es in der Tat. Niemand aus der Republic
-Besatzung hatte schon etwas Ähnliches kennen gelernt. Da es in der Föderation kein Geld mehr gab waren solche Gesetze des Wirtschaftskreislaufes nicht mehr geläufig. Dass man mit der zur Verfügungsstellung eines Platzes eine auf Währung basierende Entschädigung bekam war wirklich interessant. Und auch, dass der Bedarf dafür anscheinend so groß war.
„Welche Rassen handeln bei Ihnen?“ stellte Sohral eine weitere Frage. Diese Thematik war wohl nicht uninteressant für ihn.
„Regelmäßig besuchen uns die Orioner, die Denobulaner und die Benziten. In unregelmäßigen Abständen sind auch Xindi, abtrünnige Andorianer und eine Spezies namens Cardassianer da.“
„Xindi?“ entfuhr es Sanawey überrascht. „Welche Spezies?“
„Primaten und Humanoide. Sie leiden sehr unter der Herrschaft der Reptilianer. Daher versuchen sie immer wieder hier ein günstiges Geschäft zu machen“, erklärte Cruz.
„Die Reptilianer beherrschen die Xindi?“ wiederholte Sanawey etwas ungläubig. Er wechselte einen vieldeutigen Blick mit Sohral. Von einer Dominanz einer der Xindi-Spezies hatte er noch nie gehört. Aber über das rätselhafte Volk war ohnehin wenig bekannt. Und die detailliertesten Informationen waren immerhin schon hundert Jahre alt. Seitdem konnte sich viel verändert haben.
„Wie verhalten sich die anderen Xindi-Spezies?“ stellte Sohral die nächste logische Frage.
„Andere Xindi-Spezies?“ Oket sah ihn verwirrt an. „Ich finde drei sind schon genug. Mehr gibt es nicht.“
Sohral nickte nur, behielt weitere Informationen aber für sich. Er wollte nicht zuviel preisgeben. Die oberste Direktive der Nichteinmischung in weniger weit entwickelte Kulturen hatte für ihn immer noch Bestand.
„Sie interessieren sich sehr für die Xindi, wie es scheint. Gibt es nicht gefährlichere Rassen, wie etwa die Klingonen?“ wunderte sich Esther Barre.
„Wo wir her kommen sind die Xindi ein geheimnisvoller Mythos, während wir über die Klingonen einiges wissen. Daher die Faszination für diese rätselhafte Spezies“, versuchte Sanawey zu beschwichtigen. Er wollte das Thema beenden, bevor zu viele Fragen gestellt werden konnten. Schließlich wollte er das Gespräch zum eigentlichen Grund ihres Treffens lenken. „Wie kommen Sie zu den ganzen Informationen, die Sie über Vulkan gesammelt haben? Der Planet scheint vor knapp zweitausend Jahren zerstört worden zu sein.“
Oket nickte. „Das ist wahr. Doch eine Wendung des Schicksals hat dieses Volk wieder zurück gebracht. Zumindest zurück in unser Bewusstsein. Deswegen ist es ist für uns fast ein Wunder, dass wir mit Ihnen, Mr. Sohral, einen Vulkanier als unseren Gast begrüßen dürfen. Wir hielten alle Mitglieder Ihrer Rasse für ausgestorben. Es konnte keinen Grund zur Vermutung geben weitere Überlebende zu treffen. Dazu liegt die Katastrophe zu weit zurück“, erklärte Oket seine Freude.
„Mit Ausnahme der hier lebenden Vulkanier“, sagte Sanawey. „Zumindest wurde uns das gesagt.
Oket nickte. „Das ist richtig. Sie sind die letzten Überlebenden. Auch wenn es scheint, dass sie ein wenig anders sind als Sie.“ Er nickte Sohral zu.
„Inwiefern?“ wollte der Vulkanier wissen.
„Äußerlich gibt es keine Unterschiede“, begann er zögernd. „Aber von der Art her. Unsere Freunde sind nicht ganz so...“ Er suchte offenbar nach dem richtigen Wort. „Logisch“, sagte er schließlich. „Aber vielleicht ist das auch nur eine persönliche Note von Ihnen. Die ich im Übrigen sehr angenehm finde“, fügte er schnell diplomatisch hinzu.
Sanawey musste sich ein Lächeln verkneifen. Dass die sture Logik manchmal auch anstrengend sein konnte behielt er lieber für sich. Trotzdem verwunderte ihn die Bemerkung Okets. Waren seine Vulkanier nicht logisch?
Sohral kam ihm zuvor. „Bis vor zweitausend Jahren war die Vulkanier ein emotionales Volk. Dies führte soweit, dass wir uns in einem atomaren Krieg beinahe selbst ausgelöscht hätten. Doch bevor es dazu kommen konnte führte der Philosoph Surak mein Volk zurück auf den rechten Weg. Wir lernten unsere Gefühle zu kontrollieren und schließlich sie in den hintersten Winkel unseres Selbst zu verbannen. Unser Handeln wird seitdem von der Logik bestimmt.“
Oket nickte langsam. „Ich denke, wir begeben uns nun zu einem Thema, das alle interessieren wird. Wir sollten unsere Verbündeten daher herein bitten.“
Auf seinen Wink hin stand Henry John auf und ging zur Tür. Nur wenige Augenblicke traten zwei hochgewachsene Gestalten ein, deren schlanker, athletischer Körperbau ihren gesunden Lebenswandel andeutete. Sie trugen traditionelle vulkanische Zeremoniengewänder. Zusammen mit ihrem aufrechten Gang und ihrer ernsten Mimik strahlten sie eine Würde aus, die niemand sonst im Raum erreichen konnte.
Alle Anwesenden erhoben sich, als die Vulkanier den Raum betraten. Sie blieben vor dem Tisch stehen und hoben ihre linke Hand zum traditionellen Vulkaniergruß. „Lebe lang und in Frieden“, begrüßten sie die Offiziere der Republic
.
Sanawey erwiderte den Gruß während die anderen nur grüßend nickten.
„Das sind Lorat und T’Lor“, stellte Oket die beiden vor.
Lorat streckte Sanawey die flache Hand hin und lächelte. „Es ist schön Sie endlich persönlich kennenzulernen. Wir haben bereits viel von Ihnen gehört. Besonders die Daten, die Sie Mr. Cruz freundlicherweise überlassen hatten, sind sehr interessant.“
Etwas überrascht nahm Sanawey die ihm dargebotene Hand an und drückte sie. Ein lächelnder Vulkanier erschien ihm irgendwie suspekt. Der Reihe nach stellte er seine Offiziere vor, Sohral zuletzt. Die beiden Vulkanier reichten auch ihm die Hand, doch Sohral begnügte sich mit dem vulkanischen Gruß und ignorierte die dargebotenen Hände. Eine etwas unangenehme Pause entstand, die Sanawey schnell zu überbrücken versuchte. „Gestatten Sie es, dass Dr. Williams Sie scannt? Wir wollen uns einfach nur davon überzeugen, dass Sie wirklich echte Vulkanier sind.“
T’Lor zog die rechte Augenbraue an, eine vertraute Geste. Doch dann umspielte ein Lächeln seine Lippen. „Sie sind sehr misstrauisch, Captain. Aber wie sagt eines Ihrer Sprichworte: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Dann wandte er sich an die Ärztin. „Natürlich dürfen Sie uns untersuchen. Wir haben nichts zu verbergen.“
Während der kurzen Untersuchung strahlten die beiden Vulkanier wieder eine Ruhe aus, die typisch war für dieses Volk. Nichts deutete auf irgendwelche Emotionen hin. Williams sah ihre Ergebnisse an und nickte Sanawey dann zu. „Sie sind zweifelsfrei Vulkanier.“
„Keine Überraschung für uns“, zwinkerte T’Lor der Ärztin zu, dann setzten sie sich mit an den Tisch.
Als alle saßen wanderte Sanaweys Blick zwischen Oket und den Vulkaniern hin und her. Schließlich meinte er: „Es ist unglaublich. Wir haben die Überreste Vulkans gesehen. Es ist kaum zu glauben, dass irgendjemand das überlebt haben könnte.“
„Wir hatten Vulkan verlassen, bevor es zur Katastrophe gekommen war“, erklärte Lorat. „Wir waren auf einer großen Mission, die den Beweis erbringen sollte, dass wir nicht alleine sind im Universum. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte noch kein bemanntes Raumschiff unser Sonnensystem verlassen. Mit einem Schläferschiff sollte es bis zum benachbarten System gehen. Eine unbemannte Sonde hatte wenige Jahre zuvor ein Signal übermittelt, das auf Leben schließen ließ. Da wir noch nicht über den Warpantrieb verfügten blieb uns nur der Weg des Einfrierens.
Wir starteten im Jahre 12548 unserer Zeitrechnung. Planmäßig hatten wir unser Ziel erreicht. Es gab zwar kein intelligentes Leben im Zielsystem, aber es gab Leben. Es war äußerst faszinierend für uns auf einem fremden Planeten zu stehen. Wir waren die ersten Vulkanier, die einen Fuß auf einen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems gesetzt hatten. Es war ein erhabenes Gefühl.
Wir wussten, dass inzwischen knapp zweihundert Jahre vergangen waren. Ein ganzes Vulkanierleben. In all der Zeit hatten wir keine Nachricht unseres Heimatplaneten bekommen. Was uns jedoch nicht weiter verwunderte. Wir waren weit entfernt und auch eine Nachricht hätte Zeit gebraucht uns zu erreichen. Dass Vulkan zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr existierte, hätten wir nie gedacht. So traten wir planmäßig unseren Rückflug an. Wir versetzten uns wieder in den Tiefschlaf und erwarteten, daheim wieder aufzuwachen. Doch als unser automatisches Weckprogramm uns reaktivierte, fanden wir keinen Planeten vor, nur noch Trümmer. Zuerst dachten wir, wir wären vom Kurs abgekommen. Leider wurde es dann doch traurige Gewissheit, dass Vulkan zerstört war.
Die einzig sinnvolle Konsequenz war es, uns wieder in den Tiefschlaf zu versetzen. Wir dachten, sollte es irgendwann ein Volk geben, das Raumfahrt betreibt, dann würde es uns finden. Wir wollten dann sehen, ob wir unser restliches Leben bei diesem Volk verbringen können. So verbrachten wir beinahe zweitausend Jahre im Tiefschlaf. Dann wurden wir von Mr. Cruz und seinen Kameraden gefunden und geweckt.“
Sanawey nickte nachdenklich. „Und dann haben Sie sich den Kolonisten angeschlossen?“
„Wir hatten ein Schläferschiff“, erinnerte T’Lor ihn. „Es besaß keinen Warp-Antrieb. Zwar hatten wir genug Energie, denn das Schiff war auf permanente Energieerzeugung ausgerichtet, aber was hätten wir sonst tun sollen? Wir hätten weiterhin im Tiefschlaf bleiben können, doch wie lange noch? Die Schläfertechnik vermindert zwar die Körperaktivität, stellt sie jedoch nicht komplett ein. Das heißt, auch im Tiefschlaf altert man, wenn auch wesentlich langsamer. Trotz allem hätten wir nicht ewig weiterschlafen können.“
„Es gab also keine Alternative“, fuhr Lorat fort. „Worauf hätten wir auch noch länger warten sollen? Wir kannten kein fremdes Volk und die Menschen schienen uns so ähnlich zu sein, dass es ein logischer Schritt war. Wir haben es nie bereut, auch wenn die Menschen nicht in jeder Hinsicht so sind wie wir“, zwinkerte er.
Sanawey sah Lorat direkt an. „Wieso zeigen Sie Ihre Emotionen? Ist das nicht etwas untypisch für Vulkanier?“
Überraschung zeigte sich auf dem Gesicht Lorats, dann lachte er. „Ach ja, das haben wir Ihren Unterlagen entnehmen können. Die Vulkanier gelten als emotionslos. Ausgerechnet wir Vulkanier.“ Er schüttelte verwundert den Kopf. „Wir haben gelesen, dass Surak die Vulkanier gerettet hatte. Ich hätte nie gedacht, dass er Erfolg haben würde. Nicht so.“
„Sie kannten Surak?“
„Ja, sogar persönlich. Ein interessanter Charakter. Er predigte die Abkehr von den Gefühlen und die Lehre der reinen Logik. Und ich muss zugeben, er hatte viel Zulauf, vor allem von den ärmeren Vulkaniern. Doch er war nie ernsthaft in der Lage etwas ändern zu können. Dazu war er zu unbedeutend und seine Lehren zu radikal. Ein Ereignis in der Ihnen bekannten Geschichte musste dafür gesorgt haben, dass sich alles geändert hatte.“
„Es brach ein Krieg aus, der Vulkan an den Rand der Vernichtung brachte“, erklärte Sohral sachlich. „Oder wie es die Menschen bezeichnen würden: Es ist ein Wunder, dass die Vulkanier überlebt hatten.“
„Das würde erklären, warum Surak doch noch Erfolg hatte“, nickte Lorat nachdenklich.
„Das heißt, Sie sind noch vor Surak aufgebrochen. Als alle Vulkanier ihre Gefühle noch auslebten“, schlussfolgerte Sanawey.
„Das ist richtig. Und ich bin froh darüber. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein soll, seine Gefühle einfach zu ignorieren. Ein Geschenk, das uns von Tieren unterscheidet. Nicht mehr fühlen, heißt doch, dass wir uns nicht anders verhalten würden als Roboter.“
„Wir ignorieren unsere Emotionen nicht, wir kontrollieren sie“, verbesserte Sohral ihn.
„Oh, das macht es ja gleich viel besser“, brachte Lorat sarkastisch zurück. Noch bevor er mehr sagen konnte berührte T’Lor ihn kurz am Arm und gab ihm zu verstehen, dass er besser schweigen sollte. So verbiss sich Lorat weitere Kommentare.
„Captain, wir würden Sie bitten, noch einige Zeit unsere Gäste zu sein“, sagte Oket in die entstandene Stille hinein. „Wir wissen, dass Sie derzeit keine Möglichkeit haben nach Hause zu kommen. Daher können Sie bei uns bleiben, solange es Ihnen beliebt.“
„Vielen Dank“, nickte Sanawey. „Wir werden Ihre Gastfreundschaft gerne annehmen. Vielleicht gibt es auch etwas, das wir für Sie tun können, um uns so zu revanchieren.“
„Sie kommen aus einer anderen Zeitlinie?“ fragte Lorat mitten hinein.
„Ja, das ist wahr“, bestätigte Sanawey.
„Und was wollen Sie nun tun? Den Zeitablauf wieder ändern?“
Sanawey zögerte kurz. Sollte er lügen. „Wir wollen ihn wieder richtigstellen, ja“, entschied er sich für die Wahrheit.
Lorat nickte. „Das kann ich verstehen. Aber Ihnen ist bewusst, dass wir dann alle aufhören würden zu existieren?“ Ein vorwurfvoller Unterton schwang in seiner Stimme mit.
Die Augen aller Anwesenden richteten sich auf Sanawey. Die Ahnung, was diese Aussage bedeutete, lag mit einem mal in der Luft. Bisher hatte Sanawey ihre Pläne nicht einmal angedeutet, daher wussten auch Oket und Cruz noch nichts von dem Vorhaben, die Zeitlinie zu korrigieren. Er musste seine Worte mit Bedacht wählen, um nicht von vornherein eine unnötige schwere Ausgangslage zu schaffen. „Das ist nicht gesagt. Die Quantenphysik beschreibt unendlich viele parallel existierende Dimensionen, in der jede Entscheidung, jede Wendung der Geschichte vorkommen kann. Es ist daher unwahrscheinlich, dass dieses Universum aufhören würde zu existieren“, betonte er.
T’Lor lächelte. „Ich denke, wir müssen nicht jetzt über dieses Thema diskutieren.“
„Das ist richtig“, stimmte Oket schnell zu. Er wollte vermeiden, dass jemand verärgert wurde. Er brauchte weiterhin die Vulkanier. Aber er brauchte die Menschen der Republic
ebenso. Sie schienen über eine weiter entwickelte Technologie zu verfügen als jedes andere Volk dieses Universums. Vielleicht waren sie das Wunder, auf das er gehofft hatte. Mit ihrer Hilfe konnte die Kolonie die derzeitige Krise hoffentlich heil überstehen.
„Wir haben Quartiere für Sie vorbereitet“, lud Oket sie noch einmal ein. „Sie dürfen gerne auf dem Planeten bleiben.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, entgegnete Sanawey höflich. „Wir ziehen es allerdings vor, auf unser Schiff zurückzukehren. Sie können uns jederzeit kontaktieren. Und mit unseren Transportern ist ein kurzfristiges Treffen jederzeit möglich. Im Übrigen würde ich Sie alle gerne auf unser Schiff einladen. Ich denke, eine kleine Führung wird Sie beeindrucken. Wir sind sehr stolz auf unser Schiff.“
„Die Einladung nehmen wir gerne an. Bevor Sie allerdings aufbrechen möchte ich Sie bitten, morgen an einem Empfang teilzunehmen. Ein Sondergesandter der Erde wird uns besuchen. Ich würde Sie gerne einander vorstellen.“
„Ein Sondergesandter?“ Sanawey sah fragend in die Runde. Hatte man ihm nicht erzählt, die Kolonie stände nicht sehr gut zur Erde? Wieso dann der Besuch eines Gesandten? „Gibt es dafür einen besonderen Anlass?“
Oket schien den Grund der Frage sofort zu begreifen. Offenbar fürchtete der Captain eine Falle. Eine absolut nachvollziehbare Sorge, wenn man an die Erfahrungen der Crew dachte. „Nein, es gibt keinen besonderen Grund. Aber wir gehören noch immer zur Erde, auch wenn wir eine gewisse Autonomie genießen dürfen und uns selbst regieren können.“ Er konnte nur hoffen, dass Sanawey das glaubte. Auf gar keinen Fall wollte er ihm die Wahrheit über die Situation sagen. Die Angst, dass die Fremden wieder abreisten, um sich aus dem Konflikt herauszuhalten, war einfach zu groß.
Doch die Gäste der Kolonie gingen nicht weiter darauf ein. Dies geschah zwar aus reiner Höflichkeit, um Oket nicht in Verlegenheit zu bringen, doch das wusste der Senator nicht. Stattdessen bedankte er sich für den ersten Besuch. Für ein erstes Kennenlernen war der kurze Termin bestens geeignet gewesen. Weitergehende Gespräche sollten folgen, schlug Oket vor.
Die Offiziere der Republic
erhoben sich und Bewegung kam in den Raum. Mit einem Händedruck verabschiedete man sich. Nur wenig später waren Sanawey und seine Leute wieder auf dem Schiff. Sie hatten sich direkt aus dem Senat beamen lassen. Ein Umweg über den Flugplatz war völlig unnötig.
Als die Besucher wieder fort waren sah Oket in die Runde. „Was halten Sie von unseren Gästen?“ fragte er aufmunternd. Er wollte ehrliche Antworten hören.
„Sie sind interessant“, meinte Lorat und amte dabei den logischen Sohral nach. Dann lächelte er. „Ich bin sehr gespannt auf die weiteren Treffen. Vor allem mit Sohral. Unser Volk scheint in ihrem Universum eine interessante Entwicklung gemacht zu haben.“
„Und wir scheinen viel von ihnen lernen zu können“, pflichtete Esther Barre ihm bei. „Wenn für sie der Transporter schon so normal ist, was haben sie denn dann noch alles? Es könnte für die Entwicklung unserer Kolonie von Vorteil sein, wenn wir sie davon überzeugen könnten hier zu bleiben. Eine große Wahl haben sie ja wohl ohnehin nicht.“
„Das ist alles wahr, aber mussten Sie sie unbedingt für morgen einladen?“ kritisierte Henry John. „Noch kennen wir sie nicht und wir wissen nicht, was sie vielleicht im Schilde führen. Was, wenn sie hier sind, um den Sondergesandten zu entführen oder so etwas. Was, wenn sie von der Erde geschickt wurden, um die Situation eskalieren zu lassen, damit die Erde einen Vorwand hat, um hier einzumarschieren?“
„Das glauben Sie doch nicht im Ernst?“ gab Oket erstaunt zurück.
„Warum nicht? Was haben wir als Gegenbeweis? Ihre Aussagen. Aber was sind die Wert, wenn man die Menschen, die sie treffen, nicht kennt?“
Oket schüttelte den Kopf. Ihm wurde immer schleierhafter, wie ein Mann wie Henry John in den Senat gewählt werden konnte. „Das kann wohl kaum Ihr Ernst sein? Außerdem haben wir Berichte von der Erde erhalten, wonach vor einigen Tagen ein großes, fremdes Raumschiff aufgetaucht ist und festgehalten wurde. Das passt zu deren Schilderungen.“
„Und was, wenn das alles inszeniert war, mit dem Ziel uns zu täuschen?“ Als ihn die Blicke der anderen trafen hob er abwehrend die Hände. „Mag vielleicht sein, dass ich Gespenster sehe, aber denke einfach, es war ein Fehler sie einzuladen. Wir kennen sie nicht gut genug. Ich bin nur vorsichtig.“ Er war sich sicher, überzeugend zu wirken. Ihm passte es nicht sonderlich, dass die Fremden beim Empfang mit dem Sondergesandten dabei waren. Sie waren ein Unsicherheitsfaktor und passten nicht in seine Pläne. Was, wenn sich William Russel durch die Fremden abhalten ließ? Er konnte ohnehin nicht sicher sein, ob Russel wirklich das tat, was er hoffte. Aber das alles konnte er kaum vorbringen. So blieben seine Argumente fadenscheinig und er merkte, dass er aufgeben musste. Sollten die Fremden doch dabei sein. Sie würden nichts verhindern können. Das versuchte er fest zu glauben.
„Wir haben Ihre Vorsicht zur Kenntnis genommen“, sagte Oket leichthin und das Thema war für ihn damit beendet.
Da es keine weiteren Wortmeldungen gab löste sich die kleine Gruppe auf und jeder ging seiner Wege. Oket wollte unbedingt noch einmal mit den beiden Vulkaniern reden. Ihre Meinungen hierzu waren ihm sehr wichtig. Doch sollte John davon nichts mitbekommen. Daher konnte er die beiden nicht zurückhalten. Sie waren weg, ehe Henry John den Saal verlassen hatte. Er musste die beiden einfach später nochmal zu sich rufen lassen.
Nachdem das Außenteam wieder an Bord war liefen die vier gemeinsam zum nächsten Lift. Zunächst gingen sie noch schweigend nebeneinander her, so als ob jeder das Gehörte noch einordnen müsste, um sich eine Meinung bilden zu können. Bevor Sanawey etwas sagen konnte fing Dr. Williams an.
„Ging es nur mir so oder war es doch etwas eigenartig mit Menschen zu sprechen, die so offen misstrauisch gegen die Erde sind?“
Sanawey runzelte nachdenklich die Stirn. „Ja, das war in der Tat etwas seltsam. Allerdings war mir das nicht als Erstes aufgefallen.“
„Sondern?“ wollte Williams wissen.
„Die Senatoren waren irgendwie nervös und...“ Er machte eine Pause, so als suche er nach den richtigen Worten. „Sie schienen übermäßig um uns bemüht zu sein.“
„Das ist ja auch kein Wunder, wenn man ihre Situation bedenkt. Bei den Verhältnissen auf der Erde können sie jeden Verbündeten brauchen. Das müssten Sie doch am ehesten verstehen können“, erinnerte Williams ihn an seinen Aufenthalt im irdischen Gefängnis.
Sanawey hielt den Kopf schief. „Ich weiß nicht. Ich meine, da war noch etwas anderes“, sagte er nachdenklich. „Was meinen Sie, Mr. Sohral? Was denken Sie? Vor allem über die Vulkanier. Sie sind anders, als ich es erwartet hatte.“
„Dass sie emotional sind war zu erwarten, wenn man bedenkt, aus welcher Epoche sie aufgrund der Zerstörung Vulkans nur stammen konnten. Ich muss jedoch zugeben, dass auch mich ein solches Verhalten bei Vulkaniern etwas irritiert.“
„Es ist zumindest gewöhnungsbedürftig“, stimmte Sanawey ihm vorsichtig zu. Er wusste nicht, wie genau es Sohral bei dem Thema ging und ob er darüber reden wollte. Schließlich waren Emotionen ein Tabu-Thema bei den Vulkaniern. Ob es Sohral daher peinlich war? Andererseits war Peinlichkeit ein Gefühl.
Sanawey konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn er einem Menschen aus einer Zeit vor über zweitausend Jahren begegnen würde. Der Unterschied wäre, zumindest was das Verhalten anginge, nicht ganz so gravierend wie bei den Vulkaniern, aber trotzdem nicht gering. Wäre ihm so ein primitiver und vielleicht auch abergläubischer Mensch in Gegenwart moderner Außerirdischer vielleicht peinlich? Immerhin würde so ein Mensch zeigen, wie klein und engstirnig die Menschheit einmal gewesen war.
Und aus Sohrals Sicht mussten diese Vulkanier ebenfalls primitiv und disziplinlos erscheinen, auch wenn sie bereits die Raumfahrt kannten. Doch wenn sie nicht einmal versuchten ihre Emotionen zu kontrollieren, zeugte dies aus Sicht eines modernen Vulkaniers nicht von Barbarei?
Daher wechselte Sanawey das Thema. „Und was halten Sie von der Situation insgesamt?“
Sie waren inzwischen am Lift angekommen und mussten kurz warten. Sohral sah seinen Captain direkt an. „Die Situation scheint komplexer zu sein, als bisher angenommen. Es hatte den Eindruck gemacht, als ob die Senatoren uns etwas verschweigen wollten, auch wenn ich dafür keine Beweise habe. Die Einladung zum morgigen Empfang des Sondergesandten der Erde ist ein weiteres Indiz dafür. Die Senatoren bezwecken damit ganz offensichtlich, der Erde zeigen zu wollen, dass wir für die Seite der Kolonie Partei ergriffen haben.“
Sanawey sah ihn erst groß an, nickte aber dann. „Ja, das klingt einleuchtend.“
„Wir werden da in etwas hineingezogen, das wir nicht mehr kontrollieren können“, mahnte Sohral.
„Was können wir hier noch kontrollieren? Andererseits ist es eine Chance Verbündete zu finden“, sagte Sanawey. Der Lift öffnete sich vor ihnen und sie traten ein. „Und wir brauchen Verbündete, wenn wir herausfinden wollen, was geschehen ist. Und wie wir alles wieder in Ordnung bringen können.“
„In der Tat“, nickte Sohral leicht. „Es ist nur die Frage, welchen Preis wir bereit sind dafür zu zahlen und ab wann wir akzeptieren müssen, was geschehen ist.“
Die anderen Anwesenden schwiegen. Sie waren eindeutig in einer Situation, in der die Moral und das Notwendige, das es zu tun galt, nicht mehr übereinstimmten. Sie mussten sich mit den Menschen der Kolonie verbünden, in dem Wissen, dass diese bei einem Erfolg nicht mehr existieren würden. Und nie existiert hätten. Oder um es anders auszudrücken, sie mussten diese Menschen ausnutzen. Nicht gerade das, was die Sternenflotte lehrte.
Aber war das nicht doch gerechtfertigt, um damit ein ganzes Universum zu retten?
„Wir müssen den Zeitablauf wieder richtigstellen“, entschied Sanawey. „Die Zeitlinie wurde verändert und es ist ein Universum entstanden, dass es nicht geben dürfte. Es ist also unsere Pflicht.“
Zustimmendes Nicken war die Reaktion.
„Und was die Kolonie angeht. Wir werden alles tun, um uns so gut wie möglich herauszuhalten. Wir dürfen sie aber auch nicht verschrecken. Wir sind genauso auf sie angewiesen wie sie auf uns.“
Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht lag Drake Reed auf dem Bett. Er war durch und durch glücklich und hätte das ganze Universum umarmen können. Er lag neben Elane, die sich auf die Seite gedreht hatte und ihm den Rücken zuwendete. Seine Hand streichelte zärtlich über Elanes Hüfte. Sie hatte die Augen geschlossen und genoss seine Liebkosungen.
Sie hatten sich geliebt und Drake hatte das Gefühl, dass es mit jedem Mal noch schöner wurde. Sie passten einfach perfekt zueinander, in jeder Hinsicht.
Elane seufzte zufrieden. Es bereitete ihr ein wohliges Vergnügen, wie seine Fingerspitzen sanft über ihre Hüften strichen, dann langsam über ihre Taille bis hinauf fuhren, zärtlich ihre erregten Brustwarzen umkreisten, um danach wieder von vorne zu beginnen.
„Das ist schön“, murmelte Elane. Als Antwort gab Drake ihr einen Kuss auf ihre Schultern und fuhr dann mit seinem Fingerspiel fort.
Schließlich rollte Elane sich auf den Rücken und sah Drake an. „Wieso ich?“
Drake sah sie fragend an. Er wusste nicht, was sie meinte.
„Warum bist du bei mir gelandet? Warum nicht jemand jüngeres und knackigeres? Warum mich dicke, alte Schachtel?“
„Hey, so etwas will ich nicht mehr hören.“ Er sah sie streng an. Dann wurde sein Blick wieder zärtlicher. „Was will ich mit einem jungen Huhn? Mit so jemandem kann man sich doch gar nicht richtig unterhalten. Die haben doch alle nichts im Kopf. Sobald die den Mund aufmachen kommen nur belanglose Oberflächlichkeiten heraus. Dir kann einfach niemand das Wasser reichen. Du bist intelligent, wunderschön und absolut herrlich verrückt.“
„Jetzt übertreibst du aber“, lächelte sie verlegen. „Außerdem bin ich dick.“
Drake fuhr ihr zärtlich über den Bauch. „Das finde ich nicht. So hab ich doch viel mehr von dir, um meine Küsse drauf zu setzen und dich streicheln kann. Außerdem lädt das zum Knuddeln ein.“
Sie sah ihn strahlend an und gab ihm dann einen langen und intensiven Kuss. Drake spürte, wie seine Lebensgeister erneut geweckt wurden. Diese Nacht war noch lange nicht vorüber.
ZEHN
William Russel saß geduckt hinter einem großen Baum am Straßenrand, der an der Zubringerstraße zum Flugplatz wuchs. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel herunter und deutete bereits an, dass es ein heißer Tag werden würde.
Für seinen Plan, den Gesandten der Erde zu überfallen, hatte er noch drei weitere Mitstreiter gefunden. Sie teilten seine Meinung, dass man nur durch Druck die Senatoren davon überzeugen konnte, das Dekret der Erde anzunehmen und damit den Frieden zu wahren. Und dass nur die Angst vor einem Militärschlag der Erde genug Druck ausüben konnte.
Sie hatten sich notdürftig bewaffnet, doch für einen überraschenden Überfall sollte es reichen. Zumal im Kommandostab der Erde sicher niemand damit rechnete.
Vor wenigen Minuten hatten sie erfahren, dass der Gesandte gelandet und nun auf dem Weg zum Senat war. Es hatte sich als Vorteil erwiesen, dass einer seiner Mitstreiter ein Experte für nicht ganz legale Kommunikationstechnik war. Auf diese Weise konnten sie sich in das Gespräch zwischen Flugplatz und der Polizei einklinken, ohne dass jemand etwas bemerkte. So hatten sie auch erfahren, dass sich gerade einmal drei Bodyguards in Begleitung des Gesandten befanden. Sie waren ihren Opfern also zahlenmäßig überlegen, wenn auch nur um eine Person. Denn der Gesandte würde wohl kaum kämpfen. Aber da sie zusätzlich auch noch das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hatten, sollten sie keine Probleme bekommen. Da sollte es auch nicht sonderlich ins Gewicht fallen, dass die Bodyguards eine bessere Ausbildung in verschiedenen Kampftechniken hatten.
Die Straße hatten sie bereits präpariert. Kleine Sprengsätze lagen über die gesamte Fahrbahn verteilt. Diese sollten explodieren, sobald ein Fahrzeug darüber rollte. Und die Explosionen würden kräftig genug sein, um die Fahrzeuge so stark zu beschädigen, dass sie zum einen nicht weiter fahren könnten und zum anderen die Insassen vielleicht sogar außer Gefecht setzen konnten. Zumindest aber würden sie für Verwirrung sorgen. Der Rest sollte dann ein Kinderspiel sein.
Nach ihren Berechnungen mussten sich die Fahrzeuge knapp fünfzehn Minuten nach der Landung des Gesandten ihrer Position nähern. So stieg die Anspannung. Russel umfasste den Griff seiner Pistole fester. Der Metallgriff lag kühl und fremd in seiner Hand. Es war einige Jahre her, dass er eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Das war damals, als er seinen Dienst bei den Erdstreitkräften absolviert hatte. Er war mit im Krieg gegen die Tellariten gewesen. Zum Glück war er nicht an vorderster Front stationiert gewesen. So hatte er nur einmal ein kleines Gefecht gegen eine Handvoll Aufständischer führen müssen. Und er war dankbar dafür, nicht mehr von den Schrecken des Krieges miterlebt zu haben. Manche Soldaten litten noch heute unter den Erlebnissen, die sie damals mitgemacht hatten. Dieses Schicksal war ihm erspart geblieben.
Leise Motorengeräusche ließen ihn aufhorchen. In der Ferne blinkten immer wieder Glas- und Metallflächen im Sonnenlicht auf.
„Sie kommen“, flüsterte er, obwohl ihn weit und breit sonst niemand hätte hören können.
Sofort geriet Bewegung in die kleine Gruppe. Ein jeder nahm die ihm zugeteilte Position ein, nahm seine Waffe in die Hand und war zum Sprung bereit.
Die Fahrzeuge näherten sich erst langsam, doch je näher sie kamen, desto deutlicher wurde, wie schnell sie wirklich waren. Es waren zwei dunkle Vans, die absolut typisch für Regierungsfahrzeuge waren. Zwar verfügte die Erdregierung auch über Shuttles, mit denen ein Vorankommen auf Planeten deutlich schneller und bequemer war. Doch passten diese nicht in die relativ kleinen und wendigen Schiffe, mit denen die Diplomaten gerne reisten. So mussten sie am Zielort notgedrungen auf radbasierte Fahrzeuge umsteigen.
Das Motorengeräusch schreckte ein kleines, hasenähnliches Wesen auf, das vor den Fahrzeugen zu fliehen versuchte. Entsetzt musste Russel zusehen, wie das Tier geradewegs über die Straße auf das vorbereitete Minenfeld zu rannte. Noch bevor er irgendwie reagieren konnte explodierten eine Handvoll der Sprengsätze und zerfetzten das arme Tier, das nicht einmal mehr einen Laut von sich geben konnte.
Russel fluchte leise. Die kleine Explosion war den Fahrern der beiden Fahrzeuge natürlich nicht entgangen. Sie stiegen auf die Bremsen und stoppten die Wagen einige Schritte von Russel und seinen Leuten entfernt. Und noch vor dem präparierten Straßenabschnitt.
Dann tat sich erst einmal nichts mehr. Der Fahrer und der Beifahrer des ersten Fahrzeuges schauten sich misstrauisch um. Sie schienen zu ahnen, dass es sich um einen Hinterhalt handelte. Schließlich explodierten hasenähnliche Tiere im Allgemeinen eher selten einfach so. Und um ihren Schutzbefohlenen nicht zu gefährden, verhielten sie sich erst einmal ruhig und sondierten die Lage. Schließlich konnten sie nicht wissen, dass der Rückweg sicher gewesen wäre.
Russels Gedanken rasten. Er musste sich schnell etwas Neues überlegen, wenn er noch erfolgreich sein wollte. Und auf gar keinen Fall wollte er riskieren, dass die einmalige Chance, etwas zu bewegen, einfach verflog.
Schritte ließen ihn aufhorchen. Er spähte durch das Gestrüpp und sah, wie einer der Männer aus dem zweiten Fahrzeug ausgestiegen war und zum vorderen Wagen lief. Dabei beobachtete er aufmerksam die Umgebung.
Das war ihre Chance, durchzuckte Russel die Erkenntnis. Mit den beiden Fahrern des ersten Fahrzeuges hatten sie damit alle drei Bodyguards vor sich. Eine bessere Gelegenheit würde sich ihnen nicht mehr bieten, nachdem der ganze Plan ohnehin in sich zusammengefallen war.
Er gab seinen Leuten durch kurze Zeichen zu verstehen, was er vor hatte. Dann sprangen alle gemeinsam auf und stürmten auf die Wagen zu. Ohne lange zu überlegen zielten sie im Laufen mit ihren fast schon antiquierten Waffen auf die drei Ziele und schossen wild drauf los.
Die drei Männer wurden von den anstürmenden Terroristen völlig überrascht. Zwar hatten sie mit einem Hinterhalt gerechnet, aber nicht damit, dass die Gangster so dreist sein würden frontal anzugreifen. Schnell zogen sie ihrerseits die Waffen um das Feuer zu erwidern. Doch bevor sie auch nur einen Schuss abgeben konnten ging der Mann, der neben dem Wagen stand, tödlich getroffen zu Boden. Auch der Fahrer sackte über seinem Lenkrad zusammen und rührte sich nicht mehr. Einzig der Beifahrer hatte sich unter den Kugeln hinweg ducken können.
Die Angreifer schossen blind weiter, bis die Munition in den Waffen leer war. Die Frontseite des Wagens war durchlöchert wie ein Sieb. Die Windschutzscheibe wurde nur noch von wenigen Glaskristallen zusammen gehalten. Russel kam sich wie in einem alten Western vor, in dem die guten Cowboys offen gegen bestochene Sheriffs und korrupte Landbesitzer antraten und alles über den Haufen schossen, was sich nicht an Recht und Ordnung hielt und der Gerechtigkeit im Wege stand.
Der Moment, in dem sie blitzschnell ihre Munitionsmagazine wechseln mussten war der Kritischste. Für einen kurzen Moment gaben sie ihrem verbliebenen Gegenüber die Chance zum Gegenangriff.
Und der Mann schien seine Chance zu erkennen. Er warf sich durch die geöffnete Wagentüre nach draußen, rollte sich ab und schoss dann mit einer kleinen Energiewaffe auf die Angreifer. Der Mann neben Russel schrie auf und langte sich an den Oberschenkel. Die Strahlenwaffe hatte dort ein etwa faustgroßes Loch ins Fleisch gebrannt und auch den Knochen durchbohrt. Damit war es unmöglich weiter zu stehen und so knickte der Mann ein und blieb jammernd am Boden liegen.
Russel hatte seine Waffe gerade neu geladen und seinen Blick gehoben, als er sah, wie um das Fahrzeug ein blonder Hüne kam. Ein vierter Mann? Hatte es nicht geheißen, dass es nur drei Bodyguards wären? Dann wurde ihm schlagartig sein Fehler bewusst. Er hatte die Fahrer nicht bedacht. Somit hatten sie zwei Mann mehr gegen sich als angenommen.
Der Hüne hatte ein geradezu gigantisches Lasergewehr bei sich. Ehe Russel reagieren konnte schoss er das Gewehr ab. Ein weiterer Angreifer wurde getroffen und mehrere Meter nach hinten geschleudert, wo er ohne einen weiteren Laut von sich zu geben leblos lieben blieb.
Russel erkannte, dass sich ihre Chancen drastisch verschlechtert hatten. Doch aufgeben konnten sie nicht. Denn wenn sie das taten würden sie für den Rest ihres Lebens in einer dunklen Gefängniszelle verschwinden. Niemand würde sie je wieder sehen. Daher hob er die Waffe und zielte auf den Hünen. Dann ging er direkt auf ihn zu und feuerte dabei sein gesamtes Magazin leer. Mit mehreren Kugeln streckte er den Mann nieder. Sein verbliebener Mitstreiter erledigte den aus dem Fahrzeug gesprungenen Kerl.
Mit wenigen Schritten waren sie am Auto und nutzten dieses als Deckung. Schließlich konnten sie sich nicht sicher sein, wie viele Gegner sie in dem zweiten Fahrzeug noch zu erwarten hatten. Es durfte nur noch einer sein, aber wie sicher waren diese Informationen? Angestrengt atmend und mit rasendem Herz sah Russel sich um. Es gab keine Bewegung. Nichts rührte sich. Hatten sie alle erledigt oder wollte man sie nur in Sicherheit wägen?
Die Sonne brannte noch immer heiß herunter. Die Luft über den Ebenen entlang der Straße fing langsam an zu flimmern. Bis auf das Wimmern ihres angeschossenen Komplizen durchdrang kein Laut die Luft.
Russel sah seinen verbliebenen Partner an. Sie konnten nicht ewig hier warten. Es galt eine Entscheidung zu treffen. Daher schlichen sie sich, nach einem kurzen bestätigenden Nicken, links und rechts des Fahrzeuges vorbei, immer bereit sofort das Feuer zu eröffnen. Russel musste dabei über die quer am Boden liegende Leiche des Hünen hinweg treten. Dunkles Blut quoll aus seinen Wunden und der gebrochene Blick der toten Augen sah ihn anklagend an. Für einen Moment hatte er das Gefühl, der Tote wollte nach ihm greifen. Russel musste seinen Blick abwenden. Er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Auf keinen Fall durfte er versagen, wenn er ein sicheres Leben für seine Familie erreichen wollte.
Den Rücken gegen das Fahrzeug gepresst ging er langsam vorwärts. Ein schneller Blick auf das zweite Fahrzeug zeigte ihm, dass dort nur noch ein Mann hinter dem Lenkrad saß. Ein zweiter saß im hinteren Teil des Wagens und war fast in den Sitzen versunken. Offenbar der Sondergesandte.
Mit dem Fahrer hatten sie dann leichtes Spiel. Als er die auf ihn gerichteten Waffen sah und merkte, dass nur er und der Gesandte noch am Leben waren, verlor er jeglichen Mut und ergab sich.
Ein Gefühl des Triumphes stellte sich in Russel ein. Sie hatten einen ersten Teilerfolg erzielt. Zwar zu einem hohen Preis, aber die Opfer würden nicht umsonst gewesen sein.
Unzählige Schaulustige hatten sich vor dem Senatsgebäude versammelt. Sie alle wollten den Sondergesandten der Erde sehen. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, weshalb er der Siedlung einen Besuch abstattete. Und jeder wollte die Person sehen, die vielleicht über das weitere Schicksal der Kolonie entscheiden würde.
Die Straße vor dem Gebäude sowie der Zugangsbereich waren durch Gitter abgesperrt, so dass niemand die Chance hatte, dem Sondergesandten näher als hundert Meter zu kommen. Die Polizei war in voller Stärke erschienen und hatte alle Hände voll damit zu tun, die Menschen hinter der Absperrung zu halten.
Die Treppen am Senatsgebäude waren mit einem roten Teppich ausgestattet. Man wollte dem Gast alle Ehren erweisen, um so vorab die Spannung aus dem Treffen zu nehmen. Die Überlegung war, dass der Sondergesandte bereits so geschmeichelt war, dass er schon nicht mehr ganz unvoreingenommen war, wenn die Gespräche begannen.
Vor der Türe des Senats warteten bereits einige Senatoren. Der Rest hielt sich im Senat auf und wartete dort sichtlich angespannt auf das Gespräch. Captain Sanawey und seine Leute waren vor wenigen Minuten eingetroffen. Sie hatten sich direkt vor das Gebäude gebeamt, was für ein Raunen unter den Schaulustigen geführt hatte. Eine solch selbstverständliche Nutzung des Transporters war für alle etwas Unvorstellbares.
Von der Republic
hatte inzwischen fast jeder erfahren. Doch da niemand in der Kolonie die genauen Hintergründe des fremden Schiffes kannte, war es für die Bewohner lange nicht so interessant wie die aktuellen politischen Ereignisse. Daher konnten Sanawey und seine Leute, ohne großes Aufsehen zu erregen, zu den Senatoren hinzutreten. Begleitet wurde der Captain von Sylvia Jackson und Kassaja Holgrem. Sohral war an Bord zurück geblieben. Aufgrund der Tatsache, dass es hier um die Beziehungen der Kolonie zur Erde ging und diese die Vulkanier nicht kannten, hielten sie es für ratsam, wenn Sohral nicht dabei war. Die schwierigen Gespräche mussten durch ein unbekanntes und eigentlich ausgestorbenes Volk nicht noch erschwert werden. Und wenn Sanawey ehrlich war, er wusste nicht einmal genau, was er hier sollte.
„Es ist schön, dass Sie kommen konnten“, hatte Oket sie begrüßt. Er verlor sich noch in einem kurzen Redeschwall über die Bedeutung dieses Tages und darüber, dass es ein wichtiges Zeichen war, dass die Republic
-Crew hier anwesend war. Doch bevor er das genauer erläutern konnte, wurde er von einem jungen Mann unterbrochen, der ihn nervös am Arm zupfte und ihm dann einen Zettel zusteckte.
„Ah, der Sondergesandte ist soeben gelandet“, las Oket das Notierte vor. „Dann wird er in einigen Minuten hier eintreffen. Bitte entschuldigen Sie mich“, sagte er an Sanawey gewandt. „Ich muss die Nachricht weitergeben.“ Dann ließ er die Offiziere stehen und wandte sich einer anderen Gruppe zu.
„Captain, es dauert länger als einige Minuten“, stellte Holgrem fest. „Wir haben gestern für die Fahrt vom Flugplatz hierher fünzehn Minuten gebraucht.“
Sanawey sah sie lächelnd an. „Dann werden wir solange hier warten. Das wird für Sie doch kein Problem sein, oder?“
„Nein, Sir“, gab sie militärisch knapp zurück und versuchte dabei ihr Gesicht neutral zu halten. Schließlich sollte der Captain nicht merken, dass sie wenig Lust verspürte hier unnütz herumzustehen.
Die Anzahl der Schaulustigen hatte in den letzten Minuten deutlich zugenommen. Der Platz vor dem Senatsgebäude war bereits gefüllt. Es schien so, als ob sämtliche Kolonisten auf den Beinen wären. Und dabei hatten sich auch Gruppierungen unter den Anwesenden gebildet. Zur rechten Seite standen die Skeptiker, diejenigen die dem Gesandten und der Erde ablehnend gegenüber standen. Vereinzelt waren auch Plakate zu sehen, mit denen die Träger ihre Meinung deutlich machten. Hier hatte die Polizei die meiste Arbeit vor sich, um diese Gruppierung ruhig zu halten. Es durfte auf keinen Fall zu irgendwelchen Ausschreitungen kommen, wenn die angespannte Situation friedlich gelöst werden sollte.
Links standen die Sympathisanten der Erde. Sie wollten den Sondergesandten willkommen heißen und ihm zeigen, dass die Kolonie noch immer zur Erde gehörte. Die meisten schwenkten Fahnen der Erde. Insgesamt herrschte hier fast eine Volksfeststimmung.
Und in der Mitte, wie zur Trennung, warteten die gemäßigten Kolonisten, die in erster Linie einfach wollten, dass es friedlich blieb und eine Lösung zustande kam, bei der jeder seinem bisherigen Lebenswandel weiter nachgehen konnte. Sie bildeten den größten Teil und hier schwankte die Stimmung zwischen Hoffen und Bangen.
Nach einiger Zeit sah Sanawey beiläufig auf die Uhr. Der Sondergesandte hatte schon fünfzehn Minuten Verspätung. Die aufkommende Nervosität der Senatoren war bereits zu spüren, auch wenn sie sich alle Mühe gaben, dies zu überspielen. Was waren denn schließlich fünfzehn Minuten?
In Wahrheit war eine solche Verspätung für diese Strecke sicherlich Anlass genug sich Gedanken zu machen. Immerhin war die Strecke abgesperrt worden. Zudem hatte die Polizei am Flugplatz die Abfahrt des Gesandten gemeldet. Und das wiederum ließ nur einen Schluss zu: Es musste auf der Strecke etwas passiert sein.
Senator Oket kam auf die Sternenflottenoffiziere zu. „Die Ankunft des Sondergesandten verzögert sich noch etwas“, berichtete er das Offensichtliche. „Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung. Es kann sich nur noch um wenige Minuten handeln.“ Es war eindeutig, dass er versuchte Optimismus zu verbreiten, obwohl er wusste, dass er log.
„Sagen Sie uns bitte, wenn wir etwas tun können“, bot Sanawey sofort Hilfe an. Er war sich allerdings bewusst darüber, dass Sohral seine schnelle Hilfe nicht für gut heißen würde.
„Vielen Dank, aber es gibt nichts weiter zu tun. Wir müssen einfach noch ein wenig warten“, erklärte Oket eilig, dann entschuldigte er sich und zog sich zurück.
„Irgendetwas stimmt hier nicht“, zischte Holgrem und wurde sofort von Sanawey gemahnt ihre Stimme zu senken.
„Wir haben keine Beweise. Und da sie unsere Hilfe nicht wollen, werden wir sie ihnen auch nicht aufzwängen. Wir werden weiterhin freundlich bleiben. Wir sind ihre Gäste und werden sie weder bevormunden noch ihnen sagen, was sie tun sollen.“
Holgrem nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Ihr behagte es nicht, einfach nur zu warten. So fügte sie sich nur ungern dem Befehl.
Die beiden anderen gaben ebenfalls ihre Zustimmung. Und so warteten sie weiter.
Die Senatoren wurden unterdessen mit jeder Minute unruhiger. Bisher lief es gar nicht so wie erwartet. Das war der denkbar schlechteste Beginn für das Treffen, das so ja nur schief gehen konnte.
Auch die Schaulustigen merkten allmählich, dass etwas nicht stimmte. Die Unruhe der Senatoren übertrug sich auf sie und es wurde getuschelt und wild spekuliert. Inzwischen war der Gesandte mehr als eine halbe Stunde überfällig.
Plötzlich geriet Bewegung in die Senatoren. Der kleine, untersetzte junge Mann, der Oket vorher den Zettel zugesteckt hatte, war nun erneut auf den Senatspräsidenten zugegangen und hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert. Daraufhin hatte Oket an Farbe verloren. Mit einem Wink gab er den Senatoren zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten. Dann betrat er das Gebäude.
„Es tut sich etwas“, murmelte Sanawey. Er wandte sich Jackson zu. „Wir wurden zwar nicht aufgefordert mitzukommen, aber es wurde oft genug betont, dass wir als deren Gäste eingeladen sind dabei zu sein. Also werden wir dabei sein.“ Damit schloss er sich den Senatoren an. Kopfschüttelnd folgte Jackson und dann die anderen.
Der Senatsraum empfing sie mit angenehmer Kühle. Die hier wartenden Senatoren standen in kleinen Gruppen beieinander und diskutierten, was die Verzögerung zu bedeuten hatte. Einige waren besorgt, dass etwas passiert sein könnte. Andere sahen darin die geringe Wertschätzung der Erde gegenüber der Kolonie und vermuteten eine Taktik dahinter. Aber niemand schien etwas Genaueres zu wissen.
Oket führte die Gruppe durch den Senatsraum und durch eine weitere Tür. Er hielt den ihm folgenden Personen die Türe auf und runzelte nur kurz mit der Stirn, als die Sternenflottenoffiziere ebenfalls eintraten. Dann schloss er die Türe und wandte sich mit sorgenvollem Ausdruck an die Anwesenden. „Eine Katastrophe ist geschehen. Mr. Banks, der Sondergesandte der Erde, ist überfallen worden.“
Ein Raunen der Empörung ging durch die Anwesenden. Wer würde so wahnsinnig sein und etwas Derartiges tun? Die Reaktion der Erde auf eine solche Tat konnte sich jeder ausmalen.
„Ich habe die Information eben erhalten“, fuhr Oket fort. „Die Polizisten, die ausgesandt wurden, um den Gesandten zu suchen, berichteten, dass die Fahrzeuge ungefähr auf halber Strecke zwischen dem Flugplatz und der Stadt gefunden worden waren. Sie waren von den Kugeln halbautomatischer Handfeuerwaffen getroffen worden. Die drei Leibwächter des Gesandten sowie einer der Fahrer sind tot. Sie waren offenbar bei einem Schusswechsel mit den Angreifern getötet worden. Dabei war auch einer der Angreifer getötet worden. Ein Zweiter war so schwer verletzt, dass seine Komplizen ihn zurück gelassen hatten. Er wird derzeit noch vor Ort medizinisch versorgt und verhört. Vielleicht erfahren wir durch ihn mehr.
Vom zweiten Fahrer sowie dem Gesandten fehlt bisher jede Spur. Es scheint fast so, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.“
Einige argwöhnische Blicke trafen Sanawey und seine Leute. Immerhin nutzen sie wie selbstverständlich die Transportertechnologie. Das war fast wie sich in Luft auflösen. Was lag da näher, als ihnen eine Mittäterschaft zu unterstellen.
„Wir müssen zunächst einmal abwarten, was die Befragung des Gefangenen erbringt“, versuchte Oket die Senatoren zu beruhigen. Er wollte einfach nicht glauben, dass die Fremden etwas damit zu tun hatten. Zu große Hoffnungen hatte er in sie gesetzt und sie als Verbündete sehen wollen. Als Verbündete gegen die Erde. Für eine freie Kolonie. Für eine Kolonie, die ohne Angst existieren konnte. Diese Hoffnung wollte er nicht verlieren.
Doch ihr Erscheinen kurz vor dem Besuch des Sondergesandten und ihre selbstverständliche Nutzung einer so viel weiter entwickelten Technologie, die für einen solchen Überfall von unschätzbarem Vorteil wäre, ließen sich nicht leugnen. Sie hätten ohne Zweifel eine derartige Tat durchführen können.
Bevor er noch etwas sagen konnte wurde die Tür geöffnet und der pummelige junge Mann von vorhin trat ein. „Mr. Oket“, sagte er unsicher.
„Ja, Bobby?“ Oket winkte ihn zu sich heran.
„Mr. Oket, wir haben eine Nachricht erhalten.“
„Eine Nachricht?“ wiederholte Oket tonlos, als befürchte er nichts gutes. „Von wem?“
„Das sollten Sie sich besser selbst ansehen.“ Bobby Steen schob seinen Chef vor den Bildschirm, der an der Wand angebracht war. Die sieben anwesenden Senatoren und die Offiziere der Republic
gesellten sich dazu.
Bobby aktivierte den Bildschirm. Dieser erhellte sich, allerdings nur ein wenig. Es schien fast so, als ob ein Dunkelschleier auf dem Bildschirm läge. Die Konturen eines beleibten Mannes wurden sichtbar. Beinahe regungslos saß er auf seinem Stuhl, nur das Heben und Senken des Brustkorbes zeigten, dass er lebte.
„Na los“, zischte eine Männerstimme außerhalb des Erfassungsbereiches der Kamera. Dann wurde ein stumpfer Gegenstand, ein Rohr oder etwas ähnliches, in die Seite des Sitzenden gestoßen.
Der Mann stöhnte kurz auf, dann sagte er mit brüchiger Stimme: „Mein Name ist Malcom Banks, Sondergesandter der Regierung der Erde. Mein Fahrer und ich werden von erdtreuen Kolonisten festgehalten. Uns geht es gut und wir werden freundlich behandelt. Sollten die Forderungen unserer Gastgeber jedoch nicht erfüllt werden, wird man uns töten.
Es werden zwei Forderungen gestellt. Erstens: Der Senat der Kolonie Terra Ceti nimmt das Dekret der Erde an und sperrt den Markt für alle Außerirdischen. Zweitens: Der Senat erkennt die Erdregierung als oberstes Regierungsorgan an und erklärt, dass die Kolonie Terra Ceti ein Teil der Erde ist und somit den Rechten, Gesetzen und Verordnungen der Erde unterliegt. Des weiteren werden Unabhängigkeitsbestrebungen unterbunden und jegliche Aktivitäten zur Unabhängigkeit als Terrorismus gegen die Erde und die Kolonie geahndet und bestraft.
Werden diese Forderungen erfüllt, wird man uns gehen lassen. Sollten die Forderungen allerdings nicht erfüllt werden, wird man uns in 24 Stunden töten.“
Mit diesen Worten endete die Nachricht abrupt.
Wortlos sahen sich die Senatoren an, dann fingen alle gleichzeitig an durcheinander zu reden. Im ersten Chaos hatte Oket keine Chance für Ruhe zu sorgen. Die Senatoren mussten zuerst einmal ihren Dampf ablassen, ehe sie wieder zu einer normalen Diskussion in der Lage waren.
Sanawey bedeutete seinen Leuten, sich in eine Ecke des Raumes zurückzuziehen. Er hatte kein Interesse daran, dass sie womöglich von aufgebrachten Senatoren im Eifer des Gefechtes mit wilden Anschuldigungen bedacht wurden. Und selbst am Stimmenchaos teilnehmen wollte er ganz bestimmt nicht. So galt der alte Spruch: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Allerdings musste er feststellen, dass auch in der Raumecke, wenige Schritte von den Senatoren entfernt, eine Unterhaltung fast unmöglich war, so laut empörten sich die Senatoren und diskutierten sie. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, bis es Oket gelang wieder Ruhe in den Raum zu bekommen. Aufmerksam beobachteten sie die Senatoren und deren Körpersprache.
„Zunächst einmal müssen wir Ruhe bewahren, Kollegen“, forderte Oket bestimmt ins Chaos hinein. „Wenn wir den Kopf verlieren, kommen wir nicht weiter.“ Er machte eine kurze Pause, um diese Erkenntnis sacken zu lassen. Dann fuhr er fort: „Wir müssen die Geiselnahme und die Forderungen erst einmal geheim halten. Niemand außerhalb des Senates darf davon erfahren. Ich will eine Panik unter der Bevölkerung vermeiden. Und dann müssen wir in Ruhe die nächsten Schritte angehen.“
„In Ruhe?“ gab Henry John argwöhnisch zurück. „Wir können das nicht in Ruhe ausdiskutieren wie irgendein neues Gesetz. Wir haben nur 24 Stunden Zeit. Danach ist der Gesandte tot. Und was das bedeutet wissen wir alle genau.“
„Ja, du hättest deinen Unabhängigkeitskrieg“, gab eine ältere Senatorin spitz zurück.
Henry John wollte gerade aufbrausen, doch Oket kam ihm zuvor. „Bitte, keinen Streit jetzt“, rief er laut. „Wie Senator John richtig gesagt hat, wir haben nur 24 Stunden. Lasst uns die Zeit sinnvoll nutzen. Wir brauchen eine Lösung. Und den Forderungen nachzugeben ist keine Option.
Ich werde mich erst einmal mit dem Polizeipräfekten treffen. Vielleicht hat er schon neue Erkenntnisse. Auf jeden Fall muss aber die Menschenansammlung draußen vor dem Gebäude aufgelöst werden. In zwei Stunden wird eine Sondersitzung des Senates stattfinden. Bis dahin bitte ich darum, dass Krisenexperten zu Rate gezogen werden und ein Verhandlungsführer hier ist.“
Damit entließ er seine Kollegen. Noch immer aufgebracht verließen sie den Raum und wurden sofort mit Fragen bedrängt, denen sie unterschiedlich geschickt auswichen.
Als die Senatoren den Raum verlassen hatten, ging Oket auf Sanawey zu. „Bitte entschuldigen Sie die Umstände. Ich hatte einfach gehofft, dass ein gemeinsames Treffen mit der Erde viele Missverständnisse klären würde. Dass es nun vorab schon eskalieren würde, damit hatte ich nicht gerechnet.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Mit diesen Ereignissen hatte niemand rechnen können“, winkte Sanawey verständnisvoll ab. Letztlich ersparte ihm diese Wendung eine Konfrontation mit der Erde. Oder zumindest wurde sie erst einmal aufgeschoben. „Wir würden Ihnen gerne helfen“, bot er Hilfe an, wurde jedoch sofort von Oket unterbrochen.
„Wir werden vielleicht auf Ihr Angebot zurückkommen. Solange wir aber noch nicht mehr wissen, können wir das weitere Vorgehen auch noch nicht entscheiden. Wir werden Sie aber auf jeden Fall auf dem Laufenden halten. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Es gibt noch viel zu tun und wir haben nur wenig Zeit.“
Sanawey verstand die Aufforderung, nun zu gehen. Offenbar waren sie hier im Moment unerwünscht. Was ihm aber nicht unrecht war. So konnten sie in Ruhe über die veränderte Situation beratschlagen, ohne dass man sie mit irgendeiner neuen Forderung überrumpeln konnte. Daher gab er seinen Leuten das Zeichen Aufstellung zu nehmen. Wenige Momente später wurden sie vom Transporterstrahl erfasst und an Bord der Republic
gebeamt.
Nachdem sie zurück an Bord waren hielt Karja ihren Vater auf, bevor der den Transporterraum verlassen konnte. Trauer lag auf ihrem Gesicht. „Du solltest sofort in die Krankenstation gehen“, sagte sie ihm leise.
Erst sah Sanawey sie überrascht an. Doch dann dämmerte es ihm und er befürchtete zu wissen, warum er dort erscheinen sollte. Schnellen Schrittes lief er durch den Gang. Die Krankenstation lag auf demselben Deck wie der Transporterraum, so konnte er, ohne den Lift zu benötigen, direkt dorthin laufen. Jackson folgte ihm sofort.
Als sie die Krankenstation betraten liefen sie direkt Dr. Williams in die Arme. Ihr Gesicht war gerötet und von Tränen gezeichnet. Sanaweys Befürchtungen schienen sich zu bestätigen.
„Mr. Real?“ fragte er leise.
Sie nickte nur und deutete auf einen, mit einem Vorhang abgetrennten Bereich der Krankenstation.
Sanawey ging hinüber, gefolgt von Jackson und Williams. Auch wenn er inzwischen wusste, was ihn erwartete und er dieses Bild auch nicht das erste Mal sah, traf ihn doch ein Stich als er den Vorhang beiseiteschob.
Vor ihm stand eines der üblichen Betten der Krankenstation. Der darauf liegende Körper war mit einer dunkelblauen Decke komplett zugedeckt. Auch der Kopf war unter der Decke verborgen. Ein eindeutiges Zeichen, dass die hier liegende Person tot war.
Vorsichtig zog Sanawey die Decke am oberen Ende zur Seite bis Reals Kopf frei lag. Seine sonst so dunkle Haut war blass. Die angespannten Gesichtszüge, die er die letzten Tage noch hatte, waren erschlafft. Er sah fast friedlich aus. Und doch war eindeutig zu erkennen, dass kein Leben mehr in ihm war.
„Wann ist er gestorben?“ wollte Sanawey wissen. Er versuchte die Trauer, die er empfand, zu verdrängen. Durch sie fühlte er sich schuldig. Schuldig, dass der Tod dieses Mannes ihn mehr traf als andere Verluste unter seinem Kommando. Letztlich musste ihm jedes Crewmitglied gleich viel wert sein, denn er war ihr Captain. Er trug die Verantwortung für jeden Einzelnen. Dass er trotz allem nur ein Mensch war, der Sympathien und Antipathien wie jeder andere empfand, durfte keine Rolle spielen. Ebenso wenig, dass er mit Real fast täglich zu tun hatte, während er andere Crewmitglieder kaum kannte.
„Vor zwei Stunden“, beantwortete Williams seine Frage. „Ich konnte nichts mehr für ihn tun. In einem medizinischen Center der Sternenflotte hätte er vielleicht eine Chance gehabt, aber selbst das weiß ich nicht.“
„Es ist nicht Ihre Schuld“, sagte Jackson beruhigend. Sie konnte sich vorstellen, dass es für die Ärztin nicht leicht war, dem Sicherheitschef zwei Wochen lang beim Sterben zuzuschauen ohne etwas dagegen tun zu können.
Williams nickte. „Ich weiß. Es ist trotzdem nicht fair. Er war Sicherheitschef. Und er hätte für das Schiff und die Crew sein Leben gegeben. Doch stattdessen stirbt er an den Verletzungen eines Unfalles. Das ist so sinnlos.“
Jackson wollte ihren Arm um Williams Schulter legen, tat es dann aber doch nicht. Stattdessen sagte sie nur: „Der Tod ist nie sinnvoll.“
Die Ärztin nickte. Und sah wieder Real an. „Was machen wir nun mit ihm?“
Sanawey runzelte die Stirn. Das war eine gute Frage. Normalerweise wurden während einer Mission getötete Crewmitglieder im All bestattet. Doch das wollte Sanawey auf keinen Fall. Schließlich befanden sie sich hier in einer falschen Zeitlinie. Und da der Captain noch immer die Absicht hatte den Zeitverlauf zu korrigieren, würde alles, was sich in dieser Zeitlinie befand, aufhören zu existieren. Einschließlich des Sarges mit Mr. Real. Und das wollte Sanawey auf keinen Fall zulassen, auch wenn Real ohnehin tot war. Es wäre zudem auch schwierig geworden, das seinen Angehörigen zu erklären.
„Legen Sie ihn in Stasis“, entschied Sanawey. „Wir werden ihn nach unserer Rückkehr bestatten.“
„Und wie lange kann das dauern?“ fragte Williams leise.
Darauf hatte Sanawey keine Antwort. Bevor er etwas erwidern konnte meldete sich Watts über die Lautsprecher der internen Kommunikationsanlage. „Captain Sanawey, bitte auf die Brücke.“
Der Gerufene verdrehte die Augen. Die Situation ließ ihm derzeit wohl keine freie Minute. Er warf noch einen letzten Blick auf Real, dann entschuldigte er sich und verließ die Krankenstation. Er hätte gerne noch irgendwelche aufmunternde Worte an die Ärztin gerichtet, doch fiel ihm auf die Schnelle nichts Passendes ein.
Als Sanawey die Brücke betrat wurde er sofort von Lieutenant Watts überfallen. „Captain. Senator Oket hat sich gemeldet. Er wünscht ein Gespräch mit Ihnen und wartet auf einer gesicherten Verbindung. Es soll ein Gespräch unter vier Augen werden.“
„Stellen Sie es in meinen Raum durch“, befahl Sanawey und wirbelte sofort herum, um den Lift gleich wieder zu betreten. Sein Bereitschaftsraum lag ein Deck unter der Brücke.
Senator Okets Bild wartete bereits auf ihn, als er eintrat. Sanawey befahl dem Computer noch die Tür zu sichern. So konnte ihn niemand ungewollt stören. Dann nahm er auf dem Stuhl vor dem Bildschirm Platz.
„Mr. Oket. Schön Sie zu sehen“, grüßte er freundlich. „Das ging ein wenig schneller als ich erwartet hatte.“
„Hallo Captain. Ich grüße Sie. Ja, es ging auch schneller als ich dachte“, erwiderte Oket. „Aber es sind auch ungewöhnliche Umstände, die schnelle Entscheidungen erfordern. Als ich das Senatsgebäude verlassen hatte, wurde ich von einigen meiner Kollegen mit Nachdruck aufgefordert, Sie in die Befreiung der Geiseln mit einzubinden, auch wenn es noch immer Misstrauen gegen Sie gibt. Aber da uns nur wenig Zeit bleibt, hielten sie es nicht für angebracht, dass wir uns zuerst alleine daran versuchen. Sie befürchten bei einem Fehlschlag, dass die Reaktion der Erde uns hart treffen wird. Das wiegt schwerer als das Misstrauen. Und ich muss zugeben, diese Befürchtungen sind nicht ganz unberechtigt.
Da wir uns alle zur Demokratie bekennen und die Mehrheit der Senatoren Ihr Eingreifen wünscht, bitte ich Sie nun, alles in Ihrer Macht stehende zu tun, um die Geiseln heil und gesund zu befreien.“
Was bleib Sanawey nach dieser Bitte noch für eine Wahl? Er konnte kaum ablehnen, schließlich hatte er seine Hilfe ja angeboten. Obwohl er damit in eine Situation gekommen war, die er eigentlich hatte vermeiden wollen. Wenn er jetzt eingriff, dann hatte er sich für die Seite der Kolonisten entschieden. Und so wie er die Politik hier verstanden hatte, wäre er damit für die Erdregierung zum Feind geworden. Ob er das nicht ohnehin schon längst war stand natürlich auf einem ganz anderen Blatt. Er selbst hätte sich allerdings gerne alle Optionen bis zum Schluss aufgehoben. Aber wahrscheinlich hatte Sohral recht. Wenn sie überhaupt etwas erreichen wollten, dann mussten sie sich Verbündete schaffen. Die Kolonie war sicherlich nicht der stärkte Partner, den man sich wünschen konnte, bot aber mit den zwei Vulkaniern, trotz ihrer Emotionen, auf wissenschaftlicher Ebene einen echten Vorteil. Und den brauchten sie, wenn sie die Zeitlinie wieder herstellen wollten.
Daher stimmte er zu. „In Ordnung. Wir werden die Geiseln befreien. Sie haben mein Wort.“
„Ich danke Ihnen, Captain. Wir stehen in Ihrer Schuld.“
Sanawey winkte ab. „Leihen Sie uns einfach gelegentlich Ihre Vulkanier und wir sind quitt“, scherzte er, obwohl er es nicht nur im Spaß verstanden wissen wollte. „Ich werde Sie über die Erkenntnisse auf dem Laufenden halten.“
Oket nickte. „Vielen Dank.“ Dann unterbrach er die Verbindung.
Während er aufstand dachte Sanawey bereits darüber nach, wie sie die Geiselnehmer überhaupt finden sollten. Vom Schiff aus konnten sie zwar nach Lebenszeichen scannen und auch verschiedene Spezies wahrnehmen. Doch an der Entführung waren wahrscheinlich nur Menschen beteiligt. Zumindest ließen die Forderungen keinen anderen Schluss zu. Welcher Außerirdische würde schon verlangen, dass man seine Rechte einschränken sollte?
Trotzdem sollten sie den Scan wenigstens einmal versuchen. Denn er sollte nicht sehr zeitaufwendig sein und sie mussten sich im Falle eines Falles nicht vorwerfen lassen, nicht alles versucht zu haben.
Eigentlich hatte er Sohral auf die Brücke rufen lassen wollen, aber nachdem er selbst die Brücke betreten hatte sah er, dass der Vulkanier bereits anwesend war. Offenbar wollte er nach der Rückkehr vom Planeten keine Zeit verlieren und sofort an einer Heimkehrmöglichkeit weiterarbeiten, auch wenn er die Chancen als gering einstufte.
„Mrs. Watts, scannen Sie die Siedlungen und das Umland nach nichtmenschlichen Lebenszeichen ab“, befahl er während er sich in den Kommandosessel setzte.
„Aye, Sir“, bestätigte sie. Ob sie den Befehl für sinnvoll hielt oder nicht ließ sie sich nicht anmerken.
„Mr. Sohral. Wir wurden vom Senat der Kolonie gebeten die Geiseln zu befreien. Arbeiten Sie eine Methode aus, wie wir mit den Scannern die Geiselnehmer möglichst genau orten können, indem wir zum Beispiel nach Waffen scannen. Oder nach irgendwas anderem. Lassen Sie sich etwas einfallen. Wir müssen die Geiseln möglichst genau orten. Wir können schließlich kaum den ganzen Planeten absuchen.“
Der Vulkanier nickte und wandte sich dann wieder seinen Instrumenten zu.
Sanawey sah Watts nachdenklich an. Er musste noch eine Besprechung der Führungscrew einberufen. Unter den gegebenen Umständen wollte er alle auf dem aktuellsten Stand halten. Nur so konnte vermieden werden, dass jemand, wenn er oder sie in eine Situation kam, die eine Entscheidung erforderte, aus Unkenntnis eine falsche traf. Außerdem musste er die Crew noch über Reals Tod informieren. Es sollte eine formelle Information geben, auch wenn er sich sicher war, dass sich die Nachricht bereits im ganzen Schiff verbreitet hatte.
Verärgert lief General Everson durch die Gänge. Seine weitausholenden Schritte zeigten seinen Ärger deutlich und ließen die wenigen Personen, denen er begegnete, zurückweichen. Es war mitten in der Nacht und folglich auch ziemlich still im Hauptquartier der Erdstreitkräfte.
Man hatte ihn vor einer halben Stunde aus dem Schlaf gerissen und mit knappen Worten ins Hauptquartier zu einer Sondersitzung zitiert. Er wusste noch nicht einmal, warum genau er hier war. Ihm war nur gesagt worden, dass es in der Kolonie Terra Ceti eine Geiselnahme gab und diese die Interessen der Erde bedrohte. Mehr hatte man ihm über die Kommunikationsleitungen nicht sagen wollen. Everson hatte allerdings den Eindruck, dass man ihm auch gar nicht mehr hätte sagen können. Offenbar wusste noch niemand Genaueres oder was die Forderungen der Geiselnehmer waren.
Im Moment war ihm das auch alles egal. Man hatte ihn aus dem Bett geholt und das passte ihm nicht. Dabei hatte er oft genug betont, dass er ohne ausreichenden Schlaf ungenießbar war. Sein Ärger richtete sich daher im Moment gegen alles und jeden. Gegen den Präsidenten, der ganz sicher veranlasst hatte ihn wecken zu lassen, gegen die Geiselnehmer, ja, auch gegen die Geisel selbst – wieso hatte sie sich überhaupt entführen lassen? Gegen die ganze verdammte Kolonie, mit der es ohnehin immer Ärger gab und überhaupt hatte sich wohl das gesamte Universum gegen ihn verschworen.
Zudem nagten Zweifel an ihm. Zweifel über das, was hier so alles geschah. Zweifel über die Art und Weise, wie die Erdregierung mit Außerirdischen umging. Und schuld daran war dieser Captain Sanawey. Nach dessen Flucht hatte Everson persönlich sämtliche Protokolle der Verhöre durchgesehen. Sowohl die Sanaweys als auch die seiner Kollegen. Es war zwar nicht viel gewesen, was sie während ihrer Gefangenschaft ausgesagt hatten, doch war es von allen vier übereinstimmend das Gleiche. Naja, eigentlich von allen dreien. Dieses spitzohrige Wesen hatte während der gesamten Zeit nichts gesagt.
Und doch passten alle Aussagen zusammen. Was nur zwei Schlüsse zuließ. Entweder hatten sie sich vorab über alle Details ihrer Geschichte abgesprochen, was sicherlich möglich, aber ohne Motiv nur schwer nachvollziehbar war. Oder sie hatten die Wahrheit gesagt. Dann allerdings bestand die Möglichkeit, dass sie alle in einer falschen Zeitlinie lebten, die es so nicht geben sollte. Und es gab die Chance auf eine bessere Welt. Aber sollten sie deshalb ihr Leben aufgeben? Wie falsch konnte es denn sein, wenn er sich an sein bisheriges Leben erinnern konnte und das obwohl er, nach den Aussagen dieser Fremden, vor zwei Wochen noch gar nicht existiert hatte?
Diese Fragen und die damit einhergehende Ungewissheit nagten an ihm. Und ließen ihn auch andere Dinge in Frage stellen. So zum Beispiel den Umgang mit Außerirdischen. Die Erdregierung tat alles dafür, diesen Umgang so stark wie möglich einzuschränken. Nur so konnte anscheinend die menschliche Rasse geschützt werden. Doch schien es in diesem anderen Universum, aus dem die Fremden kamen, genau gegenteilig zu sein. Und ganz offensichtlich waren sie technologisch viel weiter entwickelt. Lag vielleicht doch in der Zusammenarbeit und der Vielfalt der richtige Weg?
Die Unsicherheit drückte zusätzlich auf seine Stimmung. Mit dieser Laune stieß er energisch die Tür zum Besprechungsraum auf, in dem sich das Krisenteam traf.
Die Köpfe der Anwesenden fuhren hoch. Als sie den General erkannten nickten sie ihm grüßend zu, machten aber keine Anstalten ihm etwas sagen zu wollen. Jeder hoffte, ein anderer würde diese Aufgabe übernehmen. Zu deutlich stand dem General die Laune ins Gesicht geschrieben. Er gab sich auch keine große Mühe seinen Ärger zu verbergen.
Schließlich trat eine stämmige Frau mittleren Alters auf ihn zu. Sie war klein und kompakt gebaut. Ihr Haar war sehr kurz geschnitten und zeigte bereits erste graue Spuren. Mit kleinen Äuglein, die sie stets ein wenig zusammengekniffen hatte, sah sie ihn distanziert freundlich an.
„Guten Morgen, General“, grüßte sie ihn. „Schön, dass Sie trotz der frühen Stunde so schnell bei uns sein können.“
Everson nickte nur knapp, was nicht alleine an seiner Stimmung lag. Vielmehr war es die Frau, für die er nicht besonders viel Sympathie empfand. Susan Choroczenski, Leiterin des Geheimdienstes der Erde. Zumindest das, was es davon gab. Und das war nicht viel. Denn einen einheitlichen Geheimdienst gab es eigentlich nicht. Jeder Staat hatte seinen eigenen Geheimdienst. Und jeder in der Art, wie er ihn brauchte oder moralisch für richtig hielt. Und diese Organisationen gaben ihre Informationen, die die Sicherheit der ganzen Erde betrafen, an Choroczenskis Team weiter. Dort wurden die Daten zusammengeführt und ausgewertet.
Dieses Team bestand aus insgesamt vier Personen. Mehr war einfach nicht notwendig. Die einzelnen Staaten gaben die Informationen nämlich nach eigenem Ermessen weiter. Beurteilte dort jemand, dass die Information nicht wichtig sei oder aber im Widerspruch zur Sicherheit des eigenen Staates stand, dann kamen diese Daten nie bei Choroczenski an. Für das Gesamtbild einer Situation fehlten somit immer Bruchstücke.
Eigentlich wäre die Frau damit für ihren Job zu bemitleiden gewesen. Nur konnte Everson das nicht. Dafür, dass sie eine doch so wenig aussagekräftige und damit wertlose Arbeit machte spielte sie sich immer viel zu sehr auf. Sie musste immer dabei sein und hatte immer etwas zu sagen, auch wenn es niemanden interessierte. Sie merkte nicht einmal, wie sehr sie anderen auf die Nerven ging. Everson verglich sie gerne mit einem Dampfkessel. Sobald ihr etwas nicht passte fing sie erst an deutlich zu schnaufen. Und wenn ein gewisser Punkt erreicht war, dann spielte sie sich auf und das in einer Lautstärke, die jedem klar machen sollte, dass nur sie wusste was richtig und falsch war und was nun zu tun sei. Und wehe dem, der es dann wagte ihr zu widersprechen, der konnte sich auf einen Worthagel einstellen.
Sie geleitete Everson zum Tisch, auf dem bereits verschiedene Karten ausgebreitet waren. Alle zeigten das Gebiet der Siedlungen auf Terra Ceti, nur in verschiedenen Detaillierungsgraden.
„Wir haben eine Geiselnahme auf Terra Ceti“, sagte sie wichtig.
„Das habe ich auch schon erfahren“, brummte Everson.
Sie sah ihn mit einem giftigen Blick an, ehe sie fort fuhr. „Wir führen die Kolonie schon seit einigen Jahren als schwierig in unserem Datenbestand. Immer wieder werden uns Berichte zugetragen, aus denen eindeutig hervor geht, dass es sowohl Unabhängigkeitsbestrebungen gibt sowie einen viel zu regen Kontakt zu Außerirdischen.“ Sie legte eine Pause ein, um die Ungeheuerlichkeit diese Worte zu unterstreichen. „Die Erdregierung wollte dies nun unterbinden und hat die Regierenden der Kolonie per Dekret dazu verpflichtet, die Außerirdischen nicht mehr an allen Bereichen des Lebens der Kolonie teilnehmen zu lassen. Doch die Kolonisten hatten diese Anweisung abgelehnt. Um die Situation doch noch klären zu können wurde ein Sondergesandter geschickt, mit dem Auftrag, den Kolonisten alle Konsequenzen eines Widerstandes darzulegen. Doch soweit kam es nicht. Direkt nach der Ankunft wurde der Gesandte von Kolonisten als Geisel genommen.“
Während Choroczenski die Situation schilderte sah sich Everson die Anwesenden an. Es waren überwiegend Militärs. Und natürlich kannte er alle, schließlich war er der oberste General der Erdstreitkräfte. Ebenso kannte er den Vizepräsidenten der nordamerikanischen Regierung, der ihm schräg gegenüber stand. Nur einen komplett in schwarz gekleideten Mann kannte er nicht. Seine schwarze Uniform gab auch keinerlei Hinweis welcher Organisation er angehörte. Was Everson als sehr seltsam empfand.
„Welche Forderungen haben die Geiselnehmer an die Erde gestellt?“ wollte der Vizepräsident wissen.
„Keine“, war die überraschende Antwort Choroczenski. Man sah ihr direkt an, wie gut sie sich dabei fühlte, mehr zu wissen als die anderen. Und bevor sie die Informationen teilte wollte sie den Moment auskosten.
„Die Geiselnehmer haben keine Forderungen gestellt?“ wiederholte der Vizepräsident ungläubig.
„Doch, das haben sie. Allerdings nicht an uns.“
„Sondern?“ Es war ihm anzumerken, dass er nicht begeistert davon war, die nötigen Informationen nur auf Nachfrage zu erhalten. Und Everson fragte sich nicht zum ersten Mal, wieso man Choroczenski das durchgehen ließ.
„Die Forderungen richten sich gegen den Senat von Terra Ceti. Sie wollen, dass das Dekret der Erde angenommen wird.“
Der Vizepräsident sah sie an. „Das ist doch in unserem Interesse.“
„Es kann aber nicht sein, dass einer unserer Gesandten als Geisel genommen und sein Leben bedroht wird“, polterte Choroczenski los. Dass der Vizepräsident Sympathien für die Geiselnehmer hegen könnte gefiel ihr gar nicht. „Außerdem haben sich die Kolonisten mit dem fremden Raumschiff verbündet, das vor einer Woche von der Erde geflohen ist“, fügte sie hinzu. „Somit ist zu erwarten, dass die Unabhängigkeitsbemühungen verstärkt weiter gehen werden. Wahrscheinlich war auch die Anwesenheit der Fremden hier auf der Erde Teil des Planes. Wir gehen davon aus, dass man mit diesem technologisch weit fortgeschrittenen Schiff zeigen wollte, dass sie uns überlegen sind.“
Stirnrunzelnd sah Everson sie an.
„Was schlagen Sie vor?“ wollte der Vizepräsident wissen.
„Wir sollten mit allem zuschlagen, was wir haben. Wir müssen den Kolonisten und auch allen anderen Kolonien zeigen, dass Gewalt gegen die Erde nicht toleriert wird. Wir müssen ein Exempel statuieren.“
Schweigen breitete sich aus und alle warteten auf die Entscheidung des Vizepräsidenten.
„Was waren denn das für Konsequenzen, die der Gesandte den Kolonisten darlegen sollte?“ fragte Everson in die Stille hinein.
Choroczenski sah ihn nur funkelnd an, machte jedoch keine Anstalten zu antworten.
Der Vizepräsident sprang in die peinliche Lücke und erklärte: „Mr. Banks hatte den Auftrag, dem Senat von Terra Ceti deutlich zu machen, dass eine Ablehnung des Dekrets für die Erdregierung nicht hinnehmbar sei. Und im Falle einer Ablehnung werden wir alles dafür tun, die Kolonie wieder unter unsere Kontrolle zu bringen. Wir sind vorbereitet einen Schlag gegen die Kolonie zu führen und die Regierenden durch eine loyalere Führung zu ersetzen. Und er sollte den Senatoren auch bewusst machen, dass ein solcher Militärschlag nicht ohne Opfer unter den Kolonisten ablaufen würde.“
Unbeeindruckt sah Everson ihn an. Er hatte mit einer solchen Antwort gerechnet. Schließlich war es immer das gleiche Schema, in dem die Erdverantwortlichen dachten. Nur ein Punkt stimmte ihn etwas verwundert.
„Wir sind auf einen Militärschlag vorbereitet?“ wiederholte er die Worte des Vizepräsidenten. „Das letzte Training für ein solches Manöver ist bereits einige Jahre her. Ich bezweifle, dass die Erdstreitkräfte ausreichen vorbereitet sind.“
„Ich rede auch nicht von den Erdstreitkräften“, sagte der Vizepräsident und schien nun seinerseits darüber verwundern zu sein, dass Everson das nicht wusste.
Dieser war nun völlig verwirrt. „Wer, außer den Erdstreitkräften, sollte sonst einen militärischen Auftrag ausführen?“
„Wir“, platzte es aus Choroczenski heraus.
Everson sah sie verständnislos an.
„Der Geheimdienst wurde in den letzten drei Jahren Schritt für Schritt ausgebaut“, klärte der Vizepräsident den völlig verstörten General auf. „Zuerst gab es eine kleine Sondereinheit für besondere und geheime Einsätze. Diese wurde dann ausgebaut und vor zwei Wochen wurde nun das vorerst letzte Kriegsschiff ausgeliefert.“
„Unsere Flotte ist nun so groß wie Ihre.“ Choroczenski platzte fast vor Stolz. „Aber wir haben die modernere Technik, die besseren Waffen und auch die bessere Ausbildung für die Mannschaften.“
„Es gibt eine zweite Armee neben den Erdstreitkräften?“ Everson konnte es kaum glauben.
„Derzeit noch inoffiziell. Aber ja, so ist es“, bestätigte der Vizepräsident. „Die Erdstreitkräfte werden auch weiterhin die Erde schützen und deren Interessen vertreten. Aber der Geheimdienst wird in Zukunft auch militärisch die Interessen der Erdregierung und des Präsidenten vertreten können.“
Eversons Laune wurde durch diese Offenbarung noch schlechter. Am liebsten wäre er dem Vizepräsidenten an die Gurgel gegangen. Und dieser aufgeblasenen Geheimdienstchefin hätte er ihr überhebliches Grinsen aus dem Gesicht prügeln können. Was bildeten sie sich eigentlich ein? Sie hatten seine Armee gerade zur Zeremonienarmee degradiert.
Und den Blicken der anderen Anwesenden nach zu urteilen hatten sie über all das schon Bescheid gewusst. Seine eigenen Untergebenen hatten es gewusst und ihm nichts gesagt. Peinlich berührt und sich ihrer Mitwisserschuld bewusst starrten sie alle an ihm vorbei. Und nun wurde Everson auch klar, wer dieser schwarz gekleidete Mann war. Offenbar gehörte er zu dieser Schattenarmee.
„Und ich nehme an, diese Kolonie wieder auf den rechten Weg zu bringen fällt in die Zuständigkeit des Geheimdienstes“, brummte er zornig und sein Kopf bekam eine tiefrote Färbung.
„Inzwischen ja“, triumphierte Choroczenski auf. „Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Ihre Inkompetenz, mit der Sie vor einer Wochen die Sache mit dem fremden Schiff verpatzt hatten, hat uns diesen Auftrag zugespielt.“
Der Vizepräsident hob beschwichtigend die Arme, bevor Everson etwas sagen konnte. „Betrachten Sie das Ganze als Test. Dieser Einsatz wird die Bewährungsprobe für die Geheimdienstarmee. Wir werden sehen, was geschieht.“
Everson war sich sicher, das Ergebnis bereits zu kennen. Ein Angriff auf eine kaum bewaffnete Kolonie war keine wirkliche Bewährungsprobe. Es war eine Farce. Aber für die Verantwortlichen natürlich der perfekte Vorwand für eine Bestätigung ihrer Pläne.
Eversons Zweifel wurden dadurch allerdings noch bestärkt. Diese neue Armee war die vielleicht schlimmste Neuerung der letzten Zeit. Und er hatte keinen Zweifel daran, dass diese Armee die Erde nicht nur vor äußeren Gefahren schützen sollte, sondern auch vor inneren. Genaugenommen sollte sie die Erdregierung und deren Interessen schützen. Sie war damit im Endeffekt nicht mehr als eine Privatarmee. Die mächtigste Privatarmee, die man sich vorstellen konnte. Er fühlte sich an die Schilderungen im Geschichtsunterricht erinnert. An Geheimdienste wie den KGB unter Stalin oder die Waffen-SS. Bald durfte sich niemand auf der Erde mehr sicher sein. Freie Meinungsäußerung konnte damit im Gefängnis enden. Zwar war er auch der Meinung, dass man auf keinen Fall jeden Gedanken straffrei äußern durfte, aber was nun zu erwarten war übertraf sein Verständnis von Machtpolitik.
Während ihm vor Wut noch die Ohren rauschten und er über die weiteren Konsequenzen des Gehörten nachdachte entging ihm fast der Rest des Gespräches. Er bekam nur noch mit, dass man über den ursprünglich geplanten Einsatz gegen die Kolonie erst nach Beendigung der Geiselnahme weiter nachdenken wollte. Zuerst einmal sollte ein kleines Sonderkommando nach Terra Ceti entsandt werden, um dort die Geiseln aus der Hand ihrer Entführer zu befreien.
Damit konnte Everson erst einmal leben. Das gab ihm noch ein wenig Zeit etwas gegen die Geheimdienstarmee zu unternehmen.
Mit ernstem Gesicht verließ Drake Reed die Krankenstation und lief langsam zum nächsten Lift. Soeben hatte er von Dr. Williams erfahren, dass George Real tot war. Seine bis dahin so gute Laune war mit einem Mal verflogen. Eigentlich hatte er von der Ärztin nur etwas gegen seine Kopfschmerzen haben wollen. Seit er mit Elane zusammen war kam er nicht mehr so viel zum Schlafen, was inzwischen seinen Tribut forderte. Doch als er Elizabeth gesehen hatte, hatte er sofort erkannt, dass etwas passiert war. Natürlich hatte er versucht sie zu trösten und aufzumuntern, doch hatte er das Gefühl, nicht viel bewirkt zu haben. Zum einen hatte ihn die Nachricht selbst getroffen, zum anderen fiel ihm auch nichts Aufmunterndes ein. So hatte er sie nur in den Arm genommen und ihr damit eine kurze Pause verschafft.
Das Kopfschmerzmittel hatte er daraufhin vergessen. Zwar hatte er den Sicherheitschef nicht sonderlich gut gekannt, doch sein Tod traf ihn trotzdem. Irgendwie war er einfach immer da gewesen. Dass das in Zukunft nicht mehr so sein sollte war ein seltsames Gefühl.
Als sich die Lifttüren öffneten stand Elane vor ihm. Sie hatte gerade ihre Schicht beendet und war auf dem Weg in ihr Quartier. Seine Trauer verflog ein wenig und er lächelte sie matt an.
Ihre Augen fingen an zu leuchten, als sie ihn erkannte. Dann aber sah sie auch seine Trauer und ihr Blick wurde besorgt. „Hallo Drake. Alles okay?“
Er betrat den Lift und gab ihr einen kurzen Kuss. Dann sagte er: „Ich habe gerade erfahren, dass George Real gestorben ist.“
Sie legte ihren Arm um ihn. „Tut mir leid. Kanntest du ihn gut?“
„Nein, nicht so sehr. Und es war bei seinem Zustand ja auch abzusehen. Trotzdem stimmt es mich trauriger als ich gedacht hätte.“
Elane hörte ihm schweigend zu. Was hätte sie auch sagen sollen?
Der Lift hielt bereits ein Deck weiter. Elanes Quartier lag hier. Sie drückte Drake noch einmal an sich, dann wandte sie sich zur Tür. „Hier ist mein Quartier“, erklärte sie entschuldigend. Offenbar fühlte sie sich nicht gut dabei, ihn jetzt einfach zu verlassen.
„Ja, ich weiß“, nickte er und lächelte schief. Als ob er das nicht gewusst hätte. „Hast du heute Abend Zeit?“ Er wollte jetzt einfach nicht alleine sein.
Verlegen sah sie zur Seite. Sie schien um eine Antwort herumzudrucksen. „Weißt du... nein. Jasmin, meine Zimmergenossin, wird heute aus der Krankenstation entlassen und da sollte ich da sein.“
Enttäuscht nickte Drake und hoffte, dass sie es nicht merkte. „Dann morgen“, entschied er.
„Ich weiß noch nicht. Es kommt auf Jasmins Zustand an. Ich nehme an, sie wird mich noch brauchen. Ich melde mich bei dir.“ Sie machte einen Schritt zurück und trat damit aus dem Sensorenbereich der Tür. Sofort gingen die Türen zu, so konnte sie sein entsetztes Gesicht nicht mehr sehen.
Drake konnte es kaum glauben. Er brauchte sie doch auch. Gerade jetzt wäre es schön, wenn sie bei ihm wäre und ihm zur Seite stünde. Wer war denn er und wer Jasmin? Immerhin war sie mit ihm zusammen und nicht mit ihr. Seine Enttäuschung war so groß, er konnte es gar nicht beschreiben. Es war ernüchternd und schmerzhaft. Gleichzeitig meldete sich aber auch eine leise Stimme in seinem Kopf, die ihn ermahnte, nicht so streng zu sein. Immerhin durfte man in einer Beziehung Freundschaften nicht vernachlässigen. Und irgendwie war es ja auch richtig von Elane, sich um ihre Kollegin zu kümmern. Immerhin hatte sie eine Kopfverletzung gehabt und war vielleicht noch etwas neben sich. Trotzdem durfte sie ihn doch nicht ganz so vor den Kopf stoßen und einfach zur Seite schieben.
Aufgewühlt verließ Drake den Lift und lief zu seinem Quartier. Sie hatte gesagt, sie würde sich bei ihm melden. Nun gut, darauf würde er warten. Er würde sich auf keinen Fall bei ihr melden. Sie war nun am Zug.
Mit einem schnellen Blick prüfte Jackson die Einstellung ihres Phasers. Er war vorschriftsmäßig auf Betäubung gestellt. Sie steckte ihn sich in die dafür vorgesehene Halterung am Gürtel und sah dann ihre Kollegen an. Zien, Holgrem und zwei weitere Sicherheitsoffiziere standen für einen Außeneinsatz bereit. Im Gegensatz zu ihr hatten die vier allerdings Phasergewehre dabei. Sie alle trugen schwarze, schusssichere Westen, die gegen die meisten Phaserschüsse schützten.
Vor wenigen Minuten hatte Captain Sanawey ihnen den Einsatzbefehl gegeben. Es war eine Rettungsmission. Sie hatten aller Wahrscheinlichkeit nach die Geiseln lokalisiert. Die Chance, dass es sich um die Geiseln handelte war zumindest sehr groß. Gleich der zweite großflächige Scan der Planetenoberfläche hatte zu diesem Erfolg geführt. Sie hatten nach Lebensformen außerhalb der Siedlung gesucht. Und dabei gerade einmal vier Personen entdeckt, die sich deutlich außerhalb befanden. Genauere Scans hatten dann ergeben, dass sich diese vier Personen in einem Höhlensystem aufhielten, das sich mehrere Kilometer südlich der Hauptstadt erstreckte. Alle vier waren eindeutig Menschen. Und wer, außer den Entführern, sollte sich schon freiwillig in einem solchen Höhlensystem verstecken? Wer Geisel und wer Geiselnehmer war, ließ sich mit den Sensoren allerdings nicht bestimmen. So blieb ihnen nichts anders übrig, als selbst die Höhlen zu betreten und die Geiseln zu suchen.
Sanawey stand ebenfalls mit im Transporterraum. Eigentlich hatte er den Außeneinsatz leiten wollen, aber Jackson hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass es nicht sinnvoll war, wenn Captain und erster Offizier sich in Gefahr begaben. Besonders nicht nach den Ereignissen der letzten Tage. Und aufgrund der Sternenflottenorder musste er ohnehin an Bord bleiben. Denn schließlich hatte er das Kommando über das Schiff und somit galt seine erste Verantwortung dem Schiff und der Besatzung. Nur widerwillig hatte er ihr nachgegeben.
Zusammen mit den Sicherheitsoffizieren betrat Jackson die Transporterplattform. Sie hatte ihren Tricorder in der Hand, um nach dem Transport sofort die Umgebung sondieren zu können. Auf gar keinen Fall wollte sie in einen Hinterhalt geraden.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Zien sein Phasergewehr fest umklammerte. Sie wusste, dass es sein erster Einsatz als Oberverantwortlicher der Sicherheitsabteilung war. Zwar war er offiziell noch nicht zum Sicherheitschef ernannt worden, aber als Stellvertreter von Real hatte er nun dessen Verantwortung übernommen.
Offiziell war der Tod George Reals noch nicht bekannt gegeben worden. Die Ereignisse lösten sich so eng gefolgt ab, dass kaum Zeit zum Luft holen blieb, geschweige denn für ein Meeting in dem solche Dinge verkündet werden konnten. Nach der Rückkehr des Außenteams, und der dann hoffentlich erfolgten Befreiung der Geiseln, würde er das auf jeden Fall nachholen, egal was dann als nächstes passierte. Das hatte Sanawey sich fest vorgenommen.
„Viel Glück“, gab er dem Außenteam noch mit auf den Weg, dann gab er Karja ein Zeichen. Wenige Augenblicke später war das Außenteam verschwunden.
„Halte das Team ständig erfasst. Wir müssen sie im Notfall sofort zurück beamen können.“
„Natürlich“, nickte Karja lächelnd. Das hatte sie ohnehin vor gehabt.
Dunkelheit empfing das Außenteam. Es war so dunkel, dass man die eigene Hand vor Augen nicht sah. Jackson war etwas überrascht, fragte sich dann aber selbst, weshalb eigentlich. Was hatte sie erwartet? Sie hatten sich mitten in ein Höhlensystem gebeamt. Tageslicht gab es hier natürlich nicht. Und die Kolonisten hatten es auch nicht für nötig gehalten hier drin elektrisches Licht zu installieren. Wozu auch?
Zum Glück hatte das Sicherheitsteam etwas weiter gedacht, musste Jackson feststellen. Denn hinter ihr leuchteten sofort vier Lichter auf. Die Phasergewehre hatten kleine Scheinwerfer als Aufsatz, mit denen man die Umgebung ausleuchten konnte. Der Schein der Lampen tanzte über die nahen Wände. Überall zeigten sich Risse und Spalten, die teilweise schon sehr alt sein mussten. Ablagerungen, die von eindringendem Wasser mitgebracht worden waren, hatten sich über die Wände gelegt. In größeren Spalten hatten sich säulenartige Tropfsteine gebildet und gaben den Wänden das Aussehen von gigantischen Orgelpfeifensystemen in einer übergroßen Kathedrale. Jahrtausende alte Tropfsteine wuchsen von der Decke herab und strebten ihrem Gegenüber auf dem Boden zu.
Und die Tropfsteine waren nicht das einzige Hindernis auf dem Boden. Gesteinsbrocken von verschiedenen Größen lagen herum und auch hier gab es Risse und Spalten, in denen man sich durchaus verletzen konnte, wenn man unachtsam hineintrat.
Die Luft war frisch. Es hatte sicher nicht mehr als zehn Grad Celsius hier unten und das einzige vernehmbare Geräusch war das unstete Fallen eines Wassertropfens in eine kleine Pfütze.
Jackson zog ihren Tricorder und sah auf die Anzeigen. Sie hatten sich in einiger Entfernung zu den vier Lebenszeichen gebeamt um nicht bemerkt zu werden. Nun mussten sie sich durch die Gänge schlagen. Wenigstens konnte sie keine von Menschenhand errichtete Falle entdecken. Sie befanden sich in einem ins Berginnere führenden Gang. Diesen würden die Entführer sicherlich nicht überwachen, da sie von hier aus nicht mit einer Überraschung rechnen mussten.
„Mr. Zien, gehen Sie bitte vor.“ Jackson musste ihm den Vortritt lassen, da sie selbst keine Lampe dabei hatte. Zum Glück gaben die vorhandenen vier Lampen auch ihr genug Licht.
Der Andorianer trat mit einem großen Schritt an ihr vorbei. Seine schneeweißen Haare leuchteten beinahe im Licht der Scheinwerfer. Aufgrund seiner Größe musste er sich öfters als die anderen bücken, um nicht an die Höhlendecke zu stoßen. Seine beiden inzwischen wieder verheilten Antennen hatten sich eng an den Kopf angelegt und passten sich damit seinem ernsten, konzentrierten Gesichtsausdruck an.
Nur langsam kamen sie voran. Langsamer als sie geplant hatten. Jackson sah immer wieder auf die Anzeigen ihres Tricorders, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen. Schließlich zeigten ihr die Daten an, dass sie sich einer größeren Halle näherten. Nach einigen weiteren Schritten konnten sie vor sich den Lichtschein von anderen Lampen sehen. Das gleichmäßige Leuchten deutete auf ein künstliches Licht hin.
„Lichter aus“, flüsterte Jackson. Sie hatte zwei Lebensformen auf der Anzeige, die sich in der Halle aufhielten.
Vorsichtig schlichen sie weiter, was in der Dunkelheit bei dem unebenen Boden nicht einfach war. Trotzdem schafften sie es beinahe geräuschlos bis zur Halle. Vor ihnen weitete sich der Gang und die Decke wölbte sich nach oben. Die Beschaffenheit des Gesteins über der Halle musste anders sein, denn hier gab es kaum Tropfsteine, so dass auch der Boden nahezu eben war. Erst zum Ende der Halle hin nahmen die Tropfsteine wieder zu.
In der Mitte der Halle stand ein kleiner Generator, der den Strom für drei aufgestellte Lampen lieferte. Direkt neben einer der Lampen saß, an einen Stuhl gefesselt, ein älterer Mann mit schütterem grauem Haar. Seine Klamotten strotzten vor Schmutz und spannten sich über seinen runden Bauch. Auch sein Gesicht war vom Schmutz gezeichnet. Er schien aber unverletzt zu sein. Ob es sich um den Sondergesandten handelte oder aber um den ebenfalls entführten Fahrer ließ sich von der Position des Rettungsteams aus nicht sagen.
Um den Gefangen lief einer der Entführer immer im Kreis herum. Seinem Gesichtsausdruck nach passte ihm irgendetwas nicht.
„Unsere Bitte ist wohl kaum zuviel verlangt, oder?“ brummte der Entführer ärgerlich.
„Was sie verlangen würde bedeuten, dass ich die Erde belügen muss. Und das werde ich niemals tun“, gab der Gefangene ungerührt zurück.
Jackson beobachtete die Szene etwas verwundert. Hatten die Attentäter ihre Forderungen nicht gegen den Senat der Kolonie gerichtet? Und waren diese nicht eindeutig pro Erde ausgerichtet? Was also konnten sie vom Gesandten noch wollen, ohne auf der Erde komplett unglaubwürdig zu werden?
Oder war die Forderung beim Senat nur eine Ablenkung, in der Hoffnung, so die Erde erst einmal von Gegenmaßnahmen abzuhalten?
Letztlich spielte das alles aber keine Rolle. Sie hatten die Aufgabe die Geiseln zu befreien. Und genau das würden sie auch tun.
Jackson gab Zien ein Zeichen. Sie wollte den Geiselnehmer ausschalten, ohne dass er noch Alarm geben konnte. Da sie sowohl zahlenmäßig wie auch technologisch weit überlegen waren, sollte die Befreiung in wenigen Minuten erledigt sein.
„Wir halten der Erde die Treue und wollen nur ein Blutbad verhindern“, ereiferte sich der Entführer und drehte dabei dem Tunnel, in dem das Rettungsteam stand, den Rücken zu. Zien nutzte dies, trat einen Schritt hervor und zielte mit seinem Phasergewehr.
„Sie helfen niemandem. Statt...“ brach der Entführte seine Antwort ab und starrte an seinem Entführer vorbei den plötzlich auftauchenden Andorianer an.
Auch der Entführer fuhr herum. Zu mehr als einem erschrockenen Blick kam er jedoch nicht mehr. Ziens gut gezielter Schuss brachte ihn ins Schwanken und ließ ihn dann mit einem lauten Poltern zu Boden fallen. Nicht ganz so leise wie erhofft. Allerdings hätte es auch schlechter laufen können.
Schnell betraten auch die Anderen die Höhle und nahmen dem Gefangenen wortlos die Fesseln ab.
„Wer sind Sie?“ wollte der Befreite wissen, wurde aber von Holgrem mit einer knappen Geste sofort zum Schweigen gebracht. Noch mussten sie unbedingt Ruhe bewahren. Irgendwo in diesem Höhlenkomplex trieb sich noch ein weiterer Geiselnehmer herum. Und den wollten sie nicht unnötig aufschrecken.
Zien gab seinem Team mittels wortlosen Handzeichen die Anweisung Stellung zu beziehen, um so den zweiten Zugang zur Halle zu sichern. Hinter diesem Zugang führte ein weiter Gang fort. Dieser Gang war allerdings groß genug, dass auch ein großer Mann wie Zien darin problemlos aufrecht gehen konnte. Zudem waren auch hier kleine künstliche Lichtquellen angebracht worden, die für ausreichen Helligkeit sorgten.
Aber noch bevor das Sicherheitsteam seine Aufstellung bezogen hatte erschien der zweite Entführer im Gang. Sein hageres Gesicht zeigte eine ungeheure Anspannung. Finster entschlossen hatte er seine Augen zusammengekniffen. Vor sich her zerrte er die zweite Geisel. Diese hatte er so eng an sich gezogen, dass der Mann zu kaum einer Bewegung fähig war. Zudem hielt er der Geisel ein Messer an den Hals, das bei der kleinsten Bewegung des Mannes in dessen Haut schneiden musste.
„Wer seid ihr?“ fragte der Geiselnehmer grimmig. Es war offensichtlich, dass er über diese Eindringlinge alles andere als begeistert war. Mit einem schnellen Blick erfasste er die Situation in der Halle. Er sah sich fünf Fremden gegenüber, die ihre Waffen auf ihn gerichtet hatten. Sein Komplize lag regungslos am Boden und die Geisel war befreit. Sein Blick verriet, dass er wusste, wie schlecht seine Chancen standen. Trotzdem war er nicht gewillt aufzugeben.
„Lassen Sie die Waffen fallen und gehen Sie dorthin zurück, woher Sie kommen“, befahl er barsch und unterstrich seine Forderung noch, indem er der Geisel das Messer fester an den Hals presste und damit die obersten Hautschichten anritzte.
Jackson sah in fest entschlossen an. Sie senkte ihre Waffe und sprach dann mit ruhiger Stimme. „Bitte. Legen Sie das Messer zur Seite und geben Sie den Mann frei. Wir können über alles reden.“
Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn des Mannes. Es lief so gar nicht, wie er es geplant hatte. „Nein, Sie gehen“, sagte er mit nervöser Stimme. „Ich zähle bis drei und dann ist die Geisel tot.“
Die Geisel selbst hatte die verängstigten Augen inzwischen geschlossen. Er hatte Todesangst und versuchte so wenig wie möglich zu zittern, da das Messer an seinem Hals dabei schmerzhaft an der Haut kratzte. Auch ihm stand der Schweiß auf der Stirn und er war aschfahl.
„Eins“, zählte der Geiselnehmer laut.
„Machen Sie bitte nichts unüberlegtes“, versuchte Jackson die Situation noch zu retten.
„Erschießen Sie ihn“, brüllte der befreite Sondergesandte laut, so dass es von den Wänden widerhallte.
Jackson hätte ihm dafür am liebsten mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Sie verfluchte ihn innerlich tausendfach für sein unprofessionelles Verhalten. Das letzte, das sie jetzt gebrauchen konnten, war jemand, der Öl ins Feuer goss.
„Niemand wird erschossen“, sagte sie betont ruhig und direkt an den Entführer gerichtet.
Nervös sah Russel sich um. Bisher war doch alles ziemlich gut gelaufen. Wie war es nur so weit gekommen, dass nun alles so aus dem Ruder lief? Ihm konnte jetzt nur noch ein Wunder helfen, das wusste er. Entweder gingen die Fremden auf seine Forderungen ein und zogen sich zurück. Oder er musste die Geisel töten. Dann allerdings verlor er sein einziges Druckmittel. Würde er sie allerdings nicht töten, dann war er unglaubwürdig und jede weitere Forderung damit sinnlos.
„Zwei“, zählte er tapfer weiter, in der Hoffnung, doch noch etwas zu bewirken.
Aus dem Augenwinkel heraus sah Jackson, dass Zien in guter Schussposition stand. Nun galt es den Entführer noch so lange abzulenken, bis der Andorianer seinen Schuss ausführen konnte. „Wenn Sie Ihren Gefangenen jetzt frei geben, dann können wir über eine Lösung reden. Wenn Sie ihn aber töten, dann ist alles vorbei.“
Zwei Phaserschüsse zuckten durch den Raum. Ehe jemand reagieren konnte sank der Entführer zusammen mit der Geisel zu Boden. Beide blieben regungslos liegen. Der Geiselnehmer hielt noch immer das Messer in der Hand, sein entspannter Arm jedoch lag ein Stück vom Hals der Geisel entfernt.
Jackson sah sich um. Und erkannte, dass auch Kasaja Holgrem geschossen hatte. Nur dass sie auf die Geisel gezielt hatte. Offenbar hatte sie es für sicherer gehalten, auch die Geisel außer Gefecht zu setzen. So konnte verhindert werden, dass der Mann, der vom stürzenden Entführer mitgerissen wurde, sich durch irgendeine ungeschickte Fluchtbewegung doch noch das Messer in den Hals gerammt hätte.
Zien nickte Holgrem anerkennend zu. Es war ein guter Schuss gewesen. Die beiden Ziele wurden zeitgleich außer Gefecht gesetzt. Die Gefahrensituation war nun entschärft.
„Danke“, hörte Jackson den Sondergesandten der Erde hinter sich sagen.
Sie wandte sich ihm zu und nickte knapp. „Gern geschehen.“
„Wer sind Sie?“ wollte er wissen.
„Commander Sylvia Jackson. Erster Offizier des Raumschiffes Republic
“, stellte sich Jackson vor. „Ich nehme an, Sie sind der Sondergesandte der Erde?“
„Das ist richtig“, nickte er. Zwar schien er froh über die Rettung zu sein, fühlte sich aber ganz eindeutig nicht wohl in seiner Haut. Was entweder daran lag, dass die Rettung nicht durch die Erdstreitkräfte erfolgte oder aber er vor Dreck nur so starrte. „Mein Name ist Banks“, schob er noch nach.
„Wir bringen Sie erst einmal auf unser Schiff. Da können wir dann über die nächsten Schritte sprechen“, schlug Jackson vor.
Erst jetzt schien es bei Banks zu dämmern. „Sie sind die Fremden, die vor zwei Wochen die Erde angreifen wollten“, stieß er hervor.
Jackson zog die Augenbrauen hoch und auch Ziens Antennen streckten sich überrascht vom Kopf weg.
„Wir sind die Fremden, die auf der Erde Hilfe gesucht hatten und dort dann hinterhältig überfallen und gefangen genommen wurden“, entgegnete Holgrem zynisch.
Banks sah sie verwirrt an. „Ich war zu der Zeit nicht auf der Erde. Ich war auf diplomatischer Mission.“ Es klang fast entschuldigend. „Aber ich habe die Zusammenfassung der Berichte gelesen. Sie sind zur Erde gekommen mit der Absicht die Regierung zu übernehmen.“
„Das ist ja wohl...“ fuhr Holgrem auf, wurde jedoch von Jackson mit einem strengen Blick zum Schweigen gebracht.
„Das entspricht nicht der Wahrheit“, entgegnete Jackson kühl, aber ruhig. „Nur spielt das im Moment keine Rolle. Wir werden uns alle zusammen auf unser Schiff beamen und dort das weitere Vorgehen besprechen.“
„Beamen?“ Der Gesandte sah Jackson schockiert an. „Ich werde mich auf keinen Fall beamen lassen. Niemand macht das freiwillig. Der Transporter ist nur zum Warentransport geeignet. Beamen ist für Lebewesen äußerst schädlich. Das bestätigen alle Wissenschaftler.“
„So ein Blödsinn. Es ist völlig ungefährlich. Wir machen das täglich“, erklärte Jackson ruhig. Sie wollte nicht wieder die Studie zitieren, wonach das Beamen das sicherste Transportmittel war, das die Menschen je entwickelt hatten.
„Das ist mir egal. Zudem werde ich bestimmt nicht mit auf Ihr Schiff kommen. Von einer Geiselnahme zur Nächsten. Ich gehe zurück zum Flugplatz. Dort steht mein Schiff.“
„Wie kommen Sie darauf, dass wir das zulassen, Meister? Wir haben die Waffen“, erinnerte Holgrem ihn vorlaut.
Banks reagierte nicht darauf, sondern sah sie nur herablassend an. Holgrem hätte ihm am liebsten gesagt, wie lächerlich er mit seiner verdreckten Kleidung aussah, aber Jackson kam ihr zuvor.
„Mrs. Holgrem, informieren Sie den Captain, dass die Rettungsmission ein Erfolg war und wir den Gesandten nun zu seinem Schiff eskortieren werden“, befahl sie. So war die vorlaute Sicherheitsoffizierin erst einmal beschäftigt.
Zwar war Jackson nicht gerade begeistert davon, sich mit dem Gesandten zu Fuß auf den Weg zu machen. Aber der Captain hatte ihr eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie nichts tun sollte, das die Beziehung zur Erde noch weiter belasten würde. Und nun den Wunsch des Gesandten abzuschlagen fiel wohl eindeutig darunter. Also blieb ihr nichts anderes übrig als zu tun was er wollte.
Während Holgrem die Republic
über die Geschehnisse informierte, befahl Jackson einem der Sicherheitsoffiziere auf die Gefangenen aufzupassen. „Sobald wir weg sind beamen Sie alle an Bord zurück“, gab sie ihm noch leise mit.
„Wieso wollen Sie einen Ihrer Leute zur Bewachung der Toten zurücklassen?“ fragte Banks misstrauisch, als er das mitbekam. „Von denen geht keine Gefahr mehr aus.“
„Sie sind nicht tot. Nur bewusstlos. Und wir haben noch einige Fragen an sie“, erklärte Jackson etwas genervt.
„Sie leben noch? Dann müssen Sie sie der Erdregierung überlassen. Sie haben sich vor einem Gericht der Entführung und des Mordes zu verantworten. Und ich will meinen Fahrer zurück.“
„Natürlich“, nickte sie nur. Dann deutete sie in Richtung des Ganges, der hoffentlich zum Ausgang führte. „Wollen Sie nun zu Ihrem Schiff zurück?“
Der Gesandte warf ihr einen bösen Blick zu, ging dann aber wortlos hinter Zien her, als dieser vorausging.
Die Gänge in diesem Teil waren breit und hoch, so dass sie bequem gehen konnten und gut voran kamen. Sie durchquerten zwei weitere große Hallen, ehe sie zum Ausgang der Höhle kamen. Inzwischen war es Abend geworden. Die Sonne stand nahe am Horizont und schickte ihnen ihre letzten Strahlen entgegen. Trotzdem war es noch so heiß, dass ihnen fast der Atem wegblieb. In der Höhle war es eher ein wenig zu kühl gewesen und nun fühlten sie sich wie in einem Backofen.
„Der Flugplatz liegt knapp fünfzehn Meilen nordwestlich von hier“, sagte Jackson nachdem sie ihrem Tricorder die Daten entnommen hatte. „Das schaffen wir nicht mehr vor der Dunkelheit.“
„Er sei denn, wir nehmen den Gleiter dort hinten“, sagte Zien und nickte in die entsprechende Richtung.
Ein Bodengleiter, der Platz für sieben Personen bot, war unweit des Eingangs der Höhle geparkt. Mit ihm mussten die Entführer die Geiseln her gebracht haben. Ein perfektes Transportmittel für Entführungen, da er keine Spuren am Boden hinterließ. Und dann stellten sie ihn hier einfach ab, wohl wissend, dass hier niemand vorbei kam und der Planet noch keine künstliche Satelliten hatte, mit den man ihn hätte orten können.
„Können Sie so etwas fahren?“ fragte Jackson den Andorianer.
„Das dürfte kein Problem sein“, kam die zuversichtliche Antwort.
Wenige Minuten später waren sie unterwegs. Der Gleiter schwebte einen knappen Meter über dem Boden dahin. Jackson empfand die Art der Fortbewegung alles andere als angenehm. Der Gleiter musste ein älteres Modell sein, denn er glich die Unebenheiten im Boden nicht sanft aus, sondern folgte ihnen mit harten Stößen. Sie war froh, als sie nach einer knappen halben Stunde endlich den Flugplatz erreichten.
Banks schien ebenfalls erleichtert zu sein, denn ein kurzes Lächeln glitt über sein Gesicht.
Sie wurden von einer Gruppe Polizisten empfangen, die den Flugplatz nach der Entführung abgesperrt hatten. Als sie in Banks den Sondergesandten erkannten, nahmen sie im Kreis um das Fahrzeug Aufstellung und zogen ihre Waffen.
Zien wollte ebenfalls seine Waffe ziehen, aber Jackson hielt ihn zurück. „Das ist ein Missverständnis. Das sollten wir auf keinen Fall mit Waffengewalt lösen.“
„Ich werde das klären“, sagte Banks und ehe jemand reagieren konnte stieg er aus dem Fahrzeug. Er ging geradewegs auf den Befehlshaber der Polizei zu. Dieser stellte mit sichtbarer Erleichterung fest, dass dem Gesandten offenbar nichts fehlte.
„Mr. Banks, schön, dass Sie wieder zurück sind.“
„Was nicht Ihr Verdienst ist. Der irdischen Polizei wäre so etwas nie passiert“, herrschte Banks ihn an. „Aber Sie können sich trotzdem noch beweisen. Im Gleiter dort sitzen drei Staatsfeinde der Erde. Sie haben mich entführt. Nehmen Sie sie fest.“
Der Mann sah ihn verwirrt an. Das ergab keinen Sinn für ihn. „Sind das Ihre Entführer? Aber warum...“
„Nehmen Sie sie fest“, brüllte Banks wütend.
Jackson hatte im Gleiter von der Unterhaltung nichts mitbekommen. Aber als Banks auf den Gleiter gezeigt hatte, da schwante ihr nichts Gutes. Der Mann war absolut durchtrieben, das hatte sie von Anfang an gemerkt. Darum hatte sie unauffällig ihren Kommunikator hervorgeholt. Als Banks jetzt laut ihre Festnahme forderte gab sie den Befehl zum sofortigen Beamen. Noch bevor die Polizisten ihrer habhaft werden konnten waren sie verschwunden.
Sanawey lief durch die Gänge der Republic
in Richtung der Krankenstation. An einer Kreuzung stieß Counselor Bozman zu ihm.
„Captain“, grüßte sie förmlich.
„Mrs. Bozman“, nickte er zurück. Er hatte das Gefühl, dass die junge Frau sich in seiner Nähe immer etwas versteifte. „Pünktlich auf die Minute.“
„Ja, Sir“, antwortete sie artig. Er hatte sie aufgefordert auf die Krankenstation zu kommen. Dort lag noch immer der bewusstlose Fahrer des Sondergesandten, den sie inzwischen mit den beiden Geiselnehmern an Bord gebeamt hatten. Es gab noch einige offene Fragen, die nach einer Antwort verlangten.
Dr. Williams machte ihnen aber gleich nachdem sie eingetreten waren klar, dass sie ein allzu langes Verhör nicht zulassen würde. Der Mann bräuchte noch Ruhe. Und erst nachdem Sanawey zugesichert hatte schonend vorzugehen, verabreichte sie ihm eine Injektion, die ihn aufweckte.
Benommen sah der Mann sich um. Als er Sanaweys Uniform erblickte frage er erschrocken: „Wo bin ich?“
„In Sicherheit. Sie befinden sich in einer medizinischen Einrichtung. Ich bin Dr. Williams“, sprach die Ärztin sanft auf ihn ein. „Das sind Captain Sanawey und Counselor Bozman. Die beiden haben einige Fragen an Sie. Und wenn es Ihnen zu viel wird, rufen Sie mich. Ich werfe die beiden dann raus“, zwinkerte sie ihm freundlich zu. Dann ging sie in ihr unmittelbar nebenan liegendes Büro, ließ die Tür aber so offen stehen, dass sie den Captain weiterhin im Blick hatte.
Der Mann setzte sich mühsam auf und musterte seine beiden Gegenüber. „Was wollen Sie wissen?“
„Naja, Sie wissen jetzt wer wir sind. Wie heißen Sie?“ fing Sanawey ruhig an.
„Ich bin Jeffrey Conner“, kam die kurze Antwort.
Das ist wenigstens mal ein Anfang, dachte Sanawey. Er sah Conner an. Der Mann mochte um die vierzig sein. Er wirkte durchtrainiert und fit. Vielleicht gehörte er deswegen zum Tross des Sondergesandten. Im Zweifelsfall konnte er bestimmt die Bodyguards unterstützen. Sein Gesichtsausdruck wirkte grob und unfreundlich. Man hätte ihn wohl kaum als einen Feingeist beschrieben. Sanawey frage sich unwillkürlich, ob Conner etwas mit Kunst und Kultur anfangen konnte. Zwar ermahnte er sich selbst, nicht in solchen Klischees zu denken. Aber die Frage drängte sich bei seinem Anblick auf.
„Können Sie uns erzählen, was passiert ist? Wer waren die Entführer und was wollten sie von Ihnen und dem Sondergesandten?“
Conner sah ihn scharf an. „Warum sollte ich Ihnen das sagen?“
Dass er sich weigern würde zu kooperieren hatte Sanawey schon erwartet. Auch das entsprach irgendwie einem Klischee, doch gab es diese ja meist nicht ganz umsonst. „Weil wir Sie befreit haben. Weil es höflich wäre. Und weil es garantiert kein Staatsgeheimnis ist.“
„Und weil Sie mich sonst hier festhalten?“ gab er angriffslustig zurück.
Sanawey seufzte. Warum dachten das immer alle? „Nein, das werden wir nicht. Sie können gehen, wann es Ihnen beliebt. Es wäre einfach nett, wenn Sie uns noch einige Infos geben würden.“
„Wir brauchen diese Informationen, um uns eine eigene Meinung bilden zu können“, ergänzte Bozman in zuckersüßem Tonfall. „Wir bekommen sonst nur Informationen aus dem Senat der Kolonie. Und die können uns schließlich alles erzählen. Nur mit dem was Sie uns sagen, können wir die Lügen der Kolonisten erkennen. Und entsprechend handeln.“
Sanawey versuchte ernst zu bleiben. Tatsächlich war er vom Vorpreschen Bozmans absolut überrascht. Auch hielt er ihre Worte nicht unbedingt für angebracht.
Conner jedoch kam wohl ins Grübeln. Er sah von Sanawey zu Bozman und dann wieder zurück. „Wir wurden von vier Terroristen angegriffen“, begann er schließlich und schilderte in knappen Worten den Überfall. Sanawey hatte das Gefühl, dass er bei der Beschreibung der Entführer ziemlich übertrieb. Offenbar wollte er nicht zugeben, dass drei gut ausgebildete Leibwächter und zwei fast ebenbürtige Fahrer von vier schlecht ausgerüsteten Angreifern überwältigt worden waren. „Sie brachten Mr. Banks und mich dann zur Höhle. Dort wurden wir getrennt. Den Rest kennen Sie.“
„Und hatten die Geiselnehmer auch Forderungen an Sie?“ hakte der Captain nach.
„Zumindest nicht an mich. Ob sie von Mr. Banks etwas forderten weiß ich nicht.“
Sanawey nickte. „Vielen Dank, Mr. Conner.“
„Kann ich jetzt gehen?“
„Natürlich“, nickte Sanawey. „Wir bringen Sie direkt zu Mr. Banks.“
Es wurde etwas schwieriger als er befürchtet hatte. Nur nach viel gutem Zureden und der steten Beteuerung, dass zur Zeit kein Shuttlepilot abkömmlich sei, ließ sich Jeffrey Conner mit dem Transporter zur Oberfläche beamen. Letztlich war nur die Befürchtung länger auf diesem Schiff bleiben zu müssen größer als die Angst sich beamen zu lassen.
Sanawey konnte diese Ablehnung nicht verstehen. Er selbst wollte auf keinen Fall mehr ohne Transporter leben müssen. In Sekundenschnelle konnte man damit an andere Orte gelangen. Der Weg zwischen Schiff und Planet war damit einfach und schnell. Mit einem Shuttle musste er für jede Strecke mindestens zwanzig Minuten einplanen. Mit dem Transporter waren es Sekunden. Aber wahrscheinlich beruhte die Ablehnung einfach nur auf der Angst vor etwas Neuem. Die Menschen des 19. oder 20. Jahrhunderts hatten Angst vor der Bahn, dem Auto und dem Flugzeug und später konnten sie ohne diese Transportmittel nicht mehr leben.
Als er endlich weg war sah Sanawey seine Counselor fragend an. „Was meinen Sie?“
„Ich denke, er hat die Wahrheit gesagt. Die Geschichte deckt sich mit dem was wir schon wissen. Und warum hätte er Lügen sollen?“
„Tja, da fallen mir einige Gründe ein“, brummte Sanawey. „Aber ich denke auch, dass er nicht mehr wusste. Ich hoffe, die beiden Entführer wissen mehr und sind genauso auskunftsfreudig.“
„Mr. Banks ist wieder frei“, rief einer der Kommunikationsoffiziere durch den Besprechungsraum der Erdstreitkräfte, in dem noch immer die Krisensitzung stattfand.
Jubel brach unter den Anwesenden aus. Das waren nervenaufreibende Stunden gewesen. Und nun war, zur Überraschung aller, die Geiselnahme beendet. Sie hatten sich auf wesentlich längere Verhandlungen eingestellt und auf zähe Stunden voller Ungewissheit.
Als der Jubel nachließ blickte sich Susan Choroczenski mit ernstem Gesicht im Raum um. Auch das letzte Lächeln verschwand aus den Gesichtern der Anwesenden, als sie ihren Blick sahen. Es war nicht so, dass sie wegen ihrer Autorität gefürchtet wurde. Bisher hatte man sich hinter ihrem Rücken eher lustig über sie gemacht. Doch es hatte sich herumgesprochen, dass der Geheimdienst aufgewertet worden war. Und damit ihre Macht zugenommen hatte. Außerdem hatte niemand im Raum große Lust sich ihren Zorn zuzuziehen. Das endete immer in einer ewig langen Ansprach darüber, wie faul alle doch waren und dass sämtliche Arbeit immer an ihr hängen blieb. Und davor hatten alle am meisten Angst.
„Es ist ein bisschen früh, um zu jubeln“, sagte sie mit lauter Stimme. Inzwischen waren sie und General Everson die hochrangigsten Personen, die anwesend waren. Der Vizepräsident hatte sich verabschiedet. Anscheinend hatte er noch andere wichtige Termine.
Everson hielt sich eher im Hintergrund und hatte Choroczenski das Feld überlassen. Sollte sie doch die Fehlentscheidungen treffen, die er dann wieder ausbügeln konnte. Ihr Aufstieg passte ihm nicht sonderlich. Er musste irgendetwas unternehmen, und darüber zerbrach er sich schon die ganze Zeit den Kopf. Außerdem ersparte er sich damit eine Auseinandersetzung mit ihr. Das wollte er nicht vor allen anderen austragen. Zumal er sich nicht sicher war, ob er gewinnen würde. Wer wusste schon welche Asse sie noch im Ärmel hatte, von denen er nichts wusste.
„Von wem kam diese Meldung? Haben wir eine Bestätigung?“ fuhr sie fort. „Wie ist unser Mann frei gekommen? Eine Befreiung durch die Kolonisten selbst wäre eine unschöne Angelegenheit. Das könnte ihnen Sympathien einbringen. Sie sehen, es gibt noch viele offene Fragen. Und wenn alles zu unserer Zufriedenheit gelöst ist, dann, und erst dann, besteht Grund zur Freude.“
Einige nickten betreten, andere blickten stur auf ihre Bildschirme und taten so, als wären sie schon wieder in ihre Arbeit vertieft.
Vorsichtig näherte sich der Kommunikationsoffizier, der vorher die Kunde von der freien Geisel in den Raum geworfen hatte. „Ma’am. Hier sind weitere Daten aus der Meldung.“
Choroczenski sah ihn kalt an. „Ihre vorlaute Meldung wird ein Nachspiel für Sie haben.“
Der junge Mann schluckte hart, nickte dann, sagte aber nichts. Er ahnte, jedes weitere Wort würde die Sache für ihn nur noch schlimmer machen.
„Dann berichten Sie mal“, forderte sie ihn auf.
„Mr. Bank hat sich persönlich gemeldet. Er war bereits wieder auf seinem Schiff. In seiner Meldung hatte er sich kurz gefasst. Demnach sind bei der Geiselnahme alle seine Leibwächter getötet worden. Außerdem noch einer der beiden Fahrer. Er selbst sei unverletzt. Allerdings fühle er sich auf das Schlimmste gedemütigt. Er fordert harte Vergeltungsmaßnahmen.“
Choroczenski nickte. „Irgendwas zu den Umständen seiner Befreiung? Hatte er es alleine geschafft oder hatte er Hilfe?“
„Er hat gesagt, dass ihm ein Team des fremden Raumschiffes geholfen hatte, das vor etwas mehr als einer Wochen die Erde hatte angreifen wollen.“
„Was?“ fuhr Choroczenski auf, riss sich jedoch gleich wieder zusammen. „Warum haben die ihm geholfen? Welchen Vorteil erhoffen Sie sich dadurch?“ dachte sie laut nach.
„Das hat er nicht gesagt“, gab der Mann kleinlaut zurück. „Das war ohnehin schon alles. Mr. Banks wollte erst noch die Lage sondieren und sich frisch machen. Dann wollte er sich noch einmal bei uns melden.“
„Der Mann hat Nerven“, brummte sie. „In Ordnung. Gehen Sie zurück auf Ihren Posten.“
Er salutierte und war dann schnellen Schrittes verschwunden.
„Wir müssen sofort handeln“, sagte Choroszenski mehr zu sich selbst, da sonst niemand mehr bei ihr stand. „Wenn diese Fremden sich mit den Kolonisten verbünden, dann könnte es gefährlich werden.“
Auch wenn Everson ein paar Schritte hinter ihr stand, so hatte er sie doch verstanden. „Sie wollen angreifen?“ frage er und trat neben sie. „Sie wissen, wie stark dieses Schiff ist. Wenn Sie das Leben Ihrer Leute und Ihre Flotte riskieren wollen...“ Er brach ab und hätte sich auf die Zunge beißen können. Lautlos schallte er sich einen Narr. Das wäre die Gelegenheit gewesen, diese Konkurrenzflotte des Geheimdienstes gleich wieder los zu werden. Bei einem Angriff auf die weit überlegene Republic
hätte Choroszenski herbe Verluste hinnehmen müssen. Vielleicht sogar den ihrer ganzen Flotte. Und er Dummkopf hatte sie nun auch noch warnen müssen.
„Sie sind nicht unschlagbar“, gab sie unwirsch zurück. „Sogar Ihre Leute haben es geschafft, dem Schiff einen erheblichen Schaden zuzufügen.“
„Stimmt. Nur, dass unser Schiff dabei explodiert ist. Und wir hatten noch das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Inzwischen haben sie sich vielleicht darauf vorbereitet.“ Jetzt konnte er sie noch so lange provozieren, bis sie vor Wut doch angriff, nur um ihm zu beweisen, dass sie besser war. „Inzwischen dürfte die Republic
keinen Schwachpunkt mehr haben. Da beißen Sie sich die Zähne dran aus.“
„Meine Schiffe sind moderner als Ihre. Und meine Leute sind besser.“
Er stürzte die Lippen. „Wenn Sie das sagen.“ Das musste genügen. Nicht, dass sie noch Verdacht schöpfte. Daher wandte er sich um und verließ den Raum. Seine Verbündeten hier würden ihn schon wieder dazu holen, wenn sich etwas Interessantes tat.
Die Leiterin des Sicherheitsdienstes sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach. Es kam ihr so vor, als hatte Everson etwas zu erreichen versucht. Doch was immer es war, sie durfte auf keinen Fall darauf herein fallen.
Allerdings hatte er nicht ganz unrecht, musste sie sich eingestehen. Wenn das fremde Schiff sich bei der Kolonie aufhielt, dann konnte sie erst einmal nichts weiter tun. Sie konnten noch nicht einmal die Kolonie selbst bestrafen. Jeder Anflug des Planeten barg das Risiko einer verlustreichen Schlacht. Und sie war nicht gewillt ihre neugewonnene Macht, die sie der Stärke ihrer Flotte verdankte, aufs Spiel zu setzen, indem sie die Schiffe einem zu großen Risiko aussetzte.
Vielleicht konnte sie ja erreichen, dass die Erdstreitkräfte dorthin geschickt wurden. Sollten doch deren Schiffe zerstört werden. Aber vielleicht war genau das Eversons Hintergedanke gewesen. Das musste es sein. Er wollte die Republic
selbst aufbringen. Vielleicht hatten seine Techniker und Ingenieure eine Schwachstelle des fremden Schiffes gefunden und konnten es nun ganz ohne Gefahr stellen. Aber diesen Erfolg durfte Everson auf keinen Fall erringen.
Ein böses Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie hatten den General durchschaut. Und nun konnte sie etwas dagegen unternehmen. Letztlich würde sie über ihn triumphieren.
Zien erwartete Sanawey und Bozman bereits bei den Arrestzellen. Karja hatte die beiden darüber informiert, dass das Außenteam wieder an Bord sei und dass der Andorianer sofort zu den Gefangenen gehen wollte.
Die Republic
verfügte über drei Arrestzellen, die in einem besonders gesicherten Teil des Schiffes direkt neben der Sicherheitszentrale untergebracht waren. Kraftfelder an den Türen der Zellen sorgten dafür, dass niemand entkommen konnte. Am Türrahmen eingebaute Leuchtstreifen zeigten an, ob ein Kraftfeld eingeschaltet war. Die Kraftfelder selbst waren nicht sichtbar. So konnte man auch durch das Feld hindurch mit dem Gefangenen reden, ohne dass dieser einem gefährlich werden konnte.
Derzeit waren zwei Zellen belegt. Die Sicherheitsmannschaft hatte die beiden Entführer getrennt. So konnten sie erst einmal keine Absprachen irgendwelcher Art treffen.
„Wie ist es auf dem Planeten gelaufen?“ wollte Sanawey wissen. „Gab es irgendwelche Probleme?“
„Nein, Sir. Wir haben die Geiseln befreit und den Sondergesandten zum Flugplatz zurück gebracht“, erwiderte Zien. Das hinterhältige Verhalten des Gesandten hielt er im Moment nicht für erwähnenswert.
Sanawey nickte. „Schade, dass er nicht rauf kommen wollte. Ich hätte mich gerne einmal mit ihm unterhalten.“
Dann wandten sie sich den Gefangenen zu. Sanawey sah, dass die betäubende Wirkung des Phasers bereits nachgelassen hatte. Mit vor dem Gesicht gefalteten Händen saß der Gefangene an der Zellenwand. Sorgenfalten lagen auf seinem hageren Gesicht. Sorgen, die auf jeden Fall berechtigt waren. Er hatte nicht mehr viel von der Zukunft zu erwarten.
„Ich bin Captain Sanawey, Commander dieses Schiffes“, stelle er sich mit fester Stimme vor. „Wer sind Sie?“
Der Mann hob langsam den Kopf und sah ihn wie aus weiter Ferne an.
„Wie heißen Sie?“ wiederholte Sanawey deutlich, nachdem keine Antwort kam.
„Mein Name ist William Russel“, sagte der Gefangene matt.
„Ich nehme an, Sie wissen, dass Mr. Banks wieder frei ist. Er ist bereits wieder bei seinem Schiff. Ihre kleine Entführung ist gescheitert und Sie haben die Kolonie in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Was haben Sie damit erreichen wollen? Und erzählen Sie mir nicht, dass Sie nur die Senatoren erpressen wollten. Wir wissen, dass Sie auch eine Forderung an den Gesandten gestellt hatten.“
Russel schüttelte nur abfällig den Kopf. „Sie sind fremd hier. Sie verstehen das einfach nicht.“
„Dann erklären Sie es mir.“
Der Gefangene schnaubte nur, machte aber keine Anstalten etwas zu sagen.
„Hören Sie, Mr. Russel. Ich mag nicht von hier sein und vielleicht verstehe ich auch nicht alles, was hier läuft. Ich glaube aber, dass ich die Denkweise der Erdregierung schon verstanden habe. Immerhin war ich einige Tage ihr Gast“, sagte Sanawey, wobei er Gast besonders ironisch betonte. „Man wird Ihre Auslieferung fordern. Und dann werden Sie in irgendeinem Gefängnis ohne weitere Rechte verschwinden. Niemand wird je wieder etwas von Ihnen hören. Haben Sie Familie?“ Das kurze Schweigen deutete Sanawey als Zustimmung. Daher zeigte er Russel nochmal deutlich seine Alternativen auf. „Sie können mit uns reden oder mit der Erdregierung.“
Russel sah ihn an. „Und welche Garantie habe ich, dass Sie mich nicht doch ausliefern, wenn Sie die Information haben, die Sie wollen?“
„Oh, ich habe nicht gesagt, dass wir Sie nicht ausliefern werden. Das werden wir auf jeden Fall. Wie Sie schon sagten sind wir fremd hier. Da will ich mich nirgendwo einmischen. Es ist nur die Frage, an wen wir Sie ausliefern werden. An die Erde oder an die Kolonie.“
„Ha“, brummte Russel mit einem humorlosen Lächeln. „Als ob das einen Unterschied machen würde.“
„Das macht ganz sicher einen Unterschied und ich denke das wissen Sie. Aber letztlich ist es Ihre Entscheidung“, zuckte Sanawey mit den Schultern. Er wandte sich ab und ging zur nächsten Zelle.
Bozman sah ihm etwas erstaunt nach. Sie hätte nicht gedacht, dass der Captain so leicht aufgeben würde. Sie wollte ihm gerade etwas zuflüstern, als sich Russel nochmal meldete.
„Captain. Warten Sie.“
Sanaweys Mundwinkel zuckten kurz, dann wandte er sich wieder dem Gefangenen zu.
Langsam erhob sich Russel und trat nahe an das Kraftfeld heran. Er hob seine Hand und kam damit dem Energiefeld so nahe, dass er die statischen Entladungen spüren konnte.
„Das Kraftfeld wird Sie nicht töten, falls Sie das beabsichtigen“, sagte Sanawey ruhig. Die Konstrukteure hatten sich schon etwas dabei gedacht. Nicht, dass ein Gefangener seinem Leben womöglich noch vorzeitig ein Ende setzte.
Russel ließ die Hand wieder sinken. „Das war nicht meine Absicht, obwohl ich den Gedanken hatte.“
„Wollen Sie mir etwas erzählen?“ hakte Sanawey nach. „Denn zu den Kraftfeldern kann ich Ihnen nicht viel sagen. Da müsste ich meine Chefingenieurin holen.“
„Schon gut“, winkte Russel ab. Er holte noch einmal Luft. „Wir hatten vom Gesandten gefordert, dass die Entführung keine Vergeltung seitens der Erde nach sich ziehen dürfte. Schließlich hatten wir doch auch im Interesse der Erde gehandelt.“
„Ich bezweifle, dass man das dort genauso sehen wird“, sagte Sanawey ernst.
„Tja, das werden wir durch Ihre Einmischung nun nie erfahren.“ Russel wirkte noch immer von seinem Tun überzeugt.
„Waren Sie der Kopf dieser Entführung?“ wollte Sanawey wissen. Ein nicht ganz unbedeutender Punkt, würde das doch das Strafmaß beeinflussen.
„Wenn Sie meinen, ob es meine Idee war, dann ja. Wobei, genaugenommen eigentlich nicht. Die Idee hatte mir ein Mann in der Bar in den Kopf gesetzt“, erinnerte sich Russel.
„Wer?“ fragte Sanawey automatisch, obwohl er wusste, dass es eine ziemlich blödsinnige Frage war. In einer Bar trafen sich eine Unmenge Gestalten mit vorhandenen kriminellen Energien. Und über ein Verbrechen nachzudenken war nach den Gesetzen der Föderation noch keine Straftat. Und sicherlich auch nicht nach den Gesetzen der hiesigen Erde.
„Ein Mann, wahrscheinlich so Mitte dreißig. Er hatte kurz geschorenes Haar. Und eine mächtige Hakennase. Mehr ist mir an ihm nicht aufgefallen“, zuckte Russel die Schultern.
Sanawey sah ihn groß an. Zum einen, weil er nicht mit einer Antwort gerechnet hatte. Und zum anderen wegen der Beschreibung. Ihm war auch schon ein Mann mit einer solchen Nase in der Kolonie begegnet. Doch das konnte nicht sein. Das wäre ungeheuerlich. Immerhin war dieser Mann Senator.
„Mr. Zien, besorgen Sie mir ein Datenpad“, befahl Sanawey.
Der Andorianer verschwand mit großen Schritten, war aber wenige Augenblicke später schon wieder da und überreichte dem Captain das gewünschte Pad.
„War’s das schon an Fragen?“ wollte Russel wissen.
„Noch nicht ganz.“ Sanawey tippte wild auf dem Pad herum und durchsuchte die Datenbanken nach den Bildern der Senatoren. Zum Glück hatten sie sich für die Suche nach den Geiseln in den Computer der Kolonie eingehackt und einen Datendownload durchgeführt.
Als er das gesuchte Bild schließlich fand hielt er das Pad so vor Russel hin, dass dieser es sehen konnte.
„Ist er das?“ fragte Sanawey.
Der Gefangene betrachtete das Bild und nickte dann. „Ja, das ist er.“
„Verdammt“, entfuhr es dem Captain. Er reichte das Pad an Zien zurück.
„Wer ist das?“ wollte Russel wissen.
Sanawey zögerte. Er war sich nicht sicher, ob er es dem Gefangenen sagen sollte. Immerhin hatte er mehrere Leben auf seinem Gewissen. Andererseits war seine Lage so ernst, dass ihm das Wissen um den Anstifter vielleicht noch etwas helfen konnte.
„Wer ist das?“ wiederholte Russel drängender.
„Das ist Henry John. Er ist einer der Senatoren der Kolonie.“
Russel brauchte ein paar Sekunden um die Information zu verarbeiten. „Er ist Senator? Wieso sollte er mir dann einen solchen Floh ins Ohr setzen?“
„Das weiß ich nicht. Aber es bedeutet bestimmt nichts Gutes. Und leider haben wir nur Ihre Aussage.“ Doch falls etwas daran sein sollte, dann musste er handeln. Er musste sofort mit Senator Oket sprechen.
ELF
Ganze drei Tage wartete Reed bereits. Doch Elane meldete sich nicht bei ihm. Er sah sie noch nicht einmal. Es war zum aus der Haut fahren. Mit jedem Tag wurde er kribbeliger. Auf der einen Seite wuchs seine Wut, auf der anderen Seite vermisste er sie immer mehr. Er wollte wieder etwas mit ihr unternehmen, mit ihr Reden und mit ihr Lachen. Aber sein Stolz verbot ihm, sich bei ihr zu melden. Auf gar keinen Fall würde er nach einer solchen Abfuhr bei ihr angekrochen kommen. Sie musste den ersten Schritt tun.
Letztlich hielt er es aber doch nicht mehr aus. Seine Sehnsucht nach ihr gewann die Oberhand. Bereits eine halbe Stunde lang ging er in seinem Quartier auf und ab und überlegte, wie er es anstellen sollte. Da sie sich nie über den Weg liefen und er auch keinen Fall zu ihr gehen wollte, beschloss er ihr eine Nachricht zu schicken.
Er nahm sein Datenpad, das als mobiler Zugang zum Computer diente und tippte über die Touch-Screen-Felder ein paar Buchstaben ein. Dann löschte er die Nachricht wieder. Wollte er ihr wirklich eine Nachricht zukommen lassen? Eigentlich wollte er sie doch kommen lassen. Nur hatte er das Gefühl, dann noch lange warten zu können. Also gut. Nochmal.
So ging es noch ein paar Mal, bis er schließlich die geschriebenen Zeilen mit einer schnellen Bewegung abschickte. Es war nur eine kurze Nachricht, zu mehr hatte er sich einfach nicht durchringen können.
Hallo Elane,
wie geht es Dir? Und wie geht es Jasmin?
Ich vermisse Dich. Ich würde Dich gerne wieder sehen. Hoffe, Du hast bald mal wieder Zeit für mich.
Bussi. Drake.
Jetzt war es raus und er konnte nur noch auf eine Reaktion warten. Zuerst blieb er neben dem Bildschirm sitzen und gab sich der trügerischen Illusion hin, dass sie sofort antworten würde. Als der Bildschirm nach zehn Minuten immer noch dunkel blieb wurde ihm langsam klar, dass er wohl etwas länger würde warten müssen. Also stand er auf und fing an ein wenig in seinem Quartier herum zu räumen. Jedes Mal wenn er an dem Bildschirm des Pads vorbei kam warf er einen Blick darauf, in der unsinnigen Hoffnung, dass sie sich gemeldet hatte. Dabei hätte er den Eingang einer Nachricht mitbekommen, da ein Signalton ihm dann sofort eine Meldung gegeben hätte.
So räumte er weiter auf und sein Quartier wurde allmählich so ordentlich, wie seit dem ersten Einzug nicht mehr. Nach und nach verrauchte auch sein Ärger. Je mehr Zeit verging, desto ruhiger wurde er. Schließlich freute er sich sogar auf Elanes Antwort. Sicherlich wäre etwas von ihrer humoristischen Art dabei. Und dann würde er sie auch bald wieder in die Arme schließen können. Endlich kam das erlösende Signal. Schnell stürzte er zum Datenpad. Es war nur eine kurze Antwort.
Hallo Drake,
Jasmin geht es besser, aber sie braucht noch einige Zeit, bis sie wieder klar kommt.
Ich vermisse Dich auch.
Liebe Grüße. Elane
Entsetzt sah Drake die Zeilen an. Das war alles? Mehr hatte sie ihm nicht zu sagen? Nach drei Tagen ohne Kontakt nur so eine nichtssagende Antwort? Ihm fehlten die Worte. Er spürte, wie der Zorn in ihm wieder empor kroch. Mit einem Mal war er wieder so wütend wie vor seiner Nachricht. Sogar noch wütender. Hätte er sich nur nie bei ihr gemeldet. Er kam sich vor wie ein Narr. Ließ er sich von ihr etwa gerade an der Nase herum führen? Am liebsten hätte er das Pad an die Wand geworfen, um ja nie wieder in die Verlegenheit zu kommen sich bei ihr zu melden.
Wuterfüllt stapfte er in seinem Quartier auf und ab. Nur mit Mühe konnte er an sich halten, um nicht irgendwas zu zerstören oder das jetzt ordentliche Quartier wieder in ein Chaos zu verwandeln.
Eigentlich sollte er sie jetzt warten lassen. Jedes weitere Wort wäre zu viel. Er hatte ihr gezeigt, dass er sie vermisste, nun lag es an ihr. Doch sein Zorn war gerade so übermächtig, dass er einfach nicht vernünftig sein wollte. Er musste seinen Frust loswerden. Er musste ihr nochmals antworten.
Hast Du denn nicht einmal ein wenig Zeit? Bedeutet Dir das, was wir haben, denn gar nichts? Ist Dir Jasmin wichtiger als ich?
Drake.
Mit finsterem Blick legte er das Pad auf die Seite und lehnte sich auf seinem Sofa zurück. Er starrte zum Fenster hinaus auf die Sterne. Doch seine Gedanken waren ganz wo anders. Diesmal musste er auch nicht lange auf eine Reaktion warten.
Du bist unfair. Jasmin geht es nicht so gut und sie braucht mich. Für wen hältst Du Dich eigentlich, wenn Du meinst, über mich bestimmen zu können? Vielleicht ist es sogar besser, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen.
Elane
Wie du willst, dachte Drake bitter. Aber glaube nicht, dass ich Zeit habe, wenn es dir wieder beliebt. Du hast recht, wer bin ich denn, dass ich nach deiner Pfeife tanze.
Noch immer wütend legte er das Pad auf die Seite und stand auf. Er würde noch ein wenig in den Fitnessraum gehen und dort seine Wut an den Geräten auslassen. Normalerweise half das, doch diesmal war er sich da nicht so sicher. Sie hatte ihn tief getroffen und er wusste nicht, ob er sie überhaupt zurück haben wollte.
„Captain, ich möchte mich bei Ihnen und Ihrer Crew für die Hilfe bei der Befreiung der Geiseln bedanken.“
Sanawey saß im Büro von Senator Oket. Der Senator hatte ihn eingeladen, um sich für die Hilfe zu bedanken. Einen früheren Termin hatte Sanawey leider nicht bekommen. Außerdem wollte der Senator mit dem Captain noch besprechen, wie es nun weiter gehen sollte. Ursprünglich wollten die Offiziere der Republic
die zwei hier lebenden Vulkanier besser kennen lernen. Und Oket wollte die Crew fester an die Kolonie binden. Dieses Vorhaben hatte er noch nicht aufgegeben.
„Nicht der Rede wert“, winkte Sanawey ab. „Ich habe gehört, der Gesandte ist bereits wieder abgereist.“
Oket verzog das Gesicht. Offenbar war es etwas anders gelaufen, als er sich gewünscht hatte. „Ja, sein Schiff ist vor sechs Stunden gestartet.“
„Dann gab es kein Treffen mehr mit dem Senat?“ schlussfolgerte Sanawey.
„Das ist richtig“, nickte Oket zögernd. „Nachdem Ihre Leute ihn zum Flugplatz zurückgebracht hatten, hatte er sich in sein Schiff zurückgezogen und es nicht mehr verlassen. Einem der Polizisten hatte er anscheinend noch gesagt, dass nichts in diesem Universum ihn mehr dazu bringen könnte einen Fuß auf diesen Planeten zu setzen.“ Oket schüttelte missbilligend den Kopf. „Zusammen mit dem überlebenden Fahrer ist er dann abgeflogen.“
„Ohne irgend eine Erklärung?“ Sanawey erschien das seltsam.
Der Senator seufzte. „Es gab eine Erklärung. Er hatte uns eine Videobotschaft geschickt. Darin warf er uns vor, in die Entführung mit verwickelt zu sein. Er erklärte, dass diese Entführung und der Tod seiner Leibwächter Konsequenzen haben würden. Außerdem stünde noch immer die Annahme des Dekretes aus, weshalb er eigentlich gekommen sei. Eine weitere Ablehnung hätte den Einmarsch der Erdstreitkräfte zur Folge. Zudem würden alle Senatoren als Verräter der Erde angeklagt. Das wäre ein Todesurteil für uns. Eine Verteidigung gegen eine solche Anklage ist aussichtslos.“
Oket lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah aus wie jemand, der nicht mehr wusste, was er tun sollte An seinen Prinzipien festhalten und damit sein Leben aufs Spiel setzen? Oder den sicheren Weg gehen und damit alles verraten, für das er bisher gelebt hatte? Dazu kam, dass er nicht nur für sich alleine entscheiden musste. Das Leben und die Sicherheit vieler hingen an seiner Entscheidung und der seiner Kollegen.
„Möglicherweise hat der Sondergesandte aber auch nur geblufft“, sagte Sanawey vorsichtig. Er wollte nicht noch tiefer in die Sache hineingezogen werden als ohnehin schon. Aber er wollte Oket auch nicht ganz hängen lassen. Dieser Senator war ihm sympathisch. Vielleicht auch deswegen, weil sie beide in einer ähnlichen Position waren. Oket trug als Vorsitzender des Senates die Verantwortung für die Kolonie, Sanawey die für seine Crew. Und derzeit noch für sein gesamtes, verschwundenes Universum.
„Wie meinen Sie das?“ frage Oket, der nicht ganz verstand, worauf Sanawey hinaus wollte.
„Ich meine, Mr. Banks wird wohl kaum alleine entscheiden können, ob die Entführung der Kolonie angelastet wird und was die Konsequenzen sein werden.“
„Das ist schon richtig. Aber die Erdregierung besteht aus Leuten wie Banks. Wenn er ihnen die Lage schildert, dann wird er das so tun, wie es in seinem Interesse die beste Wirkung hat. Und da wir keine Chance zu einer Gegendarstellung erhalten werden, wird das Urteil eindeutig sein.
Unsere Verbündeten auf der Erde haben uns berichtet, dass es zur Entführung bereits Krisensitzungen gegeben hatte. Beim Militär gäbe es zwar noch keinerlei verdächtige Bewegungen, aber das kann sich ganz schnell ändern.“
„Dann wird man wohl auch auf die Aussagen der drei Geiselnehmer keine Rücksicht nehmen“, sagte Sanawey, mehr als Feststellung. Die Republic
hatte die Entführer direkt an die Polizei der Kolonie weitergegeben. Der dritte, am Bein verletzte Entführer, war hier bereits in Haft gewesen. Sollte doch der Senat über die Auslieferung zur Erde entscheiden.
„Nein“, schüttelte Oket den Kopf. „Zudem hat die Erde keine Aussagen. Wir haben bisher noch nichts von den Gefangenen erfahren.“
Es dauerte einen Moment, ehe Sanawey die Tragweite der Aussage begriff. Bisher? „Das heißt, Sie haben die Geiselnehmer gar nicht an die Erde ausgeliefert?“
Oket konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken. „Und dabei hatte Banks so darauf bestanden“, sagte er süffisant. „Doch nein, wir haben sie nicht ausgeliefert. Es sind Kolonisten und sie haben hier eine Straftat begangen. Somit werden sie hier vor Gericht gestellt.“
„Nach den Gesetzen der Erde.“
Oket schien einer Antwort ausweichen zu wollen. Er nickte dann aber doch. „Ja, sie gelten hier auch. Wir unterliegen der Gerichtsbarkeit und den Gesetzen der Erde. Allerdings wird es hier einen fairen Prozess geben. Was auf der Erde undenkbar wäre.“
„Mit einem Todesurteil am Ende“, bohrte Sanawey nach.
„Das entscheiden die Richter. Darauf haben wir keinen Einfluss“, betonte Oket und machte damit klar, dass er darüber nicht weiter reden wollte.
Sanawey schwieg kurz. „Dann kann ich Ihnen noch etwas erzählen. Denn einer der Gefangenen hat mit uns geredet. William Russel. Er war der Kopf der Geiselnehmer.“ Er berichtete kurz, was er von Russel über den Ablauf der Entführung erfahren hatte. Den mutmaßlichen Ideengeber Henry John ließ er erst einmal unerwähnt.
Oket nickte nachdenklich. „Das gibt einen gewissen Sinn. Wir sollten das Dekret annehmen und gleichzeitig sollte der Kolonie seitens der Erde nichts passieren. Es war trotzdem naiv, denn die Erde hätte sich niemals daran gehalten, egal was Mr. Banks zugesagt hätte.“
„Sie meinen, die Erde hätte die Entführung auf jeden Fall zur Androhung von Vergeltung genutzt?“ vergewisserte sich Sanawey.
„Nicht nur zur Drohung. Und genau das steht uns noch bevor.“
„Dann allerdings verstehe ich es immer weniger“, murmelte der Captain.
„Ich habe noch nie verstanden, wie jemand so etwas tun kann“, gab Oket verschnupft zurück.
Sanawey schüttelt den Kopf. „Nein, das meinte ich gar nicht. Mr. Russel sagte uns noch, dass ihm die Idee zur Geiselnahme in einer Kneipe von einer Person zugetragen wurde. Und diese Person hat er als den Senator Henry John identifiziert.“
Mit großen Augen sah Oket ihn an. „Und das glauben Sie ihm?“
„Nun, ich finde es seltsam, aber es erschien mir, als ob er die Wahrheit gesagt hätte. Unsere Psychologin, die dabei war, teilt diesen Eindruck.“
Mit zusammengebissenen Zähnen und finsterem Blick starrte Oket auf seinen Schreibtisch. Minutenlang. Und mit jeder verstrichenen Minute schien sein Zorn großer zu werden. Langsam bekam sein Kopf eine rötliche Färbung.
„Ich nehme an, Sie haben keine Beweise. Nur diese Aussage“, brachte er mühsam beherrscht hervor.
„Das ist richtig.“
„Dieser verlogene, hinterhältige Bastard“, brach es aus Oket heraus und seine flache Hand schlug mit einem ohrenbetäubenden Donner auf den Tisch. Falls es ihm wehgetan hatte, so merkte er es in seinem Zorn nicht einmal.
Sanawey zuckte zusammen. Mit einem solchen Wutausbruch hatte er nicht gerechnet. Er hatte Oket so etwas noch nicht einmal zugetraut. Zu besonnen hatte der Senator bisher auf den Captain gewirkt.
Der Senator atmete mehrmals tief durch. Nur sehr schwer konnte er sich zur Ruhe zwingen. Dann wandte er sich wieder an Sanawey. „Bitte entschuldigen Sie. Aber der Kollege John macht mir schon seit längerem Schwierigkeiten. Ihm passt es nicht, dass wir noch immer ein Teil der Erde sind. Er will, dass die Kolonie sich von der Erde lossagt. Er möchte in den Geschichtsbüchern stehen, als einer der Senatoren, die die Unabhängigkeit erreicht haben.“
„Aber zielte die Geiselnahme nicht genau in die entgegengesetzte Richtung? Sollte sie nicht den Einfluss der Erde stärken?“ wunderte sich Sanawey. Für ihn erschloss sich der Zusammenhang noch immer nicht.
„Auf den ersten Blick, ja. Und wer die politischen Hintergründe nicht kennt, so wie dieser Russel, der kann auf einen Mann wie Senator John hereinfallen. Wenn man allerdings die Hintergründe kennt, so wie John...
Ihm muss klar gewesen sein, dass die Erde die Geiselnahme als Provokation gesehen hätte, egal wie sie ausgehen sollte. Er muss auf einen Angriff der Erde spekuliert haben. Was uns auch trotz des jetzigen Ausganges wohl noch immer bevorstehen wird. Oh, dieser aufgeblasene Wichtigtuer. Er drängt schon lange auf einen Unabhängigkeitskrieg. Nun hat er uns da hinein gezogen.“
Allmählich dämmerte es Sanawey. „Einen Angriff der Erde müssten Sie abwehren. Und schon befinden Sie sich in einem Krieg mit der Erde.“
„In einem Krieg, den wir nur verlieren können“, betonte Oket mit einer Mischung aus Verzweiflung und Wut. „Wir haben nicht die Mittel, um gegen die Erde bestehen zu können. Nur das will John nicht sehen.“
„Und Mr. John durfte nicht selbst in Erscheinung treten, also suchte er sich ein williges Opfer, das er nur noch anstacheln musste“, schlussfolgerte Sanawey weiter.
„Ja, und das war sicher nicht schwer. Die Außerirdischenfeindlichkeit unter den ärmeren Kolonisten ist ziemlich hoch. Wie auch immer, er hat sein Ziel erreicht. Ein Krieg ist so gut wie sicher. Und wenn die Erde angreift wird es ein Blutbad geben. Also werden wir uns verteidigen. Nur macht es das nicht besser.“
Sanawey schwieg. Es war eine vertrackte Situation. Dass sie Johns Einflussnahme nicht beweisen konnten spielte dabei kaum noch eine Rolle.
Ein kurzes Schweigen trat ein, dann sagte Oket, wieder etwas ruhiger: „Lorat hat mich übrigens angesprochen. Er lässt fragen, ob er mit Ihrem Schiff die Reste Vulkans erforschen dürfte. Offenbar hofft er mit Ihrer fortgeschrittenen Technologie etwas Neues über die Zerstörung erfahren zu können.“
Sanawey zog die Augenbrauen hoch. Mit einer solchen Anfrage hatte er nicht gerechnet. In dieser angespannten Situation gab es sicherlich dringlicheres als die Erforschung eines vor Jahrhunderten zerstörten Planeten. Andererseits waren es Vulkanier. Die Forschung musste in ihrer Natur liegen. Selbst wenn das Universum kurz vor dem Kollaps stehen würde, würden die Vulkanier noch bis zur letzten Minute weiter forschen. Und daran schienen die Emotionen nichts zu ändern. „Glaubt er ernsthaft, nach so langer Zeit noch etwas zu finden?“
„Offenbar ja. Und warum auch nicht? Soweit wir wissen hat nie jemand das System betreten. Dort müsste noch alles so sein, wie unmittelbar nach der Zerstörung. Für Plünderer oder Piraten sind die Reste des Planeten uninteressant. Unsere Scans hatten ergeben, dass Vulkan kaum noch irgendwelche brauchbaren Rohstoffe hatte.“
„Mag ja sein, dass das Gebiet noch nicht kontaminiert wurde. Aber nach so langer Zeit sind auch sämtliche Strahlungsrückstände von Waffen oder ähnlichem zerfallen“, gab Sanawey zu bedenken. „Wir konnten dort zumindest nichts Ungewöhnliches feststellen. Und wir hatten uns beinahe drei Tage dort aufgehalten.“
„Vielleicht weiß Lorat wonach er suchen muss. Etwas, das Sie nicht wussten. Tun Sie ihm einfach den Gefallen“, bat Oket. „Oder haben Sie etwas anderes vor?“
Eigentlich hatte er das. Er wollte, dass die beiden Vulkanier zusammen mit Sohral und den anderen Wissenschaftlern der Republic
nach einer Möglichkeit suchten, den Zeitablauf wieder richtig zu stellen. Und dabei wollte er eigentlich keinen weiteren Tag mehr verstreichen lassen. Die Geiselnahme hatte bereits genug Zeit in Anspruch genommen. Nur das alles konnte er Oket nicht sagen. Er wusste, der Senator würde alles versuchen, um die Zeitlinie so zu belassen, wie sie jetzt war. Sanawey konnte das sogar verstehen. Nur konnte er das nicht zulassen.
„Na schön. Wir werden sie nach Vulkan bringen. Dort können sie dann ihre Untersuchungen durchführen“, gab er scheinbar nach. Eigentlich sah er aber nur eine Chance, die Vulkanier einige Tage in seiner Obhut zu haben. Dabei ergab sich sicherlich eine Gelegenheit für intensive Gespräche. Und er hoffte, die Vulkanier dabei von der Notwendigkeit der Korrektur überzeugen zu können.
Oket nickte dankbar. „Ich werde die beiden darüber informieren.“ Er sah in dem Arrangement vor allem eine Beschäftigung der Republic
-Crew. So würden sie nicht so leicht abreisen können. Und die Bindung zur Kolonie würde damit wachsen.
„Außerdem könnten wir ein paar Ihrer Techniker brauchen. Wir haben Probleme mit dem Energienetz in New Bordeaux, unserer südlichsten Siedlung, die wir einfach nicht in den Griff bekommen.“
„Ich werde meine Chefingenieurin bitten, sich bei Ihnen zu melden, um das Nötige abzustimmen“, sagte Sanawey ihm zu.
Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, klopfte es an der Tür, kurz darauf steckte der junge Assistent des Senators seinen Kopf durch den Türspalt. „Bitte entschuldigen Sie die Störung“, sagte er relativ kleinlaut. „Aber ich habe hier Mr. Ashcroft sitzen, den Polizeichef. Er möchte dringend mit Ihnen sprechen.“
„Kann das nicht warten, Bobby? Du siehst doch, dass wir uns hier unterhalten.“ Oket wirkte verärgert über die Störung.
„Er sagt, es sei dringend. Ich würde Sie sonst nicht stören.“ Bobby schien es sehr peinlich zu sein, es seinem Chef nicht so einrichten zu können, dass er zufrieden war.
„Schon in Ordnung“, sagte Sanawey und stand auf. „Wir können unser Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen.“ Falls wir dann nicht wieder unterbrochen werden, dachte er noch. Ihm fiel auf, dass sie bisher immer gestört worden waren. Oket war ein vielbeschäftigter Mann.
Der Senator reichte ihm die Hand. „Danke für Ihr Verständnis.“
Sanawey nickte nur, holte dann seinen Kommunikator hervor und gab den Befehl zum zurückbeamen.
Als er von der Transporterplattform trat sah Karja ihn an. „Wie war das Gespräch?“ wollte sie wissen.
„Kurz“, verzog ihr Vater das Gesicht. Dann lächelte er seiner Tochter noch kurz zu bevor er den Raum verließ.
Natürlich kam es anders als von Drake gedacht. Captain Sanawey hatte von seinen einzelnen Abteilungen einen Zwischenstandsbericht angefordert. Dazu sollten auch Besprechungen mit den Abteilungen stattfinden. Also musste Drake ein Meeting mit seinen Kollegen einberufen. Er tat dies nur äußerst widerwillig, da er absolut kein Interesse an einem Treffen mit Elane hatte. Noch immer war er wütend und zutiefst verletzt von ihrem Verhalten. Sie spielte mit ihm und das konnte er kaum ertragen. Wenn er sie nun auch noch sehen musste, dann würde er noch mehr leiden. Doch blieb ihm kaum eine andere Wahl. Er zögerte den Termin zwar bis zum letzten Moment hinaus, letztlich musste das Meeting aber stattfinden.
Insgeheim hatte er gehofft, vorab einmal mit Elane reden zu können. Genauer gesagt, dass sie auf ihn zugekommen wäre. Nur war das nicht der Fall gewesen. Er selbst ging ihr konsequent aus dem Weg und so hatten sie sich auch nicht mehr gesehen.
Inzwischen waren zwei Tage vergangen, seit ihrem Austausch der kurzen Botschaften.
Während der Besprechung versuchte Reed den Blickkontakt mit ihr zu vermeiden. Was ihm natürlich nicht ganz gelang. Und wenn er sie ansah, dann hatte er das Gefühl, ihre Augen strahlten ihn an. Was hätte er alles gegeben, um den alten Zustand zwischen ihnen wieder herzustellen. Er war sich selbst auch nicht mehr ganz sicher, ob nicht vielleicht doch er falsch reagiert hatte. Hatte er sich etwa doch zu sehr an sie geklammert? War es nicht richtig, dass sie sich um ihre Kollegin gekümmert hatte? Und war es vielleicht nicht einfach nur Zufall gewesen, dass er sie im selben Moment ebenso gebraucht hätte? Sie hätte sich wohl kaum teilen können.
Er wusste keine Antworten darauf. Früher war alles viel einfacher gewesen. Er war immer im Recht gewesen und seine Freundinnen hatten stets danebengelegen. Wenn sich damals eine ein Verhalten wie Elane heraus genommen hätte, dann hätte er sie auf der Stelle abserviert und durch eine andere ersetzt. Doch jetzt konnte er das nicht mehr. Sie hatte ihn verzaubert und er wollte nicht mehr ohne sie leben.
Die Besprechung zog sich dahin. Als sie endlich zu Ende war, ließ sich Elane verdächtig viel Zeit, ihre Unterlagen zu ordnen. Sie erhob sich auch erst vom Tisch, als alle anderen den Raum schon verlassen hatten. Sie sah Reed an, der mit seinen Unterlagen in der Hand neben der Tür stand. Ein vorsichtiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Langsam ging sie drei Schritte auf ihn zu. Dann blieb sie stehen und sah ihm in die Augen.
„Hast du heute Abend schon etwas vor?“ wollte sie wissen.
„Nein“, entgegnete er knapp. Auf keinen Fall wollte er sich zu schnell geschlagen geben. Er wollte weiterhin verärgert bleiben. Sie sollte auf Knien vor ihm liegen. Und doch merkte er, wie seine Mauer bröckelte. Sie schaffte es, seinen Widerstand mit nur einem Augenaufschlag hinwegzufegen.
„Hättest du Lust mit mir essen zu gehen? Nur du und ich?“ Ihre Stimme klang so angenehm in seinem Ohr. Und sie hatte einen verführerischen Unterton dazu.
Drake wollte hart bleiben. Sie hatte schließlich noch kein Wort der Entschuldigung für ihr Verhalten gebracht. Doch gab es überhaupt etwas zu entschuldigen? Hatte er nicht vielleicht einfach alles nur in den falschen Hals bekommen und war nun völlig zu Unrecht sauer? Wobei er eigentlich gar nicht mehr sauer war. Er wollte sie einfach nur zurück haben. Das war seine Chance. Er hatte was er wollte. Warum sollte er dann noch auf den alten Kamellen rumreiten?
„Wie wäre es, wenn wir zuerst das Freizeitdeck aufsuchen würden“, schlug Reed vor. Er brauchte erst einmal einen neutralen Ort. Alles weitere konnte sich dann noch ergeben.
Elane fing an zu strahlen. Ihre Augen leuchteten und nahmen Drake so sehr gefangen, dass er das Gefühl hatte direkt in die aufgehende Sonne zu schauen. „Auch gut. Hauptsache irgendetwas mit dir.“
Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und war dann verschwunden.
Drake stand noch immer neben der Tür. Er war sich nicht ganz sicher, was er denken sollte. Hatte sie ihn manipuliert? War er etwa wie ein Spielzeug, dass man an- und abschalten konnte, wie es ihr passte? Seltsam widersprüchliche Gefühle tobten in ihm. Er war so froh, dass er sie wieder hatte, aber andererseits....
Energisch schüttelte er den Kopf um die Gedanken zu vertreiben. Er musste unbedingt aufhören immer nur das Negative zu sehen. So kannte er sich gar nicht. Und so gefiel er sich auch nicht. Irgendwie war er viel zu misstrauisch geworden. Und viel zu eifersüchtig. Er hatte sie wieder. Und nur das zählte. Und wenn die Ereignisse der letzten Tage nicht mehr weiter zur Sprache kommen würden, dann war das auch in Ordnung. Wahrscheinlich hatte er da ohnehin einfach zu viel hineininterpretiert.
Heute Abend würde er sie wieder sehen. Und dem Unterton in ihrer Stimme nach konnte alles passieren.
„Komm schon. Nur noch ein paar Millimeter. Los. Los. JA!“, jubelte Karja und hielt den Queue triumphierend in die Luft. „Gewonnen“, rief sie laut.
„Das war doch nur Glück“, entgegnete Mira Bozman gelassen und sah sich die verbliebenen Kugeln auf dem Billardtisch an. Mit dem nächsten Stoß hätte sie selbst gewinnen können, doch Karja hatte einfach das Glück gehabt, an der Reihe zu sein.
„Das war Können“, freute sich Karja weiter.
„Aha. Und was war dann in den letzten drei Runden?“ Bozman konnte es nicht unterlassen, ihre Freundin daran zu erinnern, dass sie bisher jedes Spiel verloren hatte. Nur eben nicht gegen sie, sondern gegen den Halbvulkanier Tworek.
Karja hatte die beiden gebeten einen Abend mit ihr zu verbringen. Nach dem Stress und der Anspannung der letzten Tage war das mal wieder notwendig. Der letzte vergnügliche Abend war einfach zu lange her.
Die letzten Wochen waren seltsam gewesen für Karja. Im letzten Jahr, auf der Erde, da war sie viel mehr aus gewesen, hatte sich öfters amüsieren können. Und sehr oft war Tworek mit dabei gewesen. Einfach aus der Situation heraus, dass sie beide eine Sonderstellung inne hatten und daher ohnehin viel gemeinsam taten. Er wirkte zwar meist etwas fehl am Platz, ungefähr so wie ein Eisblock auf einer Sommerparty, aber mit der Zeit hatte er dann wohl doch auch seinen Spaß dabei gehabt. Auf seine Art. Und Karja hatte sich an seine Anwesenheit gewöhnt. Nicht auf die romantische Weise, sondern als einen guten, zuverlässigen Freund. Hier an Bord ergab sich jedoch kaum noch die Gelegenheit sich zu sehen. Deshalb hatte sie unbedingt gewollt, dass er dabei war.
Und Mira Bozman war auf dem Weg ihre beste Freundin zu werden. Sie schienen dieselben Interessen zu haben. Und so wie es aussah fiel es Mira schwer, überhaupt Freundschaften zu schließen. Kein Wunder, wer würde auch schon gerne mit seinem Psychologen befreundet sein?
Bei der Wahl, wie sie den Abend verbringen konnten, hatten sie nicht sonderlich viele Möglichkeiten. Es gab die Bar, den Fitnessraum und den Speisesaal. Und eben das Freizeitdeck. Hier konnte man die Zeit auf die unterschiedlichste Weise zubringen. Und da Karja Poolbillard liebte, war von vornherein entschieden, was sie machen würden.
Die ersten drei Runden hatte Karja gegen Tworek gespielt. Mira wollte sich das Spiel erst einmal anschauen. Sie gab an, noch nie vorher Billard gespielt zu haben. Und sie sah dann auch gleich, wie Karja dreimal haushoch verloren hatte. Tworek spielte schwindelerregend. Er war so gut. Zwar versuchte er Karja Tipps zu geben und zu erklären, dass es ein sehr logisches Spiel war und mit den Grundsätzen der Geometrie auch recht einfach zu berechnen. Aber Karja hörte nicht auf ihn. Sie war der Meinung es auf ihre Art gewinnen zu können.
Nach drei Spielen hatte Tworek angeboten eine Pause zu machen. Er hatte den Queue an Mira weitergegeben und sie damit ins Spiel gebracht. Sie hatte sich auch recht wacker geschlagen. Dafür, dass es ihr erstes Spiel war.
Tworek hatte zugeschaut und kein Wort gesagt. Auch wenn es nicht so aussah, Karja wusste genau, dass er sich amüsiert hatte. Darüber, wie dilettantisch sich die zwei angestellt hatten. Und vor allem darüber, wie sie beide wie aufgeschreckte Hühner um den Tisch herumgesprungen waren.
„Was sagst du zu unserem Spiel?“ wollte sie nun von ihm wissen.
„Nun, es war... interessant.“
Karja sah ihn scharf an. Tworek hatte seine Haare zu einem Zopf zusammengebunden, der ordentlich gekämmt über seinen Rücken hing. Was sicher nicht einfach gewesen war, bei den dicken, wirren Haaren. Durch diesen Zopf waren seine spitzen Ohren deutlich zu sehen, die in krassem Widerspruch zu seinem sonstigen klingonischem Äußeren standen. Besonders stachen der Knochenwulst auf seiner Stirn sowie der Kinnbart hervor. Er sah so widersprüchlich aus wie er selbst auch war. Allerdings hatte das durchaus auch seinen ganz eigenen Charme.
„Interessant? Soso. Du macht sich doch über uns lustig“, zog Karja ihn auf.
„Das würde ich niemals wagen“, war die todernste Antwort. Allerdings huschte doch ein winzig kleines Lächeln über seine Lippen. Karja war sich jedoch sicher, dass nur sie es gesehen hatte.
„Na klar“, sagte sie belustigt und wandte sich dann wieder Bozman zu. „Noch ein Spiel?“
„Ich weiß nicht...“
„Okay, ich bau dann schon mal die Kugeln auf.“
Mira seufzte. „Na schön. Eins noch. Danach ist Tworek wieder dran.“
Gemeinsam legten sie die Kugeln zur Startformation. Als das Spiel aufgebaut war überließ Karja den Anstoß großzügig ihrer Freundin. Diese machte sich bereit, ließ sich dann aber von der sich öffnenden Tür des Freizeitdecks ablenken.
Karja folgte ihrem Blick. Soeben betraten Drake Reed und Elane Watts den Raum, wandten sich jedoch gleich etwas anderem zu und sahen die drei somit gar nicht.
„Sieh an. Unsere Turteltäubchen“, spottete Karja.
Mira sah auf. „Eifersüchtig?“
„Was?“ fuhr Karja herum. „Auf die zwei? Ganz bestimmt nicht.“
„Es hörte sich aber gerade so an.“
„Mira, ich habe dir schon einmal gesagt: Lass die Psychologennummer, wenn du mit mir befreundet sein willst.“
Die Counselor sah sie groß an. „Das war keine Psychologennummer. Ich wollte dich nur ein wenig damit aufziehen und necken. Außerdem finde ich schon, dass man neidisch werden könnte, wenn man die beiden so sieht. Sie sehen glücklich aus.“
„Bei Drake Reed gehört da nicht viel zu. Hauptsache `ne Frau. Der schnappt sich doch alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist.“
„Karja“, sagte Mira entsetzt.
„Es ist doch so“, verteidigte sie sich.
Mira sah den beiden Verliebten nach. „Naja, er sieht ja auch gut aus. So jemanden würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen.“
Jetzt war Karja diejenige, die entsetzt aufblickte. „Das ist jetzt nicht dein Ernst?“
Mira wandte sich ihr zu. „Hey, du musst zugeben, er sieht richtig gut aus.“
„Aber er ist ein aufgeblasener Angeber“, ereiferte sich Karja.
„Das habe ich ja auch nicht bestritten. Obwohl das im Moment nicht so aussieht.“
Karja sah sie schief an. „Ja, das ist richtig. Aber auch das wird sich noch ändern. Denn niemand erfindet sich so plötzlich neu.“
„Naja. Die Liebe macht alles möglich.“
Genervt verdrehte Karja die Augen. „Oh ja. Die Liebe“, sagte sie sarkastisch.
„Vielleicht solltet ihr beiden euch wieder auf das Spiel konzentrieren“, mischte Tworek sich ein. Er spürte die aufkommende Spannung und wollte auf keinen Fall in einen Streit zwischen den beiden geraden. „Deswegen sind wir hier.“
Karja sah Mira herausfordernd an. „Und um Spaß zu haben.“ Sie fing an zu grinsen. „Und jetzt mach ich dich fertig.“
Auch Mira lächelte, beugte sich über den Tisch und machte den Anstoß. Es gingen auch gleich zwei Kugeln ins Loch. Sie lächelte Karja siegesbewusst an. „Freu dich nicht zu früh.“
In einer Besprechung hatte Sanawey seine Führungscrew darüber informiert, dass sie zusammen mit den beiden Vulkaniern Lorat und T’Lor zu den Überresten ihres Heimatplaneten fliegen würden, um dort weitere Forschungen durchzuführen. Diese Ankündigung löste gemischte Gefühle aus. Immerhin waren die beiden Vulkanier ihre beste Chance nach Hause zu kommen. Ihre Anwesenheit an Bord schürte die Hoffnung, dass der Spuk bald vorbei sein würde. Doch der Gedanke, den zerstörten Planeten bald wieder vor sich zu haben, war alles andere als ermunternd. Der Anblick erinnerte sie alle an das, was sie verloren hatten. Die Trümmer wie ein Spiegelbild ihres eigenen, nun nicht mehr existierenden Universums.
Der Aufbruch sollte jedoch erst in fünf Tagen erfolgen. Nachdem der Markt stattgefunden hatte, an dem sich der Konflikt der letzten Tage entzündet hatte. Die beiden Vulkanier hatten angegeben hier noch etwas erledigen zu müssen. Sanawey hatte allerdings den Verdacht, dass sie damit nur hingehalten werden sollten. Auf diese Weise befand sich die Republic
während des Marktes in der Umlaufbahn der Kolonie und würde damit Schiffe der Erde erst einmal abschrecken. Offenbar hofften die Kolonisten, damit einen Angriff verhindern zu können.
Sanawey war sich dessen nicht so ganz sicher. Kurz bevor sie von der Erde geflohen waren, hatte ein Schiff der Republic
schwere Schäden zugefügt. Zwar war das Erdenschiff danach explodiert, aber die Erdstreitkräfte hatten damit doch feststellen können, die Republic
war nicht unbesiegbar. Und wenn die Erdregierung tatsächlich so fanatisch war, wie Oket behauptete, dann würden sie sich von der Republic
nicht abhalten lassen und einige Verluste in Kauf nehmen.
Außerdem beförderte der Captain Zien noch zum Sicherheitschef. Eine Beförderung, die dem Andorianer sichtlich unangenehm war. Zwar freute er sich, andererseits wusste er, dass die Beförderung zu diesem Zeitpunkt nur möglich wurde, weil Mr. Real verstorben war. Somit gab es keinen Grund zur Freude.
Inzwischen war der Markt in vollem Gange. Raumschiffe verschiedenster Spezies kreisten auf unterschiedlichen Umlaufbahnen um den Planeten. Kleinere Schiffe landeten auch direkt auf dem Flugplatz der Kolonie.
Die Republic
hatte sich in eine höhere Umlaufbahn zurückgezogen. Da niemand die Transportertechnologie zu nutzen schien gab es einen regen Verkehr mit den Shuttles. Und hier wollte Sanawey auf keinen Fall im Wege stehen.
Sanawey selbst war bei der Eröffnung des Marktes zugegen gewesen. Auf besonderen Wunsch Okets. Seitdem aber blieb er lieber auf dem Schiff. Er verspürte wenig Lust von Oket wie ein Beutestück präsentiert zu werden. Es wurde auch Zeit, dass er sich wieder weniger um die Kolonie, sondern mehr um das Schiff und ihre eigenen Probleme kümmerte. So verbrachte er mehr Zeit mit Sohral, um über die möglichen Auswege zu diskutieren. Er wollte sicherstellen, dass der Vulkanier an alles dachte und nicht vielleicht irgendwas ausschloss, weil es unlogisch war. Nicht, dass er sich für klüger gehalten hätte. Ihm war bewusst, dass er mit dem Vulkanier nicht mithalten konnte. Allerdings war Sohral nicht so bewandert, wenn es um etwas verrücktere und außerhalb der Norm liegende Ideen ging. Um Ideen, die so unlogisch waren, dass sie schon wieder funktionieren konnten.
Die meisten Crew-Mitglieder nutzten den Markt aber zum Schauen und Staunen. So etwas kannten sie aus ihrem bisherigen Leben nicht. Zwar gab es in den Außenwelten, ganz am Rand der Föderation, ähnliche Märkte, aber dort waren nur wenige Menschen dabei. Und meist nur solche, die sich vor dem Arm des Gesetzes versteckten und andere zwielichtige Gestalten. Mitglieder der Sternenflotte fand man dort nicht. Sie wären auch unerwünscht gewesen. Denn auf solchen Märkten wurden nicht immer mit nur legalen Waren gehandelt.
Auch Karja und Mira waren unter den Besuchern. Sie ließen sich einfangen von den Geräuschen und den Gerüchen, die die Luft erfüllten. Das Stimmengewirr war unvorstellbar. Nicht nur die verschiedensten Außerirdischen redeten quer durcheinander. Auch viele verschiedene Sprachen der Menschen waren zu hören. Und dabei herrschte so ein Durcheinander, dass es schon schwer war eine Unterhaltung zu zweit zu führen.
Karja und Mira wurden von der Menge immer weiter geschoben. Es herrschte ein Gedränge, die einem kaum die Möglichkeit bot zu bestimmen, wo man hin wollte. Und mit jedem Schritt, den sie taten, schlug ihnen ein anderer Geruch entgegen. Mal duftete es nach Essen in den unterschiedlichsten Variationen. Von derb gebratenem Fleisch über exotisch duftende Speisen, deren Gewürze aus allen Teilen des Universums zu stammen schienen, bis hin zu Gerichten, die allein schon wegen des Geruches einem Menschen Übelkeit bereiteten. Dann roch es wieder nach Leder oder frisch gewaschenen Stoffen, nach Maschinenöl, Abgasen oder geschmolzenem Metall. Und bei einer solchen Menge an Personen ließ es sich auch nicht vermeiden, dass hin und wieder ein unangenehmer Körpergeruch vorbeizog. Die vom Himmel brennende Sonne tat ihr übriges, um all die Gerüche und Düfte noch zu verstärken.
Ein besonders wohltuender Geruch zwischen all dem Dunst ließ Karja aufmerksam werden. Ein Geruch von Frische und Leichtigkeit. Der Geruch von frischem Ingwer und orientalischen Hölzern vermischte sich mit einem Rosenduft begleitet von Jasmin und Safran. Die Süße frischen Honigs gab den besonderen Ausschlag.
„Mir nach“, rief sie Mira laut zu und hoffte, dass die Counselor es verstanden hatte. Dann kämpfte sie sich durch die Menge zu dem Stand, von dem der verlockende Geruch kam. Je näher sie kamen, desto mehr vermischte sich der Geruch mit anderen nicht unangenehmen Düften. Da lag Lavendel in der Luft und Hibiskus, süßliche Vanille und edle Zedernhölzer, es roch nach Pfirsich und Maracuja und etlichen weiteren liebreizenden Düften, deren Herkunft Karja nicht einzuordnen vermochte.
Karjas Vermutung bestätigte sich, als sich die Reihen vor ihr lichteten und der Stand zu sehen war. Unzählige Fläschchen, Phiolen und andere kunstvoll gefertigte Gefäße standen auf einer nicht minder kunstvoll gestalteten Theke. Bunte Wimpel in leuchtenden Farben und blinkende Hinweise lenkten die Blicke der vorübergehenden Kundschaft auf den Stand. Die Fläschchen und Flakons waren in den unterschiedlichsten Sprachen beschriftet. Da waren lateinische Buchstaben zu sehen ebenso wie chinesische, arabische oder andorianische. Dazu Symbole, deren Herkunft wohl nicht einmal der Händler selbst zu erklären vermochte.
Die meisten Gefäße waren entweder durchsichtig wie Glas oder ließen den Inhalt nur andeutungsweise hindurch scheinen. So war von der unscheinbaren, klaren Flüssigkeit bis hin zu grell leuchtenden Farben alles dabei. Manche Flüssigkeiten wechselten mit sanften Übergängen die Farben, in einem Flakon blubberte es sogar ein wenig.
Karja konnte sich gar nicht satt sehen an all der Pracht. Und eines war ihr sofort klar: Dieser Tag würde teuer werden.
„Na super“, sagte Mira, als sie sich endlich zu ihr durchgearbeitet hatte. „Du findest auf Anhieb den einzigen Parfümstand dieses Marktes. Ich verzichte lieber auf eine tiefer gehende Analyse dieser Tatsache.“
„Ist das nicht toll? All diese verschiedenen Parfüms. Und so viele, die ich noch nicht kenne.“ Sie freute sich wie ein kleines Kind, das vor dem Weihnachtsbaum stand. „Vielleicht finde ich ein passendes. Und für dich suchen wir auch eines.“
Miras Beteuerung keines zu brauchen stieß auf taube Ohren. Am Ende hatte Karja fünf neue Parfüms. Und war dafür ihre Ersparnisse los. Auch Mira hatte sie immerhin zwei angedreht, die ihrer Meinung nach total gut zu ihr passten. Die Frage, wann sie denn diesen besonderen Duft brauchen könnte, ließ Karja unbeantwortet. Mira wusste, dass Parfüms ein ziemlich antiquiertes, aber doch noch sehr beliebtes Mittel bei der Partnersuche waren. Doch hatte sie dazu zur Zeit weder Interesse noch die Möglichkeit. Auch war ihr an Bord noch niemand aufgefallen, der ihr Interesse geweckt hätte.
So nahm sie ihre beiden Flakons mehr Karja zuliebe mit, die ihre Einkäufe wie Beutestücke zu ihrem Quartier trug. Mira hoffte nur, dass ihnen niemand über den Weg lief. Es wäre ihr peinlich gewesen, wenn sie jemand so gesehen hätte und dann womöglich noch das Gerücht in Umlauf gekommen wäre, die beiden Nesthäkchen der Crew wären jetzt auf Männerfang.
„Seit einigen Tagen funktionieren die Generatoren nicht mehr. Somit funktionierte auch die Filteranlage für unsere Trinkwasseraufbereitung nicht mehr. Die ganze südliche Siedlung steht derzeit ohne Wasser da. Ein gewaltiges Problem, wie Sie sich sicher vorstellen können. Wir müssen das Wasser aus den anderen Siedlungen herbeischaffen. Nur stellt uns das wieder vor logistische Probleme. Wir haben einfach nicht die geeigneten Fahrzeuge dafür.“
„Wir werden uns das ansehen“, unterbrach Wendy Brooks ihren Gegenüber und versuchte dabei möglichst beruhigend zu wirken.
Vor einer Stunde hatte Sanawey sie gebeten, mit einem Trupp Techniker auf den Planeten zu beamen. Es gab hier Probleme mit der Infrastruktur. Genaueres sollten sie dann vor Ort erfahren. Die Verantwortlichen dieser Siedlung sollten sie dann am vereinbarten Treffpunkt abholen und einweisen.
Wendy war alles andere als begeistert über diesen Auftrag. Es gab auf der Republic
genug zu reparieren. Das hätte ihre volle Aufmerksamkeit verdient. Das Schiff war in einem solch desolaten Zustand, dass sie es nur wiederwillig verließ. Und statt des Ansprechpartners fand sie sich mit ihren fünf Kollegen mutterseelenallein auf einem kleinen Platz der Siedlung wieder. Niemand erwartete Sie. Und es gab auch keine Passanten, die sie hätten ansprechen können. Alles hatte wie ausgestorben gewirkt. Einzig die von einem wolkenlosen Himmel strahlende Sonne hatte sie ein wenig aufmuntern können.
Gerade einmal fünf Minuten hatte sie sich gedulden können. Und dann, als sie gerade den Befehl zum zurückbeamen geben wollte, hastete ein schlaksiger Mann auf sie zu, wild winkend. Er stellte sich ihnen als Garret Cooper vor, verantwortlicher Techniker für diesen Bezirk. Und nun redete er ohne Unterlass auf sie ein. Er wirkte so fahrig und nervös, dass Wendy sich allmählich nicht mehr wunderte, dass hier nichts funktionierte.
Cooper hatte sie während seines Redeschwalls zu einem Gebäude geführt, das seinen Angaben nach die zentrale Technik und Computersteuerung für diese Siedlung beherbergte.
Bevor er noch etwas sagen konnte, gab Wendy Brooks ihren Begleitern den Befehl, sich in dem Gebäude einmal umzuschauen. Sofort schwärmten diese aus, wohl auch froh, dem redseligen Techniker zu entkommen. Mit ihren Tricordern in der Hand gingen sie los.
Wendy betrat das Gebäude ebenfalls, gefolgt von Mr. Cooper.
„Hier im Erdgeschoss und im ersten Stock sind vor allem die Computerterminals zur Steuerung und Kontrolle der Anlage“, erklärte er eifrig. „Die eigentliche Technik befindet sich unter uns. Also in den Kellergeschossen. Davon gibt es drei.“
Wendy nickte und sah sich um. Das Gebäude war groß. Sie schätzte die Länge auf knappe fünfhundert Meter. Und es war fast ebenso breit. Direkt hinter dem Eingang befand sich ein großes Treppenhaus, das sowohl nach oben wie auch nach unten führte. Dahinter lag ein Raum, der die komplette Grundfläche des Gebäudes zu umfassen schien. Mehrere Pfeiler im Raum stützten die Decke ab. Und überall standen Computerterminals, die unendliche Datenkolonnen anzeigten. Breite Gänge führten dazwischen hindurch und gewährten leichten und schnellen Zugang.
„Können Sie mir eine Schnittstelle zu der Anlage geben?“ wandte sie sich an Cooper. Da dieser nicht zu verstehen schien was sie meinte, hob sie kurz ihren kleinen Computer, den sie mitgebracht hatte. Darauf reagierte er.
„Ja, natürlich. Folgen Sie mir. Ich hoffe nur, dass Ihre Technik mit unserer kompatibel ist.“
„Das wird schon funktionieren“, sagte sie selbstbewusst. Immerhin hatte sie Erfahrung mit der Verbindung von Föderationstechnologie mit anderen Systemen. Dies hier sollte nicht anders sein. Vielleicht sogar einfacher. Immerhin war es menschliche Technologie, wenn auch aus ihrer Sicht schon knappe hundert Jahre alt.
Mit geübten Griffen verband sie ihren Computer mit der ihr angeboten Schnittstelle. „Dann wollen wir Ihr System mal auf Herz und Nieren prüfen“, sagte sie dann.
„Ich kann nur hoffen, dass Sie etwas finden“, sagte Cooper noch immer nervös. „Unsere Systeme konnten keine Fehler finden, obwohl ganz offensichtlich einer vorliegt. Das System führt zwar in regelmäßigen Abständen Selbstdiagnosen durch, aber es gibt dann immer an, keinen Fehler gefunden zu haben. Ich kann das nur leider nicht erklären.“ Es klang wie eine Entschuldigung. Und er hörte zum ersten Mal von selbst auf zu reden.
„Wir werden das Problem schon finden“, sagte Wendy zuversichtlich.
Cooper seufzte hörbar. „Sie glauben gar nicht, wie froh wir sind, dass Sie da sind. Sie sind unsere letzte Hoffnung den Fehler noch zu finden. Denn ohne eine zuverlässige Versorgung der Siedlung müssten wir sie wohl bald aufgeben. Und das, wo doch immer mehr neue Siedler kommen.“
Wendy verdrehte die Augen und unterbrach ihn dann: „Am schnellsten finden wir den Fehler, wenn wir in Ruhe danach suchen.“ Dabei sah sie ihn streng an.
Er brachte ein abgehacktes Nicken zustande und murmelte: „In Ruhe. Klar. Dann kann man sich ja auch am besten konzentrieren.“
Die Ingenieurin beschloss, darauf nicht zu reagieren. Sie wollte ihm auf keinen Fall eine weitere Vorlage für einen Redeschwall liefern.
Cooper sah sich im Raum um. Er fühlte sich im Moment ganz offensichtlich nicht sehr wohl und mehr als überflüssig. Langsam ging er zum nächsten Computerterminal, drehte den Stuhl dort ein wenig und nahm Platz mit den Worten: „Ich setz mich solange mal hierher. Wenn Sie eine Frage haben, melden Sie sich.“
Wendy sah kurz auf, nickte und richtete ihren Blick dann wieder auf ihren Bildschirm. Wie sie vermutet hatte, passte ihr Schnittstellenprogramm sich gut an die alte Technologie an. Es übersetzte nun die Daten in ihre gewohnten technischen Begriffe. Nur bei einer Eigenheit stieß ihr Computer an seine Grenzen und sie musste Cooper bitten, ihr dieses Detail zu erklären. Ansonsten aber kam sie bestens alleine zurecht.
Hin und wieder trat einer ihrer Kollegen hinzu. Dann wurden dessen Tricorderdaten, die er im Gebäude erfasst hatte, in den Computer übernommen. So ergab sich nach und nach ein komplettes Bild. Jeder noch so kleine Haarriss in den Datenleitungen, jede noch so schlecht verarbeitete Datenübergabestelle, alles konnten sie nun am Computerbildschirm erkennen. Nach einer knappen Stunde sah Wendy Brooks lächelnd auf. „Ich denke, wir haben Ihr Problem.“
Cooper, der locker zurückgelehnt in seinem Stuhl saß, richtete sich abrupt auf. „Schon?“
„Ja. Es ist eigentlich ganz einfach. Sehen Sie hier.“ Sie deutete auf ihren Bildschirm.
Cooper trat neben sie und sah sich die Stelle an. Stirnrunzelnd studierte er die Daten. „Die Energie läuft nicht stabil durch das System“, sagte er dann langsam.
„Das ist richtig“, stimmte Brooks zu. „Es kommt zu Spannungsspitzen, die außerhalb der Toleranz liegen. Dadurch überlastet das System kurzzeitig. Diese Überlastung muss sich irgendwo entladen und an diesem Knoten überträgt sich die Überlast in alle anderen Systeme. Datenleitungen, Kommunikationsnetze, alles.“
„Und die Überlast unterbricht alles, was sich in diesem Moment im System befindet“, ergänzte Cooper. Auf einmal war seine Nervosität verschwunden. Er befand sich mit seinen Gedanken so sehr in dem System, in dem er sich auskannte und in dem er keine Fehltritte machen konnte.
„Genau“, bestätigte Wendy. „Und am Ende der Leitung kommen keine Daten mehr an, kein Strom, nichts. Sie erhalten Datenmüll, mit dem kein weiterverarbeitendes System etwas anfangen kann. Und alle Systeme, die nicht über eine andere Energiequelle zur Überbrückung kurzzeitiger Ausfälle verfügen, sind von einem Moment auf den anderen tot. Keine Sicherung, kein ordnungsgemäßes Abschalten, mit all den Problemen, die das nach sich zieht.“
„Aber wir haben Glättungssysteme, die solche Spannungsspitzen verhindern sollen“, gab Cooper zu bedenken.
„Von denen aber nur die Hälfte funktioniert. Hier, sehen Sie.“
Cooper starrte die Daten an, dann schüttelte er frustriert den Kopf. „Diese Glätter geben als Rückmeldung an das System an, noch funktionstüchtig zu sein. Das ist aber wohl das Einzige, was sie noch tun.“
„Das ist richtig. Dadurch wurde Ihr ganzes Diagnosesystem in die Irre geführt. Sie hätten den Fehler nicht finden können.“
„Was keinen Unterschied macht. Wir haben keine Ersatzteile dafür. Dieses System ist zu alt. Es wird auf der Erde schon lange nicht mehr benutzt. Es war einfach zu ineffizient, was ich nur bestätigen kann. Leider haben wir zur Gründung der Kolonie nur dieses alte System bekommen. Nun gibt es keine Ersatzteile mehr. Wir stehen also wieder am Anfang.“
„Nicht unbedingt.“ Wendy stand auf und begann ihren Computer von der Anlage zu trennen. „Ich werde auf unser Schiff zurückkehren und die notwendigen Teile replizieren. Und vielleicht noch ein paar mehr. Für zukünftige Ausfälle.“
Cooper sah sie groß an. Dann fing er an zu strahlen. „Das würden Sie tun?“
„Natürlich.“
„Aber... wir können das nicht bezahlen.“
„Nicht der Rede wert“, winkte Wendy ab. Für sie war das kein Aufwand und sie war sich sicher, Captain Sanawey hatte bereits etwas für diesen Dienst bei Oket herausgeschlagen.
„Wie können wir Ihnen nur danken?“ Ehrliche Dankbarkeit lag in Cooper Worten.
„Wie gesagt: Nicht der Rede wert. Einer meiner Leute wird in zwei Stunden wieder kommen, die Ersatzteile mitbringen und auch gleich einbauen.“ Sie verstaute ihre Geräte in ihrer Tasche und hängte sich diese über die Schulter.
„Vielleicht kann ich Sie als Dank zum Essen einladen?“ schlug Cooper vor und seine Nervosität war wieder da.
„Danke, aber mich erwartet noch jede Menge Arbeit auf meinem Schiff.“ Ihr Tonfall war eindeutig zu verstehen. Sie hatte nicht das geringste Interesse an einem Essen mit diesem Mann. Überhaupt war ihr die Kolonie zuwider. Sie hatte mehr als genug Probleme auf dem Schiff, als dass sie hier ihre Zeit verschwenden konnte. Nur Sanawey zuliebe hatte sie nicht lauter protestiert und diesen Job hier erledigt. Mehr als halbwegs höflich zu bleiben konnte er nicht von ihr erwarten.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätten sie diese Kolonie schon lange hinter sich gelassen und wären auf der Suche nach einer Rückkehrmöglichkeit in ihr Universum. Leider hatte sie keinen wirklich konstruktiven Vorschlag machen können, wo genau sie nach dieser Rückkehrmöglichkeit suchen sollten.
Wie scheinbar abgesprochen tauchten in diesem Moment ihre vier Kollegen auf. Erleichtert nicht noch länger mit Cooper über irgendwelche Dankesmöglichkeiten reden zu müssen wandte sie sich zur Tür. Bevor sie das Gebäude verließen, rief sie Cooper noch einmal zu: „In zwei Stunden. Seien Sie dann bitte hier.“ Dann eilte sie hinaus, um möglich schnell wieder zurück aufs Schiff zu kommen.
Den nächsten Tagen hatte die Führungscrew entgegen gefiebert, fast so, als ob es verheißungsvolle Tage für die Zukunft sein sollten. Von diesen Tagen hatte ausnahmslos jeder erwartet, dass sich alles zum Guten wenden würde. Niemand hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es vielleicht nicht so positiv verlaufen würde. Die Alternative war einfach undenkbar.
Auch Sanawey hatte sich von dieser Stimmung einfangen lassen, auch wenn er es eigentlich hatte vermeiden wollen. Er hatte objektiv sein wollen, dem Lauf der Dinge eine Chance geben wollen, um nichts durch erzwungene Umstände übers Knie zu brechen. Und wie bei einer solch aufgebauten Spannung eigentlich nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte sich am Ende Ernüchterung eingestellt. Und bei einigen Crewmitgliedern sicher auch Frustration.
Dabei hatte es so gut begonnen. Die beiden Vulkanier Lorat und T’Lor waren mit ein paar ihrer Ausrüstungsgegenstände an Bord gekommen. Zwar hatten sie die weiter entwickelte Technik der Republic
zur Forschung nutzen wollen, doch auf ein paar ihrer Geräte hatten sie einfach nicht verzichten wollen. Zur Überprüfung und Bestätigung der Messungen.
„Willkommen an Bord“, begrüßte Sanawey die beiden im Transporterraum. „Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit in den nächsten Tagen.“
Lorat erwiderte das Lächeln. „Die Freude ist ganz auf unserer Seite.“ Er schüttelte dem Captain kräftig die Hand. T’Lor tat ihm dies gleich, wenngleich auch etwas weniger überschwänglich. Sanawey war bereits aufgefallen, dass Lorat der gefühlsintensivere der beiden war. Zudem hatte er den Eindruck, dass sich T’Lor, seit den Gesprächen mit Sohral, diesem anglich. Aber dies konnte auch ein falscher Eindruck sein.
„Mr. Sohral kennen Sie ja bereits“, fing er die Vorstellung der Anwesenden an. „Ebenso meine Stellvertreterin Sylvia Jackson.“ Die Vulkanier begrüßten auch sie mit einem Händedruck, während sie Sohral mit dem traditionellen Vulkaniergruß bedachten. „Und hier noch unser Sicherheitschef, Mr. Zien. Er wird Ihnen diese Ausrüstung abnehmen und in die vorbereiteten Forschungslabore bringen.“
„Aber bitte vorsichtig. Die Geräte sind empfindlich“, sagte Lorat. Es klang einfach nur besorgt und nicht ermahnend. Und Zien wusste, wie er es zu verstehen hatte. Bei anderen Vulkaniern wäre er vielleicht nicht so ruhig geblieben. Immerhin hatten Vulkan und Andoria eine lange und blutige Zeit des Misstrauens. Und auch heute noch war eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Völkern nicht immer leicht. Doch davon konnten die beiden Vulkanier nichts wissen. Das alles hatte nach ihrer Zeit stattgefunden. Und in einem anderen Universum.
Während Zien mit zwei Kollegen die Ausrüstung fort brachte, geleitete Sanawey die beiden Gäste langsamen Schrittes zum nächsten Turbolift. Sohral schloss sich der Gruppe an.
„Captain, ich muss zugeben, wir beide sind wahnsinnig gespannt auf Ihr Schiff. Eine solche Größe ist bei uns noch völlig unmöglich. Wäre es unverschämt, wenn wir Sie um eine kleine Besichtigungstour bitten würden?“ fragte Lorat selbstbewusst.
Sanawey lächelte. „Wir sind sehr stolz auf unser Schiff. Ich müsste gekränkt sein, wenn Sie nicht gefragt hätten. Wir werden Ihnen gerne alles zeigen.“ Er bot ihnen den Vortritt am Turbolift. Dann folgte er. „Ich denke, wir fangen auf der Brücke an.“
Sanawey nutzte den Ausflug zur Brücke, um noch schnell die Anweisung zum Start zu geben. Ihr Ziel waren die Überreste Vulkans. Danach führte er zusammen mit Sohral seine Gäste im Schiff herum. Von der Krankenstation über den Maschinenraum hin bis zum Hangar war alles dabei. Auch die Labore, Forschungseinrichtungen und das Freizeitdeck wurden nicht vergessen. Die beiden waren während der gesamten Zeit konzentriert dabei. Und sie zeigten ein enormes Fachwissen, in so ziemlich allen Bereichen. Sanawey ertappte sich dabei überrascht zu sein. Was eigentlich unbegründet war, immerhin hatte er es mit Vulkaniern zu tun. Nur die Tatsache, dass sie ihre Emotionen auslebten, ließ ihn das vergessen. Die beiden waren aber der Beweis, dass Vulkanier ganz offensichtlich schon immer über einen disziplinierten Geist verfügten. Besonders Lorat ließ keine Gelegenheit aus Vergleiche mit der ihm bekannten Technologie herzustellen, um so immer einen Bezug zum Gesehenen zu bekommen. So hatte er innerhalb kürzester Zeit die grundlegenden Funktionen des Schiffes verstanden. Am Ende zeigten sich beide tief beeindruckt von der Republic
.
Vor den Gästequartieren blieben sie schließlich stehen.
„Vielen Dank für die Führung. Es war sehr interessant und lehrreich“, bedankte sich Lorat bei den beiden Offizieren.
„Auch für uns“, versicherte Sanawey, dem nun bewusster war, in welchen Bereichen sie wieweit voraus waren. Er blickte kurz auf die Uhr. „In fünf Stunden erreichen wir unser Ziel. Eine Stunde vorher würde ich gerne mit Ihnen den Ablauf der nächsten Tage absprechen. Das muss noch vorher sein, denn ich vermute, wenn wir Vulkan erst erreicht haben, werden Sie dafür keinen Kopf mehr haben.“ Er lächelte und erhielt von den beiden eine Zusage. Dann verschwanden sie in ihren Quartieren, um sich noch ein wenig auszuruhen. Es würden lange Tage werden.
Sanawey folgte diesem Beispiel. Auch wenn er nicht viel zu den Forschungen würde beitragen können, so wollte er den Vulkaniern doch nicht allzu lange von der Seite weichen. Schließlich hoffte er noch auf eine Gelegenheit, die beiden auf eine Lösungsmöglichkeit seines verschwundenen Universums anzusetzen.
So verging die Zeit bis zum Meeting in ruhiger Erwartung. Und als es schließlich an der Zeit war begab sich Sanawey zum Besprechungsraum. Wie zu erwarten gewesen war, waren sowohl Sohral, wie auch die beiden vulkanischen Gäste absolut pünktlich erschienen. Sanawey bot ihnen einen Stuhl an und setzte sich dann ebenfalls nachdem die anderen Platz genommen hatten.
Die Einzelheiten der nächsten Tage waren schnell besprochen. Im Prinzip gab es dabei auch nicht sonderlich viel Abwechslung. Als erstes wollten die Vulkanier neue Messungen mit den Sensoren der Republic
durchführen. Die weiteren Arbeiten würden dann überwiegend in den Wissenschaftseinrichtungen und Laboren des Schiffes erfolgen. Die gewonnenen Sensorenwerte mussten auf Strahlungsrückstände, Isotopengehalt, Neutrinozerfallsraten und mindestens einem Dutzend weiteren Untersuchungen hin ausgewertet werden. So hofften die beiden, neuere Erkenntnisse zur Zerstörung ihres Heimatplaneten zu bekommen.
„Was werden Sie mit diesen Erkenntnissen machen?“ wollte Sanawey zum Schluss wissen.
„Unsere Entdeckungen werden hoffentlich dazu führen, dass wir ein Vorwarnsystem für andere Planeten entwickeln können, um so solche Katastrophen in Zukunft verhindern zu können“, gab Lorat bescheiden an.
Nicht ganz die Antwort, die Sanawey hatte hören wollen. Darum bohrte er weiter. „Haben Sie auch schon daran gedacht, die Erkenntnisse zu nutzen um Vulkan zu retten?“
„Der Gedanke kam uns in der Tat“, gab T’Lor zögernd zu. „Allerdings würde eine Rettung Vulkans bedeuten, in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Was nicht in unserer Absicht liegt.“
„Und was aufgrund der dafür notwendigen Zeitreise auch gar nicht möglich wäre“, ergänzte Lorat.
„Eine solche Zeitreise wäre sicherlich möglich“, sagte Sanawey leichthin.
„Sicher nicht“, erwiderte T’Lor ruhig. „Die dazu notwendige Technologie existiert nicht, ebenso wenig wie die notwendige Theorie.“
Lächelnd sah Sanawey in die Runde. „Wir haben die Technologie und die Theorie.“ Er pokerte hoch, denn er wusste nicht, ob sie eine solche Zeitreise tatsächlich bewerkstelligen könnten. Bisher gab es einige theoretische Ansätze nach denen eine Zeitreise möglich war. Praktisch wurde das schon schwieriger. Zwar wusste Sanawey von verschiedenen Zeitsprüngen der Enterprise
, doch wie das jeweils durchgeführt wurde unterlag der strengsten Geheimhaltung. Zu groß war die Angst der Sternenflottenadmiräle, dass bei einer Zeitreise, bewusst oder unbewusst, der Zeitablauf nachhaltig verändert wurde.
„Wie ich schon sagte, liegt eine Veränderung der Zeitlinie nicht in unserer Absicht“, betonte T’Lor nach kurzem Schweigen noch einmal.
Sanawey beschloss erst einmal nichts mehr dazu zu sagen. Die Saat war gestreut und er war sich sicher, dass sie, zumindest bei Lorat, auf fruchtbaren Boden gefallen war. Und wenn die Ursache für die Zerstörung Vulkans erst einmal feststand, dann würden sich sicher auch die Prioritäten der beiden Vulkanier verschieben. Und dann hatte auch Sanawey die Chance, seine Idee zur Zeitkorrektur nochmals unterzubringen.
Just in diesem Moment meldete Sylvia Jackson über die Lautsprecheranlage, dass sie die Überreste des Planeten Vulkan in wenigen Minuten erreichen würden. Perfektes Timing. Um keine Zeit zu verlieren, begleitete Sohral die Gäste zur Wissenschaftsstation auf der Brücke. So konnte er mit ihnen gleich die ersten Messungen bewerten.
Für den Rest der Crew waren diese Tage ereignislos. So gut wie niemand bekam etwas von den Forschungen der Vulkanier mit. Einzig einige wenige Labormitarbeiter wussten hin und wieder etwas Neues zu berichten. Einen Überblick über die gesamte Forschung hatte aber niemand. So blieb Raum für Spekulationen.
Auch Sanawey war nicht immer voll im Bilde. Zu wenig verstand er im Detail, was dort vor sich ging. Und zuviel spielte sich gerade in diesen Details ab. Es war als würde man die Fortschritte im Millimeter- oder Mikrometerbereich messen können anstatt in Kilometern.
Der Crew blieb nichts anderes übrig, als zu warten und solange dem alltäglichen Trott weiter zu folgen. Sanawey fand das zwar nervenaufreibend, konnte der Seite aber auch etwas gutes abgewinnen. Der Crew blieb so Zeit die sozialen Kontakte untereinander zu pflegen. Es machten die Gerüchte über neue Pärchenbildungen die Runde. Was allemal interessanter war als die wenigen Infos zu den Forschungen. Und Sanawey fand endlich einmal wieder die Zeit, mit seiner Tochter zu Abend zu essen. Ein leider viel zu selten gewordenes Ereignis.
Nach drei Tagen schaffte Sanawey es immerhin einmal seine Gäste zu einem gemeinsamen Essen zu bewegen. So wurde im Besprechungsraum aufgetischt. Um Irritationen zu vermeiden waren die Gäste zuvor nach ihren Essenswünschen befragt worden. Denn Vulkanier waren Vegetarier. Zwar verfügte der Computer über unzählige Rezepte zur vegetarischen Küche. Doch gab es dabei natürlich auch Ausprägungen in alle Richtungen, die bei den Geschmäckern unterschiedlich ankamen. Dazu kam, dass die vulkanischen Gerichte wesentlich nahrhafter waren als die irdischen, da die vulkanischen Pflanzen sich im heißen Klima des Planeten ganz anders entwickelt hatten. Und es sollte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, man würde auf die Vorlieben anderer Kulturen keine Rücksicht nehmen.
Zur Überraschung aller an der Vorbereitung Beteiligter gaben T’Lor und Lorat aber Fleischgerichte als Essenswunsch an. Und wieder einmal musste Sanawey sich eingestehen, sich viel zu wenig in der Kultur der Vulkanier auszukennen. Denn Fleisch als verpönte Speise zu sehen war eine Eigenschaft, die auf den Philosophen Surak zurückging und mit seiner auf Logik basierenden Gesellschaftsform zusammenhing. Denn seiner Meinung nach war es unlogisch, Tiere zu töten und sie zu verspeisen, wenn man sich auch rein pflanzlich ernähren konnte. Allerdings war Surak erst nach dem Abflug der beiden Vulkanier auf der Bildfläche erschienen. Sie waren von seinen Lehren unbeeinflusst geblieben. Und so hielt sich auch nur Sohral an die vegetarische Kost. Für ihn gab es eine traditionelle Plomek-Suppe.
Sanawey erhoffte sich ein ungezwungenes Gespräch, bei dem er auch mehr über die beiden Vulkanier erfahren wollte. Und natürlich über den Stand der Forschungen.
„Es tut mir leid, Ihnen nicht viel berichten zu können“, antwortete Lorat auf eine entsprechende Frage des Captains. „Die Sensoren sind leider nicht so effizient wie wir erhofft hatten. Wir erhalten nur wenig neue Informationen.“
Sanawey sah seinen Wissenschaftsoffizier an. „Gibt es Probleme mit den Sensoren?“
„Die Sensoren arbeiten innerhalb normaler Parameter“, gab Sohral ruhig Antwort. „Das Fehlen tiefergehender Messergebnisse liegt daran, dass es nach so langer Zeit kaum mehr etwas zu messen gibt.“
„Sollten wir dann nicht abbrechen?“
„Das wäre nur logisch“, sagte Sohral.
„Ich glaube, wir sollten noch ein paar Messungen mehr durchführen“, widersprach Lorat. „Wir müssen etwas übersehen haben. Und wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, doch noch einen Hinweis auf die Zerstörung des Planeten zu finden.“
Sanawey legte die Stirn in Falten. „Ich vertraue auf Mr. Sohrals Meinung.“
„Captain, bitte verstehen Sie uns“, unterbrach T’Lor ihn. „Wir müssen einfach herausfinden was passiert ist. Das sind wir den Millionen von Toten schuldig.“ Als er merkte, dass er Sanawey damit noch nicht überzeugt hatte fügte er noch hinzu: „Was würden Sie tun, wenn es sich bei dem zerstörten Planeten um Ihre Heimat handeln würde.“
Ein Stück Fleisch aufspießend sah Sanawey in die Runde. Außer seinen Gästen und ihm waren noch Sohral und Sylvia Jackson anwesend. Sie waren noch alle am Essen und so wurde das Gespräch nur stockend geführt. „Ich denke, ich würde es wissen wollen“, sagte er schließlich.
„Dann geben Sie uns bitte etwas mehr Zeit. Auch wenn es Mr. Sohral als unlogisch bezeichnet.“
Sanawey nickte knapp. „Ich denke, das müssen wir nicht jetzt entscheiden.“
Schweigend setzten sie ihr Mahl fort. Erst als sie schließlich alle aufgegessen hatte nahm das Gespräch wieder an Fahrt auf.
„Wie kommt es, dass nur noch Sie beide in der Kolonie leben?“ erkundigte sich Sanawey. „Es müssen doch wesentlich mehr Crewmitglieder auf Ihrem Schläferschiff gewesen sein.“
„Wir waren beim Start von Vulkan 67 Personen“, begann Lorat zu erzählen. „Nicht alle haben den Flug in den kryogenischen Kapseln überlebt. Wie schon erwähnt starteten wir im Jahr 12548 unserer Zeitrechnung. Die Technik der Schläferschiffe war ganz neu und noch nie in einem solchen Langzeittest erprobt worden. Wir waren uns bewusst, dass es zu Problemen kommen könnte, die uns das Leben kosten konnten. Und als wir zweihundert Jahre später unseren Zielplaneten erreichten, waren bereits zwei Kollegen tot. Die Kryo-Kammern waren ausgefallen und hatten die Insassen damit getötet. Auf dem Rückflug starb ein weiterer Kollege. Als wir die Überreste Vulkans entdeckt hatten, beschlossen wir, uns wieder einzufrieren, in der Hoffnung, irgendwann würde uns ein raumfahrendes Volk finden. Wir selbst hatten bis dahin noch keinen Kontakt zu anderen Lebensformen und hätten auch nicht gewusst, in welche Richtung wir hätten fliegen sollen. Also blieben wir. In den folgenden Jahrtausenden fielen nach und nach weitere Kapseln aus. Für einen solchen Dauerbetrieb waren sie einfach nicht konstruiert worden. Als uns die Kolonisten fanden waren nur noch T’Lor, ich und eine Kollegin namens Savar am Leben. Savar allerdings schien geschwächt zu sein, denn wenige Tage nach der Ankunft in der Kolonie erkrankte sie und starb. So blieben wir beide zurück.“
„Wie haben Sie sich denn an das Leben in der Kolonie gewöhnt?“ wollte Sanawey wissen. Es musste für die beiden Vulkanier schwer gewesen sein unter Fremden zu leben. Zumal sie ja noch nie zuvor Außerirdischen begegnet waren, ja, noch nicht einmal einen Beweis hatten, dass es intelligentes Leben außerhalb ihres Heimatplaneten gab.
„Es war gar nicht so schwer, wie Sie vielleicht erwarten würden“, erzählte Lorat. „Die Menschen sind uns in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Ihre Gesellschaftsstruktur, ihre wissenschaftliche Neugier, ihre Emotionen.“ Dabei streifte sein Blick Sohral. „Sie waren uns fast artverwandt. Deshalb fiel es uns leicht, uns ihnen anzupassen. Wir wurden sehr schnell als eine der ihren akzeptiert. Wären wir zuerst einem anderen Volk wie den Andorianern oder den Klingonen begegnet, wäre ein gemeinsames Leben sicherlich weitaus schwieriger geworden.“
„Aber die Erdregierung steht Außerirdischen nicht sonderlich freundlich gegenüber“, gab Jackson zu bedenken.
Lorat legte den Kopf schief. Eine sehr menschliche Geste. „Das ist richtig“, sagte er dann. „Aber die Kolonisten sind sehr offen und tolerant. Zumindest die meisten.“
„Und da die Kolonisten der Erde gegenüber nie erwähnt haben, uns begegnet zu sein, weiß die Erdregierung auch nichts von uns“, fügte T’Lor hinzu. „Eine Konfrontation blieb uns damit erspart.“
„Wie waren Ihre weiteren Pläne?“ fragte Sohral.
Lorat sah ihn fragend an. „Wie meinen Sie das?“
„Hatten sie weitergehende Pläne? Oder wollten Sie sich den Rest Ihres Lebens in der Kolonie verstecken?“ Die Ruhe des Vulkaniers ließ keinen Vorwurf erkennen.
„Ja, das hatten wir in der Tat vor“, lächelte Lorat leicht. „Wo sollten wir auch sonst hin? Hier haben wir eine Aufgabe und können etwas sinnvolles tun, bevor mit uns unser Volk ausstirbt.“
„Das scheinen Sie ziemlich leicht zu nehmen“, sagte Sanawey bewundernd.
„Inzwischen, ja. Wir hatten lange genug Zeit uns an den Gedanken zu gewöhnen. Wir haben uns damit abgefunden.“
„Und Sie hatten nie das Bestreben, Ihr Volk zu retten?“ Sanawey konnte das nicht verstehen. Wäre er in einer vergleichbaren Lage, was er im Prinzip ja auch war, er hätte alles getan, um sein Volk vor dem Aussterben zu retten. Einfach aufgeben, das käme für ihn niemals in Frage.
„Unser Volk existiert nicht mehr. Bis auf T’Lor und mich gibt es unseres Wissens nach niemanden mehr. Da wird es mit der Rettung etwas schwierig, denn Fortpflanzen können wir zwei uns nicht.“ Offenbar hatte er auf ein paar Lacher spekuliert, denn er sah schelmisch grinsend in die Runde. Was bei einem Vulkanier doch sehr gewöhnungsbedürftig aussah. Es lachte auch niemand.
„Daran hatte ich auch nicht unbedingt gedacht“, sagte Sanawey ernst. „Hatten Sie nie daran gedacht, die Zerstörung Ihres Heimatplaneten zu verhindern? Oder es wenigstens zu versuchen?“
„Natürlich hatten wir den Gedanken. Zu Beginn. Doch liegt die Zerstörung bereits mehr als zweitausend Jahre zurück. Um den Planeten zu retten, hätten wir in die Vergangenheit reisen müssen. Und da es keine Technologie für Zeitreisen gibt, können wir auch nichts weiter tun“, rechtfertigte sich Lorat.
„Wir haben die Technologie.“ Sanawey sollte das als Angebot verstanden haben.
„Das ist unmöglich“, entgegnete Lorat fest. „Zeitreisen sind nicht möglich.“
Sanawey war überrascht, dass sie sonst so wissenschaftlich offenen Vulkanier in dieser Hinsicht so sicher und festgelegt waren. „Wer sagt, dass Zeitreisen nicht möglich sind?“
„Die vulkanischen Wissenschaftsakademie“, sagte Lorat und schien das als Begründung ausreichend zu sehen.
Irritiert sah Sanawey seinen Wissenschaftsoffizier an.
„Ein sehr lange verbreiteter Irrtum der Akademie“, gab Sohral offen zu. „Erst vor knapp einhundert Jahren wurde dieser Irrtum eingestanden. Bis dahin hielt man Zeitreisen für unmöglich.“
„Sieh einer an“, lächelte Sanawey. Dass Vulkanier derart lange an einem Irrglauben festhielten fand er amüsant. Die Menschen hatten in ihrer Geschichte auch viele Irrtümer, aber zweitausend Jahre hatten sie dann noch nie an einem festgehangen, wenn man mal von Glaubensfragen absah.
„Sie meinen, Zeitreisen sind möglich?“ fragte T’Lor. Ihm war anzumerken, dass er neugierig geworden war, auch wenn er weiterhin versuchte eine ähnliche Ruhe wie Sohral auszustrahlen.
„Zeitreisen sind möglich“, entgegnete Sohral. „In unserer Vergangenheit wurden bereits einige Zeitreisen vorgenommen. Wenn auch mehr zufällig und ohne bewusste Absicht.“
„Dann wäre eine Rettung unseres Volkes möglich“, dachte T’Lor laut nach.
„Theoretisch“, schränkte Sanawey ein. Zwar wollte er den Enthusiasmus nicht brechen, den der Vulkanier an den Tag legte, doch schien es ihm, als könne er mit Ehrlichkeit mehr erreichen. „Zum einen wissen wir noch nicht, wie Vulkan zerstört wurde und zum anderen ist mir noch keine Möglichkeit bekannt, einen ganzen Planeten vor der Zerstörung zu retten.“
„Das ist wahr.“ Bitterkeit lag in T’Lors Stimme. Im Moment gab er seinen Emotionen wieder freien Lauf. „Und wir haben noch keine Anhaltspunkte, wie Vulkan zerstört wurde.“
Lorats Mund verzog sich zu einem schmalen Lächeln und mit zusammengekniffenen Augen sah er erst Sohral und dann Sanawey an. „Captain. Sie bezwecken doch noch mehr damit. Sie wollen, dass wir die Vergangenheit verändern, weil Sie hoffen, damit Ihr Universum wieder herzustellen.“
Sanawey fühlte sich ertappt, auch wenn er sich das natürlich nicht anmerken ließ. Stattdessen lächelte er äußerst charmant. „Das wäre ein angenehmer Nebeneffekt, das will ich gar nicht verheimlichen. Außerdem können wir dann sicher sein, dass Ihr Volk damit gerettet ist. Mr. Sohral ist der Beweis dafür.“
„Aber wir würden die Leben von Millionen von Lebewesen ändern. Nicht nur das der Menschen. Auch Klingonen, Andorianer und alle anderen wären davon betroffen“, hielt Lorat entgegen.
„Es sind auch so schon Million von Lebewesen betroffen.“ Sanaweys Lächeln verblasste. „Alle Lebewesen, die wir kannten, unsere Familien, Freunde, all diese Personen existieren nicht mehr. Mit Vulkaniern und Tellariten sind zwei Völker ausgestorben, die in unserem Universum mit Milliarden von Lebewesen noch existieren. Wäre es da nicht logisch es wenigstens zu versuchen, dies wieder herzustellen?“
„Logisch vielleicht, aber deswegen noch lange nicht richtig. Und wir haben uns nicht der Logik verschrieben“, erinnerte Lorat den Captain.
Sanawey seufzte. „Es tut mir leid. Wenn ich Sie so ansehe vergesse ich das. Sie sehen ebenso aus, wie die Vulkanier die ich kenne. Und diese sind nun mal sehr logisch.“
„Schon gut“, sagte Lorat höflich reserviert. „Trotzdem müssen wir Ihrem Wunsch erneut eine Absage erteilen. Unser Ziel ist es, die Gründe für die Zerstörung unseres Heimatplaneten zu erfahren. Um zu lernen und anderen Planeten ein solches Schicksal zu ersparen. Wir werden auf keinen Fall die Vergangenheit ändern.“
Sanawey nickte nur. Lorat hatte mit seinen Worten deutlich genug zum Ausdruck gebracht, dass seine Entscheidung feststand. Und momentan fiel Sanawey auch nichts weiter ein, wie er diese Meinung noch ändern konnte.
„Captain, ich denke, wir werden uns nun zurückziehen“, sagte Lorat. „Wir haben morgen wieder einen anstrengenden Tag vor uns. Vielen Dank für das Essen und Ihre Gesellschaft.“
Sanawey und seine beiden Offiziere erhoben sich, um die Gäste für diesen Abend zu verabschieden. Er erwiderte die Höflichkeiten und sah den beiden Vulkaniern dann hinterher.
„Das lief nicht ganz so wie geplant“, murmelte er dann, als sie weg waren.
„Sie mögen Emotionen haben, sind aber sonst so stur wie eben Vulkanier“, sagte Jackson kopfschüttelnd bevor auch sie sich verabschiedete.
„Mr. Sohral“, wandte sich Sanawey leise an seinen Wissenschaftsoffizier. „Bitte schauen Sie sich die Daten und Schlussfolgerungen unserer Gäste genau an. Wenn sie nichts unternehmen wollen, dann liegt es wohl an uns, deren Ergebnisse umzusetzen.“
Sohral zog nur die rechte Augenbraue an, sagte aber sonst nichts dazu. Was er davon hielt seine Landsleute so zu hintergehen behielt er für sich. Sein Schweigen veranlasste Sanawey noch zu der spitzen Bemerkung „Ich nehme doch an, wenigstens Sie wollen Ihr Volk retten“, bevor auch er den Raum verließ.
Am nächsten Tag nahmen die beiden Vulkanier ihre Arbeit wieder auf, während die Crew weitere Tage der routinierten Langeweile erlebte. So gewöhnte sich die Mannschaft allmählich an diesen Zustand. Jeder ging seinen Tätigkeiten und seinen Interessen nach. Völlig überraschend kam es daher für Sanawey, als Lorat und T’Lor ihm nach fünf Tagen mitteilten, dass sie zur Kolonie zurückfliegen konnten. Über ihre gewonnenen Erkenntnisse hüllten sie sich allerdings in Schweigen, das sie auch bis zur Ankunft bei der Kolonie nicht brachen. Und auch Sohral konnte nur wenig berichten. Die beiden Vulkanier hatten ihre Untersuchungen geschickt verborgen.
Langsam lief William Russel hinter den Wachen her, die ihn zum Gerichtssaal eskortieren sollten. Auch wenn es den Wachen nicht gefiel, schneller konnte er nicht laufen. Man hatte ihm die Füße in Ketten gelegt, ebenso wie seine Hände. Auf keinen Fall wollten die Verantwortlichen zulassen, dass der Gefangene womöglich fliehen würde.
William kam das nur entgegen. Er hatte es nicht eilig den Gerichtssaal zu erreichen. Weniger wegen des Urteils das ihn dort erwartete, sondern viel mehr davor, bekannten Gesichtern zu begegnen. Vor allem denen seiner Frau und seiner Kinder. Hätte man ihn nur gleich erschossen, dann wäre ihm das wenigstens erspart geblieben. Das war schlimmer als jede Strafe, die man über ihn verhängen konnte.
Als die Türen zum Saal geöffnet wurden, drang schon das Gemurmel der Anwesenden zu ihm, das jedoch sofort verstummte, als er hinein geführt wurde. Alle Blicke richteten sich auf ihn. In den Augen sah er Wut und Zorn. Aber auch stumme Fragen und Vorwürfe. Offenbar verstand niemand, was er hatte erreichen wollen. Niemand erkannte seine Taten als die einzige Möglichkeit zur Rettung der Kolonie an. Die Ablehnung, die ihm entgegenschlug war eindeutig. Einige Leute tuschelten, als er vorbei ging. Zwar konnte William keine einzelnen Worte verstehen, doch dass die Leute nichts Gutes über ihn sprachen war eindeutig zu erkennen.
Er wollte den Blick senken, da er die Blicke der Anwesenden nicht mehr ertragen konnte. Da sah er seine Frau. Sie stand unter den Prozessbeobachtern in der ersten Reihe. Auch sie sah ihn vorwurfsvoll und traurig zugleich an. Er hatte ihre kleine, heile Familienwelt zerstört. Und offenbar erkannte auch sie nicht, wofür er das getan hatte. Dass er das nur für seine Familie getan hatte. Er wollte es ihr erklären. Er wollte, dass sie es verstand. Doch gab es dafür jetzt keine Möglichkeit mehr. Nicht hier im Gerichtssaal. Und da er keine Besuche empfangen durfte würde es auch keine Gelegenheit mehr geben.
Wenigstens waren die beiden Mädchen nicht bei ihr. Zwar hätte er sie gerne noch einmal gesehen, doch war es besser so. Sie sollten ihn nicht so sehen. Gefesselt und gedemütigt, von allen Leuten verachtet. Vielleicht würden sie eines Tages verstehen, warum er das getan hatte. Zumindest diese Hoffnung würde ihm noch bleiben.
Als er auf seinem Platz angekommen war fesselten die Wachen ihn mit den Ketten an den Stuhl. So würde er nicht weit kommen, sollte er versuchen zu fliehen.
William schloss die Augen. Auf diese Weise musste er wenigstens die Blicke der Schaulustigen nicht länger ertragen. Zwar meinte er ihre Blicke zu spüren, mit denen sie ihn geradewegs durchbohrten, doch war das das kleinere Übel. Er öffnete sie erst wieder, als die drei Richter den Raum betraten.
Die Anwesenden erhoben sich und nahmen erst wieder Platz, als sich auch die Richter setzten. Auch William war aufgestanden und nahm nun langsam wieder Platz. Er ignorierte die Richter ebenso, wie diese ihn. Auch wenn es für die Anwesenden wie ein fairer Prozess aussehen sollte, William war fest der Meinung, das Urteil über ihn war bereits gefällt.
Der vorsitzende Richter eröffnete den Prozess. Er war ein großer, glatzköpfiger Mann, dessen Falten bereits so zahlreich sein Gesicht bedeckten, dass man ihn leicht auf mindestens Anfang Achtzig hätte schätzen können. Seine Hamsterbacken hingen weit herunter und gaben ihm zusammen mit den tief hängenden Augenliedern das Aussehen eines Bernhardiners.
Als erstes verlas er die Anklageschrift. Sie umfasste mehrere Punkte. „Mr. William Russel, Ihnen wird vorgeworfen, Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu sein, die sich gegen die Erde richtet. Ferner sind Sie nicht nur Mitglied, sondern haben in der Entführungsaktion die Rolle des Anführers übernommen. Zweitens haben Sie eine Geiselnahme geplant und dabei von vornherein Todesopfer mit einkalkuliert. Drittens haben Sie das Leben eines Gesandten der Erde bedroht. Sie haben ihn entführt, verletzt und bedroht. Viertens haben Sie den Senat der Kolonie Terra Ceti erpresst. Fünftens haben Sie mit der Entführung leichtfertig das Leben jedes einzelnen Bewohners dieser Kolonie aufs Spiel gesetzt, selbst das Ihrer eigenen Familie. Dazu kommen noch diverse Vorschriftenverletzungen, wie der illegale Waffenbesitz, das illegale Verminen von öffentlichen Straßen sowie die Anstachelung zum Fremdenhass.
Wie plädiert die Anklage?“ wandte er sich an den Vertreter der Anklage, einen kleinen, leicht untersetzten Mann, dessen kleine Äuglein hinter einer dicken Brille funkelten.
„Schuldig in allen Punkten“, kam die deutliche Antwort.
Der Richter nickte kaum vernehmlich und wandte sich dann an Russel. „Wie plädiert der Angeklagte?“
Russel schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Allein diese Frage zeigte doch, wie ungerecht dieser Prozess war. Natürlich hatte er all diese Taten begangen. Dazu stand er auch. Und natürlich wäre er froh gewesen, wenn er das nicht hätte tun müssen. Aber irgendjemand hatte doch etwas unternehmen müssen, wenn alle anderen schon wegschauten oder einfach gar nichts taten. Sagte er nun aus, würde das als Eingeständnis seiner Schuld gesehen. Und erklären konnte er zum jetzigen Zeitpunkt auch nichts. Hier galt es eine kurze, präzise Antwort zu geben. Schuldig oder nicht schuldig. Seine Verteidigung würde zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. So war ihm die Prozessordnung erklärt worden. Also war es besser jetzt erst einmal nichts zu sagen. Er war sich sicher, so hätte ihm ein Anwalt auch geraten, wenn er denn einen gehabt hätte. Doch da er sich einen solchen nicht leisten konnte und auch sonst niemand bereit gewesen war, diese Aufgabe zu übernehmen, stand er nun alleine vor dem Gericht. Was ihm letztlich auch lieber war. So konnte er vielleicht doch noch erklären, warum er die Tat begangen hatte. Vielleicht konnte er doch noch alle von der Notwendigkeit überzeugen. Ein Anwalt hätte diese Botschaft sicherlich vollkommen verdreht.
Der Richter zuckte kaum merklich mit den Schultern, als Russel weiter schwieg. Dann wurde der Prozess fortgesetzt.
Russel sah, wie seine Frau den Saal verließ. Sie hatte ihn nicht einmal mehr angesehen. Ihm wurde schwer ums Herz. Wie gerne hätte er sich ihr erklärt. Und wie gerne hätte er sie noch einmal in den Arm genommen und an sich gedrückt. Nur dazu würde er wohl keine Chance mehr erhalten.
Vor dem Urteil selbst hatte er keine Angst. Den Ausgang der Verhandlung konnte er vorhersagen. Man würde ihn für schuldig befinden und dann zum Tode verurteilen. Im schlimmsten Fall würde er vorher an die Erde ausgeliefert werden. Davor hatte er dann doch ein wenig Angst. Denn dort würde er wohl kaum noch fair behandelt werden. Und auf einen schnellen Tod brauchte er auch nicht zu hoffen. Dort würde man ihn wahrscheinlich foltern bis sie sich sicher waren, dass er auch wirklich die Wahrheit sagen würde. Und er hatte gehört diese Folter konnte sich über Monate oder Jahre hinziehen. Das wollte er dann wirklich nicht erleben.
Allerdings würde es heute kaum zu einem Urteil kommen. Es war schließlich der erste Verhandlungstag. Auch wenn die Sachlage eindeutig war, die Kolonie wollte auf jeden Fall den Eindruck eines Schauprozesses vermeiden. Sie wollte jedem klar machen, dass es sich hier um ein faires und unparteiisches Gericht handelte, das auf jeden Fall den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaates treu bleiben würde. Russel wusste das. Es freute ihn jedoch nicht. Im Gegenteil. Ein schnelles Urteil wäre ihm lieber gewesen. Dann hätte er nicht noch öfters die Schmach auf sich nehmen müssen vorgeführt zu werden. Und ein schnelles Urteil, das nach einem abgekarteten Spiel roch, konnte ihn zum Märtyrer machen. Wenn sich der Prozess nun zu lange hinzog, dann würde am Ende kaum noch jemand Notiz davon nehmen, was mit ihm geschah.
Am Ende wurde der Prozess vertagt. William sollte doch noch einen Pflichtverteidiger erhalten. Es würde wohl einige Tage dauern, bis der Prozess fortgeführt werden konnte. Und so wurde er unter bösen Blicken und einzelnen Buhrufen aus dem Saal zurück in seine Zelle geführt. In eine Zelle, die ihm mit einem Mal richtig freundlich erschien. Denn dort war er wenigstens alleine und hatte seine Ruhe. Dort konnte er ganz für sich alleine mit dem Leben abschließen.
Mit vor Aufregung feuchten Händen stand Drake Reed vor Elanes Quartier. Heute war ihr erster gemeinsamer freier Tag, den sie mit sich ganz alleine verbringen würden. Niemand sonst würde sie stören oder bei ihnen sein. Und er hatte es geschafft Captain Sanaweys Erlaubnis für einen Landausflug zu erhalten. Mit Elane hatte er diesen Ausflug sofort nach der Erlaubnis besprochen. Auch sie war Feuer und Flamme gewesen von der Aussicht auf einen Tag Landurlaub.
Ceti Alpha 6 bot eine unglaubliche Vielfalt an Möglichkeiten. Der Planet war nahezu unberührt und das Fehlen größerer Raubtiere sowie giftiger Arten machte ihn auch ideal geeignet für einen entspannten Tag in freier Natur.
Sie öffnete die Tür ihres Quartiers und fiel sofort mit einem Kuss über ihn her.
„Woher wusstest du, dass ich es bin?“ fragte er danach.
„Ich wusste es einfach“, gab sie zurück.
Er legte den Kopf schief. „Du hast geraten und wenn ich jetzt jemand anderes gewesen wäre, dann hättest du ihn geküsst. Womöglich wäre es Sohral gewesen.“ Er legte extra viel Humor in die Stimme, denn es sollte auf keinen Fall eifersüchtig klingen.
„Stimmt. Und vielleicht hätte ich es ja toll gefunden“, gab sie keck zurück. „Obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Niemand küsst so gut wie du.“
„Das liegt nur daran, dass du so gut küsst“, erwiderte er lächelnd und rückte die Tasche zurecht, die er über der Schulter hängen hatte.
„So ein Quatsch.“ Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch mehr zu. Bevor er noch etwas sagen konnte verschwand sie in ihrem Quartier, um wenige Augenblicke später mit ihrem gepackten Rucksack an der Tür zu stehen. „Ich bin soweit“, verkündete sie.
„Hast du alles?“ fragte er mehr rhetorisch, ohne als Antwort mehr als ein einfaches Ja zu erwarten.
Doch selbst das bekam er nicht. Stattdessen sah sie ihn mit schief gelegtem Kopf an. Abwehrend hob er die Hände. „T’schuldigung, war nur so `ne blöde Standardfrage.“
Daraufhin wurde ihr Blick freundlicher. Er nahm ihre Hand und gemeinsam liefen sie zum Transporterraum.
Ihr Ziel war ein Bergsee, knappe vierhundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Da die Kolonie bisher nur aus fünf verschiedenen Siedlungen bestand, die alle relativ nahe beieinander lagen, war der größte Teil des Planeten noch naturbelassen und unbekannt. Den See hatten sie vom Orbit mit den Sensoren ausgemacht. Drake wusste nicht, ob die Kolonisten ihn kannten. Aber selbst wenn, so war er doch für Ausflüge zu weit entfernt. Die Kolonisten verfügten über zu wenige Shuttles, um sie für einen privaten Gebrauch zu nutzen. Und mit einem Fahrzeug war der See nicht erreichbar, da es keinerlei Wege gab.
Drake und Elane ließen sich dicht an das Ufer des Sees beamen. Elane hatte bereits im Transporterraum ihre Sonnenbrille aufgesetzt, während Drake nun in die Umgebung blinzelte und seine Augen mit der Hand abzuschirmen versuchte.
Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel und spiegelte sich tausendfach auf der Wasseroberfläche. Sie verlieh dem See ein Glitzern und Funkeln, das einen blendete.
„Mist. Ich wusste, ich habe etwas vergessen“, knurrte er und blinzelte weiter, bis sich seine Augen an die helle Sonne gewöhnt hatten.
Sie sah ihn groß an und lachte dann. „Und da fragst du mich, ob ich alles dabei habe?“
Drake sah sie an. Er grinste nur schief.
Die Luft war warm und durchzogen mit dem Duft von Gras und Wasser, das nur Seen eigen ist. Nur ein kaum wahrnehmbarer Windhauch zog durch das Tal, der sich angenehm auf die Haut legte. Nach dem Aufenthalt in einem Raumschiff waren diese Sonnenstrahlen eine herrliche Abwechslung und geradezu dazu gemacht, einen wahren Überschuss an Glückhormonen zu produzieren. Wenn man diesen, wie Drake und Elane, nicht ohnehin schon hatte.
Der See lag in einer kleinen Senke. Ringsherum stieg die Landschaft an. Erst nur langsam, dann etwas steiler. Am Ostufer wurde der See durch einen kleinen, kristallklaren Bach gespeist. Rings um den See herum gab es Grasflächen, die in sattem Grün leuchteten und geradezu zum Verweilen einluden. Vereinzelte, dornige Büsche ließen sich einfach umgehen. Bäume gab es hier trotz des Wassers keine. Entweder trieb der Wind keine Samen in dieses Tal oder die Bodenbeschaffenheit war für Bäume ungeeignet.
Der See wäre ein Paradies für die Crew der Republic
gewesen. Hier hätten alle die Möglichkeit gehabt mal auszuspannen und die Sorgen der letzten Wochen zu vergessen. Doch Drake würde diesen Ort ungern mit anderen teilen wollen. Es sollte ihr Platz werden, ihr lauschiges Plätzchen, an dem sie ungestört sein konnten.
Sie hatten die freie Auswahl, wo sie sich niederlassen wollten. Der See war auf allen Seiten gut zugänglich. Es gab keine besonders steilen Stellen, noch war der Uferstreifen sonderlich unterschiedlich. Die Graslandschaft ging direkt in den See über. Wahrscheinlich stieg der Pegel des Sees je nach Jahreszeit und Niederschlagsmenge und hatte so das Ufer gleichmäßig angepasst.
Sie legten die mitgebrachten Badetücher ins Gras und stellten die Taschen daneben. Während Drake in seiner Tasche noch etwas suchte zog Elane bereits Shirt und Hose aus.
„Ich habe uns eine Flasche Sekt mitgebracht“, grinste Reed und wandte sich ihr zu, um ihr die Flasche zu zeigen. Dabei sah er, dass Elane im Badeanzug vor ihm stand. „Hier kommt doch niemand vorbei. Da brauchen wir doch nichts anzuziehen“, tadelte er verschmitzt grinsend.
„Glaubst du. Immer das Gleiche. Männer sind einfach Schweine.“ Sie schüttelte in gespielter Empörung den Kopf.
Drake grinste breit. „Na klar. Und wir haben den Riecher für ganz besondere Dinge.“
„Na schön, dann seit ihr eben Trüffelschweine“, verdrehte sie die Augen.
Er sah sie von unten herauf an und sie merkte sofort, dass er etwas im Schilde führte. Er stand auf und trat dicht zu ihr. Dann fuhr er mit der Hand sanft über den Badeanzug, der sich über ihre Brüste spannte. „Trüffelschweine? Sind hier etwa Trüffel drunter?“
Sie lachte laut auf und stieß ihn dann sanft weg. „Na klar, aber die sind nicht leicht zu haben.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief schnell die wenigen Schritte zum Ufer.
Drake beeilte sich die Klamotten los zu werden. Zwar hatte er tatsächlich darauf gehofft, ohne Badehose auszukommen, hatte aber doch eine dabei. Er kannte Elane mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie sich ganz nackt nicht besonders wohl fühlte, nicht einmal vor ihm. Er bedauerte das, denn für ihn war sie die schönste Frau der Welt, auch mit ihren Pölsterchen. Er konnte und vor allem wollte sie sich gar nicht ohne vorstellen. Es würde nicht passen. Dann wäre es nicht mehr Elane. Und er konnte sich nicht mehr vorstellen, dass er früher nur auf Frauen mit der Figur eines Models geachtet hatte. Heute würde er diese Frauen als viel zu dürr bezeichnen. Ohne jegliche weibliche Kurven.
Nachdem er sich umgezogen hatte folgte er Elane. Sie war noch nicht sehr weit gekommen. Gerade einmal bis zu den Knien reichte ihr das Wasser. Nur zaghaft machte sei einen Minischritt nach dem anderen. Als sie ihn kommen hörte wandte sie sich ihm zu.
„Das Wasser ist arschkalt“, rief sie und stieß dabei den angehaltenen Atem aus.
„Was hast du erwartet? Es ist ein Bergsee.“ Er versuchte eine möglichst unschuldige Mine zu machen. Es sah einfach zum Schreien komisch aus, wie verkrampft Elane im Wasser stand.
„Ich dachte Bergseen auf anderen Planeten wären wärmer“, gab sie trocken zurück. „Komm du erst einmal rein. Es ist so kalt.“ Sie deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von einem Zentimeter an.
„Das wird sich noch zeigen“, sagte er großspurig und ging mit weiten Schritten ins Wasser. Aber Elane hatte recht. Es war wirklich erschreckend kalt. Zwar gab er keinen Laut von sich, aber sein Gesichtsausdruck musste Bände sprechen, denn sie konnte sich ein spitzes „Na?“ nicht verkneifen.
Drake seinerseits wollte sich auf keinen Fall eine Blöße geben. Daher ließ er sich vornüber ins Wasser fallen. Als das Wasser über ihm zusammenschlug hörte er Elane noch aufkreischen. Offenbar hatte er genug Wasser aufspritzen lassen, um sie zu treffen.
Mit ein paar kurzen Schwimmzügen tauchte er durch das Wasser. Ein paar kleinere Fische huschten davon als sie ihn bemerkten, darunter eine besonderes seltsame Erscheinung. Der kleine Fisch war mehr breit als lang und es sah beinahe so aus, als hätte er je zwei verkrümmte Finger links und rechts an der Seite. Er ergriff jedoch genauso schnell die Flucht wie alle anderen. Und da Drake versichert wurde, dass es hier keine gefährlichen Tiere geben würde, betrachtete er den Fisch als harmlos.
Nachdem er wieder auftauchte spürte er sofort die Sonne auf seinem Kopf. Aufgrund der augenblicklichen Wärme wurde ihm schlagartig bewusst, wie kalt das Wasser war. Während er sich bewegt hatte, war das kaum zu spüren gewesen.
Er wandte sich zu Elane um. Zwar war er einige Schritte getaucht, doch konnte er hier noch immer stehen. Das Wasser ging ihm bis zum Bauch.
Elane stand noch immer unbeweglich an der gleichen Stelle. „Und, ist es so kalt?“ wollte sie wissen und wiederholte die Geste von vorhin.
„Komm her und prüf es nach“, rief er zurück.
Sie schüttelte nur den Kopf. „Ich gehe keinen Schritt weiter rein. Mir ist das zu kalt.“
„Das kannst du nicht machen. Mich hier so hängen lassen. Jetzt komm schon. Lass uns ein bisschen schwimmen“, bettelte er schon fast. „Wenn wir uns bewegen ist es gar nicht so kalt.“
„Du kannst mir viel erzählen“, kam die kritische Antwort. Doch sie schien es genauso zu sehen, denn sie machte langsam einen weiteren Schritt.
„Reinspringen. Dann ist es gleich vorbei.“ Sein Ratschlag erntete einen vorwurfsvollen Blick.
Sie machte noch zwei weitere kleine Schritte, dann sah sie es ein und warf sich ebenso ins Wasser wie Drake kurz zuvor. Nur tauchte sie nicht sondern zog es vor zu schwimmen.
„Hab ich doch gleich gesagt“, kommentierte er überflüssigerweise.
„Wie klug du trotz deiner Jugend doch bist“, gab sie trocken zurück und schwamm an ihm vorbei.
Drake grinste nur, warf sich dann ins Wasser und schwamm neben ihr her.
So schwammen sie einige Zeit immer weiter zur Mitte des Sees hin. Je weiter sie kamen, desto kälter wurde das Wasser. Und desto langsamer wurden Drakes Bewegungen. Schließlich stellte er das Schwimmen ein und hielt sich nur noch mit den nötigsten Bewegungen über Wasser. Stehen konnte er hier bei weitem nicht mehr.
„Was ist los?“ wollte Elane wissen. Sie hielt nicht inne sondern schwamm im Kreis um ihn herum.
„Ich glaub, ich muss zurück“, prustete er. „Sonst schaffe ich es nicht mehr.“
„Das ist nicht dein Ernst?“ Sie schien ehrlich überrascht zu sein. Ihr selbst machte die Schwimmerei nichts aus.
„Doch. Ich... ich bin ziemlich platt.“
Sie grinste. „Du gehst regelmäßig in den Fitnessraum, läufst und tust, um in Form zu bleiben. Und jetzt geht dir die Puste aus?“
„Schwimmen gehört nicht zu meinem Trainingsprogramm“, entschuldigte er sich halbherzig.
Elane schüttelte den Kopf. „Drake Reed, du bist die seltsamste Person, die ich kenne.“
Er wollte mit den Schultern zucken, ging dabei aber fast unter.
„Na schön, schwimmen wir zurück“, gab sie nach. „Wenn ich dich retten soll, dann gib mir ein Zeichen. Am besten blubb, blubb, blubb oder so etwas.“
„Den Triumph gebe ich dir nicht“, erwiderte er etwas gekränkt. „Ich werde es selber schaffen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“
Sie quittierte das mit einem herausforderndem „So“, schob dann aber vieldeutend hinterher: „Ich will mal nicht hoffen, dass es das Letzte ist.“
Drake konnte nichts mehr sagen. Er spürte, dass ihm die Kräfte nach und nach ausgingen. Wenn er das Ufer noch erreichen wollte, dann musste er seinen Atem einteilen. Damit blieb keine Luft mehr zum Reden. Und diese Entscheidung erwies sich als goldrichtig. Denn kaum hatte er wieder festen Boden unter den Füßen gab er das Schwimmen auf und lief das letzte Stück bis zum Ufer. Was jedoch nicht wirklich einfacher war. Und noch immer hatte er das Gefühl nicht genug Sauerstoff zu bekommen. So richtig frei atmen konnte er erst wieder, als sein Oberkörper aus dem Wasser war und der Druck, den das Seewasser auf ihn ausgeübt hatte, weg war.
„Ich werde wohl öfters mit dir schwimmen gehen müssen“, sagte Elane, die neben ihm stand. Ihr Blick verriet eine Mischung aus Belustigung und Besorgnis.
Drake winkte schnaufend ab. „Das... ist gleich vorbei.“
Sie liefen zu ihren Badetüchern zurück und ließen sich dort nieder. Drake atmete noch immer etwas schwerer, auch wenn er sich langsam beruhigte.
Elane lag auf der Seite und sah ihn an. So blieben sie eine Zeit lang liegen und lauschten der Stille. Die Sonne wärmte sie langsam auf. Während des Schwimmens war ihnen das Wasser zwar nicht mehr so kalt vorgekommen. Doch als sie aus dem See herausgekommen waren, hatte eine leichte Brise sofort dafür gesorgt, dass sie eine Gänsehaut bekommen hatten. Nun wurde ihnen wieder warm. Fast ein wenig zu warm.
„Darf ich dich etwas fragen?“ begann Elane vorsichtig.
„Du darfst mich alles fragen“, erwiderte er und fragte sich, was ihr nun schon wieder verrücktes eingefallen war.
„Was gefällt dir besonders an mir?“
Drake musste sich bemühen nicht die Augen zu verdrehen. Was für eine Frage. Das war dann wohl typisch Frau. Natürlich gefiel ihm alles an ihr. Wäre er ihr sonst verfallen? Aber dann erinnerte er sich an die Schilderungen ihrer letzten Beziehung. Und wie wenig Bestätigung sie damals bekommen hatte. Offenbar brauchte sie das nun. Er konnte es ihr nicht verdenken.
„Mir gefallen deine Augen“, sagte er.
„Meine Kuhaugen?“
„Deine wunderschönen, braunen Rehaugen“, erwiderte er liebevoll. „Sie sind so unglaublich tief. In ihnen könnte ich mich verlieren. Ich kann durch sie bis zu deinem Herz sehen.“
Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen schnellen Kuss. Ihr Körper berührte dabei seinen, was ihm ein Prickeln auf der Haut bescherte.
„Das hast du schön gesagt.“
Drake spürte wie sein Atem wieder etwas schneller wurde, was diesmal aber eindeutig nicht am Wasser lag. Noch immer erfasste ihn eine wohlige Aufregung, wenn er sie so nahe bei sich spürte, nur getrennt durch einen hauteng anliegenden Stoff, der nichts kaschieren konnte.
Er erwiderte ihren Kuss leidenschaftlich. Zärtlich fuhr er mit seinen Fingern ihren Körper entlang. Elane zog ihn näher zu sich heran und ihre warme Haut jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sie ließen sich viel Zeit und genossen es, die warme Sonne auf ihren Körpern zu spüren, als sie sich schließlich unter freiem Himmel liebten.
ZWÖLF
Die Zeit, die die Republic
im Orbit der Kolonie verbrachte verging wie im Flug. Tage wurden zu Wochen und Wochen zu Monaten. Schließlich war ein halbes Jahr vergangen, ohne dass sie einen Schritt weiter gewesen wären.
Nachdem sie die Krise um die Entführung des Sondergesandten der Erde überstanden hatten, war auch die Spannung an Bord nach und nach gewichen. Zwar behaupteten die Senatoren nach wie vor, dass die Gefahr noch nicht vorüber war und die Erde bestimmt noch etwas im Schilde führte. Da es dafür aber keine Anzeichen gab und die Zeit immer weiter ereignislos verstrich, erschien es immer unwahrscheinlicher. Die Crew genoss die ruhigen Tage und nutzte ausgiebig die Möglichkeit auf dem Planeten Landurlaub zu machen. So geriet auch die Frage, wie und ob man wieder nach Hause kommen würde, für die meisten Crew-Mitglieder etwas in den Hintergrund.
Die verschiedenen Seen und Meere mit verborgenen Traumstränden standen im Kurs der Crew ganz weit oben. Auch wenn es offiziell keinen Urlaub gab, so waren die Dienstzeiten doch so weit zurückgegangen, dass genug Zeit für solche Ausflüge blieb. Es gab auf dem Schiff schlicht und einfach nichts mehr zu tun. Die Reparaturen waren soweit es wie ohne Dock möglich durchgeführt worden. Die Forschungs- und Wissenschaftslabore hatten keine neuen Aufgaben. Und so blieb genug Freizeit.
Die Kolonisten hatten das schnell erkannt und ihrerseits versucht einen Vorteil daraus zu ziehen. Ein kleines Restaurant im Zentrum der zweitgrößten Siedlung erfreute sich großer Beliebtheit bei der Crew. Es gab dort ein stetiges Kommen und Gehen. Dabei gab es dort nicht einmal etwas Besonderes. Nur verschiedene Spezialitäten der Erde. Der Koch aber verstand es, die Gerichte so gut zu servieren, dass man den Eindruck bekommen konnte, tatsächlich am Ursprungsort des Gerichtes zu sein. Ganzes Geburtstags- und Abteilungsfeiern wurden mittlerweile dort abgehalten. Der Besitzer machte das Geschäft seines Lebens.
Es gab Theateraufführungen, Musikveranstaltungen, Lesungen. Den Kolonisten war nichts zu verrückt. Selbst eine der bekanntesten Bands der Erde konnte zu einem Konzert in der Kolonie eingeladen werden, und das trotz Boykotts der Kolonie seitens der Erde. Natürlich machten die Kolonisten das nicht nur aus lauter Nettigkeit. Sie verdienten auch ganz gut an der Mannschaft der Republic
. So entstand allmählich eine gute Beziehung der Republic
zur Kolonie. Es gab auch schon einige Freundschaften, die miteinander verbanden, ja selbst das Gerücht, dass es eine ernsthafte Liebesbeziehung zwischen einem Republic
-Mitglied und einem Kolonisten gab, machte die Runde.
Doch je mehr Zeit verging, ohne dass sich etwas Neues ergab, desto gedrückter wurde die Stimmung. Da halfen auch keine Ausflüge auf Ceti Alpha etwas. Die Moral der Crew ließ immer mehr zu wünschen übrig. Nicht wenige hatten die Hoffnung heimkehren zu können inzwischen aufgegeben.
Einzig Drake Reed war noch immer guter Stimmung. Er strahlte, als würde ihn die ganze Situation nichts angehen, als habe er den Sinn für die Realität verloren. Allerdings kannte inzwischen jeder den wahren Grund für seine euphorische Stimmung. Dass er mit Elane Watts zusammen war, war ein offenes Geheimnis und sorgte auch hin und wieder für einige Lacher. Zwar gönnte ihm jeder das Glück, das er empfand. Aber die beiden gaben schon ein etwas seltsames Paar ab, zumindest für Außenstehende.
Die Forschungen, die Sohral mit den beiden Vulkaniern Lorat und T’Lor durchführte, brachten bei weitem nicht die gewünschten Ergebnisse. Genaugenommen brachten sie gar keine Ergebnisse. Sanawey hatte allmählich den Verdacht, dass die beiden Vulkanier entweder die Forschungen absichtlich sabotierten oder dass sie einfach nicht fähig waren für solche Forschungen. Das war nicht böse gemeint. Sie waren zwar Vulkanier, kamen aber aus einer Zeit, in der dieses Volk noch emotional war und damit lange nicht so effizient wie die Vulkanier der Föderation. Und sie kamen aus einer zweieinhalb Jahrtausende zurückliegenden Vergangenheit. Zwar war das nicht mit der Erde vergleichbar. Immerhin hatten die Vulkanier damals schon die bemannte Raumfahrt, und Reisen innerhalb des Sonnensystems waren auch nichts Ungewöhnliches. Selbst Raumschiffe, die mit einer im Kälteschlaf liegenden Besatzung das Sonnensystem verließen gab es. Und doch war das selbst für dieses Universum eine antike Technik. Und die beiden Vulkanier damit ein Relikt der Vergangenheit.
Sie hatten zu viel Hoffnung in die beiden gesteckt, das hatte der Captain inzwischen auch erkannt. Und sie hatten dadurch Zeit, viel Zeit verloren. Es wurde nun Zeit, dass sie die Kolonie verließen und anderswo nach einer Möglichkeit suchten, die Zeitlinie wieder richtig zu stellen. Er wusste zwar nicht wohin sie sich wenden sollten, aber jede Möglichkeit erschien inzwischen besser als weiter hier zu bleiben.
Sanawey notierte diese Gedanken gerade im Logbuch, als Reed ihn aus seien Gedanken riss.
„Captain, ein fremdes Schiff nähert sich dem Planeten.“
Wenig beeindruckt sah Sanawey auf. Es kam immer wieder vor, dass verschiedene Schiffe zur Kolonie kamen, um dort Handel zu treiben. Die meisten Händler kamen zwar während des Marktes, aber auch so kam ungefähr alle drei Wochen ein Schiff vorbei.
„Eine bekannte Bauart?“
Reed schüttelte den Kopf. „Nein. So ein Schiff war bisher noch nicht da.“
Sanawey blickte mäßig interessiert auf den Bildschirm. Bisher hatten sie mit keinem der Händler Kontakt aufgenommen. Es war kaum anzunehmen, dass einer von ihnen etwas bieten konnte, das sie benötigten. Und auch die Händler schienen die ihnen bekannten Ansprechpartner vorzuziehen, denn noch nie waren sie von einem der fremden Schiffe gerufen worden.
Dieses Schiff erweckte allerdings Sanaweys Aufmerksamkeit. Zwar war ihm diese Bauart völlig unbekannt, doch irgendwie erschien es ihm seltsam vertraut. Irgendetwas an dem Schiff glaubte er schon einmal gesehen zu haben.
„Mr. Sohral, können Sie irgendetwas Ungewöhnliches an dem Schiff erkennen?“ wandte er sich an seinen Wissenschaftsoffizier.
Der Vulkanier verzichtete auf die Rückfrage, was genau der Captain mit ungewöhnlich meinte. Solche, in seinen Augen vage Angaben, war er von den Menschen gewohnt. Daher analysierte er normalerweise einfach alles, was möglich war. Daraus ergab sich meist schon direkt etwas, das der Captain als ungewöhnlich bezeichnet hätte. Die feinen Details, die auf jeden Fall auch interessant waren, behielt er dann für sich. Aus der Erfahrung heraus wusste er, dass Menschen sich nicht zu sehr dafür interessierten.
„Bei dem Schiff handelt es sich um eine uns unbekannte Bauart. Die Hülle des Schiffes weist Schäden auf. Die Beschaffenheit der Schäden lässt auf einen Beschuss schließen. Insgesamt befinden sich fünf Lebensformen an Bord. Eine ebenfalls unbekannte Art. Ich lasse den Computer die Datenbanken nach eventuellen Ähnlichkeiten durchsuchen“, berichtete er schließlich.
Nachdenklich sah Sanawey zum Bildschirm. „Was ist mit den Materialien des Schiffes?“
Sohral rief die Daten ab. „Faszinierend“, sagte er dann. „Die Zusammensetzung des verwendeten Baumaterials ähnelt der der Xindi-Schiffe, die wir bei der Waffe gesehen hatten.“
Triumphierend lächelnd sah Sanawey zum Vulkanier hinüber. „Ich wusste, dass es mir bekannt vorkommt. Aber was macht ein Xindi-Schiff hier?“
„Wir wissen nicht genau, ob es wirklich Xindi sind“, erinnerte Sohral ihn. „Und Mr. Oket hatte uns gesagt, dass die Kolonie auch mit den Xindi handelt.“
„Das hat er gesagt?“ wunderte sich Sanawey. „Wann?“
„Das war bei unserer ersten Begegnung mit ihm“, half Sohral ihm auf die Sprünge. Über das mangelnde Erinnerungsvermögen des menschlichen Gehirns wunderte er sich schon lange nicht mehr.
„Das ist ein halbes Jahr her“, verteidigte sich Sanawey lahm.
Reed drehte sich zu ihm um und ersparte ihm einen weiteren Tadel des Vulkaniers. „Captain, sie rufen uns.“
Überrascht sah Sanawey ihn an. Bisher hatte sich noch kein Händler bei ihnen gemeldet. „Na dann. Auf den Schirm.“
Auf dem Bildschirm erschien der Kopf eines Wesens, das starke Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte. Einzig die ausgeprägteren Knochen der Stirnpartie sowie ein Wangenwulst zeigten, dass es kein Mensch war. Aber die Beschreibung passte zu den über hundert Jahre alten Aufzeichnungen von Captain Archer. Hier musste es sich um einen Xindi handeln und zwar von der humanoiden Spezies.
„Ich bin Captain Sanawey, vom Raumschiff Republic
“, stellte er sich vor, ließ aber die Erwähnung der Föderation unter den Tisch fallen. Damit konnte hier ohnehin niemand etwas anfangen.
„Mein Name ist Sorua“, erwiderte der Xindi. „Ich nehme an, Sie sind das Raumschiff aus der Alternativwelt.“
Jedem auf der Brücke der Republic
fiel die Kinnlade nach unten. Selbst der sonst so emotionslose Sohral zog beide Augenbrauen nach oben. So eine Aussage hatte keiner von ihnen erwarten. Sanawey rang nach Worten, machte aber nur mehrmals den Mund auf und zu und sah dann zum Vulkanier.
„Ich nehmen an, Sie sind etwas überrascht, dass wir über Sie Bescheid wissen“, sagte Sorua sichtlich belustigt. Dann wurde er aber schnell wieder ernst. „Wir Xindi haben ein großes Imperium erschaffen. Und um das auch zu erhalten haben wir überall unsere Informanten.“
Sanawey nickte noch immer irritiert. „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Etwas anderes war ihm nach dieser Offenbarung nicht eingefallen, auch wenn er dafür einen tadelnden Blick von Sohral einfing.
Der Xindi kannte diese Redewendung nicht, daher sah er Sanawey verwirrt an. „Wie auch immer“, sagte er schließlich. „Es gibt einige Dinge, die Sie wissen müssen. Auch bei uns sind Reisende aus dem Alternativuniversum aufgetaucht.“
„Was?“ entfuhr es Sanawey. „Wer? Wie ist das möglich?“
„Genau wissen wir es nicht. Aber offenbar war es von unseren Besuchern geplant gewesen, hierher zu kommen, während es bei Ihnen ein Unfall war“, beantwortete Sorua die Frage.
„Aber.... wieso geplant?“
„Captain, bitte keine einzelnen Fragen. Ich werde Ihnen sagen was ich weiß, aber unsere Zeit ist knapp“, sagte Sorua. „Vor einiger Zeit, ungefähr ein halbes Jahr Ihrer Zeitrechnung, sind auf der Heimatwelt der Reptilianer Besucher aus einer anderen Zeitlinie aufgetaucht. Es waren fünf Reptilianer und zwei Insektoide. Sie waren mit einer weiterentwickelten Technologie ausgerüstet, die es ihnen erleichterte, die Macht bei unseren reptilianischen Brüdern an sich zu reißen. Seitdem gerät unser Reich aus den Fugen.
Wir Xindi sind eine Gesellschaft aus fünf Spezies. Und bisher waren alle fünf gleich berechtigt. Wir hatten Meinungsverschiedenheiten in der Vergangenheit, doch hatten wir es geschafft, diese beizulegen. Seit sich die Machtverhältnisse bei den Reptilianer geändert haben versuchen diese die Herrschaft über alle Xindi zu erlagen. Und sie machen große Fortschritte. Die Arboreale haben sich bereits ergeben, da die kein Interesse am Kämpfen hatten. Wir Humanoiden werden derzeit in einem Vernichtungskrieg abgeschlachtet, den wir wohl verlieren werden.
Wir wissen inzwischen, dass diese Reptilianer den Verlauf der Zeit absichtlich geändert haben, um die Herrschaft über alle Xindi an sich zu reißen. Der Plan war anscheinend, die Erde in der Vergangenheit zu vernichten. Offenbar hatte Ihre Spezies einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Xindi. Um diesen zu verhindern, sollte Ihr Volk ausgelöscht werden.
Nur ging das ganz eindeutig schief. Trotzdem ist der Verlauf der Zeit irgendwie verändert worden. Lerak, der Anführer der Xindi aus Ihrem Universum, war mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden, meinte aber, es sei immer noch besser als in seiner Welt. Und inzwischen hat er die Herrschaft bei den Reptilianern an sich gerissen und den Rest der Xindi in einen Bürgerkrieg gestürzt. Seine Schiffe hat er mit modernsten Waffen ausgerüstet, gegen die wir machtlos sind.
Vor einigen Tagen haben die Reptilianer dann herausgefunden, dass Sie ebenfalls hier sind. Sie können sich nicht vorstellen, was das für Wutausbrüche bei Lerak ausgelöst hat. Und natürlich will man Sie und Ihr Schiff jetzt aus dem Weg schaffen.“
„Und Sie sind hier um uns zu warnen?“ unterbrach Sanawey ihn skeptisch.
„Nein. Wir sind hier um Ihnen all das zu sagen. Und um Sie um Hilfe zu bitten. Millionen unseres Volkes sind tot und es werden noch Millionen sterben. Stellen Sie die Zeitlinie wieder her. Denn in Ihrem Universum scheinen die Xindi noch immer in Koexistenz miteinander zu leben. Sonst hätte Lerak das nicht ändern wollen. Korrigieren Sie den Zeitverlauf wieder, nur so hat unser Volk eine Chance zu überleben.“
Sanawey verzog das Gesicht zu einem humorlosen Grinsen. Sollte er dem Xindi sagen, dass sie genau das seit einem halben Jahr versuchten und überhaupt nicht wussten, wie sie das anstellen sollten? Wohl kaum. Überhaupt konnte er das alles nicht ganz glauben. Wollten die Xindi ihn in eine Falle locken?
„Ich vermute, Sie sind ebenfalls daran interessiert, Ihre Zeitlinie wieder herzustellen“, fuhr Sorua fort. „Und da Sie es bis jetzt noch nicht getan haben, vermute ich, dass Sie noch keinen Weg gefunden haben.“
Sanawey legte den Kopf schief. „Und wenn es so wäre?“
„Dann wären unsere Hoffnungen enttäuscht worden. Und unser Volk dem Untergang geweiht. Und danach Ihres. Denn wenn die Reptilianer erst die Herrschaft über die Xindi errungen haben, werden Sie danach nicht aufhören und sich wahrscheinlich der Erde zuwenden.“
Seine Skepsis konnte Sanawey nicht überwinden. Trotzdem erkannte er, dass er etwas tun musste, wenn er die Chance nutzen wollte. Vielleicht konnten diese Xindi ihm weiter helfen. „Wissen Sie, wie Ihre Besucher aus einer anderen Zeitlinie den Übergang geschafft haben?“
Sorua sah überrascht aus, ob dieser Frage. „Nein, tut uns leid. Die genauen Umstände sind uns nicht bekannt. Wir wissen nur, dass es sie gibt. Wie genau sich ihre Ankunft vollzogen hat wurde von den Reptilianern geheim gehalten. Wie schon gesagt, wir befinden uns im Krieg mit ihnen.“
„Also haben Sie keine Hinweise auf die verwendete Technologie“, schlussfolgerte Sanawey enttäuscht.
„Nein“, schüttelte Sorua den Kopf. „Wir könnten Ihnen aber die Koordinaten des Heimatplaneten der Reptilianer geben. Dann hätten Sie die Möglichkeit sich selbst dort umzusehen.“
Mit großen Augen sah Sanawey ihn an. „Würden die Reptilianer das denn zulassen?“
„Natürlich nicht“, gab Sorua zurück und sein Tonfall ließ seine Zweifel an Sanaweys Verstand erkennen. Wie konnte der Mensch nur so eine Frage stellen? „Sie müssten mit heftigem Widerstand rechnen. Und auch wenn Ihr Schiff in diesem Universum bisher allen anderen überlegen ist, gegen die Reptilianer müssten selbst Sie mit einer Niederlage rechnen. Die Technologie der Reptilianer hat sich im letzten halben Jahr ziemlich schnell weiter entwickelt.“
„Welch Überraschung“, sagte Sanawey ironisch und konnte sich ziemlich gut vorstellen, wie die Reptilianer aus seiner Zeitlinie die Entwicklung beeinflusst hatten.
„Ich würde Ihnen gerne Beweise für unsere Behauptungen zeigen, aber wir haben keine“, entschuldigte sich Sorua. „Zudem werden wir von unseren reptilianischen Brüdern verfolgt. Wir müssen weiter, wenn wir sie nicht zu dieser Kolonie führen wollen. Holen Sie sich die Technologie und stellen Sie dann den Zeitverlauf richtig. Nur so können Sie unser Volk und Ihres retten.“
Die Verbindung zwischen den Schiffen wurde unterbrochen. Der Bildschirm der Republic
zeigte, wie das Xindi-Schiff den Orbit verließ und dann verschwand.
Langsam wandte Sanawey sich zu Sohral um. Die Offenbarungen Soruas ließen plötzlich alles in einem neuen Licht erscheinen. Und doch ergab es nun einen Sinn. Das fehlende Motiv für die Ereignisse. Für die Waffe. Bisher hatten sie es für einen Unfall gehalten. Denn warum sollte jemand eine Waffe durch die Zeit schicken, um deren Ablauf zu verändern? Denn eine solche Veränderung hieß auch, dass man selbst Teil der Veränderung wurde. Somit waren auch alle Pläne für die Zeit danach nicht mehr vorhanden, denn im geänderten Zeitablauf hatten diese Pläne ja nie existiert.
Wenn man jedoch, so wie diese Reptilianer, eine Möglichkeit hätte sich selbst von der Veränderung auszuschließen, dann hatte man damit die Chance sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Und mit einem solchen Vorteil konnte man sich an die Macht putschen, wie diese Reptilianer es gemacht hatten. Nur dass es nicht einfach nur die Machtübernahme einer Zivilisation war. Gleichzeitig ergab sich noch die Chance, auch die angrenzenden Völker einer Veränderung zu unterwerfen. Einer so gewaltigen Veränderung, dass man selbst auch ihnen gegenüber einen Vorteil hatte. Das war das Motiv der Erbauer der Waffe gewesen.
Und trotzdem war nicht alles nach Plan gelaufen. Die Erde existierte noch. Stattdessen fehlten in diesem Universum die Vulkanier mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Hatte Sorua nicht eben von einem Unfall gesprochen?
Auf einmal fiel es Sanawey wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Wieso waren sie nicht schon eher darauf gekommen. Er sah Sohral an und wusste, dass der Vulkanier eben dieselben Schlussfolgerungen gezogen hatte. Damit hatten sie den Beweis, dass die Xindi tatsächlich für die Zerstörung Vulkans verantwortlich waren. Es war keine Naturkatastrophe oder ein kriegerisches Ereignis auf Vulkan gewesen, das den Planeten vernichtet hatte, sondern ein absichtlich herbeigeführte Ereignis von außen. Nur dass eigentlich die Erde das Ziel gewesen war. Und auch wenn die Xindi ihr eigentliches Ziel nicht getroffen hatten, so waren sie vom Ergebnis her doch nahe dran. Durch die Zerstörung Vulkans war ein Machtvakuum entstanden, das die Xindi hatten füllen können.
„Was meinen Sie, Mr. Sohral?“ wollte Sanawey die Meinung des Vulkaniers hören. Wenn es etwas an der Geschichte gab, das er übersehen hatte, dann hätte Sohral das sicherlich bemerkt.
„Eine äußerst faszinierende Geschichte“, sagte Sohral nur.
„Ja, das ist es. Und die Chance, nach Hause zu kommen“, ergänzte Sanawey.
„In der Tat.“
„Das ist eine Falle“, mischte sich Reed lautstark mit ein. „Sie locken uns damit an, um uns dann zerstören zu können. Wenn die Geschichte wahr ist, dann sind wir die einzigen in diesem Universum, die den Xindi die Stirn bieten können. Und das wissen die. Deswegen locken sie uns in die Falle.“
„Danke für den Hinweis, Mr. Reed“, sagte Sanawey leichthin, ohne sich zu ihm zuzuwenden.
„Sie werden uns ausschalten, weil wir eine Gefahr für sie sind“, setzte Reed nach.
„Sie haben Ihren Standpunkt deutlich gemacht“, betonte Sanawey.
Reed wandte sich wieder einer Konsole zu. „Ja, Sir“, brummte er noch missmutig. Zwar wollte auch er wieder zurück, doch nicht um jeden Preis. Dazu stand zuviel auf dem Spiel. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal in seinem Leben wirklich zu wissen, was es heißt glücklich zu sein. Das wollte er nicht riskieren zu verlieren. Was, wenn diese Mission schief ging? Wenn dabei das Schiff zerstört würde? Dann hätte er gerade einmal ein halbes Jahr wirkliches Glück erfahren dürfen. Oder noch schlimmer, er überlebte, aber Elane nicht. Er wusste, ohne sie würde er nicht mehr leben können.
„Es könnte eine Falle sein“, gab Sanawey zu und sah noch immer Sohral an. „Aber jede Falle ist auch eine Chance, wenn man weiß, dass es eine Falle ist. Ich denke, wir sollten diese Chance nutzen.“
Sohral nickte nur, sagte sonst aber nichts dazu.
„Gut. Dann machen wir es“, beschloss Sanawey. „Besprechung in einer Stunde. Danach werde ich Senator Oket darüber informieren.“ Schnellen Schrittes ging er zum Turbolift.
„Captain“, fing Reed an, wurde jedoch sofort von Sanawey unterbrochen.
„Keine Diskussion, Mr. Reed. Dies hier ist keine Demokratie.“ Mit diesen Worten schlossen sich die Turbolifttüren hinter ihm.
Zusammen mit seiner Führungscrew hatte Sanawey sich im Besprechungsraum versammelt. Es sollte nur eine kurze Besprechung werden. Auf keinen Fall wollte er eine lange Diskussion daraus werden lassen. Ihm ging es in erster Linie darum alle Meinungen zu hören. Er wollte ganz sicher sein, dass er nichts übersehen hatte. Denn Reed hatte nicht ganz unrecht. Eine Reise zum Heimatplanet der Xindi-Reptilianer barg das Risiko einer Falle. Aber letztlich war jede Falle auch eine Chance.
„Wir sollten diese Chance nutzen“, schloss Sanawey seine kurze Darstellung der Lage.
„Jetzt da wir wissen, dass die Xindi-Waffe für die Zerstörung Vulkans verantwortlich ist, können wir da nicht selbst tätig werden?“ warf Jackson ein. „Können wir nicht auch ohne die Xindi die Zeitlinie wieder herstellen? Zum Beispiel, indem wir den Bau der Waffe verhindern?“
„Das ist leider unmöglich“, beantwortete Sohral die Frage. „Die Waffe, die Vulkan zerstörte, existiert nicht mehr. In dieser Zeitlinie gab es die Waffe nie, wir können daher die Waffe nicht zerstören.“
„Könnten wir mit einer Zeitreise die Waffe erreichen?“ fragte Reed
„Nein. Wie gesagt, in dieser Zeitlinie hat die Waffe nie existiert. Damit können wir auch nicht in die Vergangenheit reisen, um die Waffe dort zu zerstören“, erklärte Sohral ruhig.
„Wenn es die Waffe nie gab, dann hätte Vulkan doch auch nicht zerstört werden dürfen. Und diese Zeitlinie hätte nie entstehen dürfen“, warf Williams ein.
„Die Ereignisse beweisen uns das Gegenteil“, sagte Sohral. „Wir erleben hier ein Zeitparadoxon. Die Ursache, die Waffe, ist nicht mehr existent, die Wirkung aber doch.“
„Sie meinen, wie mit dem Enkel, der in die Vergangenheit reist um seinen Großvater zu töten und damit eigentlich nie geboren wird“, verstand Williams und formulierte die Gedanken aller. „In unserem Falle hieße das, dass durch die Vernichtung Vulkans eine Zeit geschaffen wurde, in der es die Waffe nie gab. Damit dürfte Vulkan eigentlich nicht zerstört werden und damit hätte es wieder eine Zeitlinie gegeben, in der es die Waffe gab. Damit wäre Vulkan zerstört worden, was wieder dazu führt, dass die Waffe nicht existiert. Und so weiter. Das ist ein ewiger Kreislauf.“
„Mir schwirrt der Kopf“, brummte Reed.
„Genau“, bestätigte Sohral Williams‘ Aussage und ignorierte Reed. „Und da ein solches Chaos von den physikalischen Gesetzen des Universums wohl ausgeschlossen wird, werden eben die Folgen von Ursache und Wirkung ausgesetzt. Allerdings sind das nur Spekulationen aufgrund unserer Erlebnisse. Ich kenne keine wissenschaftlichen Beweise dafür.“
„Das heißt aber, dass wir die Ursache, nämlich die Waffe, nicht angehen können“, fasste Sanawey zusammen. „Uns bleibt also nichts anderes übrig, als zu verhindern, dass der Energiestrahl der Waffe den Planeten erreicht.“
„Hier gibt es zwei Probleme. Erstens: Vulkan wurde in der Vergangenheit zerstört. Wir können anhand der Trümmer zwar das Jahr ziemlich genau datieren, aber eine exakte Zeitreise ist nahezu unmöglich.
Zweitens: Selbst wenn wir es schaffen in das Jahr der Zerstörung zu reisen, so haben wir noch keine Möglichkeit gefunden einen Energiestrahl aufzuhalten, der durch die Zeit kommt und einen ganzen Planeten zerstört. Ein Schutzschild in der benötigten Größe zu erzeugen übersteigt aufgrund des Energiebedarfes unsere Möglichkeiten. Und wir dürfen uns weder auf die Technologie dieses Jahrhunderts noch auf die zur Zeit der Zerstörung Vulkans verlassen. Auch in diesen Zeiten gibt es keine ausreichenden Technologien.“
„Dann reisen wir zuerst in die Zukunft, holen uns die benötigte Technologie und reisen dann in die Vergangenheit“, schlug Reed trocken vor.
Die Blicke aller sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Doch nach einigen Augenblicken schien der Gedanke gar nicht mehr so abwegig zu sein. Sanawey sah Sohral auffordernd an. Offenbar wollte er die Meinung des Vulkaniers dazu hören.
„Theoretisch mag das möglich sein. Die Chancen sind jedoch zu gering, als dass wir das riskieren dürften. Wir wissen nicht, in welcher Zeit die benötigte Technologie existiert. Außerdem reisen wir in die Zukunft dieser Zeitlinie. Dort wird man sicherlich nicht gewillter sein, den Zeitverlauf zu verändern als hier“, erinnerte er Sanawey an das Gespräch mit General Everson. „Um sicher zu gehen, dass die von uns benötigte Technologie auch tatsächlich existiert müssen wir meiner Schätzung nach dreihundert Jahre in die Zukunft. Wie sich das Universum bis dahin entwickelt hat, darüber können wir nur spekulieren. Es ist möglich, dass diese Zeitlinie bis dahin sein Gleichgewicht gefunden hat und ein ähnlicher Friede herrscht wie in unserer Zeit. Oder es herrscht weiterhin Krieg zwischen allen Völkern. Dann werden wir keine großen Überlebenschancen haben. Wie allerdings auch immer die Zukunft aussieht, die Technologie würde uns dort mit aller Wahrscheinlichkeit niemand überlassen. Oder würden Sie einem Zeitreisenden aus dem Mittelalter Photonentorpedos überlassen weil dieser behauptet, nur damit die Welt oder das Universum retten zu können?“ fragte er in die Runde.
„Natürlich nicht“, antwortete Reed als einziger. „Aber das können Sie doch nicht wirklich vergleichen. Wir sind viel intelligenter als ein Mensch aus dem Mittelalter.“
„Das sagen Sie. Das gleiche würde der Mensch aus dem Mittelalter gegenüber einem Steinzeitmenschen auch behaupten. Aus Sicht einer Person aus der Zukunft sind wir allerdings sehr primitiv.“
Sanawey nickte und kam Reed zuvor: „Dann nennen wir die Reise in die Zukunft eben Plan B. Bleibt die Reise zu den Reptilianern.“
Niemand schien dagegen Einwände zu haben. Zwar war allen das Risiko bewusst, doch war jede Aktion besser als einfach weiter hier zu warten und auf ein Wunder zu hoffen.
„Na schön“, sagte Sanawey schließlich. „Ich werde Senator Oket über unsere Abreise informieren.“
„Und ich werde Lorat und T’Lor über unsere neuesten Erkenntnisse informieren“, sagte Sohral. „Sie sollten wissen, wie Vulkan zerstört wurde.“
Senator Oket war alles andere als begeistert, als Sanawey ihm die Nachricht überbrachte. Für ihn war die Abreise der Republic
ein herber Rückschlag. Seine Pläne, die Fremden an die Kolonie zu binden und damit einen gewissen Schutz vor der Erde zu haben, waren gescheitert. Er bat Sanawey, es sich noch einmal zu überlegen. Die Aussagen dieses Xindi seien wohl kaum das Risiko wert, in das sich die Republic
begeben würde. Zudem stände die Sicherheit der Kolonie auf dem Spiel. Die Erde würde sich wohl eine solche Chance kaum entgehen lassen.
Sanawey konnte das alles nicht mehr hören. Er war die sich ständig wiederholenden Aussagen der Senatoren leid. Es waren leere Phrasen und Wortklaubereien. Offenbar waren Politiker, egal in welchem Universum, alle gleich. So überging er Okets Bitten und beendete relativ schnell die Unterhaltung mit dem Senator. Er wünschte ihm weiterhin alles Gute für seine Kolonie, dann aber zog er sich auch schnell wieder zurück. Oket hatte keine Möglichkeit ihn zurückzuhalten.
So brach die Republic
für die Kolonisten überraschend schnell auf. Es blieb kaum Zeit, alle inzwischen bestehende Bekanntschaften noch einmal zu treffen und Lebewohl zu sagen.
Trotzdem herrschte an Bord eine geradezu euphorische Stimmung. Was vor allem daran lag, dass es wieder etwas zu tun gab. Die Crew hatte wieder eine Aufgabe, der sie sich zuwenden konnte. Schließlich war niemand aus der Mannschaft zur Sternenflotte gegangen, um dann irgendwo zu stranden und dort den Rest des Lebens zu verbringen. Sie alle waren Forscher, die Neues sehen wollten. Die es nicht allzu lange an einem Ort hielt.
Zudem gab es wieder Hoffnung nach Hause zu kommen. Nachdem viele diese Hoffnung während des letzten halben Jahres beinahe verloren hatten.
Den ersten Teil der Reise legte die Republic
ohne Probleme zurück. Mit Warp 3 flogen sie dem Heimatplaneten der Reptilianer entgegen. Mehr wollte Sanawey nach Rücksprache mit seiner Chefingenieurin dem Schiff nicht zumuten. Immerhin war es, trotz aller notdürftigen Reparaturen, noch immer in schlechtem Zustand.
Als sie in den Xindi-Raum einflogen, versetzte Sanawey das Schiff in Alarmzustand. Er wollte auf keinen Fall unvorbereitet sein, wenn sie feindlichen Schiffen begegneten. Und damit mussten sie früher oder später rechnen. Sanawey tippte eher auf früher. Wenn den Reptilianern ihre Anwesenheit in diesem Universum bekannt war, dann hatten sie sicherlich auch Vorkehrungen getroffen, die Republic
abzufangen, sollte sie sich der Heimatwelt der Reptilianer nähern. Aus diesem Grund hatte Sanawey auch keinen direkten Kurs gewählt, sondern einen Umweg von zwei Tagen in Kauf genommen. Dieser Weg erschien ihm sicherer.
Insgesamt war die Republic
bereits sechs Tage unterwegs, seit sie die Kolonie verlassen hatten. Die Reise verlief bisher völlig ereignislos. Was Sanawey zwar auf der einen Seite begrüßte, andererseits seine Zweifel nährte und den Gedanken an eine Falle schürte. Wieso sollten die Reptilianer sonst die Republic
unbehelligt durch ihr Territorium fliegen lassen. Oder sie wussten einfach nichts von den Aktionen des Föderationsschiffes und wähnten es noch bei der Kolonie? An diese Möglichkeit glaubte Sanawey aber am wenigsten. Der Geheimdienst der Reptilianer war sicherlich nicht so untätig, dass sie vom Aufbruch der Republic
nichts mitbekommen hatten.
Sie hatten noch immer knapp einen Tag vor sich bis sie ihr Ziel erreichen würden. Je weiter die Zeit verstrich, desto wahrscheinlicher wurde es, dass man sie stellte. Eigentlich hatte Sanawey sich vor den entscheidenden Stunden noch hinlegen wollen, um dann voll da zu sein, wenn er gebraucht wurde. Doch an Ruhe war im Moment einfach nicht zu denken. Zu groß war die Anspannung. Und so musste ihn mal wieder ein Aufputschmittel Dr. Williams‘ für die nächsten Stunden oder gar Tage auf den Beinen halten. Sicher nicht die optimalste Lösung, aber es ging einfach nicht anders.
Während die Crew um ihn herum etwas zu tun hatte, saß er im Kommandosessel und las einige Berichte, die seine Abteilungsleiter verfasst hatten. Nicht wirklich fesselnd oder ablenkend, aber das Einzige, das er momentan machen konnte. Er hasste diese Warterei. Zeiten, in denen er gar nichts tun konnte, außer abzuwarten, dass etwas passierte, worauf er dann reagieren konnte. Und im Gegensatz zu seinen Hoffnungen wurde seine Geduld auch mit dem Alter nicht besser.
„Captain. Ich habe zwei Xindi-Kreuzer direkt voraus“, meldete Reed nach scheinbar unendlich vielen Stunden von seiner Station.
Es ging also los. Und sie waren gerade noch drei Stunden von ihrem Ziel entfernt.
„Schilde hoch.“ Sanawey studierte die taktischen Daten. Die beiden Kreuzer der Reptilianer waren offenbar das Abfangkommando. Aber sie waren nicht in Bewegung, sondern verharrten auf ihren Positionen. „Berechnen Sie einen Ausweichkurs“, befahl er Tworek. „Wir werden sie einfach ignorieren und an ihnen vorbei fliegen. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit sollte das kein Problem sein. Aber halten Sie sich bereit eventuellen Torpedos aus dem Weg zu gehen.“
Sie näherten sich rasant den Schiffen. Sanawey behielt den Bildschirm im Auge, als plötzlich das Schiff unter ihm nach links wegkippte. Er hielt sich am Kommandosessel fest und hatte das Gefühl, die Drehbewegung des Schiffes wollte gar nicht mehr aufhören.
Nach einigen Sekunden flog das Schiff wieder stabil seinen Kurs und die Trägheitsdämpfer arbeiteten wieder normal.
„Was ist geschehen?“ wollte Sanawey wissen und atmete tief durch.
„Tut mir leid, Captain“, entschuldigte sich Tworek. Er war für das Manöver verantwortlich gewesen, das er ohne Vorankündigung durchgeführt hatte. „Die beiden Schiffe hatten ihre Torpedos abgeschossen. Wie von Ihnen schon im Vorfeld befürchtet. Offenbar wollten sie uns damit direkt aus dem Warptransit herausholen. Ich habe daraufhin eine Drehbewegung eingeleitet, mit der wir den Torpedos ausweichen konnten. Einen Trick, den ich mit meinem alten Schiff oft angewandt hatte, als ich noch alleine unterwegs war. Allerdings ist die Republic
nicht ganz so wendig, wie mein kleines Schiff damals.“
„Ja, das habe ich gemerkt. Gut gemacht“, nickte Sanawey Die paar Blessuren, die die Crew durch das Manöver erlitten hatten, waren durchaus vertretbar, wenn man die Alternative bedachte. „Was ist jetzt mit den beiden Schiffen?“
„Sie haben die Verfolgung aufgenommen und kommen auch näher“, meldete Reed.
„Backbordtorpedos. Volle Streuung. Sie sollen zwei Sekunden vor dem Aufschlag detonieren.“
„Captain. Eine Detonation im Warptransit würde eine kurze Subraumstörung verursachen“, gab Reed zu bedenken.
„Genau“, nickte Sanawey nur.
Reed wollte noch etwas sagen, doch dann schien es ihm zu dämmern und er zog es vor zu schweigen.
„Torpedos bereit“, meldete Zien.
„Feuer.“
Die beiden Torpedos lösten sich vom Schiffsrumpf und waren schnell hinter dem Schiff verschwunden. Kurz bevor sie auf die beiden fremden Schiffe trafen explodierten sie und schufen eine kurzzeitige Zerstörung des Subraumes. Diese kurze Zeit reichte aus. Die beiden Kreuzer rasten mit ihren Schiffen direkt hinein und wurden in den Normalraum zurückgeworfen. Aus mehrfacher Lichtgeschwindigkeit wurden sie fast augenblicklich auf absoluten Stillstand abgebremst. Stahl ächzte und verbog sich unter den enormen Kräften, die auf die Schiffe einwirkten. Leitungen brachen und Metall zerriss. Die Mannschaften wurden durch die Luft geworfen und schlugen hart und tödlich auf. In einem der beiden Kreuzer brach die Antimaterieversiegelung und ließ das Schiff explodieren. Das andere blieb stark beschädigt havarierend im Raum liegen.
„Es hat funktioniert“, meldete Reed erleichtert. „Die beiden Schiffe folgen uns nicht mehr.“
Sanawey nickte. Er wusste, dies war nur ein kleines Vorgeplänkel. Beim nächsten Mal würde es sicher nicht mehr so einfach sein. Und wenn die beiden Schiffe noch eine Nachricht haben absetzten können, dann würde es bald vor feindlichen Schiffen nur so wimmeln.
Die nächste Stunde verlief allerdings ereignislos. Zwar konnte sich das jeden Augenblick ändern, doch galten Sanaweys Gedanken bereits der Ankunft am Planeten. Dort würde sie sicher eine größere Flotte erwarten. Zwar hatten sie von den humanoiden Xindi alle Details über das System erhalten. Truppenstärken waren darin allerdings nicht enthalten. So hatten sie keine Vorstellung, was sie erwartete. Aufgrund der Natur der Reptilianer war aber mit erheblicher Gegenwehr zu rechnen.
Um nicht gleich bei der Ankunft von feindlichen Schiffen zerstört zu werden, hatte Tworek ein Manöver ausgearbeitet, das die Republic
nur wenige Sekundenbruchteile für die Reptilianer sichtbar machen sollte. Kurz genug hoffentlich um nicht entdeckt zu werden. Der Planet der Reptilianer war von einem Ring umgeben, ähnlich dem des Saturns. Ein Ring, der zum größten Teil aus Eis und Steinen bestand. Nichts Besonderes also. Zumindest auf den ersten Blick. Denn die Gesteinsbrocken enthielten Iridium. Zwar nicht in großen Mengen, ein Abbau würde sich kaum lohnen. Genug aber um ein Schiff, das sich im Ring versteckte, für die Sensoren unsichtbar zu machen. Und genau darauf beruhte ihr Plan. Tworek würde die Republic
kurz vor dem Ring aus dem Warptransit bringen und dann sofort zwischen den Gesteinsbrocken verschwinden lassen. Ein riskantes Manöver. Denn wenn Tworek zu spät abbremste, dann würden sie mit einer solchen Geschwindigkeit auf die Steine aufprallen, dass nicht einmal die Schilde das Schiff schützen könnten. Und wenn sie zu früh unter Warp gingen, dann wären sie zu lange sichtbar und würden wohl von den Reptilianern zerstört werden. Würde nicht Tworek am Steuer sitzen, sondern ein anderer, hätte Sanawey dem Manöver nicht zugestimmt. Doch er vertraute dem Halbvulkanier. Wenn einer dieses Kunststück fertig brachte, dann er.
In Gedanken ging Sanawey immer wieder die nächsten Schritte durch. Er versuchte jede Eventualität vorherzusehen. Es sollte nichts schief gehen. Es durfte nichts schief gehen. Schließlich waren sie die letzte Hoffnung ihres Universums.
Und die Zeit zum Nachdenken hatte er. Vielleicht sogar etwas zu viel. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen.
Zu seiner Erleichterung meldete Reed aber schließlich, dass sie ihr Ziel in wenigen Minuten erreichen würden. Und wie erwartet bremste die Republic
schließlich stark ab und ging unter Warp. Nur wenige Sekunden später war sie zwischen den Eis- und Gesteinsbrocken des Planetenringes verschwunden.
„Sind wir entdeckt worden?“ wollte Sanawey als erstes wissen. Wenn ja, dann musste der sprichwörtliche Wespenschwarm, in den sie hier gestochen hatten, gleich über sie herfallen.
„Kann ich nicht sicher sagen“, antwortete Reed frustriert. „Unsere Sensoren arbeiten nicht. Das Iridium macht uns nicht nur unsichtbar sondern auch blind.“
Sanawey nickte. „Das war zu erwarten gewesen. Na schön, wir gehen weiter vor wie geplant. Jackson, Sie haben die Brücke.“ Er stand auf und überließ ihr den Sessel. Sie übernahm seinen Platz ohne Diskussion. Auch wenn sie dagegen war, dass der Captain das Schiff verließ, war ihr doch bewusst, dass jetzt nicht die Zeit für Wortgefechte war. Das hatte sie mit dem Captain bereits im Vorfeld geführt, als er seinen Plan erläutert hatte. Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie seinen Platz auf der Brücke sah. Die Mission auf dem Planeten war ein Himmelfahrtskommando. Die Chancen, dass das Außenteam vollständig zurückkehrte waren gering. Daher wollte sie an seiner Stelle teilnehmen. Das Schiff durfte seinen Captain nicht verlieren. Doch er hatte es abgelehnt und ihr einen klaren Befehl gegeben.
Sanawey begab sich zusammen mit Zien in den Transporterraum. Dort wartete bereits ein zwanzigköpfiges, schwer bewaffnetes Sicherheitsteam auf sie. Auch Sanawey und Zien legten die schusssicheren Westen an und nahmen die ihnen gereichten Phasergewehre entgegen.
„Wir sind soweit“, meldete Holgrem.
„In Ordnung“, nickte Sanawey. „Dann los.“
Die ersten sechs Personen betraten das Transporterfeld, darunter Zien. Er wollte als erstes den Transferpunkt sichern. Der Captain musste auf die zweite Gruppe warten. Darauf hatte der Andorianer bestanden.
Ob die Landekoordinaten sicher waren konnte Zien allerdings nicht zurückmelden. Das Iridium des Planentenrings verhinderte auch jegliche Kommunikation. Um zurückgebeamt zu werden, waren ihre Kommunikatoren mit einem Verstärker ausgestattet worden, der allerdings nur ein Signal mit einer einzigen Tonfrequenz senden konnte. Empfing die Republic
diesen Ton, wurde der Sender auf das Schiff gebeamt.
Sanawey betrat mit fünf weiteren, schussbereiten Offizieren die Plattform. Er nickte Karja zu und hoffte, dass sein Blick nicht nur finstere Entschlossenheit sondern auch Zuversicht vermittelte. Wenige Augenblicke später stand er auf einer dunklen Straße, nur erhellt vom statischen Leuchten der aufgeladenen Atmosphäre: Ein Licht, das alles in ein mattes Rot tauchte und das hell genug war, um sich zu orientieren. Dass dieses Licht den Reptilianern gefiel konnte er sich vorstellen. Vermittelte es doch ein Gefühl von Wärme. Genau das Richtige für Reptilien. Vermutlich hatten sie deshalb nach der Zerstörung von Xindus diesen Planeten als Heimatplaneten ausgewählt. Sanawey dagegen gefiel es überhaupt nicht. Das Licht machte aggressiv. Zusammen mit der schwülen Hitze war es ein Ort, den er vom ersten Augenblick an hasste.
Sie befanden sich in einer Seitenstraße inmitten von Gebäudekomplexen. Diese Seitenstraße mündete in eine breite Straße auf deren gegenüberliegenden Seite ein mächtiges Gebäude stand. Es war drei Stockwerke hoch und machte den Eindruck mit massiven Steinmauern ausgestattet zu sein. Es wirkte fast wie eine Festung. Vor den großen Türen standen Wachen. Und auch auf dem Dach waren Scharfschützen zu sehen.
„Unser Ziel?“ frage Sanawey.
Zien nickte. Seine Antennen hatte er nach vorne gebeugt. Er wirkte mit seiner blauen Haut und den schneeweißen Haaren völlig fremd in dieser roten Welt. Sanawey wusste, dass dieser Planet so anders war als die Heimatwelt des Andorianers, wie man sich nur denken konnte. Sie war das genaue Gegenteil. Nur einmal war der Captain bisher auf Andoria gewesen. Ein Eisplanet, genauer gesagt ein Eismond. Ein wenig kleiner als die Erde, war er einer von vielen Monden, die einen Gasriesen umkreisten. Auf seiner Oberfläche war alles mit Eis bedeckt. Selbst im Sommer, wenn die Temperatur an manchen Tagen sogar über Null Grad stieg, schmolz das Eis kaum. In diesem widrigen Lebensraum hatten sich die Andorianer entwickelt. Sie waren Wesen der Kälte. Eine Hitze wie sie der Reptilianerplanet aufwies war ihnen zuwider. Ein zu langer Aufenthalt in einer solchen Hitze konnte für einen Andorianer gar lebensgefährlich werden.
Sanawey sah zu dem Gebäude hinüber. „Wenn wir die Wachen und die Scharfschützen ausschalten, ist unsere Überraschung dahin.“
Zien nickte zustimmend. „Und doch gibt es keine Alternative.“
„In Ordnung. Zuerst schalten wir die Scharfschützen auf dem Dach aus. Dann die Wachen an der Tür. Hoffen wir nur, dass unser Glück anhält und es nicht noch mehr Wachen gibt.“
Als sie vollständig waren gab Sanawey den Befehl zum Angriff. Mit zwei gut gezielten Treffern wurden die beiden Scharfschützen ausgeschaltet, während zeitgleich die Wachen an der Tür getroffen wurden.
Als sich das Team in Bewegung setzte, um das Gebäude zu stürmen, ging der Alarm los. Scheinwerfer leuchteten auf und erhellten den Straßenzug um das Gebäude. Doch um den Angriff abzubrechen war es zu spät. Sie stürmten auf den Eingang zu während Selbstschussanlagen Salve um Salve auf die Gruppe abschossen.
Als sie die Türen schließlich erreichten blickte Sanawey kurz zurück. Zwei seiner Offiziere lagen auf der Straße und rührten sich nicht mehr.
Mit einer kleinen Sprengladung öffnete Zien das Tor. Vor ihnen lag ein langer breiter Gang, der mit einem kräftigen Rot beleuchtet war. Türen gingen zu allen Seiten ab. Es war ein Verwaltungsgebäude, wie es das bei jeder Zivilisation zu geben schien. Laut Informationen der humanoiden Xindi hatte hier Lerak seinen Sitz. Hier würden sie hoffentlich erfahren, wie sie den angerichteten Schaden an der Zeit wieder gutmachen konnten.
Sie stürmten in den Gang. Doch plötzlich traten ihnen vom Ende des Ganges her weitere Wachen entgegen. Es kam zu einem kurzen, blutigen Feuergefecht. Zwar konnten sie die Wachen in Schach halten, doch konnte das auf keinen Fall lange gut gehen. Keine der beiden Seite hatte eine Deckung vor sich.
Holgrem gelang es, eine der Gangtüren zu öffnen. Sie führte den Trupp in das angrenzende Zimmer. Aus der Deckung der Tür heraus hielten sie die Wachen auf Distanz.
„So kommen wir nicht weiter“, sagte Holgrem mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ihr Oberschenkel wies eine klaffende Wunde auf. „Im Gang haben wir keine Deckung. Wir haben bereits sieben Mann verloren.“
Sanawey nickte nur. Ihm war der Ernst der Lage bewusst. Doch gab es keine Alternative hierzu. Sie mussten an die Daten der Zeitveränderung kommen, wenn sie ihr Universum retten wollten. Vor allem die Energiefrequenzen der Xindi-Waffe und die chronometrische Partikeldichte waren wichtig, um einen Plan zur Rettung Vulkans entwickeln zu können.
„Geben Sie mir ein paar Minuten“, sagte er. „Ich will versuchen mich hier in ihr System zu hacken.“ Er setzte sich vor einen der Computer, die in diesem Raum standen und machte sich daran zu schaffen.
Holgrem wollte etwas erwidern. Etwas, das ihre Meinung klar und deutlich machen sollte. Sie mussten hier raus. Und das so schnell wie möglich. Ihre Mission war gescheitert. Bei ihren Verlusten würden sie sich keinen Raum weiter kämpfen können, geschweige denn durch das ganze Gebäude. Der strenge Blick des Andorianers ließ sie allerdings schweigen. Und sie konnte ihm noch nicht einmal einen Vorwurf machen. Sie hatte sich freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet. Mit dem Wissen, dass es vielleicht kein Zurück mehr gab.
Der Lärm der Phaser und der Xindi-Waffen war ohrenbetäubend. Und immer wieder drangen die Schreie und Brülllaute der Reptilianer zu ihnen vor. Es waren kehlige, knurrende Laute, die allerdings keiner verstand.
„Verdammt“, schrie Sanawey und schlug mit der flachen Hand gegen den Bildschirm. „Sie haben das System abgeschaltet.“
„Konnten Sie etwas...“ Der Rest von Ziens Worten ging in einer gewaltigen Explosion unter. Mauersteine schossen durch die Gegend und verletzten Sanawey an der Wange. Unter lautem Getöse stürzte die Wand zum Gang hin ein. Die Crewmitglieder, die dort eben noch gekämpft hatten lagen tot am Boden oder waren von den Trümmern begraben worden.
Entsetzt sah Sanawey, wie Holgrem vor ihm zu Boden stürzte. Das Rückenteil ihrer Uniform färbte sich blutrot.
In die Leere nach der Explosion brüllten die Xindi irgendwas. Sanawey war sich nicht sicher, ob das ihnen galt. Er konnte auch kaum etwas sehen. Die einstürzende Wand hatte Unmengen an Staub erzeugt, der nun in der Luft hin und das Atmen schwer machte.
Ihm wurde klar, dass sie verloren hatten. Es gab für sie hier nichts mehr zu erfahren. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Reptilianer sie hier vollständig auslöschen würden.
„Rückzug“, rief er so laut er konnte, ohne zu wissen, wer ihn noch hörte. So schnell er konnte nahm er seinen Kommunikator, warf sich neben Holgrem und hielt sie fest, während er den Signalton sendete. Dann schloss er die Augen.
Er spürte wie der Transporter ihn erfasste und aus diesem Chaos zurückholte. Als er die Augen wieder aufschlug fand er sich im Transporterraum wieder. Dr. Williams kam mit einem medizinischen Team gerade auf die Plattform, um sich den Verletzten anzunehmen. Außer ihm und Holgrem lagen noch Zien und vier seiner Leute neben ihm.
Nach dem ersten Schreck stand Sanawey blitzschnell auf. Es war noch nicht überstanden. Er sah seine Tochter an, die leichenblass an den Transporterkontrollen stand. Der Anblick der Verwundeten und die Angst um ihren Vater hatten ihr arg zugesetzt.
„Gibt es noch weitere Signale unserer Leute?“ wollte Sanawey von ihr wissen. Doch sie schüttelte nur den Kopf.
Sanawey hatte es befürchtet. Doch jetzt blieb keine Zeit um zu trauern. Über das interne Kommunikationsnetz gab er Jackson den Befehl sofort auf maximale Warpgeschwindigkeit zu gehen. Sie mussten aus den lädierten Maschinen herausholen was ging um zu entkommen. Sie mussten sich zuerst einmal zurückziehen und ihre Wunden lecken. Was sie dann tun konnten musste abgewartet werden. Hier hatten sie auf jeden Fall versagt. Sie hatten die erhofften Informationen nicht bekommen. Und damit vielleicht ihre letzte Chance nach Hause zu kommen verspielt.
Vorsichtig schloss Everson die Tür hinter sich. Zur Sicherheit vergewisserte er sich zweimal, dass die Tür auch wirklich verriegelt war. Dann ging er leisen Schrittes zum Computer, der auf seinem Schreibtisch stand. Während er sich setzte stellte er fest, wie seltsam sein Verhalten doch war. Wieso bemühte er sich leise zu sein? Und wieso hatte er das Licht nur gedimmt? Er war in seinem Büro. Innerhalb seiner Abteilung. Ringsherum waren die Büros anderer hochrangiger Offiziere der Erdstreitkräfte. Hier hatte er das sagen. Warum also benahm er sich so lächerlich?
Vermutlich lag es einfach an dem, was er vorhatte. Und sein Instinkt riet ihm dann dazu, sich leise zu verhalten. Die uralten Überlebensregeln ließen sich eben nicht so leicht austricksen.
Er aktivierte den Bildschirm und ertappte sich wieder dabei, wie er sich mit einem schnellen Blick in alle Richtungen vergewisserte, auch wirklich allein zu sein. Mit verdrehten Augen schüttelte er den Kopf über sich selbst. Doch sein Herzklopfen bekam er damit nicht in den Griff.
Über die Tastatur gab er sein Passwort ein. Wenn sein Vertrauter bei der interstellaren Kommunikationsabteilung alles richtig gemacht hatte, dann konnte er sein Vorhaben jetzt durchziehen. Oh, wie er sich darauf freute es Choroczenski heimzuzahlen. Sie sollte dafür büßen, dass er in den letzten Monaten immer mehr Einfluss verloren hatte. Und dass sie seinen Namen in den Schmutz gezogen hatte.
Seit einem halben Jahr, als auf der Krisenbesprechung zur Geiselnahme auf Terra Ceti bekannt wurde, dass es die Flotte des Geheimdienstes gab, waren die Erdstreitkräfte auf keinem Einsatz mehr gewesen. Seither patrouillierten sie nur noch im irdischen Sonnensystem. Offiziell zum Schutz der Erde. Doch Everson kannte den wahren Grund. Er wusste nur zu gut, dass sowohl er wie auch seine Erdstreitkräfte aufs Abstellgleis geschoben worden waren. Auch wusste er, dass die Geheimdienstflotte bereits mehrere Einsätze absolviert hatte. Kleine zwar, aber immer mit positivem Ausgang, so dass die Erdregierung ihren Willen erfüllt sah. So gab es für sie keinen Grund etwas an der Situation zu ändern.
Seine Offiziere waren zwar unzufrieden, doch niemand wagte es, etwas zu sagen. Jeder fürchtete um sein Leben und das seiner Familie. Aus gutem Grund. General Moore, ein hochrangiger Offizier aus dem Kommandostab der Erdstreitkräfte und enger Vertrauter von Everson, hatte sich öffentlich über die Existenz der Geheimdienstflotte beklagt und deren sofortige Auflösung gefordert. Er hatte darauf hingewiesen, dass es laut Verfassung den Erdstreitkräften oblag militärische Aufträge durchzuführen. Seit diesem Auftritt hatte ihn niemand mehr gesehen. Ebenso spurlos waren seine Frau und seine Tochter verschwunden. Das war vor vier Monaten gewesen. Everson hatte keinen Zweifel daran, dass die Vermissten in irgendwelchen Gefängnissen des Geheimdienstes saßen, aus denen es kein Entkommen mehr gab.
Seither wurde nur noch sehr leise und hinter vorgehaltener Hand Kritik geäußert. Die meisten hatten sich in ihr Schicksal ergeben und hofften einfach, dass es irgendwann wieder besser werden würde.
Nach außen hin teilte auch Everson dieses Schicksal. Zwar hatte er auch weiterhin gehofft, irgendetwas unternehmen zu können, doch in Wahrheit waren ihm die Hände gebunden. Sein Einfluss war stark zurückgegangen. Er wurde regelrecht ausgegrenzt. Er war über keinerlei Entscheidungen mehr informiert worden. Nur über Beziehungen und das Einfordern von Gefallen erfuhr er noch die Dinge, die man vor ihm geheim halten wollte. Und ob er wirklich alles erfuhr wusste er auch nicht.
Seine einst so bedingungslose Unterstützung der irdischen Politik hatte sich vollständig gewandelt. Noch vor einem halben Jahr hatte er geglaubt die Erde und die Menschheit gegen jede Bedrohung schützen zu müssen und dass es zu der Art und Weise wie das erfolgte keine Alternative gab. Doch die Ausführungen, die Captain Sanawey während seiner Gefangenschaft gemacht hatte, ließen erste Zweifel in ihm aufkeimen. Die Offenbarung der Geheimdienstflotte und die daraufhin folgenden Entscheidungen der Erdregierung hatten ihm deutlich gezeigt, dass es nicht länger um die Interessen der Erde ging, sondern nur noch um die Interessen einiger weniger Herrschender. Es ging nur noch darum, deren Macht zu erhalten und zu erweitern. Und auch wenn er sich zu Beginn noch geweigerte hatte das zu sehen, so war es mit der Zeit doch so offensichtlich geworden, dass er es sich irgendwann nicht mehr schön reden konnte. Es passte einfach nicht mehr zu seinem Weltbild.
Und die neueste Meldung, die er erhalten hatte, erforderte sein sofortiges Handeln. Zwar gab es noch immer eine Stimme in seinem Kopf, die ihn davon abhalten wollte, das zu tun, was notwendig war, doch er beschloss sie einfach zu ignorieren.
Bis jetzt lief alles wie am Schnürchen. Die gewünschte Verbindung wurde aufgebaut. Schnell tippte er noch einige Befehle ein und fasste diese unter einem persönlichen Code zusammen. Nur zur Sicherheit, falls doch etwas schief gehen sollte. Dann wäre dies sein Geschenk an die Erdregierung.
Auf dem Bildschirm erschien der Kopf Captain Sanaweys. Er schien etwas mitgenommen zu wirken. Offenbar machte ihm seine Situation und die andauernde Suche nach einem Heimweg zu schaffen. Obwohl er trotzdem noch besser aussah als damals, während der Gefangenschaft.
Damals. Everson kam es so vor, als wäre das alles schon ewig her. Soviel hatte sich seither getan. Kaum zu glauben, dass erst ein halbes Jahr vergangen war.
„Mr. Everson?“ fragte Sanawey erstaunt. Seine Stimme war leicht verzerrt, ebenso wie das Bild. Die Übertragungsqualität war nicht sehr gut. Was daran lag, dass die Republic
zum einen ziemlich weit entfernt war und zum anderen die Verbindung über einen geheimen Kanal erfolgte, der eben nicht die Standards erfüllte.
„Captain. Es ist schön Sie wieder zu sehen“, sagte Everson noch immer leise. „Aber wir haben keine Zeit für Höflichkeitsfloskeln. Ich muss Sie warnen. Hier auf der Erde geschehen seltsame Dinge. Es gibt eine neue Flotte, die nur der Erdregierung untersteht. Diese Flotte ist auf dem Weg nach Terra Ceti um dort ein Exempel an der Bevölkerung zu statuieren.“
„Das meinen Sie nicht ernst?“ Misstrauen lag in Sanaweys Stimme. Zu Recht, wie Everson sich eingestehen musste. Was hatte er auch erwartet? Dass der Captain ihm einfach glauben würde?
„Sie müssen mir glauben“, drängte Everson. „Man hat nur darauf gewartet, dass Sie die Kolonie verlassen würden. Vielleicht hatte man sogar mit den Xindi eine Abmachung, um sie endlich von der Kolonie wegzulocken. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall muss nun die Bevölkerung dafür bezahlen, dass sie sich mit Ihnen verbündet und der Erde die Stirn geboten hatten. Um eine Warnung für alle anderen Kolonien und Widersacher der Erdregierung zu erteilen wird die Kolonie vollständig vernichtet werden. Die Truppen haben den Befehl niemanden am Leben zu lassen. Sie müssen etwas tun.“
„Und warum sollte ich Ihnen glauben?“ fragte Sanawey ablehnend.
„Captain, Sie müssen mir einfach glauben. Das Leben der Kolonisten steht auf dem Spiel. Ich habe einst geschworen die Erde gegen alle Gefahren zu verteidigen. Dazu habe ich auch einige zweifelhafte Entscheidungen unterstützt. Doch dieser Befehl widerspricht allem, woran ich glaube. Von diesen Kolonisten geht keine Gefahr aus. Sie alle zu töten ist ein Massaker, dass ich nicht für gut heißen kann.“
„Und wann soll dieser Angriff erfolgen?“ Der Captain fragte wenigstens. Das war ein gutes Zeichen, offenbar war er interessiert.
„In sechs Stunden müssten die Schiffe den Planeten erreichen. Dann gibt es ein Gemetzel.“ Er stockte. Das Bild wurde schlechter und brach dann ganz plötzlich ab. Auch der Ton war weg. Mit schnellen Griffen prüfte er die Einstellungen. Doch es war nichts zu machen. Die Verbindung war weg. Wahrscheinlich war man ihm auf die Schliche gekommen.
Er hörte wie seine Bürotür mit einer kleinen Sprengladung zerrissen wurde. Blitzschnell fuhr er herum und sah noch, wie mehrere schwer bewaffnete Soldaten durch die Nebelschwaden der Explosion in den Raum stürmten und ihn umzingelten. Mit auf ihn gerichteten Waffen blieben sie stehen. Durch die zerstörte Türe sah er Choroczenski eintreten. In ihrer Hand trug sie eine Pistole. Gemächlichen Schrittes und mit einem Siegerlächeln auf den Lippen trat sie auf ihn zu.
Everson machte langsam einen halben Schritt zurück, stieß dann aber an den Schreibtisch, vor dem er eben noch gestanden hatte. Er setzte sich halb darauf und wie zufällig legte er die rechte Hand auf die Tastatur des Computers.
„Habe ich Sie endlich erwischt“, lächelte Choroczenski ihn böse von unten herauf an. „Sie sind ein Vaterlandsverräter. Sie intrigieren mit dem Feind. Sie brechen Ihren Eid gegenüber der Erde und werden zum Terroristen. Wie tief Sie doch gefallen sind.“
„Sie verraten die Erde“, gab er selbstbewusst zurück. Er wusste, dass er verloren hatte. Dieses Mal gab es kein Entrinnen mehr. Und doch hatte er seltsamerweise nicht die geringste Besorgnis. Im Gegenteil. Er fühlte eine innere Ruhe wie schon lange nicht mehr. „Sie verraten die Erde, indem Sie nicht mehr deren Interessen vertreten sondern blind den Diktatoren folgen, die sich die Macht erschlichen haben und diese nun nie wieder abgeben wollen.“
„Sie verstehen es nicht“, schüttelte sie abfällig den Kopf. „Deshalb sind Sie auch gescheitert. Sie haben sich für die falsche Seite entschieden. Für die Verliererseite. Ich werde die Verhöre mit Ihnen persönlich überwachen. Sie werden uns die Namen all Ihrer Mitwisser und Verbündeten nennen, bevor Sie darum betteln werden, dass wir Ihrem Leben ein Ende setzen.“
„Das werden wir sehen“, lächelte er, in dem Wissen, wenigstens den Kolonisten auf Terra Ceti noch geholfen zu haben. Vielleicht konnte er damit einen Teil seiner Schuld wieder gut machen.
Sie schien seine Gedanken zu durchschauen. „Machen Sie sich keine Hoffnungen. Auch mit Terra Ceti haben Sie versagt. Und dank Ihrer Hilfe werden wir nun auch die Republic
aufbringen. Sie fliegt uns ja jetzt direkt in die Arme. Und mit deren Technologie wird uns niemand mehr aufhalten können. Wir können der Menschheit dann endlich den Platz in der Galaxie verschaffen, den wir verdient haben. Und nichts und niemand wird uns dann noch aufhalten können.“ Ihre Augen nahmen einen teuflischen Glanz an. „Führt ihn ab.“
Noch bevor der erste Soldat ihn erreichen konnte wirbelte Everson herum und tippte noch schnell zwei Buchstaben ein. Zu mehr kam er nicht mehr. Choroczenski hatte blitzschnell ihre Waffe gehoben und abgedrückt.
Everson glaubte noch zu spürten, wie das Geschoss seine Schädeldecke durchbohrte. Er brach über dem Schreibtisch zusammen und glitt langsam zu Boden. Dann war er tot.
Mit einem schnellen Schritt stieg Choroczenski achtlos über ihn hinweg. Sie tippte auf der Tastatur herum, in der Hoffnung herauszufinden, was Everson noch getan hatte. Doch der Computer reagierte nicht. Mit seinem letzten Befehl schien Everson ihn zerstört zu haben.
Nachdenklich sah sie auf den Toten herab. „Was wollten Sie vor uns verbergen?“ fragte sie leise. „Ihre Pläne? Mitwisser?“
Doch der Tote antwortete ihr nicht. Sie würde einer Truppe Computerspezialisten befehlen müssen, zu retten was noch zu retten war. Vielleicht ergaben sich daraus ein paar Antworten.
Sie wollte gerade den Befehl geben, den Toten wegzubringen, als einer der Soldaten auf sie zutrat und ihr ein Funkgerät hinhielt. „Für Sie, Ma’am“, sagte er.
Sie runzelte die Stirn, nahm das Gerät aber dann entgegen. „Choroczenski“, meldete sie sich.
„Hier ist Powell, Flugüberwachung“, kam die Antwort einer Männerstimme. Die Flugüberwachung beobachtete den Verkehr innerhalb des Sonnensystems, um verdächtige Schiffe sofort melden zu können. So konnte die Gefahr für die Erde reduziert werden. „Ma’am, die Schiffe der Erdstreitkräfte sind weg“, meldete der Mann.
„Was heißt weg?“ wollte Choroczenski genauer wissen.
„Sie sind weg. Und zwar alle. Sie haben vor einer Minute den Warptransit eingeleitet und sind davon geflogen.“
Hasserfüllt sah Choroczenski die Leiche des Generals an. Dieser Mistkerl wollte einfach nicht aufgeben, selbst nach seinem Tod nicht. „Ziel?“ fragte sie ins Funkgerät.
„Unbekannt“, kam die wenig befriedigende Antwort.
Wütend gab sie dem Soldaten das Funkgerät zurück. Sie musste jetzt alle Hebel in Bewegung setzen, um diese Flotte wiederzufinden. Und dann würde sie mit den Offizieren kurzen Prozess machen. Einen Grund dafür hatten diese selbst geliefert. Sie haben gegen den Befehl, die Erde zu bewachen, verstoßen. Es würden auf jeden Fall Köpfe rollen.
Doch zuerst musste sie sich über die Absichten der Flotte Gedanken machen. Sie wusste nicht, was als nächstes geschah. Sie hatte keinen Einfluss und keine Kontrolle darüber. Ein Zustand, den sie früher schon gehasst hatte und kaum ertragen konnte. Und den sie schon lange nicht mehr hatte ertragen müssen. Umso schwerer fiel es ihr jetzt.
Die Verhandlung um seinen Fall hatte sich lange hingezogen. Seit einem halben Jahr wurde sein Fall vor Gericht verhandelt. Der Zwangsverteidiger, den William Russel zugeteilt bekommen hatte, war dann doch noch sehr engagiert gewesen. Er hatte die Entscheidung des Gerichts immer wieder hinausgezögert, indem er neue Gutachten brachte und neue, scheinbare Beweise, die seinen Mandanten entlasten sollten. Offenbar musste er sich seine Sporen erst noch verdienen und hatte ausgerechnet diesen Fall bekommen. Und das Gericht war jedes Mal darauf eingegangen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass auch die Richter unsicher darüber waren, welche Entscheidung sie fällen sollten. Das Gesetz der Erde gab eindeutig die Todesstrafe vor. Doch passte dieses Gesetz den Kolonisten aus Prinzip schon nicht, auch wenn jeder auf dem Planeten in diesem Fall die Todesstrafe für gerechtfertigt hielt. Die Richter hatten jedoch auch noch die politischen Auswirkungen ihres Urteils mit im Blick. Immerhin forderte die Erdregierung noch immer die Auslieferung des Gefangenen. Mit einer Vollstreckung des Urteiles wären sie bestimmt nicht einverstanden. So blieb nur die Auslieferung an die Erde, die selbst in der Kolonie niemand für richtig hielt. Dazu war der Hass auf die ferne Heimat einfach zu groß.
Mit den immer weiteren Verzögerungen des Urteils konnten sich die Richter Zeit verschaffen und darauf hoffen, dass irgendetwas passierte, das ihnen die Entscheidung leichter machte. Da so etwas nicht in Sicht war, wurde das Verfahren allmählich zu einer Farce.
William Russel war inzwischen stark eingefallen. Er war ohnehin noch nie sonderlich dick gewesen, doch inzwischen bestand er fast nur noch aus Haut und Knochen. Zwar gab es regelmäßig Essen für ihn, doch verweigerte er es meist. Seine Haut war grau und seine Augen lagen weit in ihren Höhlen. Ein dichter Bart bedeckte inzwischen sein Gesicht und seine Haare hingen lang und zottelig von seinem Kopf. Insgesamt wirkte er nicht nur ungepflegt, er war auch gesundheitlich in schlechter Verfassung.
Bei seinen Auftritten im Gerichtssaal war er meist geistig nicht mehr anwesend. Von seiner gesamten Umgebung nahm er meist nichts mehr wahr. Er wollte einfach nur noch, dass das Urteil verkündet würde und alles ein Ende nahm. Schon öfters hatte er seinen Anwalt gebeten endlich beizugeben, doch der dachte nicht daran.
Seine Kinder hatte William in der ganzen Zeit nicht mehr gesehen. Selbst seine Frau war nicht mehr im Gericht erschienen. Vor einigen Wochen hatte ein Gerichtsdiener ihm mitgeteilt, seine Familie habe den Planeten mit unbekanntem Ziel verlassen. William war geschockt gewesen. Sie hatten sich nicht von ihm verabschiedet, noch nicht einmal eine Nachricht für ihn hinterlassen. Seitdem hatte er noch weiter abgebaut und jegliches Interesse an allem verloren. Sein anfänglicher Versuch, seine Taten zu erklären und den Leuten die Augen zu öffnen, hatte er inzwischen aufgegeben. Niemand hatte ihm zuhören wollen. Jeder auf diesem Planeten schien der Propaganda der Senatoren zu glauben. Und je länger seine Haft andauerte, desto mehr fing er sogar selbst an zu zweifeln. Vielleicht hätte er, wie alle anderen, einfach nichts tun sollen. Zwar glaubte er weiterhin, dass die Kolonie dann inzwischen zerstört worden wäre, doch wäre er im Kreise seiner Lieben gestorben. Er hätte sie nicht auf diese Art verlieren müssen.
Und zu allem Überfluss wusste er bis jetzt noch nicht, ob er nicht einfach als Marionette missbraucht worden war. Sanawey, der Captain des fremden Schiffes, hatte ihm gesagt, dass der Mann, der ihm die Gedanken in den Kopf gesetzt hatte, einer der Senatoren war. Doch konnte er das nicht beweisen. Und eine entsprechende Aussage vor Gericht war als Versuch der Ablenkung und der Verleumdung abgetan worden. So wusste er bis heute nicht, was hier gespielt wurde.
Doch hatte das inzwischen keine Bedeutung mehr. Sollten sie mit ihm tun, was immer sie für nötig hielten. Ihm war es gleichgültig. Solange es nur alles bald ein Ende nahm.
Wie in einem Traum hörte er von weitem Alarmglocken schrillen. Nur wenig interessiert hob er seinen Kopf. Er hatte sich in das hinterste Eck seiner Zelle verzogen und saß dort auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand. Die Zelle war ziemlich dunkel. Nur eine kleine Lichtquelle schimmerte matt an der Decke. Die graue Stahltüre ließ keinen Blick nach draußen zu und ein Fenster gab es nicht. Die Zelle lag einige Meter unter der Erde.
Plötzlich zitterte der Boden und Staub rieselte von der Decke herab. Ein dumpfes Grollen folgte, dann war wieder Ruhe. William ließ sein Kopf wieder auf seine Knie sinken, da wiederholte sich das Grollen. Und noch ein weiteres Mal. Das Zittern war stärker als zuvor. Selbst das Licht fing an zu flimmern. Wieder und wieder erzitterte die Zelle. Immer schneller folgte das Grollen, in unregelmäßigen Abständen. Schließlich fiel das Licht ganz aus.
William meinte schließlich das Grollen erkannt zu haben. Es mussten Explosionen und Einschläge von Waffen sein. Von großen Waffen. Was wiederum nur einen Schluss zuließ. Die Kolonie wurde angegriffen. Das Grollen kam immer näher, bis es schließlich auch eindeutig als Explosionen zu erkennen war.
Seine letzten Gedanken galten seiner Familie. Offenbar hatte er doch nicht alles falsch gemacht. Sein Ziel war es ja ursprünglich gewesen, seine Familie zu retten. Das hatte er zwar nun anders als gedacht erreicht, aber er hatte es erreicht. Wenn es stimmte und seine Familie den Planeten verlassen hatte, dann waren sie wenigstens in Sicherheit. Sie würden weiterleben und vielleicht irgendwann erkennen, dass er nicht das Monster war, für das sie ihn jetzt sicherlich hielten, sondern dass er ihre Leben gerettet hatte.
So starb er mit diesem tröstenden Gedanken, als ein Treffer das Gefängnisgebäude traf und alles bis zu den untersten Stockwerken in Schutt und Asche legte.
Mit Höchstgeschwindigkeit raste die Republic
durchs All zurück zur Kolonie. Mit finsterem Gesicht saß Sanawey im Kommandosessel und fixierte den Bildschirm. Er fühlte sich zutiefst verraten. Auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, ob das wirklich der Fall war. Denn an eine Verschwörung der Erdregierung wollte er nicht glauben. Die Nachricht von General Everson ließ allerdings keinen Zweifel, dass ihnen der Zufall eine böse Überraschung beschert hatte. Und an der Echtheit der Nachricht gab es keinen Zweifel mehr. Trotzdem hoffte Sanawey noch immer, dass es eine Falschmeldung war.
Nachdem die Nachricht des Generals eingetroffen war hatte nicht nur Sanawey Zweifel daran gehabt. Nach dem Gespräch mit Everson, das er während seiner Gefangenschaft mit ihm geführt hatte, würde er ihm ohnehin nicht mehr trauen. Der General hatte sich eindeutig als engstirnig und linientreu erwiesen. Dass er nun einen Verrat begehen sollte konnte Sanawey nicht glauben. Und seine Führungscrew sah das genauso.
Sohral hatte die Nachricht trotzdem auf ihre Echtheit hin untersucht. Sie wollten wenigsten wissen, ob der Absender tatsächlich bei den Erdstreitkräften auf der Erde war. Und als sich das bestätigt hatte war es dann doch sehr wahrscheinlich, dass die Nachricht wirklich von Everson gekommen war. Was allerdings noch nicht bedeutete, dass er die Wahrheit gesagt hatte.
Dass die Kolonie nun, knapp ein halbes Jahr nach der Entführung des Sondergesandten, doch noch angegriffen werden sollte war geradezu lächerlich. Da sie aber bei den Xindi ohnehin nichts mehr würden erreichen können, beschloss Sanawey zur Kolonie zurückzukehren, um nachzusehen, was sich dort wirklich tat. Und auch, weil sie nicht wussten, wen sie sonst hätten aufsuchen sollen.
Der Reinfall bei den Reptilianern saß noch tief im Bewusstsein der Crew. Es war so sinnlos gewesen. Fünfzehn Mann des Sicherheitsteams waren von dem Einsatz nicht mehr zurückgekehrt. Die anderen lagen mit Verletzungen auf der Krankenstation. Am schlimmsten hatte es Holgrem erwischt. Sie hatte schwerste Verletzungen am rechten Oberschenkel und mehrere Trümmerteile der explodierenden Wand hatten sich tief in ihren Rücken gebohrt. Und dabei hatte sie noch Glück im Unglück. Ihre Wirbelsäule war unverletzt geblieben. Trotzdem war Dr. Williams sich noch nicht sicher, ob sie das alles ohne Folgeschäden überstehen würde.
Zuerst schien alles daraufhin zu deuten, dass es doch eine Falle der Xindi gewesen war. Viel zu leicht hatten sie den Planeten erreicht. Viel zu wenig Versuche, sie aufzuhalten, hatte es gegeben. Doch die wenigen Daten die Sanawey im Computernetzwerk der Reptilianer hatte sehen können, überzeugten ihn vom Gegenteil. Zum einen hatten die Reptilianer den direkten Anflugweg auf ihren Planeten weit besser bewacht. Ihr Umweg von zwei Tagen hatte sich damit also gelohnt. Und zum anderen hatten die humanoiden Xindi einen Tag zuvor einen gewaltigen Angriff gestartet, der die Reptilianer zum Handeln gezwungen hatte. Sie hatten der Offensive alles entgegengeworfen. Was der Republic
nur entgegengekommen war.
Trotzdem war es ein Reinfall gewesen. Sie hatten nichts erfahren. Zwar schienen ihnen die Xindi nicht zu folgen, aber das Desaster war auch so groß genug. Sie hatten ihre letzte Hoffnung nach Hause zu kommen verspielt.
Einige Stunden nach Eversons Nachricht hatten sie dann noch einen Funkspruch der Kolonie abgefangen. Es war nur eine kurze Meldung gewesen. Genauer gesagt ein Hilferuf. Die Kolonie würde angegriffen und man bat um sofortige Hilfe. Mehr nicht.
In Sanawey hatten sofort alle Alarmglocken geläutet. An Eversons Nachricht war wohl doch etwas dran gewesen.
Seitdem holten sie aus den ohnehin lädierten Maschinen heraus, was sie konnten. Und doch kam es dem Captain viel zu langsam vor. Er wusste, mit jeder Minute, die sie benötigten, starben Menschen. Darunter Frauen und Kinder.
Oket hatte Recht gehabt. Die Erde hatte nur darauf gewartet, dass die Republic
die Kolonie verließ. Dauerhaft, nicht nur für die kurzen Abstecher zu den Überresten von Vulkan. Und Sanawey hatte es nicht glauben wollen. Somit lastete das Leid der Kolonisten auch auf seinen Schultern. Er trug Mitschuld.
„Wie lange noch?“ fragte er bereits das vierte oder fünfte Mal. Seine Ungeduld war sicher nicht das beste Vorbild, doch es war ihm im Moment egal.
„In fünfzehn Minuten sind wir in Sensorenreichweite“, antwortete Watts sofort. Sie hatte erwartet, dass der Captain erneut fragen würde und die Zeitanzeige im Auge behalten.
Sanawey erschien die Zeit wie eine Ewigkeit. Zwar schaffte er es in diesen fünfzehn Minuten nur noch einmal nach der Zeit zu fragen. Doch konnte er sonst seine Ungeduld nicht verbergen. Daher stand er auf und ging langsam von Station zu Station. Er begann bei Sohral an der Wissenschaftskonsole und endete auch dort wieder. Allerdings hätte er nicht sagen können, was er dabei alles gesehen hatte. Seine Gedanken waren ganz wo anders. Danach ging er noch ein paar Mal vor dem Kommandosessel auf und ab bevor er sich wieder setzte.
„Wir sind in Sensorenreichweite“, erlöste Watts in endlich.
„Bericht.“ Sanawey sprang auf wie eine angespannte Bogensehne.
Watts rief ein paar Daten ab und sagte dann ein wenig überrascht. „Die Sensoren können keine Besonderheiten entdecken. Es gibt keinerlei Schiffe in Sensorenreichweite.“
Stirnrunzelnd trat Sanawey hinter sie. Was wurde hier gespielt? „Bekommen Sie eine Verbindung zur Kolonie?“ wollte er wissen.
Sie tippte etwas auf ihrer Konsole herum, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, Sir. Keine Reaktion.“
Nachdenklich starrte Sanawey auf den Bildschirm, der noch immer die dahinrasenden Sterne zeigte. Für ein Bild des Planeten waren sie noch zu weit entfernt. „Na gut“, nickte er schließlich. „Behalten Sie die Sensoren im Auge. Ich möchte nicht überrascht werden, falls doch noch ein paar Schiffe auftauchen. Mr. Zien“, wandte er sich an den Andorianer. „Aktivieren Sie die Schilde und geben Sie Alarmstufe Rot. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“
Doch waren auch weiter keine Schiffe zu entdecken. Ungestört näherten sie sich der Kolonie. Nichts schien auf einen Angriff hinzudeuten. Wäre da nicht der Notruf der Kolonie gewesen, Sanawey wäre sich sicher gewesen, dass General Everson sie an der Nase herumgeführt hatte.
„Captain“, meldete sich Sohral schließlich zu Wort. „Wir sind nun in visueller Reichweite des Planeten. Die Sensorendaten werden auch immer detaillierter.“
„Und?“ hakte Sanawey nach, als der Vulkanier nicht weiter sprach.
„General Everson hatte offenbar Recht. Die Kolonie wurde angegriffen. Weite Teile der Siedlungen liegen in Trümmer. Die Sensoren erfassen mehrere Feuer“, berichtete Sohral ruhig.
„Lebenszeichen?“
„Dafür sind wir noch zu weit entfernt. Diese Daten können die Sensoren erst mit Eintritt in den Orbit erfassen.“
Sanawey schwieg. Wenn nur die Hälfte von Okets Befürchtungen zutrafen, dann mussten sie mit dem Schlimmsten rechnen. Wenn sie von der Hälfte an toten Zivilisten ausgingen, dann war das wohl realistisch.
Wieder hieß es warten. Und auch wenn es nur einige Minuten waren, so war das doch quälend lang genug.
Schließlich traten sie in die Umlaufbahn des Planeten ein. Sohral begann sofort damit, die Sensoren auf die Kolonie auszurichten. Trotzdem erschien es allen Anwesenden so, als ob die Computer ausgerechnet jetzt langsamer arbeiten würden als gewöhnlich.
„Die Daten bestätigen die ersten Sensorenwerte“, sagte Sohral dann. „Neunzig Prozent der Bauten sind zerstört oder stark beschädigt. Die Infrastruktur der Kolonie ist so stark in Mitleidenschaft gezogen worden, dass sie praktisch nicht mehr existiert.“
„Lebenszeichen?“ preschte Sanawey ungeduldig dazwischen.
„Die Sensoren können keine Lebenszeichen empfangen“, sagte Sohral ruhig.
Dem Captain stockte der Atem. Und den anderen schien es ähnlich zu ergehen. Keine Lebenszeichen? Gar keine? Damit hatte keiner gerechnet. Es musste doch wenigstens ein paar Überlebende geben. Es konnten doch nicht alle tot sein. Wie konnten die Verantwortlichen der Erde nur ein solches Massaker befehlen?
„Gibt es irgendwelche Schutzräume?“ Sanawey wollte einfach nicht glauben, dass alle Menschen, die sie im letzten halben Jahr hier kennen gelernt hatten, tot waren. „Irgendwelche Bereiche, die unsere Sensoren nicht durchdringen können?“
„Es gibt keine aktiven Kraftfelder. Natürliche Barrieren zu finden gelingt meist nur, wenn direkt danach gesucht wird.“
„Dann tun Sie das“, befahl Sanawey und stand auf. „Wir werden uns das auf jeden Fall direkt anschauen. Mr. Zien, Sie und einer Ihrer Leute kommen mit. Dr. Williams soll uns im Transporterraum erwarten.“ Er sah sich zu seiner Stellvertreterin um. „Jackson, Sie haben das Kommando.“
Zusammen mit dem Andorianer betrat er den Lift. Dieser hatte noch schnell die Sicherheitsabteilung benachrichtigt, umgehend mit kompletter Ausrüstung für zwei Personen im Transporterraum zu erscheinen. Und wie er nicht anders erwartet hatte, war sie bereits vorhanden, als die beiden eintraten. Der Sicherheitsoffizier, der sie begleiten würde, übergab seinem Vorgesetzten die für ihn mitgebrachte Ausrüstung. Besonders fiel dabei das Phasergewehr auf. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sicher gerechtfertigt war, wenn man die Umstände bedachte.
Schließlich traf auch Dr. Williams ein. Sie hatte ihren medizinischen Notfallkoffer dabei und wirkte etwas abgehetzt. „Entschuldigung“, murmelte sie. „Ich war gerade unpässlich.“
Sanawey nickte. Dann betraten sie die Transporterplattform, um sich wenige Augenblicke später zwischen Trümmern und Ruinen vor den Überresten des Senatsgebäudes wieder zu finden. Schockiert blickten sich die vier um. Wo einst der prächtige Senat stand ragten nur noch einzelne Mauerreste auf. Der Rest war in einem Schuttberg untergegangen.
Auf dem Vorplatz, auf dem damals, gleich am zweiten Tag ihrer Anwesenheit, Hunderte von Menschen gestanden hatten, um den Sondergesandten zu empfangen, lagen die Trümmer der einstmals umliegenden Gebäude. In der Mitte klaffte, wie eine offene Wunde, ein großer Krater. Dort musste ein Treffer direkt von einem Raumschiff aus eingeschlagen sein.
Soweit der Blick reichte erhoben sich Mauerreste, bizarr verbogene Stahlträger und wenige, halb eingestürzte Häuserzeilen. Vereinzelte Feuer loderten noch zwischen den Trümmern. Weit hinter der Stadt erhob sich eine dichte Rauchsäule zum Himmel. In dieser Richtung musste der Flugplatz liegen. Vermutlich waren die dort gelagerten Energiereserven getroffen worden und brannten nun vollständig aus. Ein Brandgeruch lag in der Luft. Der bei der Zerstörung entstandene Staub und die Asche hatten sich in einer dicken Schicht über alles gelegt, als ob sie das Drama unter sich begraben wollten.
„Mein Gott“, entfuhr es Elizabeth Williams, als sie die Zerstörung sah.
Auch die anderen wirkten fassungslos. Zwar hatten sie mit Zerstörungen gerechnet, doch das Ausmaß übertraf alles, worauf sie sich eingestellt hatten. Wie konnten die Verantwortlichen der Erde nur so ein Massaker befehligen?
Sichtbar um Fassung bemüht räusperte sich Sanawey. „Wir teilen uns auf und suchen das Gelände ab. Vielleicht finden wir noch Überlebende. Aber passen Sie auf. Es könnte sein, dass sich noch Trümmerteile lösen und auf Sie herabfallen. Gehen Sie kein unnötiges Risiko ein.“
Langsam schwärmten sie aus. Auf diese Art hatte jeder etwas zu tun und wurde abgelenkt, soweit das eben ging. Vorsichtig bahnten sie sich ihre Wege durch die Trümmer. Seltsamerweise fanden sie nur wenige Leichen. Und die meisten davon waren von den Trümmern einstürzender Gebäude erschlagen worden. Wie viele Kolonisten unter den Trümmern begraben lagen ließ sich nicht sagen.
Das traurige Bild, das die einst so pulsierende Kolonie nun gab, drückte auf die Stimmung der Suchenden. Mit jedem Schritt den sie taten sank auch ihre Hoffnung Überlebende zu finden. Mit den Tricordern scannten sie die Überreste einstiger Häuser nach Lebenszeichen ab. Doch die Anzeigen veränderten sich nicht. So verging eine knappe trostlose Stunde.
Schließlich entschied Sanawey die Suche abzubrechen. Es machte keinen Sinn. Die Truppen der Erde hatten ganze Arbeit geleistet. Dieses Massaker hatte niemand überlebt. Sanawey war viel zu fassungslos und schockiert, um einen Zorn gegen die Verantwortlichen entwickeln zu können. Die Angreifer hatten noch nicht einmal vor Frauen und Kindern Halt gemacht. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie erlebt. Keiner von ihnen. Entsprechend hilflos stand er nun wieder vor den Resten des Senates. Was war die angemessene Reaktion auf diese Tat? Ein Vergeltungsschlag gegen die Erde? Möglich wäre das, aber es wäre auch keinen Fall sicher, ob sie das überstehen würden. Sie waren zwar technisch fortgeschrittener, doch war der Gegner zahlenmäßig überlegen. Und die Republic
nach ihrem Ausflug zu den Xindi schwer beschädigt. Sicher wäre dabei nur, dass weitere unschuldige Personen ihr Leben lassen würden. Es war weitaus sinnvoller, wenn sie einem Konflikt mit der Erde aus dem Weg gingen und weiterhin eine Möglichkeit nach Hause zu kommen suchten. Damit würden sie auch verhindern, dass diese Ereignisse je stattfinden würden. Trotzdem widersprach das irgendwie Sanaweys Gerechtigkeitssinn. Denn die Verantwortlichen hierfür würden bei einer Veränderung des Zeitablaufes einfach nicht mehr existieren. Sie würden nicht einmal etwas davon merken. Und im Moment wünschte er sich nichts mehr, als jemanden hierfür zu bestrafen.
Als seine Offiziere wieder bei ihm standen sah er sie fragend an, erhielt jedoch nur Kopfschütteln als Antwort. Niemand hatte etwas gefunden. Er hatte auch nichts anderes erwartet.
„Na schön. Dann werden wir aufs Schiff zurückkehren“, sagte er niedergeschlagen. Für sie gab es hier nichts mehr zu tun.
Während sie die Aufstellung zum Beamen einnahmen blickten Williams und der Sicherheitsoffizier zu Boden, um die Zerstörungen nicht länger sehen zu müssen. Nur Zien ließ seinen Blick noch einmal über die Trümmer schweifen. Und gerade als Sanawey den Befehl zum Beamen geben wollte rief Zien: „Captain. Sehen Sie.“
Sanaweys überraschter Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Andorianers. Dann sah er auf der Straße zwischen den Trümmern eine Person stehen. Die dunklen Haare waren zerzaust und vom Staub ganz grau, genau wie seine Kleidung. Grünes Blut lief ihm über die Schläfe herunter. Mit schweren Schritten kam er auf sie zu.
„Doktor“, rief Sanawey und lief dann dem Mann entgegen. Williams und die anderen folgten ihm dichtauf. Als sie näher kamen erkannten sie in dem Mann den Vulkanier T’Lor. Sein Blick schien ins Leere zu reichen.
„T’Lor“, sprach Sanawey ihn sanft an.
Der Vulkanier kehrte langsam ins Hier und Jetzt zurück. „Captain“, brachte er mühsam hervor.
Williams scannte ihn wie beiläufig, drückte ihm dann ein Hypospray an den Hals, gab Sanawey aber mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass sie nicht mehr viel für ihn tun konnte.
Vorsichtig halfen sie dem Vulkanier dabei sich zu setzen. Er konnte sich ohnehin nicht mehr auf den Beinen halten.
„T’Lor, was ist mit den Menschen hier passiert?“ fragte Sanawey leise. Sie mussten noch ein paar Antworten erhalten.
„Der Angriff kam ohne Vorwarnung“, sagte der Vulkanier mit rauer Stimme. „Sie griffen aus dem Weltraum aus an und zerstörten die Siedlungen. Sie bombardierten jedes einzelne Gebäude. Viele Einwohner starben in ihren Häusern. Die Überlebenden flüchteten aus der Siedlung.
Doch dann schickten sie die Bodentruppen. Sie trieben die Überlebenden gnadenlos zusammen. Draußen vor der Stadt wurden sie dann alle getötet. Abgeschlachtet wie Vieh. Nicht einmal bei den Kleinsten machten sie eine Ausnahme.“ T’Lor schluckte hart, ehe er fortfuhr.
„Sie hatten Recht, Captain. Eine Zeitlinie, in der so etwas passiert, darf es nicht geben. Sorgen Sie dafür, dass das hier nie passiert. Und sagen Sie Sohral, dass auch er Recht hatte. Der einzige Weg eine solche Tat zu verhindern ist die Kontrolle aller Emotionen. Nur die Logik kann das bewerkstelligen. Die Vulkanier scheinen das erkannt zu haben. Ich hoffe, die Menschen lernen das auch noch.“
Er fing an zu husten worauf ein dünner Faden grünes Blut aus seinem Mund lief.
„Wir nehmen Sie mit auf unser Schiff“, sagte Sanawey. Er wollte den sterbenden Vulkanier auf keinen Fall hier zurücklassen.
„Nein“, wiedersprach T’Lor heftiger als man es ihm noch hätte zutrauen können. „Ich gehöre genauso wenig auf Ihr Schiff wie Sie hierher gehören. Lassen Sie mich zurück. Diese Kolonie war nach unserer Rettung unsere Heimat. Ich werde hier sterben. Aber unter meinem Labor gibt es einen Schutzraum. Er kann von Scannern nicht gefunden werden. Dort werden Sie ein paar Daten finden, die Ihnen bei der Korrektur des Zeitverlaufes helfen werden.“
Sanawey sah ihn überrascht an. „Sie haben einen Weg gefunden?“
T’Lor lächelte schmerzverzerrt. „Schon kurz nach Ihrer Ankunft. Und es war nicht einfach, das vor Sohral geheim zu halten. Sie haben einen wirklich guten Wissenschaftsoffizier. Aber ich konnte Ihnen die Daten nicht geben. Lorat war dagegen und ich konnte das sogar verstehen. Wir durften nicht zulassen, dass all diese Menschen aufhören zu existieren. Doch spielt das nun keine Rolle mehr.“
Sanawey wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Normalerweise hätte er den Mann geschüttelt und ihn alles geheißen. Doch T’Lor lag im Sterben, da war das wohl kaum angebracht. Mit einem Nicken schickte er Zien los, um die Daten zu holen.
„Verzeihen Sie mir“, brachte T’Lor noch leise hervor. Dann erschlaffte sein Körper. Sanawey wusste, was das zu bedeuten hatte. Vorsichtig legte er ihn zu Boden. Wenn T‘Lor Recht hatte und sie mit seinen Daten die Zeitlinie wieder richtig stellen konnten, dann würde er wohl noch ein langes Leben führen. Statt hier zu landen würde sein Schläferschiff nach Vulkan zurückkehren und er konnte dort weiterleben. Sanawey nahm sich vor, das herauszufinden.
Als Zien zurück kam hielt er triumphierend einen Speicherchip in der Hand. Ihr Ticket nach Hause.
Verstohlen blickten die diensthabenden Offiziere immer wieder zu Sohral. Der Vulkanier analysierte gerade die Daten, die sie vom Planeten mitgebracht hatten. Wenn die Angaben T’Lors richtig waren, dann war das ihre Chance nach Hause zu kommen. Diese Chance, die so überraschend kam, nachdem bereits alle Hoffnung dahin zu sein schien. Entsprechend groß war die Neugier aller. Nur Sohral gab wie immer keine Anzeichen was er von den Daten hielt. Und einen Zwischenbericht gab es sowieso nicht. Sohral gab nur dann Informationen von sich, wenn er sich dessen auch sicher war. Auch Sanawey war von der Anspannung angesteckt worden. Er stand hinter Sohral und bemühte sich, nicht allzu offensichtlich über dessen Schulter zu spähen.
Eigentlich war es kindisch. Sie waren bereits seit einem halben Jahr hier, nun kam es auf weitere Minuten nicht mehr an. Und trotzdem konnten sie sich alle kaum beherrschen. Die menschliche Ungeduld war zu stark. Ihnen fehlte einfach die vulkanische Disziplin.
Schließlich sah Sohral von seinen Daten auf und drehte sich, scheinbar betont langsam, zu seinem Captain um. Auch wenn es fast nicht möglich war, es schien so, als genieße Sohral die Ungeduld seiner menschlichen Begleiter. Als ob er den Menschen ihren Makel und seine Überlegenheit vor Augen führen wollte. Nur dass das überheblich und arrogant gewesen wäre. Eigenschaften, die die Vulkanier nicht mehr hatten.
„T’Lor hatte aus unseren Sensordaten überraschend viel auswerten können“, begann er ausführlich. „Zusammen mit den Daten, die sein Schläferschiff bei der Rückkehr nach Vulkan gesammelt hatte, konnte er die Strahlungsrückstände einwandfrei identifizieren. Sie mochten für ihn keinen Sinn gemacht haben, aber wir können sie der Xindi-Waffe zuordnen. Nun macht auch die hohe Dichte an chronometrischen Partikeln in der Waffe einen Sinn. Sie diente dazu den Energiestrahl der Waffe durch die Zeit zu ihrem Ziel zu schicken.“
„Ja, das dachten wir uns schon. Was ist mit den Daten?“ unterbrach Sanawey ihn ungeduldig. „Können wir mit ihnen den Zeitverlauf korrigieren?“
„T’Lor konnte mit seinen Daten sowohl den Energiewert als auch den Einschlagswinkel des Energiestrahles ermitteln. Auf Grundlage dieser Daten hat er einen Plan entwickelt, wie der Energiestrahl abfangen werden kann. Und er hat genaue Berechnungen zu der notwendigen Zeitreise gemacht. Die Antwort auf Ihre Frage lautet also: Ja, wir können damit die Zeitlinie wieder herstellen.“
Jubel brach unter der Brückencrew aus. Jubel, der die unendliche Erleichterung ausdrückte, die sie in diesem Moment empfanden. Dies war die erste gute Nachricht seit Wochen. Nun gab es wieder Hoffnung.
Auch Sanawey brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. Er stand einfach nur breit grinsend da und genoss die Zuversicht, die er nun wieder spürte.
„Na schön“, sagte er schließlich. „Was müssen wir als nächstes tun, Mr. Sohral?“
„Wir haben alle benötigten Materialien an Bord. Wir müssen nun nach Vulkan zurückkehren und dort knappe zwei Jahrtausende in die Vergangenheit reisen.“
Sanawey wandte sich Tworek zu. „Sie haben es gehört. Setzen Sie Kurs nach Vulkan. Warp drei.“
Bevor Tworek den Befehl bestätigen konnte ertönten plötzlich die Sirenen. Rote Lichter pulsierten auf und meldeten den höchsten Alarmzustand.
„Captain, 130 Schiffe sind soeben unter Warp gegangen.“ meldete Reed aufgeregt.
„Xindi?“ spekulierte Sanawey sofort.
„Nein. Es sind irdische Schiffe. Alle ähnlich der uns bekannten NX-Klasse. Aber doch modifiziert.“ Er klang verwirrt.
„Auf den Schirm“, befahl Sanawey. Er wollte wissen, womit er es zu tun hatte.
Der Bildschirm konnte gar nicht alle Schiffe fassen, so groß war die Flotte. Und im Gegensatz zu den bisherigen Schiffen der Erde, denen sie schon begegnet waren, waren diese nicht hellgrau lackiert sondern schwarz. So schwarz, dass sie vor dem dunklen Weltraum kaum zu sehen war. Einzig ihre Positionslichter und der verdeckte Bereich der Sterne ließen erkennen, wo sich die Schiffe befanden.
Bevor Sanawey seinen Wissenschaftsoffizier um Einzelheiten fragen konnte drang eine Stimme aus den Lautsprechern der Brücke. „Captain Sanawey. Übergeben Sie uns Ihr Schiff oder Sie werden vernichtet.“
Sanawey sah sich zu Sohral um. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie waren so nahe an ihrem Ziel und nun das.
„Die Schiffe scheinen über eine Art Dämpfungsfeld zu verfügen. Unsere Sensoren können dies nur zum Teil durchdringen. Aber ihre Waffen scheinen weiter entwickelt zu sein, als die der bisherige Erdenschiffe“, wusste Sohral zu berichten.
„Können Sie uns gefährlich werden?“ Sanawey hatte nicht die geringste Lust zu kämpfen. Es hatte schon genug Tote in der letzten Zeit gegeben. Außerdem wollte er zum Planeten Vulkan, um endlich alles wieder richtig zu stellen.
„Ein einzelnes womöglich nicht. Aber der Flotte können wir nicht lange standhalten“, kam die enttäuschende Antwort. „Uns den Weg freizukämpfen kann ich nicht empfehlen“, schien er die Gedanken des Captains zu erraten.
Sanawey konnte es nicht glauben. Das Schicksal schien ihnen einen bösen Streich zu spielen. Endlich hatten sie eine Möglichkeit gefunden, nach Hause zu kommen, da wurde ihnen die Ausführung dazu verwehrt. Sie saßen in der Falle. Fliehen konnten Sie nicht, dazu war das Schiff zu beschädigt. Und einen Kampf würden sie nicht überleben. Es war zum aus der Haut fahren.
Dann kam Sanawey eine Idee. „Wie schnell können wir die Zeitreise vornehmen?“ wandte er sich an Sohral.
„Ich muss noch einige Veränderungen an unserem Deflektor vornehmen. Dann steht dem nichts mehr im Wege.“
„Wie lange?“
Sohral schien zu erkennen, worauf der Captain hinaus wollte, denn seine rechte Augenbraue zog sich nach oben. „Zehn Minuten. Ich halte Ihren Plan für gewagt, aber er könnte funktionieren.“
„Es ist die einzige Möglichkeit. Tun Sie es.“
„Mr. Reed, rufen Sie...“ Plötzlich erzitterte das Schiff. Die Erdenschiffe hatten das Feuer eröffnet. Mehrere Torpedos schlugen auf den Schutzschilden ein.
„Wie es aussieht haben wir keine zehn Minuten mehr“, rief Sanawey. Dann wandte er sich an Zien. „Feuer erwidern.“
Mehrere Photonentorpedos verließen die Republic
und schlugen auf den fremden Schiffen ein. Diese trugen schwere Schäden davon, doch die Überzahl ließ der Republic
keine Chance.
„Backbordschilde ausgefallen“, meldete Reed.
„Wenden Sie ihnen unser Heck zu“, befahl Sanawey. Rauchschwaden bildeten sich aus gebrochenen Leitungen. Hinter der technischen Station brach eine Leitung und sprühten Funken. Sanawey war froh, dass Wendy Brooks nicht hier saß, sondern sich im Maschinenraum befand, denn die Explosion an ihrer Station hätte sie nicht überlegt.
„Captain, wir halten das nicht lange genug aus.“
Sanawey konnte der Meldung Reeds nur zustimmen. Er sah das genauso, aber sie hatten keine andere Wahl mehr. Zur Flucht war es zu spät. Sie konnten sich nur weiter wehren und hoffen, dass das Schiff mehr aushielt, als die dachten.
„Captain, es kommen noch mehr Schiffe aus dem Warptransit. Nochmal so viele.“ Reed klang jetzt hoffnungslos. Die Übermacht wurde zu groß.
Sanawey sah auf den Bildschirm. Die neuen Schiffe tauchten hinter der feindlichen Flotte auf. Ihre hellen Außenhüllen waren weit sichtbar. Ohne ein Wort der Erklärung nahmen sie die dunklen Schiffe unter Beschuss. Fast augenblicklich hörten die Attacken auf die Republic
auf. Die schwarzen Erdenschiffe hatten plötzlich einen Feind im Rücken, dem sie sich zuwenden mussten.
Sanawey atmete hörbar auf. In den Schiffen erkannte er die Flotte der Erdstreitkräfte. Und er erinnerte sich an Eversons Worte. Die Kolonie sollte von Schiffen angegriffen werden, die nicht den Erdstreitkräften angehörten. Irgendetwas musste auf der Erde geschehen sein. Hier kam es zu einem Kampf, dem irgendwelchen Streitereien und Machtkämpfe auf der Erde vorgegangen waren. Und ganz eindeutig kam dieser Machtkampf der Republic
jetzt zugute.
„Captain, die Erdstreitkräfte erleben herbe Verluste“, berichtete Reed. „Die schwarze Flotte ist diesen Schiffen überlegen.“
„Dann ergreifen wir jetzt unsere Chance und ziehen uns zurück. Mr. Sohral, wie weit sind Sie?“
Sohral reagierte nicht, sondern arbeitete ohne Unterbrechung weiter. Er wollte jede Sekunde nutzen. Sanawey musste sich wohl gedulden, bis der Vulkanier soweit war. Inzwischen entfernte sich die Republic
langsam vom Schlachtfeld. Noch schien das niemand zu merken, den die verfeindeten Flotten waren noch vollauf mit sich selbst beschäftigt.
Nur wenig später meldete Sohral, dass sie nun den Zeitsprung durchführen konnten. Mit Hilfe des Deflektors erzeugten sie vor der Republic
ein chronometrisches Feld, und als Sohral den Befehl gab flog das Schiff hinein. Noch ehe die kämpfenden Schiffe bemerkten was passiert war, hatte sich das Feld wieder aufgelöst. Und die Republic
war verschwunden.
DREIZEHN
Erleichtert sah Sanawey auf den Bildschirm. Ihr Plan hatte funktioniert. Vor ihnen strahlte die sandgelbe Kugel Vulkans, so wie es sein sollte.
Ihre Reise zum Planeten Vulkan war ereignislos verlaufen, nachdem sie die kämpfenden Schiffe zurückgelassen hatten und zweitausend Jahre in der Zeit zurückgereist waren. Zu dieser Zeit, in der sie sich nun befanden, schien das Weltall noch sehr viel leerer zu sein. Es gab keine Subraumnachrichten und keine fremden Schiffe. Die meisten Kulturen fingen gerade erst an sich zu entwickeln. Raumfahrende Völker gab es in diesem Teil des Universums nicht. Was Sanawey und seiner Crew nur recht war. Keiner von Ihnen war darauf aus, noch weitere Überraschungen zu erleben. Sie wollten nur alle wieder nach Hause.
Der Anblick des unzerstörten Planeten Vulkan hatte bei allen Erleichterung und neue Hoffnung ausgelöst. Der erste Teil ihres Planes, die Zeitreise, hatte funktioniert, da sollte der Rest doch auch noch gelingen.
Sie hatten mit Hilfe des Deflektors vor dem Planeten ein chronometrisches Feld errichtet. Aufgrund der Daten der Xindi-Waffe und T’Lors Forschungen hatten sie die Stelle und den Zeitpunkt ermitteln können, an der der Strahl aus der Zukunft gekommen war. Oder kommen würde, je nachdem wie man es sah. So hatten sie ein begrenztes Feld aufbauen können, für das die Schiffsenergie ausreichte. Für einen Schutzschild, der die zerstörerische Energie abwehren konnte, hätte die Energie bei weitem nicht ausgereicht, selbst wenn das Schiff in einem einwandfreien Zustand gewesen wäre. Daher hatte T’Lor den Plan entwickelt, mit Hilfe eines chronometrischen Feldes den Energiestrahl in eine ferne Vergangenheit umzuleiten.
Kurz vor dem aufgebauten chronometrischen Feld war der Energiestrahl dann aus der Zukunft gekommen. Nur anstatt den Planeten zu treffen trat er in das künstlich von der Republic
erschaffene Feld ein und verschwand in einer unendlich weit entfernen Vergangenheit. Wenn T’Lors Berechnungen richtig waren, dann musste der Energiestrahl in einer ungefähr zwanzig Milliarde Jahre entfernten Vergangenheit wieder aufgetaucht sein. Zu einer Zeit, als Vulkan noch nicht existierte, so das kein Schaden mehr angerichtete werden konnte. Und da der Planet noch immer da war, schien auch dieser Teil des Planes gelungen zu sein.
„Mr. Reed, schalten Sie die Energiezufuhr aus“, befahl Sanawey. Sie hatten knapp eine Stunde lang Energie in das chronometrische Feld gespeist, das sie vor dem Planeten aufgebaut hatten, um den Energiestrahl der Waffe abzufangen. Die Energiereserven des Schiffes waren damit stark strapaziert worden. Für die Rückkehr in ihre Zeit konnte es nun eng werden. Doch um den Zeitverlauf wieder herzustellen mussten sie das Risiko eingehen. Die Korrektur des Zeitverlaufes war wichtiger als ihr eigenes Schicksal.
Reed folgte dem Befehl. Durch die nun fehlende Energie brach das Feld in sich zusammen und löste sich vollständig auf.
Der Captain wandte sich seinem Wissenschaftsoffizier zu. „Mr. Sohral, was sagen Ihre Daten? Hat es funktioniert?“
Der Vulkanier zog die rechte Augenbraue an. „Die Tatsache, dass der Planet noch existiert spricht dafür. Ob sich unsere Zeitlinie wieder hergestellt hat können wir von hier aus nicht sagen.“
Sanawey nickte. „Natürlich. Wir können ja schließlich schlecht in die Zukunft schauen.“
„Captain. Die Vulkanier scheinen uns bemerkt zu haben. Auf dem Planeten werden zwei Gleiter fertig gemacht, die den alten irdischen Space Shuttles ähneln. Damit können sie nahegenug herankommen, um uns zu sehen“, meldete Reed aufgeregt.
Zuerst war Sanawey überrascht, aber dann erinnerte er sich daran, dass die Vulkanier zu dieser Zeit bereits regelmäßig Flüge zum vulkanischen Mond durchgeführt hatten und mit Schläferschiffen auch die Weiten des Alls erkundeten. Zweitausend Jahre in der Vergangenheit hieß schließlich nicht, dass die Vulkanier ähnlich primitiv wären, wie die Menschen zu jener Zeit.
„Wann werden sie hier sein?“
„Das kann noch ein wenig dauern. Sie bauen gerade erst die Startrampen auf. Ich vermute, noch circa fünf Stunden“, erwiderte Reed wieder ruhiger.
„Captain, wir sollten den Kontakt auf jeden Fall vermeiden“, riet Sohral. „Diese Vulkanier sind noch nicht bereit für die Erkenntnis, dass es im All noch anderes Leben gibt. Die Entdeckung von intelligentem Leben findet erst in dreihundert Jahren statt, der erste Kontakt sogar erst in 1700 Jahren.“
Sanawey sah ihn groß an. „Ihr Volk konnte sich über tausend Jahre mit einem Kontakt zurückhalten, obwohl sie intelligentes Leben bereits entdeckt hatten?“ Er bezweifelte, dass die Menschen das solange ausgehalten hätten.
„Es war logisch, sich nicht in die Entwicklung anderer Kulturen einzumischen“, erwiderte Sohral ruhig und schien das als Begründung für ausreichend zu halten.
„Na schön“, sagte Sanawey schmunzelnd. „Wir sind hier ohnehin fertig. Verlassen wir das System. Setzen Sie einen Kurs, Mr. Tworek. Wir wollen die Vulkanier nicht weiter belästigen. Mrs. Brooks, veranlassen Sie alles für den Zeitsprung“, verteilte er die Befehle.
Als die Bestätigungen von allen erfolgt waren, wandte sich Reed um. „Captain. Könnten wir die Gelegenheit nicht nutzen und mal bei der Erde vorbei schauen? Wir können mit Sicherheit einige interessante Daten für unsere Historiker mitbringen. Da gibt es wahrscheinlich viel richtig zu stellen. Und wir können endlich Klarheit über historische Personen erlangen, wie zum Beispiel Julius Cäsar.“
Sanawey lächelte. „Für Cäsar sind wir aber etwas mehr als zweihundert Jahre zu spät. Außerdem ist die Gefahr zu groß durch eine unbeabsichtigte Einmischung die Zukunft wieder aufs Spiel zu setzen. Unsere Historiker sollen anhand von Ausgrabungen und Entdeckungen die Vergangenheit erforschen. Das ist ohnehin viel spannender.“
Reed zuckte mit den Schultern. „Schade. Ich hatte gehofft, wir könnten damit eine Auszeichnung bekommen. Den Nobelpreis oder etwas in der Art. Dann eben nicht.“ Damit wandte er sich wieder seiner Konsole zu.
Die Republic
verließ langsam die Umlaufbahn um Vulkan und anschließend das System. Als Stunden später die vulkanischen Gleiter den Orbit erreichten, konnten sie nichts mehr entdecken. Was die Crew der Republic
nicht wusste, die Vulkanier hatten mit ihren Teleskopen Bilder des Schiffes gemacht. Leicht verschwommen zwar, aber doch als Raumschiff zu erkennen. Durch die fehlende Bestätigung wurde der Vorfall allerdings mit allen dazugehörigen Unterlagen als Ufosichtung zu den Akten gelegt und geriet in den aufkommenden Kriegswirren in Vergessenheit. In dem folgenden Krieg, der die Vulkanier beinahe ausgelöscht hätte, wurden die Unterlagen ein Raub der Flammen und vollständig vernichtet. Damit gab es keine Beweise mehr, dass ein Raumschiff der Sternenflotte bereits zweitausend Jahre vor deren Gründung den Planeten Vulkan besucht hatte.
Eine Sache gab es für die Crew allerdings noch zu tun. Sie mussten verhindern, dass die Xindi die Waffe noch einmal einsetzen konnten. Denn nach derzeitigem Stand musste aus Sicht der Xindi eine Fehlfunktion der Waffe aufgetreten sein, wenn sie merkten, dass sie nichts erreicht hatten. Sie konnten sie jederzeit erneut abfeuern. Um die Gefahr endgültig abzuwenden müsste die Waffe zerstört werden. Und genau das hatte Sanawey noch vor.
Sie befanden sich noch immer weit in der Vergangenheit. Aufgrund der Schäden am Schiff hielt der Captain das aber für das sicherste. Hier drohten ihnen die wenigsten Gefahren, da es hier noch keine raumfahrenden Völker gab. Daher gelangten sie unbehelligt bis zum Sektor 859J, in dem die Xindi-Waffe in der Zukunft gebaut wurde.
Zusammen mit seiner Stellvertreterin und Sohral stand Sanawey bei Wendy Brooks im Maschinenraum. Es galt die nächsten Schritte abzustimmen.
„Die Energie für die Rückkehr in unsere Zeit wird wohl reichen“, berichtete die Chefingenieurin. „Aber einen weiteren Kampf werden wir nicht bestehen. Die Idee, diese Waffe anzugreifen, ist Selbstmord. Ich kann mich erinnern, dass diese Waffe von mehreren Schiffen verteidigt wird. Das werden wir nicht überleben.“
„Wie hoch sind unsere Chance, die Waffe zerstören zu können?“ Sanawey ignorierte damit Brooks Einwand.
„Das kann ich nicht sagen“, antwortete Sohral. „Wir wissen nicht, wie stark die Schäden unseres ersten Angriffes waren.“
„Gehen wir vom schlechtesten Szenario aus. Die Waffe ist nahezu unbeschädigt.“
„Dann werden die uns verbliebenen Photonentorpedos ebenfalls nicht genug Schaden anrichten, um die Waffe zu zerstören.“
Sanawey nickte. Damit musste er die Frage stellen, die er nur ungern stellen wollte. „Würde es ausreichen, wenn wir mit der Republic
die Waffe rammen?“
Sohral zog die rechte Augenbraue hoch, deutete dann aber auf zwei Punkte auf der Bildschirmgrafik der Xindi-Waffe, die vor ihnen leuchtete. „Aufgrund der Energiewerte der Waffe sind dies besonders kritische Punkte. Die Wahrscheinlichkeit, mit einer Explosion, die die Republic
hervorrufen würde, die Waffe zu zerstören, liegt bei 95 Prozent.“
„Das reicht“, entschied Sanawey.
„Ich nehme an, Sie wissen, das Schiff würde einen solchen Aufprall nicht überstehen“, vergewisserte sich Sohral.
„Das war der Hintergedanke“, bestätigte der Captain.
„Das ist nicht dein Ernst?“ vergewisserte sich Wendy Brooks.
„Es geht darum die Waffe zu zerstören. Sie darf auf keinen Fall nochmal zum Einsatz kommen. Denn das nächste Mal haben wir bestimmt nicht nochmal so viel Glück, dass ein Schiff von den Veränderungen der Zeitlinie ausgenommen wird und dann unser Universum retten kann“, gab Sanawey fest zurück. „Das ist unser oberstes Ziel. Alle anderen Prioritäten liegen dahinter. Alle. Einschließlich unseres Überlebens. Und wenn das heißt, dass wir das Schiff zerstören müssen, dann muss es eben sein. Ich möchte das genauso wenig wie du, aber wir müssen uns diese Option offen halten.“
Wendy nickte. Natürlich hatte Sanawey recht. Auch wenn sie das Schiff nur äußerst ungern opfern würde. Es steckten einfach genug Schweiß und Blut darin, die sie während den vielen Reparaturen vergossen hatten.
„Mr. Sohral, errechnen Sie einen Kurs mit dem wir die Waffe rammen und zuvor noch unsere letzten Torpedos in die Öffnung an der Vorderseite schießen können.“
„Ja, Sir.“
„Mrs. Jackson, bereiten Sie die Evakuierung des Schiffes vor. Wir werden das Schiff mit den Shuttles und den Rettungskapseln verlassen, und zwar gleich nachdem wir durch die Zeit zurückgesprungen sind.“
Hektisch betrat Drake Reed sein Quartier. Der Captain hatte eben die Crew über die bevorstehende Evakuierung des Schiffes informiert. Er hatte der Crew nur eine halbe Stunde Zeit gegeben, um ein paar persönliche Dinge aus den Quartieren zu holen. Es durfte nichts Großes oder Sperriges sein, denn viel Platz war in den Rettungskapseln nicht. Es reichte gerade, um ein paar persönliche Daten auf einen Datenträger zu sichern und vielleicht noch den kleinen Glücksbringer zu holen, den so ziemlich jeder in seinem Quartier hatte.
Auch Drake wollte nur ein paar Daten sichern. Videos, die er bei Ausflügen mit Elane auf Ceti Alpha 6 gemacht hatte. Er schnappte sich seinen Datenpad und wollte gerade loslegen, als er das Symbol sah, das ihm eine neue Nachricht ankündigte. Hatte Elane ihm vielleicht geschrieben? Eigentlich hatte er sich heute Abend noch mit ihr treffen wollen. Er sah auf das Datum der Nachricht. Sie war bereits fünf Stunden alt. Also war sie kurz nach der Rettung Vulkans erstellt worden, aber lange bevor die Evakuierung bekannt gegeben worden war.
Voller Vorfreude öffnete er die Nachricht. Sie schrieben sich öfters heiße Nachrichten, um die Vorfreude auf ihre Treffen noch zu steigern. Und diese hier war tatsächlich von Elane.
Hallo Drake. Hör zu, unser Treffen nachher muss ich leider absagen. Sei mir bitte nicht böse. Es geht mir gerade einfach etwas zu schnell. Wir sind jetzt seit einem halben Jahr zusammen. Eigentlich müsste jetzt langsam der nächste Schritt kommen. Nur bin ich dafür noch nicht soweit. Ich fühle mich eingeengt. Ich brauche etwas Zeit um mir meiner Gefühle klarer zu werden. Ich bin wohl doch noch nicht ganz über meine letzte Beziehung hinweg. Ich brauche noch ein bisschen, um damit abzuschließen. Und es wäre unfair dir gegenüber, wenn ich mit dir so weiter machen würde, während ich noch so ein Gefühlschaos in mir habe. Ich muss das erst einordnen. Bis dahin bitte ich dich unsere Beziehung auszusetzen. Lass uns wieder ganz normal miteinander umgehen. Wie Freunde. Denn als guten Freund will ich dich auf keinen Fall verlieren. Ich hoffe, du kannst das verstehen. Bis demnächst.
Reed stand einfach nur da und starrte an die Wand. Sein Lächeln war verschwunden. Noch immer schlug sein Herz wie wild, jetzt allerdings hatte er das Gefühl als wollte es zerspringen. Ein eiskalter Stachel schien ihn zu durchbohren und nahm ihm fast den Atem. Ein fast körperlicher Schmerz breitete sich in ihm aus, schlimmer als die schlimmste Folter sein konnte. Was war nur geschehen? Hatte er irgendetwas verpasst? Noch gestern Abend hatten sie sich draußen im Gang geküsst und konnten kaum voneinander los kommen und jetzt das? Er verstand die Welt nicht mehr. Noch nie hatte er sich zu einer Frau so hingezogen gefühlt. Noch nie war er so verliebt gewesen. Bisher hatte er immer geglaubt zu wissen, was Liebe ist. Seit er Elane kannte war er sich sicher tatsächlich zu wissen was Liebe ist.
Wie konnte sie sich jetzt plötzlich nur von ihm abwenden? War ihr auf einmal doch der Altersunterschied zu groß? War es, weil sie auf einem gemeinsamen Schiff dienten und nie wussten welche Gefahren der Job brachte? Es wurde ihr zu eng. Wie konnte das sein? Natürlich hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, aber das war doch normal wenn man jemand kennen lernte, wenn man frisch verliebt war.
Er spürte, wie seine Knie drohten nachzugeben. Ein äußerst beklemmendes Gefühl griff nach ihm. Eine unendliche Trauer und Leere. Noch nie zuvor hatte er sich so leer gefühlt. Noch nie zuvor war ihm so elend zumute. Noch nie zuvor hatte er sich so verletzt gefühlt. Vielleicht war das jetzt die Strafe für alle die gebrochenen Herzen, die er in seinem Leben bereits hinter sich gelassen hatte. Doch nicht einmal diese Ironie ließ ihn etwas empfinden.
Wäre es einfacher gewesen, wenn er Anzeichen für ihren Entschluss gehabt hätte? Aber es gab keine. Oder hatte er sie nur übersehen? Aber sie waren beide so glücklich gewesen. Ja, das waren sie doch, oder? Es kam so völlig plötzlich und überraschend, dass er überhaupt nicht wusste, was er jetzt tun sollte? Sollte er ihren Wunsch erfüllen und so tun als ob nie etwas zwischen ihnen geschehen wäre? Er wusste nicht, ob er das konnte. Oder wollte sie ihn nur herausfordern? Wollte sie ihn dazu bewegen, sich mehr um sie zu bemühen? Sollte er nun kämpfen, sie erobern? Wollte sie das?
Er legte den Computer zur Seite und stand auf. Er hatte einen Job zu erledigen. Er musste seinen Pflichten nachkommen. Langsam ging er zur Tür. Bevor er sein Quartier verließ atmete er nochmals tief durch. Irgendwie musste er es schaffen, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Leben hingen davon ab. Er war sich nur nicht sicher, ob er es schaffte. Dann ging er zurück zur Brücke. Die Datensicherung spielte für ihn jetzt keine Rolle mehr.
„Captain, ich habe unseren Kurs festgelegt“, sagte Sohral und führte Sanawey die Computersimulation vor. Demnach tauchte die Republic
unmittelbar neben dem Energiestrahl der Waffe aus der Vergangenheit auf. Genau in dem Moment, in dem sie vor einem halben Jahr vom Strahl der Waffe erfasst worden waren. Dann würden sie ihre restlichen Torpedos abfeuern. Sie würden in dem Moment detonieren, in dem die Waffe den Energiestrahl abstellte. Dies wäre auch der Moment die Shuttles und Rettungskapseln zu starten. Drei Minuten später würde die Republic
auf der Außenhülle der Waffe zerschellen und damit eine Kettenreaktion auslösen, die die Waffe zerstören sollte.
Zumindest war das der Plan. Sanawey konnte nur hoffen, dass auch alles glatt lief. Ohne Schiff hatten sie danach keine Chance mehr noch irgendetwas zu unternehmen.
„Dieser Kurs, werden wir uns damit selbst zu sehen bekommen? Ich meine, die andere Republic
, die im Strahl festsitzt?“ Der Gedanke, das Schiff aus einer anderen Perspektive zu sehen faszinierte Sanawey.
„Das ist wahrscheinlich“, bestätigte Sohral. „Können Sie sich an die Sensorendaten erinnern, die wir damals gemessen haben?“
Sanawey legte die Stirn in Falten. Dann fiel es ihm wieder ein. „Wir hatten ein Schiff gesehen, dass sich ebenfalls der Waffe näherte. Und zwar auf dem Kurs...“ Er brach ab und sah Sohral groß an. „Das ist der Kurs, den wir einschlagen wollen.“
„Das ist richtig“, nickte Sohral. „Wir haben uns damals selbst gesehen. Beziehungsweise, wir haben die Republic
gesehen, die aus der Vergangenheit kam. Genau das Manöver, das wir jetzt vorhaben.“
Nachdenklich blickte Sanawey auf den Bildschirm. „Wir können aus den Sensorendaten von damals nicht erkennen, ob wir Erfolg hatten?“
Sohral sah ihn an. „Nein. Das ist nicht möglich.“
Sanawey lächelte. „Es wäre ja auch nicht richtig, zu wissen wie das Spiel endet, bevor es angefangen hat.“
Die rechte Augenbraue des Vulkaniers ging nach oben ob dieses Vergleiches. „Nein, das wäre nicht richtig.“
Das Lächeln des Captains wurde noch breiter. „Es war mir eine Ehre, Sie an meiner Seite gehabt zu haben, Mr. Sohral.“ Dann wandte er sich um und ging zum Kommandosessel zurück.
„Mr. Reed, leiten Sie den Zeitsprung ein. Danach begeben Sie sich zum nächsten Rettungsshuttle.“ Er sah sich auf der Brücke um. Bis auf Reed und Sohral waren nur noch Tworek und Zien anwesend. Der Rest befand sich bereits in den Shuttles. Selbst Commander Jackson hatte er dorthin verfrachtet, auch wenn sie nur unter großem Protest gegangen war. Sanawey hatte einfach die Befürchtung gehabt, seine Stellvertreterin hätte sonst niemals das Schiff verlassen.
Vor der Republic
bildete sich wieder das chronometrische Feld. Als es die von Sohral errechnete Dichte hatte, beschleunigte Tworek das Schiff. Die Republic
flog durch das Feld und fand sich kurz darauf vor der gigantischen Waffe der Xindi wieder.
„Reed und Tworek, ab in die Rettungskapseln,” befahl Sanawey laut. Er duldete diesmal keine Widerworte. Sie beiden waren jedoch Offiziere genug um zu wissen, wann man den Befehlen zu gehorchen hatte. Sanawey übernahm die Steuerung. Er würde das Schiff auf Kurs halten. Es gab keine andere Möglichkeit, wenn der Rest der Crew gerettet werden sollte.
„Mr. Zien, Torpedos los“, befahl der dem Andorianer. Wenige Sekunden später brach der Energiestrahl der Waffe ab und die Torpedos detonierten innerhalb der Waffe.
„Raus hier“, brüllte Sanawey den beiden verbliebenen Offizieren zu. Zien stand auf, nickte dem Captain nochmal zu und wandte sich dann dem Lift zu. Sohral blieb noch an seiner Station sitzen.
„Sohral“, rief Sanawey. „Sie müssen raus hier. Die Shuttles müssen starten, sonst sind sie zu nah bei der Waffe, wenn sie explodiert.“
„Einen Moment noch.“
„Wir haben keinen Moment.“ Sanawey wurde etwas sauer. Ausgerechnet der Vulkanier erkannte die logische Notwendigkeit nicht.
„Captain, drehen Sie ab“, rief Sohral schließlich.
Sanawey gab blitzschnell den entsprechenden Befehl ein. Eine Begründung brauchte er nicht. Er vertraute seinem Wissenschaftsoffizier blind. Wenn Sohral eine solche Anweisung gab, dann hatte er seine Gründe dafür.
„Bringen Sie uns hier weg“, schob Sohral noch hinterher.
Der Captain beschleunigte das Schiff auf volle Impulsgeschwindigkeit. Die Frage nach den Gründen, die er Sohral stellen wollte, konnte er sich sparen. Auf dem Bildschirm sah er wie die Xindi-Waffe hinter ihnen explodierte. Mehrere Explosionen rissen die gigantische Waffe auseinander und sorgten dafür, dass sie in mehrere große Stücke zerbrach. Doch auch in diesen wüteten die tödlichen Energien weiter. Kettenreaktionen sorgten für immer neue Explosionen, die Trümmerteile ins All schleuderten oder die Waffe weiter zerbrachen. Die Xindi-Schiffe, die sich in ihrer Nähe aufhielten, wurden von der Explosion erfasst und ebenfalls zerstört. Aufgrund der ursprünglichen Größe der Waffe gab es so viele Explosionen, dass das Ells zu leichten schien. Dann war die Waffe zerstört. Das alles hatte nur Sekunden gedauert und zurück blieb nur eine kleine, nachleuchtende Wolke ionisierten Gases zurück. Sie hatten es überstanden.
Erleichtert blickte Sanawey zum Bildschirm. Er atmete mehrmals tief durch, um seinen Puls wieder zu beruhigen. Es war nicht ganz nach Plan gelaufen, doch er war nicht unglücklich über diesen Verlauf der Ereignisse. Schiff und Besatzung waren gerettet und er selbst war auch noch am Leben. Es hätte nicht besser laufen können. Glücklich stand er von der Navigationskonsole auf und blickte sich um. Zien und Sohral standen auf dem Oberdeck. Sohral stand vor seiner Konsole, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt und blickte, ruhig wie immer, zum Bildschirm. Ihm war nicht anzusehen, was gerade geschehen war. Er hätte genauso gut ein Gemälde betrachten können.
Zien hatte sich auf das Geländer abgestützt, dass das Ober- vom Unterdeck trennte. Er wirkte erleichtert. Seine Augen strahlten und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Seine Antennen streckten sich entspannt vom Kopf weg.
„Danke, meine Herren“, sagte Sanawey ruhig. „Das war eine erstklassige Leistung.“
Sohral deutete nur ein ganz leichtes Nicken an, während Zien sich versteifte und antwortete: „Danke, Sir. Wir hatten aber auch einen guten Captain.“
Sanawey lächelte. Er war einfach nur glücklich, dass es überstanden war. Und es war ihm, als wäre eine monatelange Last von ihm gefallen. Ihm war als ginge er auf Wolken, so leicht fühlte er sich nun. Da die Waffe bei ihrer Zerstörung auch die Xindi-Schiffe mit sich gerissen hatte, waren sie und allein und es bestand keine Gefahr mehr.
Die Türen des rechten Turboliftes öffneten sich und Jackson trat ein, gefolgt von Reed und Tworek.
„Was ist passiert?“ wollte Jackson wissen. Im Rettungsshuttle hatte sie offenbar nicht mitbekommen was vorgefallen war. Nur dass der Startbefehl ausgeblieben war.
„Es ist vorbei“, antwortete Sanawey schlicht und ließ sich in den Kommandosessel sinken. Danach musste er in allen Einzelheiten erzählen was sich zugetragen hatte. Und er musste es nochmal wiederholen, als auch Williams, Brooks und Karja die Brücke betraten.
Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Bis Sanawey schließlich aufstand und um Ruhe bat. Dann sagte er: „Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, aber ich möchte nach Hause.“
Tworek nickte. „Aye, Sir. Setze Kurs auf die Erde. Warp 2.“
„Zwei?“ fragte Sanawey ungläubig. Bei dem Tempo würden sie etwas mehr als vier Wochen benötigen.
„Tut mir leid, Captain. Mehr geben die Maschinen nicht mehr her“, antwortete Tworek.
Sanawey sah seine Chefingenieurin an.
„Ich werde schauen was sich machen lässt“, versprach sie. „Aber ich kann für nichts garantieren. Wir haben so viele Schäden, dass wir es ohne Hilfe nicht mehr reparieren können.“
Sanawey nickte. „Dann eben mit Warp 2“, befahl er Tworek. Hauptsache, sie kamen überhaupt nach Hause.
Captain Sanawey war zu Sohral an die Wissenschaftsstation getreten. Es gab für ihn noch Fragen, die er nicht beantworten konnte. Er hoffte, dass der Vulkanier Antworten für ihn parat hatte, so wie fast immer.
„Hatten Sie nicht gesagt, dass die Waffe der Xindi auf die Erde ausgerichtet war?“
„Das ist richtig“, bestätigte Sohral.
„Wie konnte dann Vulkan von ihr getroffen werden?“ Das war eine Frage, die schon lange in Sanaweys Kopf bohrte.
„Das war unsere Schuld“, sagte Sohral ruhig und erklärte dann dem überraschten Captain: „T’Lors Analyse hatte auch den Aufschlagswinkel des Energiestrahles berücksichtigt. Daraus konnte ich zurückrechnen, dass die Anwesenheit der Republic
im Energiestrahl der Waffe diesen um 7,8 Grad abgelenkt hatte.“
„Und das reichte aus?“ Sanawey konnte es kaum glauben. Die Erde und Vulkan lagen doch Lichtjahre voneinander entfernt.
„Ganz offensichtlich.“
Sanawey sah ihn noch immer ungläubig an. „Wir haben den Energiestrahl der Waffe abgelenkt? Und das ausgerechnet in dem notwendigen Winkel um Vulkan zu zerstören?“
Sohral nickte. „Zufällige Ereignisse haben oft die größte Wirkung.“
Sanawey schüttelte den Kopf. „Hätten wir den Strahl nur um 7,7 Grad abgelenkt...“
„... dann wäre der Strahl am Planeten vorbei gegangen“, ergänzte Sohral den Satz. „Auf der weiteren Linie gibt es nichts, das der Strahl dann hätte treffen können. Und nach weiteren hundert bis einhundertfünfzig Lichtjahren hätte er sich wohl auch aufgelöst.“
„Verdammt“, entfuhr es dem Captain. „Haben wir aber auch ein Pech ausgerechnet Ihren Heimatplaneten zu treffen.“
Sohral zog die rechte Augenbraue hoch. „Zumindest haben Sie nun erkannt welch wichtige Rolle Vulkan in unserem Universum spielt.“
Sanawey sah ihn erstaunt an. War das eben eine ironische Spitze von Sohral?
„Da gibt es noch etwas. Wir sind in dem Moment in unser Universum zurückgekommen, als die Waffe abgefeuert wurde. Würde sie jetzt nicht wieder Vulkan zerstören?“
Sohral sah ihn nachsichtig an. Fast wie ein Lehrer seinen immer wieder fragenden Schüler. „Nein, denn wir wurden ja in dieses alternative Universum gezogen. Dort haben wir den Planeten gerettet. Da dies derselbe Energiestrahl war, denn wir vor Vulkan abgefangen hatten, wiederholen sich genau diese Ereignisse und führen zu dem uns bekannten Ergebnis.“
„Das heißt, diese andere Republic
, erlebt gerade das, was wir erlebt hatten?“ grübelte Sanawey.
„Das kann man so nicht sagen. Diese andere Republic
, wie Sie sie nennen, waren wir. Nur dass wir inzwischen ein halbes Jahr älter sind.“
„Dann würde dieses alternative Universum ja parallel zu unserem bestehen.“
Sohral dachte einen Moment nach. Nicht, um über Sanaweys Aussage nachzudenken. Ihm war völlig verständlich, wie sich die Sache verhielt. Er suchte nur nach einfachen Worten, wie er es auch einem Menschen begreiflich machen konnte. „Dieses Universum war ein Ergebnis der Manipulation der Zeit. Wir haben es zwar erlebt, aber aufgrund unserer Wiederherstellung des Zeitverlaufes hat es nie wirklich existiert.“
„Aber wo ist dann die andere Republic
, die wir gesehen haben?“ blieb Sanawey stur.
„Die ist hier. Das sind wir.“
„Wir sind aber ein halbes Jahr älter, wie Sie schon sagten. Wo ist dieses halbe Jahr?“
„Dieses halbe Jahr existiert nur noch in den gealterten Zellen unserer Körper, den Aufzeichnungen, die wir gemacht haben und in unseren Erinnerungen“, erklärte Sohral geduldig.
„Es sind nur noch Erinnerungen“, wiederholte Sanawey langsam. „Wie ein Traum.“
„Eine ungenaue Beschreibung. Aber wenn es Ihnen hilft es zu verstehen, dann können Sie das vergleichen.“
Die Turbolifttüren öffneten sich und lenkten Sanawey von einer spitzen Bemerkung ab. Er sah wie Lieutenant Paulsen die Brücke betrat, um Reed von seiner Station abzulösen. Reed wirkte seltsam unkonzentriert und niedergeschlagen. Er war der einzige, der nicht erfreut wirkte. Sicher, die letzten Monate hatten sie alle mitgenommen und ihre Spuren an jedem einzelnen hinterlassen. Aber trotzdem war jetzt, da es überstanden war, die Erleichterung bei jedem zu sehen. Nur bei Reed nicht.
Paulsen übernahm seine Kontrollen während Reed ohne einen weiteren Blick zum Captain die Brücke verließ. Er wusste nicht genau, wohin er zuerst gehen sollte. Dann aber entschied er sich, auf der Krankenstation vorbei zu schauen.
Von den beiden Liften, die die Brücke erreichten funktionierte nur noch der rechte. Der andere war aufgrund der Schäden am Schiff außer Betrieb. Auch auf den Gängen waren die Spuren der letzten Kämpfe zu sehen. Deckenplatten fehlten, da diese herabgefallen waren und noch nicht wieder befestigt werden konnten. Risse im Boden und den Wänden, die von den ungeheuren Kräften zeugten, die das Schiff hatte ertragen müssen. Und überall Rauchspuren von den Feuern, die berstende Leitungen ausgelöst hatten. Es gab Bereiche im Schiff, die komplett gesperrt waren. Dort waren die Schäden so groß, dass sie nicht mehr beseitigt werden konnten. Am Rumpf des Schiffes fehlten gar mehrere Sektionen. Reed hatte es noch nicht gesehen, da der Bereich natürlich gesperrt war. Er hatte nur von den Reparaturteams erfahren, dass dort ein kompletter Teil des Schiffes fehlte. Wenn man in diesen Bereichen um eine Gangbiegung gehen würde, konnte es sein, dass man direkt in den Weltraum sah, weil der Gang vor einem, wie das ganze Schiff, plötzlich endete.
Der Weg zur Krankenstation war jedoch frei geräumt worden, so dass Reed ohne Probleme dorthin gelangen konnte. Als er den Lift verließ um dem Gang zur Krankenstation zu folgen, stieß er auf Elane. Er sah sie genauso überrascht an wie sie ihn. Umständlich gingen sie aneinander vorbei. Auf engstem Raum und doch mit größtmöglichem Abstand. Als sie den Lift betrat hielt Reed die Türen offen.
„Elane, ich muss mit dir reden“, sagte er.
Sie sah ihn nur an.
Verdammt, mach es mir nicht so schwer, dachte er. „Es ist wegen deiner Nachricht.“
„Oh“, erwiderte sie. „Ich dachte, ich hätte darin alles gesagt.“
Drake sah sie an. Das konnte nur ein Witz sein. War das eine Erklärung? „Warum?“ brachte er mühsam hervor. „Es lief doch alles gut zwischen uns.“
Sie sah ihn an. Ihre Augen wirkten kalt. Ihnen fehlte das Leuchten der letzten Wochen. „Ich habe es dir gesagt. Ich bin mir meiner Gefühle nicht sicher. Ja, es lief gut. Und es waren tolle Wochen, ehrlich. Ich möchte sie nicht missen. Aber es ist nur fair dir gegenüber, wenn ich das erst mit mir selber regele.“
„Fair?“ wiederholte er ungläubig.
„Drake, ich muss weiter“, drängte sie ihn zurück. „Wir sehen uns.“
Damit schlossen sich die Lifttüren und ließen Drake fassungslos zurück. Sie meinte es tatsächlich ernst. Er konnte es einfach nicht glauben. Und schon gar nicht verstehen. Er meinte zu spüren, wie sein Herz zerbrach und ihm beinahe die Luft zum Atmen nahm.
Sein Besuch bei Elizabeth musste warten. Er konnte die Ärztin jetzt nicht besuchen. Er wollte nur noch zurück in sein Quartier.
„Hey, Drake“, sagte eine Stimme hinter ihm, bevor er auch nur einen Schritt machen konnte.
Langsam wandte er sich um. „Hallo Elizabeth“, antwortete er matt.
Sie sah ihn erschrocken an, als sie ihn so sah. „Drake. Was ist mir dir?“
Er öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Also schüttelte er nur niedergeschlagen den Kopf.
„Du kommst jetzt erst einmal mit mir.“ Sie packte ihn beim Arm und zog ihn mit sich. So brachte sie ihn widerstandslos in ihr Büro, das direkt an die Krankenstation grenzte.
Nur mühsam brachte sie ihn dazu zu erzählen, was geschehen war. Er berichtete ihr von Elanes Nachricht und ihrem Zusammentreffen gerade eben. Die Ärztin war schockiert, als sie alles gehört hatte.
„Das glaube ich nicht. Sie machte gar nicht den Eindruck, als ob sie so hart sein könnte“, sagte sie langsam. Sie war einerseits schockiert, andererseits wusste sie nicht, was sie davon halten sollte. Immerhin kannte sie nur Drakes Sicht der Dinge, auch wenn sein Gesicht Bände sprach.
„Ich könnte sie zu Dr. Bozman schicken“, schlug Elizabeth nicht ganz ernst gemeint vor.
Drake winkte ab. „Nein, lass mal gut sein.“
Sie sah ihn nachdenklich an. „Weißt du, ich habe mir diesen Moment früher gerne vorgestellt. Wie du, der große Drake Reed, endlich auch mal am Boden zerstört bist. Du hattest mir damals, wie vielen anderen Frauen auch, ganz schön wehgetan. Nur ist das vorbei und vergessen. Und wenn ich dich so sehe, dann bin ich alles andere als glücklich.“
„Es tut mir leid, was damals passiert ist“, sagte er leise.
Sie nickte. „Ich weiß.“ Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich. „Gib ihr Zeit. Vielleicht waren die Ereignisse einfach nur zu viel für sie. Vielleicht bekommt sie es wieder auf die Reihe und ihr werdet doch noch glücklich zusammen. Und wenn nicht, dann vergiss sie. Dann ist sie es nicht wert. Und auch wenn du es jetzt nicht glauben kannst, du wirst darüber hinweg kommen. Glaub mir.“
Er nickte einfach nur. Dann schlich er wie ein geprügelter Hund davon. Sie sah ihm nach. Gerne hätte sie ihn noch etwas aufgemuntert, aber ihr fiel nichts mehr ein. Damit musste er alleine fertig werden.
Seufzend wandte sie sich um. Sie hatte noch etwas zu erledigen. Einen Punkt, den sie seit fast einem halben Jahr vor sich her schob. Jetzt aber ging das nicht mehr. Daher setzte sie sich an ihren Bildschirm und rief die Todesurkunde für George Real auf. Seit einem halben Jahr lag er nun schon in der Stasiskammer. Nun, da sie bald zuhause ankommen würden, musste sie alles für die Überstellung vorbereiten. Und für die offiziellen Akten.
Es war seltsam, nach so langer Zeit. Auch wenn sie ihn alle immer noch vermissten, so war es doch inzwischen ganz normal geworden, dass er nicht mehr da war. Das Leben ging weiter, weil es das auch musste. Sie kam sich fast ein bisschen schuldig dabei vor.
Sie schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken los zu werden. Dann machte sie sich an die Arbeit.
Mit vor Aufregung zitternden Händen ging Droga langsamen Schrittes zur Ratsversammlung. Es war die erste Sitzung seit der Wiedereinsetzung des Rates. Und er war zum Vorsitzenden ernannt worden. Als Anerkenntnis seiner steten Bemühungen um ein friedliches Zusammenleben aller Xindi-Völker.
Als er vor zwei Wochen den Sektor 859J erreicht hatte, hatte er nichts vorgefunden. Nur enorme Strahlungsrückstände, die er sich nicht erklären konnte. Und die Warpsignatur eines Föderationsschiffes. Sein erster Gedanke war, dass es dort einen Kampf gegeben hatte. Dies schien seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Ein Krieg zwischen den Xindi und der Föderation schien damit unausweichlich zu sein. Wenn die Reptilianer ein Schiff der Sternenflotte zerstört hatten, dann hatten sie ihren Krieg erreicht, in dem sie die Erde zerstören konnten.
Aber irgendwie passten die Strahlungsrückstände nicht zu der Warpspur. Die wenigen Trümmer waren auch nicht von einem Föderationsschiff. Sie waren aber auch von keinem Schiff der Reptilianer noch irgendeiner anderen Xindi-Rasse. Daher tat er das einzige, was ihm einfiel. Er folgte der Warpspur. Und traf nur wenig später auf ein langsames und schwer beschädigtes Föderationsschiff. Nach kurzem Zögern hatte er es gerufen. Was er aus der kurzen Unterhaltung mit dem Captain erfahren hatte, hatte seine Befürchtungen noch übertroffen. Und seinen Verdacht gegen die Reptilianer bestätigt.
Die Daten, die er von der Republic
erhalten hatte, hatte er genutzt um seine Anschuldigungen gegen Lerak zu untermauern. Die anderen Xindi-Völker waren über den Versuch der Reptilianer, die Herrschaft über alle Xindi zu erlangen, nicht gerade begeistert gewesen. Allen voran die Aquarianer waren rasend vor Wut gewesen. Sie schickten ihre Flotte zum Heimatplaneten der Reptilianer und ließen Lerak und seine Verbündeten verhaften.
Die Reptilianer leisteten kaum Widerstand. Sie waren der Streitmacht der Aquarianer nicht gewachsen. Diese Wasserwesen verfügten über die größten und stärksten Schiffe innerhalb der Xindi-Allianz. Es war nur bedauerlich, dass sie sich so selten in die Belange der Xindi einmischten und meist sehr zurückgezogen lebten. Sie wären ein Garant für Stabilität innerhalb der Xindi-Union gewesen.
Droga hoffte einfach, dass sich das für die Zukunft ändern ließe. Die Wiedereinsetzung des Rates gab ihm neue Hoffnung. Hoffnung darauf, dass die Xindi, trotz all ihrer Differenzen und Unterschiede doch noch eine gemeinsame, friedliche Zukunft hatten.
Wehmütig stand Sanawey auf der Brücke der Republic
. Außer ihm hielt sich niemand dort auf. Es arbeiteten auch keine Instrumente, keine Computer. Das Pulsieren von Lichtern fehlte, die Geräusche der Maschinen. Es war, als wäre kein Leben mehr in dem Schiff. Als hätte es sein Leben ausgehaucht.
Die Republic
lag fest verankert an ihrem Liegeplatz in der großen Raumstation, die um die Erde kreiste. Es war bereits zwei Wochen her, seit sie die Erde erreicht hatten. Es war so ein befreiendes Gefühl gewesen, als sie ihre Erde, die richtige Erde, wieder gesehen hatten. Erst jetzt konnten sie wirklich akzeptieren, dass sie ihre Zeitlinie wieder hergestellt hatten.
Seitdem war einiges geschehen. Die beiden Wochen waren wie im Flug vergangen. Natürlich hatte er dem Sternenflottenkommando ausführlichst berichten müssen, was geschehen war. Die Admiräle waren äußerst interessiert daran, zu erfahren, wie dieses andere Universum ausgesehen hatte. Es würde den Forschern auf Jahre hin Arbeit bescheren, alle Daten auszuwerten und die Bedeutung der Geschehnisse zu untersuchen. Und natürlich würde auch ganz genau untersucht werden, ob der Zeitverlauf wirklich wieder hergestellt war oder ob es irgendwelche Diskrepanzen zwischen der aufgezeichneten Historie der Erde und den Daten der Republic
geben würde.
Sanawey interessierten diese Details nicht. Er hatte das andere Universum erlebt. Und war froh, dass es überstanden war. Details daraus interessierten ihn nicht. Ebenso war er überzeugt, dass der Zeitverlauf wieder stimmte. Sollten sich die Forscher in Kleinigkeiten verlieren.
Mit den Technikern hatte er in den vergangenen beiden Wochen auch noch über den Zeitplan für die Reparatur des Schiffes gestritten. Auf keinen Fall wollte er, dass es wieder ein Jahr dauern würde. Er wollte so schnell wie möglich wieder ins All hinaus. Die Antworten waren jedoch alles andere als zufriedenstellend gewesen.
Und natürlich hatte er auch die unangenehme Aufgabe, die Angehörigen der bei dieser Mission verstorbenen Crewmitglieder zu informieren. Was nicht gerade einfach war. Zum einen, da dies nie einfach war, zum anderen, da er es den Angehörigen so verständlich wie möglich ausdrücken musste. Zu sagen, dass jemand in einem Kampf mit einem bestimmten Gegner gefallen war, war eine Sache. Zu erklären, dass dies aber beim Kampf mit Menschen geschah, in einer anderen Zeitlinie, das machte die Sache nicht einfacher.
Heute Vormittag hatte er die Eltern von George Real aufgesucht. Es war sein letzter Besuch dieser Art gewesen. Und auch sein schwerster. Wohl auch deshalb, weil er Real gut gekannt hatte und täglich mit ihm zu tun gehabt hatte. Danach hatte er den Wunsch gehabt auf sein Schiff zurückzukehren. Auch wenn er momentan alleine an Bord war. Die Crew war in Ausweichquartieren untergebracht.
Die Lifttüren öffneten sich und Sohral trat ein. Er stellte sich neben den Captain und betrachtete mit ihm einige Augenblicke schweigend die Brücke.
„Sie war ein gutes Schiff, die Republic
“, sagte Sanawey schließlich und sah dann Sohral an. „Ich habe vor einigen Minuten erfahren, dass man das Schiff nicht mehr reparieren wird.“
„Eine nachvollziehbare Entscheidung, wenn man die Schäden bedenkt“, erwiderte der Vulkanier sachlich.
Sanaweys Blick ging wieder über die Brücke. „Ja, vermutlich. Aber ich werde sie vermissen.“
„Es war nicht Ihr erstes Schiff, über das Sie das Kommando hatten?“ Es klang mehr wie eine Feststellung, denn einer Frage.
„Das ist richtig“, bestätigte Sanawey. „Aber das andere Schiff war wesentlich kleiner gewesen. Und ich hatte das Kommando nur während eines Kampfes inne, nachdem der Captain getötet worden war. Das Schiff wurde dabei zerstört.“
„Aber die Crew gerettet“, wusste Sohral Bescheid.
„Ich hatte Glück. So wie dieses Mal“, sagte Sanawey leise.
Nach einer kurzen Pause hielt Sohral seinem Captain ein Datenpad entgegen. „Sie baten um Informationen zu T’Lor und Lorat. Ich habe die vulkanischen Datenbanken durchgesehen und etwas gefunden. Demnach wurde ihr Schiff dreihundert Jahre nach dem Start von einem vulkanischen Forschungsschiff gefunden. Sie waren gerade auf dem Rückweg nach Vulkan. Die Technik hatte sich auf meinem Planeten aber inzwischen soweit weiter entwickelt, dass Reisen schneller als das Licht möglich waren, so dass ihr Schläferschiff abgefangen wurde. Die Crew wurde zurück nach Vulkan gebracht. Allerdings waren ihre Forschungsergebnisse dort nicht mehr von Relevanz. Die Vulkanier hatten inzwischen zahlreiche Planeten besucht und mit Andoria und Riegel sogar zwei Planeten mit intelligentem Leben gefunden, auch wenn kein Kontakt zu den Bewohnern hergestellt worden war.
Die Crew des Schläferschiffes hatte Probleme sich an die vulkanische Kultur anzupassen. Die Vulkanier lebten inzwischen nach Suraks Lehren und hatten ihre Gefühle kontrolliert. Die Neuankömmlinge stammten aus einer früheren Epoche. Die wenigsten von ihnen schafften es, sich anzupassen. Sie verließen nach wenigen Jahren Vulkan wieder. Lorat war einer von ihnen. Was aus ihnen geworden ist, ist unbekannt.
T’Lor blieb auf Vulkan. Aber auch er schaffte es nie, sich vollständig anzupassen. Er nahm sich zehn Jahre nach der Rückkehr das Leben.“
Sanawey hielt nachdenklich das Datenpad in der Hand. „Damit verlief deren Leben nicht gerade besser, als im anderen Universum. Ob es jemanden gibt, dem es hier genauso gut geht, wie dort?“
Sohral sah ihn an, sagte aber nichts. Er vermutete, der Captain würde von selbst weiter reden. Und er täuschte sich nicht.
„Ich habe auch ein paar Nachforschungen angestellt“, sagte Sanawey. „Es gibt in dieser Zeitlinie niemanden, der auf die Beschreibung von Senator Oket oder irgendeines anderen Kolonisten passt. Leider wissen wir zu wenig über die einzelnen Personen, um festzustellen, ab wann die Familienstammbäume auseinanderlaufen. Welche Vorfahren sich nicht getroffen hatten.
Die einzige Person, die ich ausfindig machen konnte, war ein Mann nahmen Everson. Er sieht dem General auch exakt gleich. Er lebt auf Drelon 3, einer Kolonie am Rande der Föderation. Er hat keine Arbeit und ist Alkoholiker. Laut seiner Ärzte wird er nicht mehr sehr lange zu leben haben.“
„Faszinierend. Offenbar gibt es Personen, die mit einzelnen Gesellschaftsformen besser zurecht kommen als mit anderen. Es wäre interessant das genauer zu untersuchen.“
Sanawey lächelte. „Das können Sie gerne tun. Vielleicht haben Sie ja jetzt die Zeit dazu, wenn die Sternenflotte jedem von uns neue Aufgaben zuteilt.“
„Werden Sie ein neues Kommando annehmen?“ wollte Sohral wissen.
„Ich weiß es noch nicht“, gab Sanawey offen zu. „Ich weiß auch noch nicht, ob sie mir eines anbieten. Eigentlich gab es in letzter Zeit etwas zuviel Aufregung für einen alten Mann wie mich. Aber so richtig wohl fühle ich mich eben nur zwischen den Sternen.“ Er machte eine kurze Pause. „Die Entscheidung wird wohl noch ein wenig Zeit haben.
Kommen Sie heute Abend auch zu der Gedenkveranstaltung?“ Im Hauptquartier der Sternenflotte gab es eine zentrale Trauerfeier für Captain Spock, der bei der letzten Mission der Enterprise
getötet worden war.
„Ich werde da sein“, gab Sohral als Antwort.
„Ist schon eigenartig. Dieser Khan, der die Enterprise
angegriffen hatte, war vor Jahren auf Ceti Alpha 5 verbannt worden. Auf den Nachbarplaneten, auf dem wir die Kolonie gefunden haben.“
Sohral wollte eine logische Erklärung dafür abgeben, merkte dann aber, dass der Captain dafür nicht in Stimmung war. Daher sagte er nur: „Manchmal gibt es eigenartige Zufälle.“
Sanawey nickte.
Als Sohral sich dem Lift zuwandte, blieb er noch einen Moment stehen. „Captain?“
Sanawey blickte auf. „Ja, ich komme.“ Er betrat mit Sohral den Lift. Bevor sich die Lifttüren schlossen warf er noch einen letzten Blick zurück auf nun vollkommen leere Kommandobrücke.
Das Ende der Zukunft
Teil 3
Am seidenen Faden
EINS
„Captain, die Wissenschaftsabteilung meldet, dass die Kartographierung des Sektor abgeschlossen ist“, gab Lieutenant Commander Drake Reed die auf seiner Konsole eingehenden Daten weiter. Dann wandte er sich um, um weitere Befehle abzuwarten.
Der Captain sah ihn für einen Moment aus seinen grauen Augen an. Der Mann war etwas über sechzig und sein schmales Gesicht bereits von Falten übersät. Seine grauen Haare bildeten einen schmalen Haarkranz um seinen sonst kahlen Kopf. Das fliehende Kinn hatte er mit einem Bart kaschiert, der inzwischen von einzelnen grauen Haaren durchzogen war. Und der ihm Reeds Meinung nach auch nicht stand.
„In Ordnung“, nickte der Captain. „Steuermann, setzen Sie Kurs auf den nächsten Sektor. Warp 2“, wies er den Navigator an.
„Aye, Captain“, bestätigte der junge Steuermann und warf Reed dabei einen Blick zu, der eindeutig signalisierte, wie begeistert er von dieser Mission war.
Reed konnte das nachvollziehen. Eine Kartographierungsmission war nicht unbedingt das Spannendste, was einem passieren konnte. Einzig der Transport von Fracht war noch langweiliger. Kartographierungsmissionen waren nur dann wirklich interessant, wenn man das erste Schiff war, das sich ins Unbekannte hinaus wagte. Aber das war hier nicht der Fall. Es waren bereits eine Handvoll Schiffe hier gewesen, die die Besonderheiten schon entdeckt und erkundet hatten. Es war also nichts Unbekanntes mehr hinter der nächsten Kurve zu erwarten. Das nahm der ganzen Mission die Spannung. Es war wie früher auf der Erde. Die Entdecker waren voraus gegangen und hatten das Abenteuer erlebt und den Ruhm geerntet. Für die Nachwelt erfasst und zugänglich gemacht wurden die Regionen aber von den Kartographen, die die Gegend vermessen und aufgezeichnet hatten, so dass detaillierte Karten und Pläne erstellt werden konnten. Eine Notwendigkeit für die weitere Besiedelung. Ruhm und Ehre hatten diese Kartographen aber nie erhalten.
Mit einem leisen Seufzer wandte sich Reed wieder seiner Konsole zu. Er hatte bei dieser Mission so gut wie nichts zu tun. Tagtäglich starrte er auf die Daten, die vor ihm angezeigt wurden, doch nie tat sich etwas. Es gab nichts ungewöhnliches dort draußen, nichts, das einen Ausschlag bei den Sensorendaten ergeben hätte. Es war eine ziemlich eintönige Routine.
Seit etwas mehr als einem halben Jahr machte er das nun mit. Seit er vom Kommando der Sternenflotte auf die USS Lexington
versetzt worden war. Das war wenige Tage nach der Entscheidung gewesen, die Republic
nicht mehr zu reparieren sondern stattdessen zu verschrotten. Eine Reparatur hatte sich für das alte Schiff nicht mehr gelohnt. Zu groß waren die Schäden gewesen, die das Schiff erlitten hatte.
Reed hatte sich nicht gegen die Versetzung gewehrt. Wozu auch? Er war ein Offizier der Sternenflotte. Einer militärischen Einrichtung. Wo er seinen Dienst zu leisten hatte wurde an anderer Stelle entschieden. Er hatte zu gehorchen und die Befehle zu befolgen. Und da es sein altes Schiff nicht mehr gab, musste die gesamte Crew auf andere Schiffe verteilt werden. Ihn hatte es dann eben hierher verschlagen.
Und zu Beginn hatte er sich auch direkt auf eine eintönige Mission gefreut. Denn nach den letzten, dramatischen Missionen der Republic
hatte er sich auf ein wenig Routine gefreut. Auch mit dem Hintergedanken, dass diese Routine ihn ablenkte und auf andere Gedanken brachte. Denn auch wenn bereits ein halbes Jahr vergangen war, noch immer drehten sich seine Gedanken viel zu oft um Elane Watts. Er vermisste sie noch immer und es verging kaum eine Nacht, in der er nicht von ihr träumte. Und noch immer verstand er nicht, was vorgefallen war, warum er sie verloren hatte. Zwar hatte er alle paar Wochen Kontakt mit ihr, aber dann ging es immer nur um ganz allgemeine Dinge, wie die Eingewöhnungsphase an die jeweilige neue Crew, die Missionen oder den Austausch von neuen Erkenntnissen, wenn sie mal wieder einen Film gesehen hatte, welche er ihr regelmäßig schickte. Sie wirkte dabei auch immer so wunderbar fröhlich und entspannt wie früher. Es war lustig sich mit ihr zu unterhalten und tat so gut. Doch jedes Mal, wenn er versuchte persönlicher zu werden, blockte sie ab. Und nach jedem dieser Gespräche ging es ihm wieder schlechter als zuvor. Das Gefühl, das einzig sinnvolle im Leben verloren zu haben, nagte dann noch mehr an ihm. Wie gerne hätte er sie noch mal in den Arm genommen. Wenigstens noch einmal. Die Sehnsucht nach ihr war nach den Gesprächen jedes Mal so groß, dass er meinte, von ihr verbrannt zu werden. Sicher, irgendwann würden die Gefühle für sie vorüber gehen, das wusste er. Doch wartete er schon seit mehr als einem halben Jahr vergebens darauf.
Noch immer hatte er Elizabeths aufmunternde Worte im Kopf. Gib ihr Zeit. Vielleicht waren die Ereignisse einfach nur zuviel für sie. Vielleicht bekommt sie es wieder auf die Reihe und ihr werdet doch noch glücklich und alt zusammen. Und wenn nicht, dann vergiss‘ sie. Dann ist sie es nicht wert. Und auch wenn du es jetzt nicht glauben kannst, du wirst darüber hinweg kommen
. Doch weder war das eine eingetreten, noch das andere. Gerne hätte er sie gefragt, wie lange er denn noch würde warten müssen. Nur ging das nicht so einfach. Elizabeth war noch immer auf der Erde, hatte fünf Wochen im Medical Center gearbeitet und war nun unterwegs, um sich selbst zu finden. Nur selten hatten sie Kontakt zueinander.
Er vermisste Elizabeth schrecklich. Gerade jetzt. Wie gerne hätte er sie jetzt an seiner Seite gewusst. Niemals hätte er gedacht, dass sich eine so tolle Freundschaft mit ihr entwickeln würde. Ausgerechnet mit ihr, einer einstigen Affäre von ihm. Liebe würde er alle seine Frauengeschichten von früher nicht mehr nennen, seit er erfahren hatte, was Liebe wirklich bedeutet. Und mit Elizabeth wusste er nun, was wahre Freundschaft bedeutete. Sie war immer für ihn da, wenn er sie brauchte. Sie wusste auch meistens, wie sie ihn wieder aufbauen konnte. Und wenn es nur durch eine Umarmung war. Doch jetzt war sie Lichtjahre weit weg.
Genau wie alle seine Freunde. Außer ihm war niemand sonst aus der ehemaligen Republic
-Crew auf die Lexington
versetzt worden. Zwar hatte er auch hier schon Kontakte geknüpft, aber wirkliche Freundschaften waren das nicht. Dazu war er auch einfach nicht in der Stimmung. Denn jedes Mal, wenn er etwas sah oder sich mit jemandem unterhielt, fragte er sich, was wohl Elane dazu sagen würde. Und dann verlor er jegliches weiteres Interesse daran. Was den Aufbau von Freundschaften erheblich erschwerte.
Sein zurückhaltendes Auftreten hatte auch schon für einige Verwunderung auf dem Schiff gesorgt. Denn natürlich war ihm sein Ruf als Draufgänger und Frauenheld vorausgeeilt. Und nun benahm er sich so gar nicht, wie alle erwartet oder auch befürchtet hatten. Meist verbrachte er recht wortkarg seinen Dienst, ging danach in sein Quartier und versuchte, irgendetwas sinnvolles mit seiner Freizeit anzufangen, wie etwa lesen, sich fortbilden oder Jogaübungen, die er seit einiger Zeit ausprobierte. Nur selten ließ er sich auf dem Freizeitdeck blicken. Terminen mit dem Bordpsychologen ging er ganz aus dem Weg. Er wollte mit niemandem über die Erlebnisse der letzten Mission reden. Denn dann hätte er sich vor einer fremden Person mit seiner Beziehung zu Elane auseinandersetzen müssen. Und danach stand ihm ganz bestimmt nicht der Sinn. Und da er seine Arbeit ohne Grund zu Beanstandungen verrichtete, gab es auch keine Veranlassung für seine Vorgesetzten, ihn zu einem Gespräch zu zwingen.
„Captain, wir werden den nächsten Sektor in ungefähr einer Stunde erreicht haben“, kam die Information des Navigators.
„Danke, Steuermann. Lieutenant, scannen Sie den Bereich sobald wir in Sensorenreichweite sind. Ich will keine unliebsamen Überraschungen erleben.“
„Aye, Sir“, bestätigte Reed artig. Und im Gegensatz zum Steuermann Barrow hoffte er, wie der Captain auch, dass es keine Überraschungen gab. Zwar hätte das sicherlich eine Abwechslung von der Routine bedeutet, doch darauf war Reed im Moment nichts besonders versessen. Er fand die Routine ganz gut. So musste er einfach nur noch funktionieren, ohne dabei zu denken. Sie nebelte das Gehirn ein und sorgte dafür, dass es seine Leistung zurückfuhr und damit auch nicht mehr so viel über andere Dinge nachdachte. Es stumpfte ab und ließ einen gleichgültiger werden. Genau das, was er wollte.
Einzig bei dem Gedanken an Elane funktionierte es nicht. Sie war ständig bei ihm. Sie spukte in seinen Gedanken herum wie ein Albtraum, den man nicht mehr loswurde. Und das Schlimmste war, er wusste, dass es ihr nicht so ging. Sie vermisste ihn kein bisschen. Es hätte ihn vielleicht ein wenig getröstet, wenn sie ähnlich leiden würde wie er. Aber das tat sie nicht, dessen war er sich überdeutlich bewusst.
Und immer wieder kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht ausgleichende Gerechtigkeit war. Dafür, dass er früher bei vielen Frauen genau diesen Effekt hervorgerufen hatte. Und dass ihn das auch nie gestört hatte. Und nun stand er einmal auf der anderen Seite. Er erlebte das, was er anderen immer zugemutet hatte. Es war die Hölle für ihn. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte und was er dagegen machen konnte. Und irgendwie konnte er plötzlich verstehen, warum es Menschen gab, die sich nach einer Trennung das Leben nahmen. Nicht jeder konnte mit all dieser Trostlosigkeit und der Leere umgehen, die einen dann erfasste. Er fragte sich, wie die Menschheit bei solchen Gefühlen überhaupt hatte überleben können. Nicht dass er jetzt sterben wollte. Aber es erschien ihm alles irgendwie sinnlos.
Und dieses verdammte Sprichwort über die Zeit, die alle Wunden heilt, hatte auch unrecht. Die Zeit mochte viele Wunden heilen, aber nicht alle. Es gab Wunden, die würden nie ganz verheilen. Dies war so eine, da war er sich sicher. Und außerdem gab es auch noch das Sprichwort wonach die Liebe mit der Entfernung wachsen würde. Und Elane war Lichtjahre entfernt.
Wie sollte er sich jemals wieder verlieben können, wenn sie ihm ständig durch den Kopf ging? Sein Herz gehörte immer noch ihr, er wollte keine andere. Er wollte nur sie. Obwohl er sich dessen nach diesen Monaten des Zweifels und des Kummers auch nicht mehr sicher war. Sicher, sein Herz gehörte immer noch ihr, aber zurück wollte er sie dann wohl doch nicht mehr. Wie sollte er ihr je wieder Vertrauen können, nach allem, was passiert war? Es war einfach zu viel zwischen ihnen kaputt gegangen. Trotzdem war er sich nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn sie wirklich wieder vor seiner Türe stehen würde.
Es war ein verwirrender Widerspruch. So verwirrend, wie nur die Liebe sein konnte. Und so unlogisch, dass es kaum zu erfassen war. Kein Wunder, dass die Vulkanier ihre Gefühle unterdrückten.
Eigentlich wollte er nur, dass das letzte halbe Jahr nie passiert wäre. Dass er aus einem furchtbaren Albtraum aufwachte und sie neben ihm lag. Oder ging es am Ende vielleicht gar nicht mehr um Elane? Ging es nur um die Gefühle, die er während dieser Zeit empfunden hatte? Um das Glück, das er gespürt hatte? Es war eine emotional tolle Zeit gewesen. Ein Ausnahmezustand der Gefühle. Ein halbes Jahr voller Zuversicht, Euphorie, durchgehend guter Laune. Er glaubte, in seinem ganzen Leben noch nie so viel gelacht zu haben. Und er war noch nie ein Kind von Traurigkeit gewesen. Er hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, alles schaffen zu können. Mit jemandem an der Seite, der ihn verstand, der genauso dachte, genauso fühlte, genauso tickte. Er hatte das Gefühl gehabt, mit ihr alles viel intensiver erlebt zu haben. Als ob die Farben des Universums viel kräftiger und fröhlicher gewesen wären, Musik melodischer und in jeder Berührung ein ganz besonderen Zauber innegewohnt hätte.
Jetzt hatte alles seinen Glanz verloren. Und alles war nur noch grau. Grau, uninteressant und ohne jede Bedeutung. Musik war wieder nur Musik und Berührungen hatten ihre Zauberkraft verloren. Er hatte auch keine Hoffnung darauf, dass sich das jemals wieder ändern würde. Es hatte sich das letzte halbe Jahr nicht geändert, warum sollte es sich dann in Zukunft ändern? Es konnte sich nicht mehr ändern. Er hatte das Paradies gesehen und war dann verbannt worden. Es konnte nie mehr so werden wie mit Elane.
Eine aufblinkende Anzeige unterbrach seine kreisenden Gedanken. Und wieder einmal musste er feststellen, dass Routine die verwirrende Denkleistung seines Gehirns auf keinen Fall verminderte. Auch wenn er diese Selbstlüge manchmal sogar glaubte.
„Captain, die Sensoren haben den vor uns liegenden Sektor gescannt. Es handelt sich um ein Sternensystem des Typs G. Ein roter Riese mit drei umkreisenden Planten“, meldete er die angezeigten Daten.
Der Captain nickte. Da Reeds Konsole vor dem Kommandosessel lag, und er dem Captain somit den Rücken zukehrte, konnte Reed diese Reaktion nicht sehen und verharrte in Erwartung weiterer Instruktionen
„Informieren Sie das Kartographierungsteam, sobald wir unter Warp gegangen sind“, befahl ihm der Captain schließlich.
„Ja, Sir“, bestätigte Reed und gab alles, um sich auf seine Daten zu konzentrieren. Auf keinen Fall wollte er wieder ins Grübeln kommen. Nicht schon wieder.
Müde saß Droga auf seinem Stuhl. Es fiel ihm schwer, sich auf die laufende Diskussion zu konzentrieren. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er konnte einfach nicht mehr zuhören. Sie kauten immer und immer wieder dieselben Themen durch. Und es waren immer die gleichen Argumente, die dabei ausgetauscht wurden. Es war einfach ermüdend, denn sie kamen keinen Schritt weiter und drehten sich nur im Kreis. War er zu Beginn noch mit Elan dabei gewesen, so war davon nicht mehr viel übrig.
Dies war bereits die dritte Sitzung diese Woche. Und die Woche war erst zur Hälfte um. Normalerweise traf sich der Rat einmal in der Woche, um die Angelegenheiten zu besprechen, die alle Xindi-Rassen betrafen. Dafür war der Rat eingesetzt worden. Dafür hatten alle fünf Xindi-Rassen Vertreter in den Rat geschickt. Und doch waren die Beschlüsse, die dieser Rat traf, nichts anderes als nur Empfehlungen. Empfehlungen, die bei den jeweiligen Regierungen nochmals diskutiert wurden und dort auch nicht immer auf Zustimmung stießen.
Als der Rat vor einem halben Jahr nach einigen Wochen Pause wieder in Kraft gesetzt worden war, hatte es sehr viele Treffen gegeben. Zwangsläufig. Durch die Alleingänge der Reptilianer und der Insektoiden und dem damit einhergehenden Verrat am Rest der Xindi, hatten viele Themen aufgearbeitet werden müssen. Dabei galt es eine Gratwanderung vorzunehmen, von der Droga hoffte, so etwas nie wieder machen zu müssen. Denn auf der einen Seite galt es die Reptilianer und die Insektoiden zu bestrafen, auf der anderen Seite durfte deshalb eine weitere Zusammenarbeit nicht unmöglich werden. Die beiden Rassen durften nicht so gedemütigt werden, dass sie jegliche Kooperation einstellten. Doch weder Droga noch seine beiden Kollegen der Arboreale und der Aquarianer konnten sich dazu durchringen, die Übeltäter unbestraft zu lassen.
Mit den Beweisen, die Droga von der USS Republic
erhalten hatte, konnten sie das Vorhaben der Reptilianer, die Xindi zu beherrschen, darlegen. Ein Beweis, der alle Ratsmitglieder schockierte, hatten die Reptilianer doch angekündigt, nur die Erde vernichten zu wollen. Dass sie mit demselben Streich auch gleich die Herrschaft an sich reißen wollten, hatte niemand vermutet. Selbst die Insektoiden waren mehr als überrascht gewesen, hatten sie doch den Reptilianern beim Bau der Waffe geholfen. Als ihnen der Verrat, dem sie aufgesessen waren, bewusst wurde, stellten sie sich auch nicht mehr gegen eine Bestrafung der Reptilianer.
Lerak, das ehemalige Ratsmitglied der Reptilianer, saß in Haft. Ebenso seine engsten Mitarbeiter. Sie waren gefasst worden, als sie ihren Zeitbunker verlassen hatten, in dem Glauben, die Zeitlinie verändert zu haben. Entsprechend groß war die Überraschung gewesen, als sie von Soldaten aller vier Xindi-Rassen empfangen wurden. Die Regierung der Reptilianer war ebenfalls festgenommen und inhaftiert worden. Zwar beteuerten sie, nichts von den Plänen Leraks gewusst zu haben, doch war das ziemlich unglaubwürdig. Sie würden mit harten Strafen rechnen müssen bis hin zur Todesstrafe.
Seitdem hatten sich die Wogen wieder etwas geglättet. Es war wieder ruhiger geworden in der Xindi-Allianz. Die Reptilianer waren durch die verhängten Strafen erst einmal ruhig gestellt worden. Beobachter aller Xindi-Rassen waren inzwischen in allen Bereichen der Reptilianer vertreten, besonders in der Regierung und beim Militär. So konnte nichts mehr geschehen, ohne dass der Rest der Allianz davon erfuhr. Zwar hatten die Reptilianer heftig dagegen protestiert, doch letztlich war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als das zu akzeptieren. Selbst sie waren nicht stark genug, um gegen alle anderen Xindi alleine bestehen zu können.
Nun galt es die nächsten Schritte anzugehen. Die Geschehnisse boten auch die Chance auf Veränderungen. Denn der Verrat durch die Reptilianer und deren Versuch, die Macht an sich zu reißen, hatte die Xindi wieder etwas enger zusammenrücken lassen. Den anderen vier Spezies war bewusst geworden, dass sie einander nicht ignorieren durften, wenn ähnliche Ereignisse in der Zukunft vermieden werden sollten. Eine Erkenntnis, die Droga mit Freude aufnahm. Schien er sich seinem Ziel, die Xindi zu einen, nun doch einen Schritt näher gekommen zu sein. Zu seinem Bedauern blieb ihm nicht mehr genug Zeit, sein Ziel weiter voranzutreiben, bevor die Xindi Kontakt zu anderen Großmächten herstellten. Die Ereignisse hatten seine Pläne über den Haufen geworfen. Der Kontakt zur Föderation war schon hergestellt, nun galt es hier am Ball zu bleiben. Die Chance war günstig. Und vielleicht einte die Erkenntnis, dass man es plötzlich mit einer anderen Großmacht zu tun hatte, die Xindi noch mehr als er je gedacht hätte.
Und darüber wurde nun schon seit Stunden diskutiert. In welcher Form sollte die diplomatische Kontaktaufnahme erfolgen? Wer würde der Vertreter der Xindi sein? Sollte es von jeder Rasse einen geben oder einen gemeinsamen? Und sie kamen seit Stunden keinen Schritt voran. Ebenso wenig, wie in dem zweiten Punkt, der zur Debatte stand. Das seit hundert Jahren andauernde Experiment der Insektoiden, das ebenfalls vor einem halben Jahr bekannt geworden war. Die Insektoiden hatten einst einen eigenen Plan zur Vernichtung der Erde erstellt. Sie hatten die Erde militärisch erobern wollen. Um aber selbst nicht in die Schusslinie zu geraten, hatten sie sich eine Rasse aus Kriegern erschaffen. Dazu hatten sie die DNA der Adrac, einer nicht sonderlich intelligenten und unterentwickelten Rasse, mit Xindi-DNA vermischt. Das Ergebnis waren Krieger, die die Stärke der Reptilianer hatten, die Sehkraft der Insektoiden und das technische Verständnis der Primaten. Deren Intelligenz aber gerade so hoch war, dass sie zwar technische Geräte bedienen und auch reparieren konnten, deren Eigeninitiative aber so gering war, dass die Insektoiden sie jederzeit kontrollieren konnten.
Und auch wenn der Plan, mit diesen Kriegern die Erde zu erobern, längst nicht mehr weiterverfolgt worden war, die Adrac waren noch immer da. Und sie eroberten nach und nach Gebiete, die dann unter die Kontrolle der Insektoiden fielen. So war auch deren Interesse, das Ganze zu beenden, relativ gering. Denn neue Gebiete brachten auch neue Ressourcen sowie die Möglichkeit neue Kolonien zu gründen.
Droga hatte dies bereits vor einem halben Jahr mit in den Rat gebracht, war dort aber damit nicht auf Gegenliebe gestoßen. Die Taten der Reptilianer waren viel aktueller und drängender gewesen. Das Adrac-Problem bedrängte die Xindi derzeit nicht. Und da es bereits seit hundert Jahren lief gab es auch keinen Grund zur Eile, das zu ändern. Ebenso der Kontakt zur Föderation. Alles war verschoben und vertagt worden.
Da es nun jedoch sehr ruhig geworden war, hatte Droga beschlossen, es wäre an der Zeit, diese Punkte wieder auf die Tagesordnung zu nehmen. Und so hatte er vor zwei Wochen die Themen wieder angesprochen. Seitdem ging es im Rat hoch her.
Beim Thema Föderation wurde man sich nach langem hin und her sogar noch einig. Es sollte einen diplomatischen Vorstoß geben, mit dem die Beziehungen zu dem Planetenverbund hergestellt werden sollten. Zwar hatte es von Seiten der Reptilianer einige Vorbehalte dagegen gegeben, diese waren jedoch beiseite gefegt worden. Und man hatte beschlossen ein ganzes diplomatisches Korps aufzustellen. So konnte jede Xindi-Spezies einen Vertreter zu den Gesprächen entsenden. Auf diese Weise waren alle Spezies gleichberechtigt und es gab keine Hierarchien, die eine Auf- oder Abwertung bedeutet hätte. Droga war zufrieden damit. Er hatte damit einen kleinen Etappensieg errungen.
Das Adrac-Problem war bei weitem komplizierter. Es waren sich zwar alle einig, dass die Weitergabe von Xindi-DNA inakzeptabel sei und nie wieder vorkommen dürfe. Aber wie nun mit den Adrac umgegangen werden sollte, darüber gingen die Meinungen weit auseinander. Die Insektoiden wollten sie als niedere Kriegerkaste in die Xindi-Kultur integrieren. So könnten sie für zukünftige Konflikte als Kanonenfutter herhalten. Dann müsste kein Xindi mehr sterben. Dies aber wollten die Reptilianer nicht akzeptieren. Sie waren stolz darauf Krieger zu sein und die Speerspitze des Xindi-Militärs zu bilden. Eine neue Kriegerkaste würde ihren Stolz verletzen und sie in ihren Augen zurückstufen. Sie wollten die Adrac als fehlgeschlagenes Experiment vernichten. Jeden Einzelnen. Mit diesem Massenmord waren die Arborealen und die Humanoiden jedoch nicht einverstanden. Der Vorschlag der Arboreale sah vor, den Adrac die Xindi-DNA wieder zu entziehen und sie damit wieder auf den Stand vor der Einmischung der Insektoiden zu bringen. Das wurde jedoch von allen anderen Ratsmitgliedern als nahezu unmöglich und viel zu aufwendig abgelehnt. Droga hatte den Vorschlag gemacht alle Adrac auf ihrem Planeten zu inhaftieren und ihnen die Möglichkeit zur Fortpflanzung zu nehmen. So konnten die Adrac ihr Leben weiterleben und in spätestens weiteren hundert Jahren wäre das Volk dann ausgestorben. Aber wenigstens müsste dann niemand getötet werden. Der Aufwand, alle Adrac dort gefangen zu halten und jeden Fluchtversuch zu verhindern, wäre jedoch enorm gewesen. Somit konnte auch dieser Vorschlag keine Mehrheit auf sich vereinen. Und einzig die Aquarianer hatten bisher noch keinen Vorschlag zur Vorgehensweise vorgelegt.
So kamen sie, trotz täglicher und stundenlanger Diskussion, keinen Schritt weiter. Eine einheitliche Meinung gab es zu nur einem Punkt: die Adrac in die Unabhängigkeit zu entlassen war keine Option. Dieses Volk war ohne die Führung durch die Insektoiden unberechenbar. Zu groß war die Gefahr, dass sie nach einer Unabhängigkeit zu marodierenden Piraten werden würden, die alles und jeden angreifen würden. Auch ihre einstigen Götter. Dieses Risiko wollte niemand eingehen.
Droga rief sich innerlich zur Ordnung und versuchte sich wieder auf das Gesagte zu konzentrieren. Durat, sein Kollege der Arboreale wiederholte zum gefühlten hundertsten Mal die Argumente, warum die Adrac nicht einfach getötet werden konnten. Es waren immer die gleichen Argumente. Wie sie alle hier immer wieder das Gleiche wiederholten. Die Worte kannten sie schon auswendig. Sie drehten sich im Kreis. Es wurde Zeit, dass die Aquarianer endlich Stellung bezogen. Ihre Stimme war nun auschlaggebend. Droga wusste, dass sie sich schwer damit taten, eine Entscheidung zu treffen. Nicht speziell wegen dieses Themas, sie brauchten immer lange, bis sie Beschlüsse fassten. Doch wurde das allmählich Zeit. Sie konnten schließlich nicht ewig diskutieren, während die Aquarianer nur zuhörten und alles ablehnten, was zu dem Thema gesagt wurde.
Als Durat seinen Vortrag beendet hatte, breitete sich Schweigen im Raum aus. Jeder wusste, dass es nichts weiter zu sagen gab. Sie hatten alles gesagt. Jedes weitere Wort wäre nur eine erneute Wiederholung, an der keiner mehr ein Interesse hatte.
Droga stand auf. Seine Knie schmerzten ihn. Dieses lange unbewegliche Sitzen war einfach nichts für ihn. Bevor er etwas sagen konnte, musste er sich noch ein Gähnen unterdrücken. Umständlich hielt er sich die Hand vor den Mund, als wolle er sich an der Oberlippe kratzen. Er hoffte, dass niemand etwas gemerkt hatte. Dann wandte er sich dem Fenster an der Wand zu, hinter dessen Glas der Raum mit Wasser gefüllt war. Der Lebensraum der Wasser-Xindi.
„Es wird Zeit, dass die Aquarianer uns sagen, wie sie zu der Angelegenheit stehen“, sagte er laut und deutlich. „Jeder von uns hat bereits ausführlichst seinen Standpunkt deutlich gemacht“, betonte er und machte dabei eine raumumfassende Bewegung, wobei er das Fenster zum Wasserbecken außen vor ließ. „Die Aquarianer dagegen haben bisher nur alles angehört und abgelehnt. Doch das reicht nicht mehr.“
Die anderen Vertreter murmelten ihre Zustimmung.
Die Augen des Aquarianers verengten sich ein wenig. Er bewegte seinen Kopf langsam hin und her, was aussah, als wollte er den Kopf schütteln. Eine Geste, die den Wasserwesen jedoch nicht eigen war. Dann ertönten die Singlaute, die der Computer sofort übersetzte. „Wir werden in zwei Tagen unsere Entscheidung mitteilen.“ Mit diesen Worten wandte er sich um und schwamm davon.
Droga war etwas verdattert. Die Aquarianer hatten Nerven, die Ratsmitglieder einfach so stehen zu lassen. Das konnten auch nur sie sich leisten. „Ist das alles?“ rief er schließlich, als er seinen ersten Schreck überwunden hatte. „Mehr haben Sie uns nicht zu sagen?“
Doch der Aquarianer reagierte nicht mehr. Er war aus dem sichtbaren Bereich hinausgeschwommen. Und der Nachteil bei den Wasserwesen war, dass man nicht hinterherlaufen konnte. Sie hatten ihren eigenen Lebensraum, der sie von den anderen Xindi trennte. Das machte sie zu Außenseitern. Oder zu etwas besonderem. Je nachdem wen man fragte. Die Aquarianer selbst sahen sich als etwas Besonderes. Und das lebten sie auch ganz offen aus. Wie Droga wieder einmal hatte erfahren müssen.
So blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Sitzung des Rates zu vertagen und zwei weitere Tage zu warten. Der Rat war eine echte Herausforderung an die Geduld.
Als Drake sein Quartier betrat hatte er mal wieder genug vom Tag. Er wollte nur noch duschen, eine Kleinigkeit essen und dann vielleicht noch ein wenig lesen. Und auf jeden Fall früh ins Bett gehen. Seinen Gedanken von heute Morgen, nach dem Dienst auf jeden Fall noch in den Fitnessraum zu gehen, hatte er aufgegeben. Er konnte einfach keine Motivation mehr dafür aufbringen. Diese eintönige Arbeit zog ihn ziemlich nach unten. Aber er hatte es so gewollt. Er durfte sich nicht beschweren.
Das Blinken seines Computers ließ ihn aber erst einmal die Dusche vergessen. Er hatte eine Nachricht bekommen. Und noch bevor er wusste, von wem die Nachricht war, beschleunigte sich sein Herzschlag. Sie würde doch nicht etwa von Elane sein? Zögernd ging er zum Sofa. Eigentlich wollte er sich nicht mehr freuen, wenn er eine Nachricht von ihr bekam. Er wollte das ignorieren und nicht sofort alles stehen und liegen lassen. Er wollte auf Nachrichten von ihr gelassener reagieren können. Es war so frustrierend, ihr nach einem halben Jahr immer noch so hörig zu sein. Zumal es inzwischen länger her war, dass sie sich getrennt hatten, als sie überhaupt zusammen gewesen waren. Trotzdem konnte er nichts dagegen tun. Sein Herz wollte einfach nicht auf seinen Verstand hören. Langsam nahm er sein Datenpad, das ihm Zugang zum Computer gewährte, und rief die Nachricht auf. Der Absender blinkte groß auf und Reed hatte das Gefühl, sein Herz würde einen Schlag aussetzen. Die Botschaft war tatsächlich von Elane. Es war eine aufgezeichnete Videonachricht. Mit leicht zitternden Fingern rief er sie auf.
Auf dem Bildschirm erschien Elane. Sie war so schön, wie er sie in Erinnerung hatte. Oder vielleicht sogar noch schöner. Ihr Gesicht strahlte in den Erfassungsfokus der Kamera. Ihre Augen versprühten dieselbe Energie wie damals, als ihre Beziehung begonnen hatte. Die Magie, die sie umgab, schien wie neu aufgeladen zu sein. Drake hätte ewig dieses Bild anschauen können. Doch der Computer begann die Nachricht abzuspielen.
„Hallo Drake, wie geht es dir?“ begann sie fröhlich. „Mir geht es super. Die Arbeit hier macht mir immer noch richtig viel Spaß. Kaum zu glauben nach einem halben Jahr, oder? Obwohl die Kollegen hier lange nicht so nett sind wie du.“ Sie lachte und um ihren Mund herum bildeten sich kleine Grübchen, die sie noch schöner machten. Dann wurde sie wieder ernst. Leise fuhr sie fort: „Es ist unglaublich, wie die Zeit vergeht. Es ist schon so lange her, seit wir direkt miteinander gesprochen haben. Und diese Videobotschaften sind eben nicht das Gleiche. Hier kann man gar nicht richtig miteinander herumalbern. Ich vermisse die Gespräche und den Spaß mit dir.“ Ihr treuherziger Blick ließ Drake leiden. „Ich hoffe, es ergibt sich bald mal eine Gelegenheit, dass wir uns direkt sprechen. Und vielleicht auch mal wieder treffen können.“ Sie machte eine kurze Pause und sah wie verlegen zur Seite. „Hey, ich habe wieder ein paar Filme von deiner Liste gesehen. Ich muss sagen, Charlie Caplin ist gigantisch. Vor allem, wenn man bedenkt, dass diese Filme zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden sind. Also zu einer Zeit, als die Filmbranche noch in den Kinderschuhen gesteckt hat. Wow. Als nächstes habe ich mir ein paar Filme mit Audrey Hepburn vorgenommen. Oder war‘s die andere? Katharine Hepburn? Wer soll da noch durchblicken, wenn die alle gleich hießen?“ Sie lachte wieder. Dann sah sie ihn schief an. „Denkst du manchmal noch an mich? An unsere Zeit? Hab ich schon mal erwähnt, dass die Zeit mit dir wunderschön war? Es hat gekribbelt und ich hatte Schmetterlinge im Bauch. War ein tolles Gefühl. Das nie wieder gekehrt ist.“ Sie schüttelte wie über sich selbst verwundert den Kopf. „Es ist schön, einen Freund wie dich zu haben. Mit dem man über alles reden kann. Ich bin so froh, dass ich dich habe.“ Sie schwieg wieder einen Moment. „Was macht denn eigentlich dein Vorhaben, regelmäßig schwimmen zu gehen? Du hast mal gesagt, dass du das in deinen Sportplan mit einbauen möchtest, damit du dich nicht mehr so blamierst, wenn wir mal wieder zusammen schwimmen gehen. Gib zu, das hast du nicht gemacht.“ Sie sah ihn spitzbübisch an. Dann war das Lachen einer Frauenstimme hinter ihr zu hören. Elane wandte sich kurz um. „Meine Zimmerkollegin kommt zurück. Ich muss Schluss machen. Melde dich mal. Ich freue mich immer darauf, etwas von dir zu hören. Mach’s gut, bis bald.“ Sie warf ihm noch einen Kuss zu, dann war die Botschaft beendet und der Bildschirm wieder dunkel.
Drake starrte den Monitor noch einige Sekunden an, dann ließ er sich rückwärts auf die Couch fallen, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sein Herz raste und er spürte, wie er einen Kloß im Hals bekam. Seine Sehnsucht nach Elane war mit einem mal wieder größer geworden. Er vermisste die Frau so sehr. Er vermisste ihre verrückte Art, ihre Wärme, ihren Geruch. Und ihre Berührungen, die immer so zärtlich und prickelnd gewesen waren. Er vermisste ihre weichen Lippen, ihre leidenschaftlichen Küsse. Immer wenn er dachte, langsam würde es besser werden kam wieder so ein Rückschlag. Es war furchtbar. Und er litt dabei Höllenqualen. Und nun fragte sie ihn, ob er auch manchmal an sie dachte. Und wie toll die Zeit für sie gewesen war. Das hatte sie noch nie getan. Wollte sie etwa zu ihm zurückkommen? In seinem jetzigen Zustand hätte er sie mit offenen Armen empfangen. Obwohl seine rationalen Gedanken das nicht wahr haben wollten, er würde nicht anders können. Nur, sie hatte auch erwähnt, dass er ein toller Freund sei, einfach nur ein Freund. Das würde sie wohl kaum sagen, wenn sie zu ihm zurück gewollt hätte. Doch seine irrsinnige Hoffnung überlagerte den Gedanken sofort.
Am liebsten hätte er ihr sofort eine Antwort geschickt, doch er konnte sich überhaupt nicht aufraffen. Sein Körper wollte nicht so, wie er wollte. Die seelischen Schmerzen, die er empfand, waren so überwältigend, dass er einfach nichts tun konnte. Er musste hier sitzen bleiben und weiter an Elane denken. Und sich an der Hoffnung festklammern. Mit dem gleichzeitigen Gedanken, dass sich die Hoffnung nur nie erfüllen durfte. Sie würde doch wieder nur mit ihm spielen. Es war zum verrückt werden. Er konnte ohne sie nicht leben. Aber sie offensichtlich nicht mit ihm.
Er würde heute Nacht kein Auge zubekommen, dessen war er sich sicher. Er würde es jetzt noch nicht einmal mehr unter die Dusche schaffen. Genaugenommen wollte er sich nur noch die Decke über den Kopf ziehen und nichts mehr von der Welt wissen.
Kasaja Holgrem stand alleine in einem völlig dunklen Raum. Ihre Hände hielten das Phasergewehr fest umklammert, bereit es einzusetzen. Ruhig aber hochkonzentriert beobachtete sie die Dunkelheit. Ihr Atem ging gleichmäßig. Sie hatte ihren Geist und ihren Körper in Einklang gebracht.
Plötzlich leuchtete direkt vor ihr ein kleiner Punkt an der Wand auf. Blitzschnell hatte sie das Gewehr angelegt und schoss. Eine kleine Energieentladung traf den Lichtfleck, woraufhin dieser erlosch und links von ihr wieder auftauchte. Sie riss das Gewehr herum und schoss erneut. Wieder traf sie den Punkt. Und wieder erschien er daraufhin in einer anderen Ecke des Raumes. Das ging so schnell, dass sie kaum die Zeit hatte zu atmen. Sie erkannte den Punkt, zielte und schoss. Immer wieder. Insgesamt zwanzig Mal. Am Ende hatte sie nur einen Fehlschuss aufzuweisen. Eine reife Leistung für dieses Übungsprogramm. Und doch war sie unzufrieden. Ihr war es noch nie gelungen, die volle Punktzahl zu erreichen. Das gelang zwar kaum jemandem, doch hatte sie den Anspruch an sich selbst, erst dann gut zu sein, wenn sie es geschafft hatte. Denn im Ernstfall konnten Leben von ihrer Trefferquote abhängen.
Sie nahm das Phasergewehr wieder zu sich heran und sicherte es. Denn auch wenn es nur eine Übung gewesen war, das Gewehr war echt und auf die niedrigste Energiestufe eingestellt. So konnte es keinen Schaden anrichten, der Computer dagegen konnte anhand des Energieausstoßes die Treffer bewerten.
Das Licht im Raum wurde hochgefahren. Holgrem blinzelte ein paar Mal, gewöhnte sich aber sofort daran. Die Türe öffnete sich und der Trainingsleiter kam herein. Er hatte die Arme hinter dem Rücken zusammengelegt und sah sie erfreut an.
„Und wieder eine hervorragende Leistung“, sagte er anerkennend. „Sie liefern konstant gute Leistungen ab, so oft Sie das Programm auch durchlaufen.“
„Aber nicht gut genug“, gab sie missmutig zurück.
Tadelnd schüttelte der ältere Mann den Kopf. Ehrgeiz konnte eine gute Sache sein, ein Antrieb zu Höchstleistungen. Aber man konnte es auch übertreiben. So wie Holgrem. Sie hatte das Trainingsprogramm bereits unzählige Male durchlaufen und jedes Mal nur einen Fehlschuss gehabt. Eine so konstant gute Leistung konnten nur wenige Menschen vorweisen. Und doch war die junge Frau damit so unzufrieden, als habe sie versagt.
„Ich werde es nochmal versuchen müssen“, sagte sie entschieden.
Ihr Trainer schüttelte den Kopf. „Aber nicht jetzt. Sie werden den Rest des Tages frei nehmen und sich entspannen.“ Er hob die Hand, als sie widersprechen wollte. „Das ist ein Befehl. Morgen findet das Abschlussgespräch zu Ihrer Trainingsmaßnahme statt.“
Kasaja zögerte, nickte dann aber doch und übergab ihm das Gewehr. Dann würde sie versuchen, ihre Freizeit zu genießen. Auch wenn sie wusste, dass das kaum gelingen konnte.
Nach der Rückkehr der Republic
war Holgrem von einem Begleitschiff aufgenommen worden, da man sich dort besser um ihre Verletzungen hatte kümmern können. Ihr Rücken war in einem schlechten Zustand gewesen, seit sie in der alternativen Zeitlinie auf dem Heimatplaneten der Reptilianer von einer explodierenden Wand erwischt worden war. Dr. Williams hatte zwar alles in ihrer Macht stehende getan, doch war auch die Krankenstation vom allgemein schlechten Zustand des Schiffes betroffen gewesen. So hatte sie nicht allzu viel tun können, außer eine schnellstmögliche Verlegung auf ein besser ausgerüstetes Schiff zu organisieren.
Die ersten Wochen nach der Rückkehr zur Erde hatte Holgrem im Medical Center verbracht. Dort hatte man sich um sie gekümmert. Auch war erst dort aufgefallen, dass ihre Wirbelsäule nicht ganz verschont geblieben war. Zwar war es keine dramatische Verletzung gewesen, doch hatte es behandelt werden müssen. Nur so konnten dauerhafte Folgeschäden vermieden werden.
Durch ihre Behandlungszeit war sie von der Aufteilung der Crew auf neue Schiffe erst einmal ausgeschlossen gewesen. Sie war nach wie vor auf der Erde, während die meisten ehemaligen Crewmitglieder der Republic schon auf anderen Schiffen stationiert waren.
Nach ihrer Genesung hatte sie sich dann zu einem Trainingsprogramm für Sicherheitsoffiziere angemeldet. Sie wollte zum einen wieder ihre Fitness zurückgewinnen, die während ihres Ausfalles gelitten hatte. Und zum anderen wollte sie ihre Leistung verbessern. Auf keinen Fall wollte sie wieder in eine Situation kommen, in der sie falsch reagierte. Daher hatte sie auch ein zusätzliches, freiwilliges Training absolviert und sich über Maß eingesetzt. Und nun war sie zwar der Meinung besser zu sein als vor ihrer Verletzung. Doch war es in ihren Augen noch lange nicht ausreichend, auch wenn ihr alle anderen das Gegenteil versicherten.
Als sie das Gebäude verließ, schien ihr die Sonne ins Gesicht. Ihre Anspannung löste sich ein wenig. Vielleicht sollte sie tatsächlich versuchen noch etwas auszuspannen. Immerhin hatte sie noch zwei Wochen Urlaub. Erst danach würde sie erfahren, wohin ihre weiteren Einsatzbefehle sie bringen würden. Und niemand konnte sie daran hindern sowohl in ihrem Urlaub, als auch dann auf dem neuen Schiff einige Trainingseinheiten mehr zu absolvieren.
„Wir haben uns entschieden“, übersetzte der Computer den Gesang des Aquarianers. „Die Adrac müssen vernichtet werden. Und zwar unverzüglich.“
Droga wären beinahe seine Gesichtszüge entglitten. Zwar wusste er, dass sich die Wasser-Xindi nicht sonderlich für die Belange der Landbewohner interessierten. Aber dass sie damit ein solches Massaker gleichgültig hinnahmen erstaunte ihn dann doch. Damit hatte er absolut nicht gerechnet. „Sie befürworten die Auslöschung eines ganzen Volkes?“ vergewisserte er sich fassungslos.
„Ja“, kam die knappe Antwort. Offenbar schien der Aquarianer das als Begründung für angemessen zu halten.
„Aber das ist Wahnsinn. Das ist Völkermord“, ereiferte sich Droga. War etwa er naiv, weil er so etwas ablehnte? Er glaubte nicht. Eine solche Tat war moralisch verwerflich und falsch. Das musste doch jedes intelligente Lebewesen erkennen.
„Die Adrac sind kein eigentliches Volk mehr. Durch die Ausstattung mit Xindi-DNA sind sie zu einem genetisch erzeugten Experiment geworden. Und Experimente kann man abbrechen und die erzeugten Ergebnisse vernichten“, begründete der Aquarianer die Entscheidung. Ob er das leicht nahm oder nicht, war ihm nicht anzumerken.
„Die Adrac sind Lebewesen, keine Ergebnisse, die man einfach wegwirft.“ Droga atmete heftig ein und aus, um seine Empörung deutlich zu machen. „Wir können sie nicht einfach töten.“
„Sie wollen die Adrac unfruchtbar machen. Damit sterben sie aus. Das Ergebnis ist dasselbe, nur der Prozess ist langwieriger“, kam die nüchterne Antwort.
„Das ist ein Unterschied“, beharrte Droga.
„Wir haben uns entschieden“, beendete der Aquarianer jede weitere Diskussion.
Droga sah fassungslos zum Fenster, hinter dem der Wasser-Xindi schwamm und mit leichten Flossenbewegungen seine Position hielt. Und noch bevor Droga etwas sagen konnte, kam ihm Ketak, der neue Vertreter der Reptilianer zuvor.
„Dann lassen Sie uns jetzt über das weitere Vorgehen abstimmen“, tönte er siegessicher. Die Stimme der Aquarianer hatte den Ausschlag gegeben. Er konnte nun mit zwei Stimmen für sein Szenario rechnen. Mehr als die anderen Vorschläge aufweisen konnten.
„Nein, das können wir nicht. Wir müssen das ausdiskutieren“, keifte Droga zurück. So schnell wollte er nicht aufgeben.
„Wir haben lange genug diskutiert. Es wird Zeit, dass wir endlich Taten folgen lassen“, knurrte der Reptilianer zurück.
„Wir waschen unsere Hände in Blut, wenn wir diesen Vorschlag weiter in Betracht ziehen.“ Droga wollte auf keinen Fall die Mitschuld an einem Völkermord auf sich laden. Auch wenn die Adrac eine Bedrohung werden konnten, das rechtfertigte in seinen Augen keine solche Tat.
„Wir sollten abstimmen“, sagte Durat, der Arboreale, bevor noch jemand etwas sagen konnte. „Ketak hat Recht, wir müssen irgendwann zu einem Ende kommen. Außerdem haben Sie doch darauf gedrängt, dass dieses Thema auf die Tagesordnung kommt, Droga. Nun müssen Sie auch eine Entscheidung zulassen.“
Droga sah seinen Kollegen wütend an. Jetzt fiel ihm der Arboreale auch noch in den Rücken. Hatte er nicht erkannt, dass durch die Aussage des Aquarianers der Völkermord quasi entschieden war. War sein Affengehirn so primitiv, dass er das nicht sah?
Wütend ließ sich Droga auf seinen Stuhl fallen. Es gab nichts, was er noch hätte sagen können. Alle fünf Ratsmitglieder hatten denselben Status. Es gab niemanden, der mehr Rechte hatte als die anderen. Nur so ließ sich das Gleichgewicht zwischen den Spezies wahren. Und nun nahm das Schicksal seinen Lauf und nahm dabei keine Rücksicht auf seine Wünsche. Offenbar konnte er die Dinge nicht immer so drehen, wie er es gern gehabt hätte. Oder hatte Durat etwa vor, den Vorschlag der Humanoiden zu unterstützen? Dann hätte auch dieses Verfahren zwei Stimmen und es gäbe ein Unentschieden. Hoffnung keimte in Droga auf. Das musste es sein. Schließlich kannte er Durat doch gut genug um zu wissen, dass er niemals einem Völkermord zustimmen würde.
Die Abstimmung nahm ihren Lauf. Die Insektoiden stimmten für ihren eigenen Vorschlag, die Adrac als Kriegerkaste zu behalten. Der Reptilianer und der Aquarianer stimmten für die Vernichtung der Adrac. Droga dagegen stimmte für seinen Vorschlag. Dann sah er erwartungsvoll zum Arborealen. Dieser würde nun den Ausschlag geben. Droga freute sich schon auf das Gesicht des Reptilianers, wenn ihm sein selbstgefälliges Grinsen aus dem Gesicht fallen würde.
Durat machte den Mund auf, um seine Entscheidung zu verkünden. „Wir Arboreale enthalten uns der Stimme.“
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Droga seinen Kollegen an. An eine Stimmenthaltung hatte er nicht gedacht. Er war so fest davon überzeugt gewesen, dass Durat ihn unterstützen würde. Zumal eine Enthaltung in dieser Situation einer Zustimmung zum Völkermord gleichbedeutend war.
„Damit ist es entschieden“, triumphierte der Reptilianer Ketak.
„Nein“, schüttelte Droga fassungslos den Kopf.
„Der Rat ist demokratisch. Damit müssen Sie die Entscheidung akzeptieren“, entgegnete Ketak selbstzufrieden.
„Er wird die Entscheidung akzeptieren“, sagte der Aquarianer an Drogas Stelle und gab damit zu verstehen, dass es eine andere Möglichkeit nicht gab.
Droga starrte einfach nur fassungslos in die Runde. Er wusste, er hatte verloren. Und das Blut der Adrac würde mit an seinen Händen kleben, wenn ihm nicht doch noch etwas einfiele.
„Wir werden unsere Flotte losschicken“, sagte der Reptilianer. Er machte den Eindruck, als freue er sich direkt auf das Abschlachten eines ganzen Volkes. Und er sah aus, als wolle er das sogar selbst erledigen.
Der Insektoid neben ihm fing an Klick- und Kratzgeräusche von sich zu geben. Dann übersetzte der Computer die Worte. „Wir werden das machen. Die Adrac sind unsere Schöpfung. Und daher werden wir sie auch vernichten.“
Der Wasser-Xindi kam dem Reptil zuvor. „Dann ist es beschlossen.“
Mehr war nicht mehr zu sagen.
Geistesabwesend saß Drake Reed vor seiner Tasse Kaffee. Er hatte sich entschieden, sich einen Kaffee auf dem Freizeitdeck zu gönnen, da ihn die Gedanken an Elane heute nicht los ließen. Es gab so Tage, die waren einfach schlimmer als andere. Und heute war so einer. Er hatte gehofft, hier auf dem Freizeitdeck Ablenkung zu finden. Und wenn es nur dadurch war, den anderen zuzuschauen, wie sie ihren freizeitlichen Aktivitäten nachgingen.
Die Lexington
war baugleich wie die Republic
. Dies traf auch für die Einrichtungen auf dem Freizeitdeck zu. Es war eine Standardausstattung, die diese Decks erhalten hatten. Für Reed gab es hier damit nichts Neues zu entdecken. Er hatte sich daher auch nur mäßig für den Raum interessiert. Erst nach etwas mehr als zwei Wochen hatte er sich hier zum ersten Mal umgeschaut. Und dabei überrascht festgestellt, dass es doch einen Unterschied zur Republic
gab. Einen kleinen nur, aber der gefiel ihm. Es gab hier ein kleines, aber sehr schön gestaltetes Eck, in dem einige kleine, runde Tische standen, zwischen aufgestellten Blumenkübeln und Sträuchern. Ein kleiner Replikator in der Wand war auf verschiedene Getränke programmiert, so dass man sich hier in Ruhe für einige Zeit niederlassen konnte, um von Hektik und Stress herunterzukommen.
Reed musste hier immer an ein kleines, gemütliches Straßencafé denken, das er in Paris einmal entdeckt hatte, abseits der üblichen Routen für Touristen. Es war ähnlich gestaltet gewesen wie das Eck hier. Und auch dort hatte man immer einen Platz gefunden, weil es nicht so überlaufen war. Und hier schien das ähnlich zu sein. Denn die Crew war offenbar nicht sonderlich an dieser Art der Entspannung interessiert. Was aber auch an der Mission und der ohnehin ziemlich entspannten Situation an Bord liegen konnte.
Er selbst hatte sich angewöhnt, sich mindestens einmal die Woche hierher zu setzen und einen Kaffee zu trinken. Meist war er alleine. Und da die Crew schon seit mehreren Jahren zusammen Dienst tat, hatten sich bereits Freundeskreise und Cliquen gebildet. Neulinge wurden zwar recht schnell aufgenommen, er aber tat alles dafür, um das zu vermeiden. Nur selten traf er sich mit andern Crewmitgliedern.
Heute war er mit seinen Gedanken so weit weg, dass er nicht einmal merkte, wie der Kaffee vor ihm langsam aufhörte zu dampfen und schließlich kalt wurde. Er musste immer an Elanes letzte Nachricht denken. An ihre Worte über ihre gemeinsame Zeit. Es hatte bei ihr gekribbelt und sie dachte gerne an diese Zeit. Was war dann nur passiert, dass er diese Gefühle nicht mehr in ihr auslöste? Oder tat er das etwa doch noch und dies war ein versteckter Hinweis gewesen? Er verstand es nicht. Warum musste immer alles so kompliziert sein? Durfte man es sich denn nicht einfach sagen, wenn man jemanden nett fand? Oder mehr als nett? Warum musste es diese Spielchen geben? Dieses umeinander herum tänzeln, Andeutungen machen, Reaktionen abwarten und bewerten. Warum musste das alles so schrecklich kompliziert sein?
„Hey, Drake“, schreckte eine Stimme ihn auf. Josh Barrow, der Steuermann des Schiffes, stand vor ihm. Als er Drakes verwirrten Gesichtsausdruck sah, blickte er ihn etwas besorgt an. „Was ist los mit dir, Mann?“
„Hallo Josh. Nichts, alles in Ordnung“, winkte Drake ab und versuchte dabei möglichst überzeugend zu wirken. „Ich war nur in Gedanken. Was gibt’s?“
Josh versuchte schon seit Drake Reed an Bord war, immer wieder eine Freundschaft zu ihm aufzubauen. Was Reed zwar auf der einen Seite freute, auf der anderen kannte er aber auch Joshs wahre Gründe dafür. Der Junge wollte unbedingt ein Frauenheld sein. Und er stellte sich dabei nicht schlecht an. Sein gutes Aussehen half ihm natürlich dabei. Aber er war noch sehr jung. Irgendwas Anfang zwanzig. Reed hatte das genaue Alter vergessen. Und nun wollte Josh natürlich vom legendären Drake Reed lernen. Außerdem kam es bei den Frauen immer gut an, wenn man jemanden kannte, der schon in echte Abenteuer verwickelt war, wenn man selbst noch keine erlebt hatte. Und Reed hatte mit der Republic
schon so manches erlebt. Und überlebt.
„Ich habe hier zwei wunderschöne Damen und dachte, du könnest etwas Gesellschaft brauchen. Das sind Rebecca und Jennifer“, stellte er die beiden vor. Dann schob er ihnen galant die Stühle zu und setzte sich anschließend selbst. „Rebecca arbeitet im Maschinenraum und Jennifer gehört zum medizinischen Stab.“
Reed begrüßte beide freundlich. Distanziert, aber freundlich. Sie waren wirklich hübsch. Beide hatten lange, blonde Haare. Und Rebecca hatte einen unglaublichen Wimpernaufschlag. Er schätzte beide auf Mitte zwanzig. Also eigentlich genau sein Beuteschema, wie Elizabeth sagen würde.
Sie waren etwa zehn bis zwölf Jahre jünger als Elane, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf.
„Erzähl uns etwas von deinen letzten Abenteuern“, forderte Josh ihn gutgelaunt auf. „Am besten etwas von den Xindi.“ Er betone das Wort Xindi dabei besonders mysteriös. Schließlich wollte er den beiden Frauen einen Schauer über den Rücken jagen und sie beeindrucken.
Reed spielte mit seiner Tasse. Er wollte nichts erzählen, und schon gar nicht von den Erlebnissen mit den Xindi. Denn diese Zeit erinnerte ihn zu sehr an Elane. „Das ist nicht so interessant“, versuchte er die Sache herunterzuspielen.
„Hab‘ ich es euch nicht gesagt? Er ist die Bescheidenheit in Person“, zwinkerte Josh den beiden zu. „Dabei ist er ein echter Held. Immerhin haben die Xindi unsere Zeitlinie zerstört. Und Drake war dabei, als sie das wieder korrigiert hatten.“ Die beiden wirkten beeindruckt. „Na komm schon, Drake. Zier dich nicht so“, forderte Josh ihn auf.
„Ja, bitte erzähl uns was“, stimmten die beiden Blondinen zu und hingen geradezu an seinen Lippen.
Drake sah sie nacheinander an. Er fragte sich, was er früher an solchen Hühnern nur so anziehend fand. Sie waren dumm und gingen nur auf die Nerven. Eine intelligente Unterhaltung war mit ihnen nicht möglich. Gut, dass hatte er früher auch nicht wollen. Gern hatte er mit seinen Abenteuern geprallt und dabei den Helden gespielt. Gern hatte er dabei auch übertrieben. Nur um eine der Frauen ins Bett zu bekommen. Nun aber widerte ihn alleine der Gedanke schon an.
Und in Josh erkannte er sich selbst wieder. Ein selbstverliebter und selbstgerechter Draufgänger, der keine Ahnung vom wirklichen Leben hatte. Der mit den Gefühlen anderer spielte, als sei es sein gutes Recht, sich dabei aber nur selbst etwas vormachte. Wie gerne hätte er dem jungen Mann die Augen geöffnet. Aber er wusste, Josh würde niemals auf ihn hören. So wie er selbst früher auch nie auf andere gehört hatte. Jeder musste seine eigenen Erfahrungen machen.
Drake war sich sicher, wenn er mitmachen würde, dann wäre es ein leichtes für ihn, eine der beiden Frauen heute Abend abzuschleppen. Wenn er sich Mühe gab sogar beide. Dann würde Josh leer ausgehen.
Doch zu dessen Glück hatte er nicht das geringste Interesse daran. Er schob seinen kalten Kaffee beiseite und stand auf. „Es tut mir leid. Ein anderes Mal vielleicht.“ Damit wandte er sich um und ließ die drei zurück.
„Was ist los mit dir, Mann?“ rief Josh ihm noch verärgert hinterher. „Und du willst der Drake Reed sein? Das ist lächerlich. Wie bist du nur zu dem Ruf gekommen?“
Reed ignorierte ihn und verließ den Raum. Früher hätten ihn diese Worte herausgefordert. Und er hätte die Herausforderung angenommen und dafür gesorgt, dass Josh am Ende alleine da gesessen wäre. Doch diese Art von Ehrgeiz hatte er im Moment nicht. Es war ihm egal, was Josh mit den beiden Frauen machte. Sollte er mit beiden glücklich werden oder es vielleicht auch ganz vermasseln und leer ausgehen. Er machte sich nichts daraus.
Er beschloss, dass es an der Zeit war, ins Bett zu gehen. Und wie jeden Abend hoffte er, einmal nicht von Elane zu träumen.
Eiligen Schrittes lief ein Mann in roter Sternenflottenuniform den Gang im Hauptquartier entlang. Er hatte dunkles Haar, das mit vereinzelten grauen Strähnen durchsetzt war und sein wahres Alter nicht verriet. Das Gesicht war hager und schmal, ebenso wie sein ganzer Körper. Die Augen aber funkelten vor positiver Anspannung. Seine Rangabzeichen wiesen ihn als Admiral aus. Er war nicht mehr der Jüngste, weshalb sein Atem auch schwer ging. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell, doch er dachte nicht daran langsamer zu gehen. Es war einfach zu wichtig.
Er befand sich im zehnten Stock, der obersten Etage des Hauptquartiers. Hier saßen die wichtigsten Admiräle der Sternenflotte, von hier wurde die Sternenflotte gelenkt. Und hier lag sein Ziel. Admiral Cartwrights Büro lag am Ende des Ganges.
Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass er den isoliniaren Stab mit den wertvollen Daten noch immer in der Hand hielt. Zwar spürte er ihn noch, doch benötigte er die optische Bestätigung. Es war einfach zu wichtig, als dass er die Daten verlieren durfte. Hier hielt er vielleicht eine neue Zukunft in Händen.
Als er an die Türe klopfte konnte er das Herein kaum erwarten. Im Büro saß der dunkelhäutige Admiral, oberste Befehlshaber der Sternenflotte. Er war direkt dem Föderationsrat unterstellt. Die Sternenflotte war eine militärische Einrichtung, die ihre Einsatzbefehle aber vom zivilen Gremium des Föderationsrates bekam. So bestimmte dieser Rat den Einsatz von Schiffen. Allerdings nicht von jedem einzelnen Schiff. Der Rat gab der Sternenflotte ein Auftragsmandat und überließ die Einzelheiten dann der Flotte. Dort konnte besser eingeschätzt werden, wie der Auftrag am besten umgesetzt werden konnte. Ein bewährtes Verfahren, das bereits seit über einhundert Jahren funktionierte.
Admiral Cartwright sah auf, als der Besucher eintrat. „Admiral Penn. Schön Sie zu sehen.“ Sie gaben sich zur Begrüßung die Hand. „Was kann ich für Sie tun?“
Penn musste erst einmal tief durchatmen, bevor er überhaupt ein Wort herausbekam. Er war völlig außer Atem. Triumphierend hielt er den Datenstab in die Luft und gab ihn dann seinem Vorgesetzten. „Wir haben vor wenigen Minuten eine Nachricht erhalten“, sagte er dann mit sonorer Stimme, aber immer noch schwer atmend. „Sie könnte alles verändern.“
Cartwright drehte den Datenstab in seinen Händen und sah Penn mit großen Augen an. „Von wem ist die Nachricht?“ Normalerweise wurde er nicht wegen jeder eingehenden Nachricht aufgesucht. Dazu war die Flut an empfangenen Meldungen einfach zu groß. Die entsprechenden Abteilungen wussten auch so, was sie damit zu tun hatten.
„Sternenbasis 34 hat die Nachricht empfangen. Sie ist von den Xindi“, wusste Penn zu berichten.
„Von den Xindi?“ wiederholte Cartwright erstaunt und zog die Augenbrauen hoch. „Das ist wirklich eine Überraschung.“ Vor allem, da seit dem letzten kurzen Kontakt der Republic vor einem halben Jahr, keine weiteren Kontaktaufnahmen zu den Xindi mehr gelungen waren. Entweder hatte das seltsame Volk die Nachrichten der Föderation nicht erhalten oder sie haben sie einfach ignoriert. Umso verwunderlich war es, dass sich die Xindi nun ihrerseits gemeldet hatten.
„Haben Sie die Nachricht schon gesehen?“ wollte Cartwright wissen.
„Nein, Sir. Sie hat uns erst vor wenigen Minuten erreicht. Der Commander der Sternenbasis hatte die Nachricht aber gesehen und analysiert und gab an, dass sie von hoher Dringlichkeit sei. Daher habe ich sie Ihnen direkt gebracht.“ Es war eine ehrlich Antwort und kein Versuch, Cartwright damit zu verstehen zu geben, für wie wichtig er ihn hielt. Denn sich einzuschleimen, das hatte Penn nicht mehr nötig. Er hatte eine Position erreicht, mit der er zufrieden war und wollte die verbleibenden Jahre bis zur Pensionierung möglichst in Ruhe verbringen. Jetzt noch die Position zu wechseln war ganz sicher keines seiner Ziele mehr.
„Dann wollen wir mal sehen, was sie uns zu sagen haben.“ Cartwright nahm den Datenstab und steckte ihn in die dafür vorgesehene Schnittstelle des Computers. Sofort erhellte sich der Bildschirm und zeigte ein Menü an, über welches der Benutzer seine nächsten Schritte auswählen konnte. Zwar war Cartwright der oberste Militär der Sternenflotte, einer mit der neusten Technologie ausgestatteten Einrichtung, doch bevorzugte er eine manuelle Bedienung des Computers. Die Sprachsteuerung empfand er als unpraktisch. Sicher, sie hatte ihre Vorteile, doch zum einen war er schneller, wenn er über eine Tastatur seine Daten eingeben konnte, als wenn er erst die Worte formulieren musste. Zum anderen kam er sich einfach seltsam vor, wenn er in seinem Büro saß und sich mit dem Computer unterhielt. Er hatte dann jedes Mal das Gefühl, dass eine Sekretärin im Nachbarzimmer jedes Wort hören würde, das er dem Computer sagte. Nicht, dass er ihr nicht trauen würde, aber auch jeder Besucher, der zu ihm kam, würde dort aufschlagen und dann womöglich Internes der Sternenflotte erfahren, das niemanden etwas angingen.
Er ließ den Computer die Nachricht abspielen. Die Anzeige auf dem Bildschirm wechselte. Der Kopf eines humanoiden Xindi erschien. Er hatte ein rundliches Gesicht und die typischen Stirnpartien der Xindi sowie den Wulst, der sich links und rechts des Gesichtes die Wangen hinaufzog. Einige Falten an den Augen und um den Mund herum gab ihm ein sympathisches Aussehen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass dieser Mann viel lachte. Falls die Xindi so etwas taten
„An die Vertreter der Vereinigten Föderation der Planeten“, begann er mit tiefer Baritonstimme. „Mein Name ist Narzjan. Ich wurde von der Xindi-Allianz mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, diplomatische Beziehungen zwischen den Xindi und der Föderation herzustellen. Die vereinzelten Kontakte, die unsere Völker in der Vergangenheit miteinander hatten, haben leider nie eine tiefergehende Beziehung herstellen können. Ein Manko, unserer Ansicht nach, denn ein Abkommen und ein Austausch wissenschaftlicher, diplomatischer und wirtschaftlicher Erkenntnisse würden für unsere beiden Völker von unschätzbarem Wert sein. Wir könnten viel voneinander lernen. Und wir sind uns schon auf den ersten Blick sehr ähnlich. Die Föderation ist ein Völkerbund aus den unterschiedlichsten Lebewesen, die friedlich und in Kooperation miteinander leben. Wir sind zwar nur ein Volk, doch bestehend wir aus fünf verschiedenen Rassen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und auch wir leben friedlich miteinander. Ein Miteinander, das uns lange ausreichend war. Doch haben wir erkannt, dass wir in einem immer enger zusammenrückenden Universum nicht länger isoliert leben können. Die Grenzen unserer beiden Hoheitsgebiete kommen sich immer näher. Wir müssen mit unseren Nachbarn in Kontakt treten. Zum besseren Verständnis miteinander. Und damit wir die Zukunft gemeinsam meistern können.
Wir hoffen, dass auch Sie diese Einsicht teilen. Da unsere jeweiligen Regierungsplaneten zu weit auseinander liegen und selbst Subraumnachrichten viele Stunden benötigen, schlagen wir ein gemeinsames Treffen vor, bei dem wir über alle sich daraus ergebenden Schritte direkt reden können. So kommen wir sicherlich schneller voran. Wir möchten Sie einladen. Seien Sie unsere Gäste. Wir haben eine Kolonie unweit Ihrer Grenze. Die dortigen Räumlichkeiten wären Ideal für ein Treffen dieser Art. Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunft aufbauen. Eine Zukunft, die für die Kinder der Föderation und der Xindi von Frieden geprägt ist.
Bitte lassen Sie uns Ihre Antwort zukommen. Wir werden dann alles für Ihre Ankunft vorbereiten. Ich verbleibe mit den besten Grüßen an alle Völker der Föderation.“
Die Nachricht endete und das letzte Bild der Aufzeichnung blieb stehen. So starrte Narzjan unbeweglich vom Bildschirm herab, als ob er beobachten wollte, was nun weiter passierte.
„Und diese Nachricht kam eben erst von der Sternenbasis?“ wandte sich Cartwright an Penn. Seine Augen blickten ernst und emotionslos. Er zeigte keine Regung. Was angesichts einer solch deutlich dargebotenen Hand zum Frieden seltsam erschien. Zumindest erschien es Penn so. Denn er war geradezu begeistert.
„Ja, vor wenigen Minuten eingetroffen“, bestätigte er. Die Nachricht hatte all seine Erwartungen übertroffen. Endlich gab es die Chance zu dauerhaften Beziehungen mit den Xindi. Das mysteriöseste Volk, das die Föderation bisher getroffen hatte. Denn außer den Aufzeichnungen Captain Archers gab es keine Informationen über dieses Volk. Und Daten des Captains waren auch schon hundert Jahre alt. Danach hatte es keine weiteren Begegnungen mehr gegeben. Etwas Vergleichbares hatte es noch nie gegeben. Mit Ausnahme der Romulaner war man jedem Volk, auf das die Menschen bisher getroffen waren, immer wieder begegnet und wusste, wie diese aussahen. Egal ob Vulkanier, Klingonen, Andorianern oder wie sie sonst alle hießen. Und selbst den Romulanern war man immer wieder über den Weg gelaufen und hatte sich immer wieder Gefechte und sogar einen kurzen Krieg mit ihnen geliefert, auch wenn man bis vor knapp dreißig Jahren nicht wusste, wie ein Romulaner aussah.
Aber den Xindi war einhundert Jahre lang niemand mehr begegnet. Es gab keine Schiffssichtungen, keine entdeckte Kolonie, nichts. Es war, als seien sie in den Weiten des Alls verloren gegangen. Daher war diese Kontaktaufnahme umso erfreulicher und eine echte Chance auf bessere Beziehungen in der Zukunft. Denn wie der Xindi Narzjan in seiner Botschaft gesagt hatte: Das Universum wurde durch immer schnellere Schiffe scheinbar immer kleiner. In Zukunft würden sich die Völker noch öfters begegnen. Wenn dies nicht in einem Krieg enden sollte, dann musste man jetzt aufeinander zugehen.
„Dann weiß noch niemand etwas von dieser Nachricht“, schlussfolgerte Cartwright und holte Penn aus seinen Gedanken zurück.
„Nein. Außer uns und dem Commander von Sternenbasis 34“, sagte Penn irritiert. Wieso wollte der Admiral das wissen? Von dieser Nachricht mussten alle Völker der Föderation erfahren. So schnell wie möglich.
„Dann sollte das erst einmal so bleiben“, beschloss der Oberbefehlshaber. „Kein Wort zu irgendwem.“ Sein Blick war streng.
Penn sah ihn verwirrt an. Er wusste erst nicht, was er dazu sagen sollte. Schließlich meinte er: „Aber der Präsident muss davon erfahren.“
„Auf keinen Fall. Sie sagen niemandem etwas. Das ist ein Befehl“, gab Cartwright hart zurück. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen die Augen hervor funkelten.
„Aber... wieso?“ Penn verstand die Welt nicht mehr.
„Wir können nicht riskieren, dass der Föderationsrat hier in eine Falle läuft.“ Cartwright atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen. Ein Lächeln erschien kurz auf seinem Gesicht, auch wenn es ganz offensichtlich nur aufgesetzt war. „Wir müssen erst die Echtheit der Nachricht prüfen und herausfinden, ob die Xindi es ernst meinen. Sehen Sie, dieser Xindi hat uns eingeladen. Das ist schön und ich freue mich darüber. Aber wir wissen nichts über dieses Volk. Sie laden uns zu sich ein. Aber welche Sicherheiten haben wir, dass unsere Delegation dort nicht in einen Hinterhalt gerät? Wer garantiert uns, dass die Xindi es ernst meinen? Warum kommen sie nicht zu uns, wenn sie mit uns reden möchten? Oder noch schlimmer, es könnte doch genauso gut sein, dass dieser Xindi ein Abtrünniger ist.“ Er zeigte zum Bildschirm, auf dem noch immer der Kopf Narzjans zu sehen war. „Was, wenn er gar nicht für die Xindi-Allianz spricht? Wenn er uns nur einlädt, damit er mit uns vor seinem Volk fliehen kann? Ein Verbrecher, der vor der Justiz seines Volkes zu fliehen versucht. Nein“, schüttelte er den Kopf. „Als erstes müssen wir untersuchen, was wirklich dahinter steckt. Wenn wir wissen, dass die Xindi es ernst meinen, dann werden wir den Rat und den Präsidenten informieren. Und dann werden wir unsere Diplomaten schicken können. Aber erst dann.“
Penn nickte langsam. Es war nicht ganz falsch, was Cartwright sagte, keine Frage. Doch musste darüber nicht der Präsident entscheiden? Es war schließlich eine politische Angelegenheit. Und selbst wenn er zuerst das Militär vorausschickte, musste das immer noch der Präsident anordnen. Letztlich stand er noch über den Admirälen der Sternenflotte. Nur er allein konnte eine Aufklärungsmission befehlen. Aber würde er das? Oder würde er sich von der Begeisterung, die Xindi nach hundert Jahren des Mythos endlich kennen zu lernen, anstecken lassen und damit jede Sicherheit vernachlässigen?
Penn wusste es nicht. Aber es lag auch nicht an ihm, das zu entscheiden. Er hatte einen direkten Befehl erhalten. Eine Missachtung würde in diesem Fall zwar sicher nicht das Militärgericht nach sich ziehen. Doch eine unehrenhafte Entlassung war durchaus im Bereich des Möglichen. Und das wollte er so kurz vor dem Ruhestand nun doch nicht mehr riskieren. Er nickte daher knapp und signalisierte seine Zustimmung.
„Geben Sie der Lexington
den Befehl, sich Richtung Xindi-Territorium zu begeben, aber die Grenze noch nicht zu überschreiten. Sie sollen dort auf neue Befehle warten“, wies Cartwright seinen Untergebenen an.
„Ja, Sir“, bestätigte Penn. Dann wandte er sich um. Bevor er den Raum verließ fiel sein Blick noch einmal auf den Bildschirm. Das Gesicht des Xindi war noch immer dort zu sehen. Ob Narzjan ein Spiel mit ihnen spielte? Penns Hochgefühl, das er direkt nach dem Abspielen der Nachricht gehabt hatte, war verschwunden. Ernüchterung hatte ihn erfasst. Noch vor wenigen Minuten hatte er geglaubt am Beginn einer neuen Ära zu stehen. Doch schnell war er wieder zurückgeholt worden. Die Realität sah leider anders aus und der Prozess hin zu einer vertrauensvollen Beziehung ein langer und komplizierter Weg.
Mühsam unterdrückte Drake Reed ein Gähnen. Sein Gesicht verformte sich dabei für einige Sekunden zu einer äußerst bizarren Fratze. Aber anders ging es leider nicht. Er wollte auf keinen Fall den Anschein erwecken, sein Dienst langweile ihn. Und wenn er Glück hatte, dann hatte es vielleicht auch niemand bemerkt. Ein schneller Blick zu Barrow hinüber zeigte ihm, dass er gar nicht weiter zu hoffen brauchte. Der junge Mann grinste ihn mit einem Lächeln an, das zeigte, er hatte ihn erwischt. Er sagte aber zu Reeds Erleichterung nichts. Stattdessen wandte er sich wieder seinen Daten zu. Auch er hatte nur wenig zu tun. Nur hin und wieder kleinere Kurskorrekturen und die Navigationsdaten im Auge behalten, damit nichts unvorhergesehenes passierte. Wobei niemand hätte sagen können, was dieses Unvorhergesehene hätte sein sollen. Sie durchquerten den Sektor auf einem genau festgelegten Kurs und erfassten dabei mit ihren Sensoren jeden Quadratzentimeter Raum. Dieser wurde hinterher analysiert und in die Sternenkarten eingetragen. So erweiterte sich die Kenntnis der Föderation über dieses Raumgebiet Stück für Stück. Und jedes noch so kleine Detail wurde dabei mit abgespeichert. Alles konnte wichtig sein, wenn man irgendwann einmal die verschiedensten Untersuchungen anstellen wollte. Denn noch längst waren nicht alle Rätsel des Universums erforscht. Es schien mehr so zu sein, dass jede Antwort neue Fragen aufwarf. Als ob eine höher Kraft im Universum vermeiden wollte, dass deren Bewohner den Sinn und Zweck von alledem in Erfahrung bringen konnten.
Drake sah wieder auf seine Daten. Und je länger er darauf starrte, desto mehr verschwammen sie vor seinen Augen zu einem nichtssagenden Datensalat. Niemals hätte er geglaubt, dass so wenig Arbeit so trivial sein konnte. Und dabei doch so anstrengend. Bisher war er immer der Meinung gewesen, es könnte nichts Schöneres geben, als wenig zu tun zu haben und die Arbeitszeit auf diese Weise so locker wie möglich herunter zu spulen, um dann, noch voller Energie, in die Freizeit zu starten. Doch irgendwie war nicht mehr viel Energie vorhanden nach so einem Tag. Fast so, als wäre das eintönige Nichtstun anstrengender zu ertragen als die normale tägliche Arbeit. Das war so absurd. Und doch war er nach Dienstschluss so benommen im Kopf, dass er sich kaum noch auf irgendetwas konzentrieren konnte. So, als wäre sein Gehirn wie ein Computer heruntergefahren und dann nicht mehr in der Lage wieder zu starten. Und die Sache mit Elane tat ihr übriges dazu.
So brauchte er auch einige Augenblicke länger als gewöhnlich, bis er die neuen Daten auf seiner Konsole bemerkte. Er zwinkerte einige Male, um sich so wenigstens einigermaßen konzentrieren zu können. Schnell rief er die Daten ab. Es überraschte ihn, allerdings auf die positive Art. Versprach es doch ein klein wenig Abwechslung, die er gerade dringend brauchte. Er wandte sich zum Kommandosessel um.
„Captain, wir werden gerufen. Es ist das Sternenflottenhauptquartier. Sie wollen mit Ihnen sprechen. Über eine gesicherte Verbindung.“
Captain Cortez sah auf. Seine wassergrauen Augen sahen Drake Reed unbestimmt an. „Dann leiten Sie das Gespräch in meinen Raum um.“ Er stand auf, wirkte dabei aber nicht sonderlich militärisch, sondern eher so, als täten ihm die Knochen vom langen Sitzen weh. „Commander, Sie haben die Brücke“, übergab er das Kommando an seinen Stellvertreter. Dann verließ er die Brücke.
Die Brückenoffiziere sahen ihm verstohlen hinterher. Als sich die Lifttüren hinter ihm geschlossen hatten, beugte sich Barrow zu Reed hinüber und flüsterte in verschwörerischem Ton: „Vielleicht tut sich ja jetzt mal was. Vielleicht bekommen wir neue Befehle.“
Reed zuckte nur die Schultern. Er erwartete nicht viel. Was sollte auch passieren? Ja, vielleicht gab es neue Befehle. Aber sicher nichts aufregendes. Wenn sie Glück hatten, dann durften sie Passagiere transportieren. Vielleicht Diplomaten. Aber auf etwas Besseres brauchten sie gar nicht zu hoffen. Es war bei weitem nicht so, dass die Missionen der Sternenflotte nur aus Abenteuern und Aufregung bestanden, wie sich die Kadetten auf der Akademie das immer erträumten. Tatsache war, dass die meisten Missionen einfache Routine waren. Vermutlich wie in jedem anderen Job eben auch.
„Hör zu Drake, wegen gestern Abend, das tut mir leid“, entschuldigte sich Josh Barrow aufrichtig. „Ich war ein wenig zu aufgebracht. Wenn du nichts erzählen willst, dann ist das deine Sache. Geht mich nichts an.“
Drake winkte ab. „Schon vergessen“, sagte er leise.
Josh freute sich sichtlich. „Dann sag schon. Was denkst du wird uns erwarten. Abenteuer, Ruhm und Heldentaten?“
Müde lächelnd über die ungestümen Hoffnungen seines Kollegen schüttelte er den Kopf. Heldentaten. Darauf war er auch aus gewesen, als er die Akademie hinter sich gebracht hatte. Tatsache war aber, dass Heldentaten immer mit Opfern einhergingen. Und mit persönlichem Leid und Schmerzen. Niemand wurde ein Held, wenn man für das Ziel nicht auch Opfer brachte. Das war ihm in den letzten zwei Jahren nur allzu deutlich bewusst geworden. Es war bestimmt nichts erstrebenswertes ein Held zu sein. Zumindest nicht um jeden Preis.
„Ich denke nicht, dass es dazu kommen wird“, sagte Drake leise. „Vermutlich wird der Captain nur über ein paar Entscheidungen auf der Erde informiert. Mehr nicht.“
Missbilligend wandte Josh sich wieder seiner Konsole zu. „Du bist ein Pessimist. Und ich werde so lange hoffen, dass sich etwas ändert, bis der Captain das bestätigt. Oder etwas Gegenteiliges verkündet.“
Reed seufzte nur. Sollte Barrow doch hoffen was er wollte. Schweigend verrichteten sie weiter ihren Dienst.
Doch Barrow sollte Recht behalten. Nur zwei Stunden später saß die Führungscrew zusammen im Konferenzraum. Natürlich saß der Captain am Kopfende des langen Tisches. Zu seiner Linken saß sein Stellvertreter, Commander Harrison. Er war ein kleinerer Mann mit leicht schiefem Gesicht. Sowohl seine Ohren wie auch seine Augen waren nicht ganz symmetrisch am Kopf. Es wirkte nicht gerade abstoßend, zerstörte aber jegliche Autorität. Nicht gerade einfach für jemanden, der eine Gruppe von Untergebenen anführen sollte. Harrison machte dies aber mit Strenge wieder wett. Er forderte absoluten Gehorsam und war schnell dabei, Strafen auszusprechen, wenn man seinen Befehlen nicht nachkam. Seine Augen spiegelten diese Härte wider. Sie hatten nichts freundliches, sondern waren hart und kalt wie Stahl. Er war bei der Crew äußerst unbeliebt, doch folgte jeder seinen Befehlen. Nicht aus Respekt vor ihm, sondern vor der Macht, die er als zweite Person in der Rangliste innehatte.
Neben ihm saß Mike Woodson, Chefingenieur der Lexington
. Er war mittleren Alters und hatte ein äußerst umgängliches Wesen. Seine Abteilung funktionierte einwandfrei und Woodson fing für seine Mitarbeiter viel Druck ab, den Harrison ausübte. Seine Crew dankte es ihm und gab ein Übermaß an guten Leistungen zurück. Sein Aussehen war nichts Besonderes. Er hatte ein normales Gesicht, kurze dunkle Haare und war durchschnittlich groß. In der Masse würde er wohl nicht besonders auffallen.
Drake selbst saß rechts von Captain Cortez und hatte damit Harrison direkt gegenüber. Er vermied es, dem Commander in die Augen zu sehen. Diese unfreundlichen und strengen Augen waren ihm unangenehm. Er konnte diesem Blick nur selten lange standhalten. Wann immer es möglich war, vermied er den Kontakt zu Harrison.
Neben Drake saß die Bordärztin. Sie war eine hagere Gestalt mit verhärmtem Gesicht und wirren dunklen Haaren, die drahtartig von ihrem Kopf abstanden und anscheinend schon ewig keine Bürste mehr gesehen hatten. Vereinzelte graue Haare hatten sich dazwischen gemischt. Zusammen mit ihrer nach unten hin langgezogenen Nase wirkte sie mehr wie eine Kräuterhexe aus dem Mittelalter denn eine Ärztin. Sie hatte einen äußerst seltsamen Humor, den nur wenige aus der Crew nachvollziehen konnten. Ihre langen knochigen Finger hatte sie vor sich im Schoß gefaltet und sah aus ihren wässrigen Augen den Captain erwartungsvoll an.
Zudem war noch die Sicherheitschefin, Alice Coltrane, anwesend, eine stämmige muskelbepackte Frau bei der Drake Reed sich nie sicher war, ob sie jetzt eine Frau oder ein Mann war. Zumindest am Körperbau ließ sich das kaum erkennen. Und auch ihr Gesicht wirkte alles andere als weiblich. Vermutlich war es so nur konsequent, dass sie bei der Sicherheitsabteilung gelandet war. Dort kam es nicht auf Schönheit sondern auf Stärke und die Erfassung und Lösung von kniffligen Situationen an.
Der letzte in der Runde war Zerox, der Wissenschaftsoffizier. Zerox stammte vom Planten Denobula. Wie die meisten seines Volkes hatte auch er sich der Wissenschaft verschrieben, allerdings mehr der allgemeinen Wissenschaft. Berühmt dagegen waren die denobulanischen Ärzte. Sie galten als die besten Ärzte innerhalb der Föderation und waren als Lehrer und Berater auf allen Welten des Planetenverbundes unterwegs. Zerox genoss anscheinend seinen Status als einziger Außerirdischer an Bord. Es machte ihm Freude, die Menschen zu beobachten und ihre Rituale und Gepflogenheiten kennenzulernen. Und zu Reeds Erleichterung gab er Erkenntnisse bereitwilliger weiter als es Sohral getan hatte. Der Vulkanier hatte nur dann Theorien geäußert, wenn er seiner Meinung nach genug Daten gesammelt hatte. Zerox war das genaue Gegenteil. Er musste manchmal gebremst werden, wenn er gar nicht mehr aufhören wollte zu reden. Er war aber eine erfrischende Bereicherung dieser sonst so seltsamen Führungscrew.
Captain Cortez sah in die Runde und atmete dann tief durch. „Wir haben neue Befehle erhalten. Die Kartographierungsmission wird vorerst ausgesetzt. Stattdessen sollen wir uns zu einem Treffen mit den Xindi begeben.“
Überraschung zeigte sich in den Gesichtern der Anwesenden. Damit hatte niemand gerechnet. Reed sog scharf die Luft ein. Er war nicht sonderlich erpicht darauf, es so schnell wieder mit diesem Volk zu tun zu haben. Die letzte Begegnung hätte immerhin beinahe die Zerstörung des bekannten Universums nach sich gezogen.
„Die Xindi haben uns eingeladen. Sie wollen diplomatische Beziehungen zur Föderation aufbauen. Und die Sternenflotte hat uns beauftragt herauszufinden, wie ernst es den Xindi damit ist“, fuhr Cortez fort. „Diese Gespräche werden noch keine verbindlichen Abkommen nach sich ziehen. Sie können nur weitere Treffen vorbereiten. Wir müssen ausloten, ob es genug Übereinstimmungen für eine zukünftige Zusammenarbeit gibt. Sollte dies der Fall sein, werden wir von hochrangigen Diplomaten abgelöst, die die Verhandlungen dann weiterführen.“
„Man schickt also erst einmal uns, weil wir am entbehrlichsten sind“, schlussfolgerte Sicherheitschefin Coltrane laut.
Der Blick Harrisons kalter Augen traf sie, doch ließ sie sich davon nicht einschüchtern. Und noch bevor der Commander etwas sagen konnte kam Cortez ihm zuvor. „Es ist eine wichtige Mission. Wenn diese Gespräche erfolgreich verlaufen, könnte dies ein neues Kapitel in der Geschichte der Föderation aufschlagen. Ganz ohne Risiko lässt sich so etwas aber nicht angehen.“
Reed sah ihn überrascht an, hoffte jedoch, dass ihm das nicht anzumerken war. Dass der Captain die Befehle des Sternenflottenkommandos verteidigen würde war zu erwarten gewesen. Reed hatte ihn bisher als absolut linientreue Person kennengelernt. Niemals würde der Captain einen Befehl in Frage stellen oder über einen Spielraum in den Befehlen nachdenken. Aber dass er ein Risiko gutheißen würde war, zumindest für Reed, doch eine Überraschung. Der Captain scheute normalerweise jedes Risiko und ging, wann immer es möglich war, auf Nummer Sicher.
„Commander Reed, Sie haben von uns allen die meisten Erfahrungen mit den Xindi“, sprach der Captain ihn direkt an und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Bitte teilen Sie uns mit, was uns dort erwarten wird.“
Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf ihn. Offenbar glaubten sie, von ihm nun alles zu erfahren, was es über die Xindi zu erfahren gab. Als ob er der absolute Experte für dieses Volk wäre. Nur war die Republic bei den Auseinandersetzungen den Xindi selbst kaum begegnet. Sie hatten mehr mit deren Auswirkungen zu kämpfen gehabt. Reed selbst hatte sogar nur einmal einen Xindi gesehen. Das war, als sich dieser Droga bei ihnen gemeldete hatte. Kurz nachdem sie deren Waffe zerstört hatten. Und dieser Droga wies große Ähnlichkeiten mit einem Menschen auf. Ja, er war sogar richtig nett gewesen. Er hatte sich mit Captain Sanawey ausgetauscht und um Informationen über die Ereignisse gebeten. Die Sanawey ihm nach einigem Zögern auch gegeben hatte. Und das waren auch schon seine ganzen Erfahrungen mit diesem Volk.
Er musste sich beherrschen, um seine Kollegen nicht mit einer barschen Antwort abzuspeisen. Er fand es unmöglich von Captain Cortez, dass er ihn mit dieser Aufforderung so überraschte. Eine kleine Vorwarnung wäre schön gewesen. Ein wenig Zeit, um sich vorzubereiten. Denn auch wenn die Ereignisse prägend gewesen waren, es lag nun doch schon ein halbes Jahr zurück. Und so spontan konnte er leicht etwas vergessen, was man ihm hinterher vorwerfen konnte.
„Naja, das Ganze ist schon etwas her“, begann er langsam und versuchte seine Gedanken zu ordnen und sich zu erinnern. „Und wir hatten auch kaum Kontakt zu den Xindi.“ In knappen Worten fasste er die Ereignisse zusammen, die sich vor einem halben Jahr zugetragen hatten. Wobei es aus seiner Sicht zum Teil noch länger her war. Immerhin hatte er zusammen mit der Republic
auch ein halbes Jahr in der alternativen Zeitlinie verbracht. So lag die Entdeckung der Waffe für ihn bereits ein Jahr zurück. Das waren auch die Ereignisse, die er am ausführlichsten schilderte. Die Zeit im alternativen Universum reduzierte er auf den Versuch, auf der Heimatwelt der Reptilianer Informationen zu sammeln. Alles Weitere hielt er für wenig hilfreich. Und auch für zu privat. Diese Erinnerungen wollte er mit niemandem teilen, außer mit seinen ehemaligen Kollegen der Republic
.
„Daher kann ich zu den Xindi kaum mehr sagen“, schloss er seinen kurzen Bericht.
Enttäuschung spiegelte sich in den Gesichtern der anderen. Sie hatten sich eindeutig mehr von ihm erhofft. So wie sie aussahen, hatten sie erwarten, er würde jedes Geheimnis dieses Volkes kennen. Eine absolut überzogene Erwartung. Commander Harrison sah ihn skeptisch an. Er schien nicht überzeugt zu sein. Offenbar glaubte er, Reed würde Informationen vorenthalten. Er sagte jedoch nichts.
„Das ist nicht sonderlich hilfreich“, sagte Cortez schließlich. „Und letztlich alles aus den Berichten zu entnehmen, die aufgrund Ihrer damaligen Mission erstellt worden waren.“ Sein Tonfall klang herablassend, so als wolle er Reed dafür verantwortlich machen, dass er nicht mehr wusste.
Ein kalter Zorn stieg in Reed auf. Was hatte der Captain denn erwartet? Dass er unendlich wertvolle Informationen aus dem Hut zaubern konnte, die von der Republic
-Crew verschwiegen worden waren? Wollte er unterstellen, dass die Crew damals absichtlich unzureichende Angaben gemacht hatte? Das war ja wohl absolut lächerlich. Nicht zum ersten Mal fragte Reed sich, wie dieser Mann es jemals geschafft hatte Captain zu werden. Er war eine Witzfigur und als Captain völlig untragbar. Ausgerechnet ihm diese heikle diplomatische Mission anzuvertrauen konnte auch nur den Admirälen hinter ihren Schreibtischen einfallen.
Als Reed nichts weiter sagte, wandte sich der Captain wieder allen Anwesenden zu. „Wir werden wie befohlen zum vereinbarten Treffpunkt fliegen. Dann wird sich zeigen, was die Xindi wirklich im Schilde führen. Ich erwarte von Ihren Abteilungen höchste Konzentration. Wir wissen, dass die Xindi ein verschlagenes Volk sind. Ich will, dass uns nichts überraschen kann, weil wir auf alles vorbereitet sind. Wegtreten.“
Wortlos erhoben sich die Offiziere und verließen dann eilig den Raum. Auch Reed hatte kein besonderes Interesse daran, sich länger als nötig in Captain Cortez‘ Nähe aufhalten zu müssen und war daher ebenso schnell verschwunden wie alle anderen. Diese Mission war zum Scheitern verurteilt, wenn solche Leute wie Cortez und Harrison sie anführten. Schon der letzte Satz des Captains zeigte doch, wie voreingenommen er war. Und wie sehr er den Xindi misstraute. Zu Recht vielleicht, doch für eine solche Mission musste er sich einen objektiveren Blickwinkel erhalten. Sonst würden die Gespräche sehr schnell wieder enden.
Zusammen mit den anderen fuhr Reed mit dem Lift wieder ein Deck nach oben zur Brücke. Dort nahmen sie ihre Plätze wieder ein und warteten auf den Captain. Er musste ihnen erst noch den Befehl geben, einen neuen Kurs einzuschlagen. Zwar hatte er das eben im Meeting schon angekündigt, aber der direkte Befehl dazu fehlte noch. Außerdem wusste der Navigator noch nicht, wo das Ziel lag.
Nach scheinbar endlos langen Minuten erschienen Cortez und Harrison endlich. Offenbar hatten sie noch etwas zu diskutieren gehabt, das den Rest der Crew nichts anging. Und irgendwie, ohne dass er es hätte erklären können, beschlich Reed das Gefühl, dass es dabei um ihn gegangen war. Aber sollte das der Fall gewesen sein, so ließen sich die beiden nichts anmerken.
Cortez nahm im Kommandosessel Platz und sah sich auf der Brücke um. Harrison bezog neben dem Captain Position und verschränkte die Arme vor der Brust. Er stand lieber, als dass er sich setzte. Vermutlich, weil er so herrschender wirken konnte. Ein Effekt, den er durchaus nötig hatte, wenn man sein Erscheinungsbild betrachtete.
„Steuermann, Sie finden unsere Zielkoordinaten im Computer. Die Sternenflotte hat uns die Daten geschickt und sie sind direkt an den Navigationscomputer weitergegeben worden“, wies Cortez Barrow an. Der Captain hatte es sich zu der unleidlichen Angewohnheit gemacht, alle Offiziere nur mit dem Rang oder der Funktion anzusprechen. Als ob die jeweiligen Personen keinen Namen hätten. Es war fast so, als ob er damit seine besondere Stellung noch weiter betonen wollte. Es war geradezu erbärmlich.
Barrow aber wusste das und rief einfach die entsprechenden Daten im Computer auf. Dann fixierte er die Zielkoordinaten und ließ einen Kurs errechnen. Wenige Augenblicke später war er soweit. „Kurs gesetzt, Sir“, meldete er seinen Status.
„Dann gehen Sie auf Warp 7“, befahl der Captain und lehnte sich ein wenig zurück.
„Aye, Captain“, bestätigte Barrow. Seine Finger huschten über die Konsole und kurz darauf befand sich die Lexington
im Warptransit und raste ihrem Ziel entgegen. Trotzdem würden sie knappe acht Stunden bis zur Ankunft benötigen. Genug Zeit, um der Führungscrew noch ein wenig Ruhe zu gönnen. Daher befahl Cortes die zweite Schicht auf die Brücke. Denn er wollte bei der Ankunft seine Stammbesetzung um sich haben. Ganz offensichtlich traute er ihnen mehr zu als den anderen Schichten.
Reed war das nur recht. Er hatte wenig Interesse daran, noch einige Stunden hier zu sitzen und kaum etwas zu tun zu haben, um dann den entscheidenden Moment zu verpassen, nur weil sein Dienst dann beendet war. So bekam er wenigstens hautnah mit was passierte. Allerdings ließ sich seine Ablösung verdächtig viel Zeit um auf der Brücke zu erscheinen. Alle anderen waren bereits abgelöst worden, als endlich auch sein Vertreter erschien. Etwas verstimmt übergab Reed ihm den Platz, gab ihm noch ein paar Informationen über den aktuellen Status, und wandte sich dann schnell zum Lift. Er wollte so schnell wie möglich in sein Quartier zurück. In knapp sechs Stunden musste er wieder zurück sein, da wollte er wenigstens noch etwas Ruhe finden, um dann auch wieder fit zu sein. Obwohl er sich nicht so sicher war, wie viel Ruhe er wirklich finden würde. Normalerweise tauchte Elane vor seinem inneren Auge auf, sobald er sich hinlegte.
Gerade als die Lifttüren sich vor ihm schließen wollten, drängte sich noch Commander Harrison herein. Kalt sah er Reed an. Er sagte auch kein Wort, bis sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten. Dann sprach er Reed an und seine Stimme war härter als Stahl. „Sie glauben wohl, Sie sind etwas Besseres als wir, nicht wahr?“
Reed sah ihn überrascht an. Was hatte das denn jetzt zu bedeuten?
„Sie glauben, Sie können uns zum Narren halten, wenn Sie behaupten, nicht mehr über die Xindi zu wissen?“ fuhr Harrison schneidend fort, als Reed keine Anstalten machte zu antworten.
„Ich weiß nicht was Sie meinen“, gab Reed ehrlich zurück. Was sollten diese Anschuldigen?
„Sie wissen mehr über die Xindi, als Sie uns weiß machen.“ Harrison schien völlig überzeugt von seinen Worten zu sein. „Und Sie lassen uns absichtlich ins offene Messer laufen. Warum?“
Je mehr Harrison sagte, desto seltsamer erschien es Reed. Dieser Mann sah Gespenster. „Das ist doch lächerlich“, gab Reed zurück. „Ich habe alles berichtet, was ich weiß.“
„Ich glaube Ihnen kein Wort.“ Zu mehr kam Harrison nicht mehr, denn der Lift hielt an und die Türen öffneten sich hinter ihm. Nur widerwillig machte er Reed Platz, als dieser hinauswollte. Bevor Reed den Aufzug verlassen konnte, wurde Harrisons Blick noch bohrender. „Ich werde herausfinden welches Spiel Sie treiben, verlassen Sie sich drauf. Und ich werde Sie im Auge behalten, Reed.“
Dann schlossen sich die Türen und Drake stand alleine auf dem Gang. Was um alles in der Welt war das gewesen? Harrison schien eindeutig an Paranoia zu leiden. Ein solches Verhalten war nicht anders zu erklären. Kopfschüttelnd wandte Reed sich um und ging in Richtung seines Quartiers. Er war sich sicher, in den nächsten Stunden würde er keine Ruhe finden. Zusätzlich zu Elane geisterte nun auch noch Harrison durch seinen Kopf. Und er konnte nicht sagen, wer schlimmer war. Manchmal war es schon seltsam, wohin einen das Schicksal führte und mit welchen Personen es einen konfrontierte. Als ob irgendwo jemand sitzen würde, der das Schicksal lenkte und sich einen Spaß daraus machte. Hatten nicht die alten, antiken Völker an das Schicksal geglaubt? An die Schicksalsgöttinnen, die die Schicksalsfäden eines jeden Menschen spinnen. Und hin und wieder machten sie sich den Spaß und brachten einen Faden mit ein, der den Lauf eines Lebens absolut auf den Kopf stellen konnte. Einfach nur so, weil ihnen das Freude machte. Manchmal war Reed sich nicht sicher, ob es nicht tatsächlich so oder so ähnlich sein konnte. Wie sonst sollte er es sich erklären, dass er hier auf der Lexington
gelandet war. Wo er doch lieber wieder zurück auf der Republic
wäre. Auch dort war nicht alles Gold gewesen, was geglänzt hatte. Aber es war um Welten besser gewesen als hier. Und er fragte sich mal wieder, wie es den anderen wohl erging. Karja, Tworek oder auch Captain Sanawey.
ZWEI
Staunend sah Sanawey aus dem Fenster des kleinen Shuttles, mit dem er gerade unterwegs war. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst hier herauszukommen und das neue Schiff zu sehen. Noch fehlte ein großer Teil der Außenhülle und es wirkte noch mehr wie ein unvollständiger Stahlkoloss. Trotzdem machte es schon Eindruck auf ihn. Das umgebende Dock verhinderte einen unverhüllten Blick, doch Sanawey hatte bereits eine Computersimulation des Schiffes gesehen, daher wusste er auch, wie es am Ende aussehen würde. Es war erst das zweite Schiff der Excelsior-Klasse und er konnte nur immer wieder das absolut gelungene Design bewundern. Die Konstrukteure hatten großartige Arbeit geleistet und sich selbst übertroffen. Sanawey hatte es nicht für möglich gehalten, dass es etwas Schöneres als die alten Constellation-Schiffe geben konnte. Doch da war er sich nicht mehr sicher.
„Gefällt sie Ihnen, Admiral“, fragte der Pilot, der das Shuttle steuerte.
Sanawey brauchte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass er gemeint war. Außer ihm und dem Piloten war ja auch sonst niemand im Shuttle. Aber er hatte sich einfach noch immer nicht an seinen neuen Rang gewöhnt.
„Ja, sie ist wunderschön“, gab er zur Antwort, ohne den Blick von dem Schiff abzuwenden. Er hatte durchsetzen können, dass dieses Schiff den Namen Republic
erhalten sollte. Es wäre mit Sicherheit ein würdiger Nachfolger für sein altes Schiff. Auch wenn er diese Republic
nie selbst kommandieren würde. Ein wenig Schwermut erfasste ihn bei diesem Gedanken. Er hatte nicht darum gebeten, zum Admiral befördert zu werden. Trotzdem hatte man seine Verdienste als würdig genug empfunden, um diese Beförderung durchzuführen. Und damit war er an die Schreibtische im Hauptquartier gebunden. Er war nun für mehr verantwortlich als nur ein einzelnes Schiff. Das war der Lauf der Dinge. Und es war ja auch nicht so, dass ihm seine neue Tätigkeit keinen Spaß machen würde. Trotzdem wusste er jetzt schon, der Tag des Abfluges der neuen Republic
würde ein trauriger Tag für ihn werden. Denn spätestens dann würde ihm richtig bewusst werden, dass er nun nicht mehr täglich ins All fliegen würde.
„Wir werden in fünf Minuten am Dock festmachen“, informierte ihn der Shuttlepilot. „Dann können sie hinüber gehen und das Schiff von dort aus betrachten.“
Etwas überrascht sah Sanawey ihn an. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass sie hier andocken würden. Eigentlich hatte er nur einen kurzen Abstecher machen wollen. Die Entscheidung, dieses Schiff auf den Namen Republic
zu taufen, war erst vor vier Tagen gefällt worden. Und bisher hatte er einfach noch keine Gelegenheit gehabt, sich das Schiffe einmal anzuschauen. Das hatte er jetzt nachgeholt, doch hatte er erwartet sofort, wieder zur orbitalen Raumstation zurückzukehren.
Der Pilot bemerkte seinen überraschten Blick. „Ich habe den Befehl erhalten, auf diesem Wege gleich Captain Jackson abzuholen“, klärte er Sanawey auf. „Sie befindet sich derzeit zu einer Inspektion auf dem Schiff. Wir werden sie dann mitnehmen.“
Sanawey nickte. Das bot sich ja schließlich an. Und so konnte er sich noch ein wenig mit seiner einstigen Stellvertreterin unterhalten. An Captain
Jackson musste er sich aber erst noch gewöhnen. Nicht, weil er es ihr nicht gegönnt hätte, sondern weil sie in seinen Augen wohl immer seine Vertretung bleiben würde. Die Beste, die er je gehabt hatte. Sie hatte diese Beförderung eindeutig verdient. Und unter ihrem Kommando fühlte er die Republic
auch in guten Händen.
Sein Blick blieb weiterhin an dem Schiff hängen als sich das Shuttle langsam dem Verwaltungstrakt des Docks näherte und schließlich daran festmachte. In diesem relativ kleinen Teil, im Vergleich zur gesamten Einrichtung, waren die Computer zur Steuerung der Anlage untergebracht. Außerdem konnten hier die Arbeiter, die an der Außenhülle des Schiffes arbeiteten, ihre Raumanzüge anlegen. Und für Besucher wie ihn oder Jackson gab es ein kleines Aussichtsdeck.
Und genau dorthin führte sein Weg Sanawey jetzt. Wenn er hier schon mit Jackson zusammentraf, dann wollte er sie auf dem Aussichtsdeck abfangen und kurz mit ihr reden. Ohne dass der Pilot oder sonst wer zugegen war. Als er eintrat stand sie vor dem großen Fenster nach draußen und hatte ihm den Rücken zugewandt. Offenbar war auch sie von dem Schiff fasziniert. Von ihrem Schiff. Leise trat er ein. Er wollte sie nicht erschrecken.
„Hallo Admiral“, grüßte sie ihn, ohne sich dabei umzudrehen.
Für einen Moment war Sanawey etwas irritiert, dann begriff er, dass sich das Glas des Aussichtsfensters ein wenig spiegelte. Dadurch hatte sie ihn sehen könnten. Er musste lächeln. „Hallo Captain“, erwiderte er ihren Gruß, ebenfalls mit dem Rang. Das machten sie jedes Mal, seit sie beide befördert worden waren.
Sie wandte sich ihm zu und reichte ihm lächelnd die Hand. „Es ist schön Sie zu sehen“, sagte sie aufrichtig.
Sanawey erwiderte den Händedruck. Es war jedes Mal etwas seltsam sie mit dem Rang eines Captains zu sehen. Fast so, als würde ein Kind das Haus verlassen, weil es erwachsen geworden war. „Es ist ein schönes Schiff“, sagte er stattdessen, um nicht von seinen Gefühlen überwältigt zu werden.
„Ja“, nickte sie und wandte den Blick wieder nach draußen. „Ich kann es kaum erwarten die ersten Testflüge mit ihr durchzuführen.“
„Sie können sich meines Neides sicher sein“, gab er freimütig zu.
„Tut mir leid.“ Sie schien erschrocken zu sein. Offenbar war ihr bewusst geworden, dass es sein Schiff gewesen wäre, wenn er nicht zum Admiral befördert worden wäre. Und nun hatte sie das Gefühl, ihm etwas weggenommen zu haben. Obwohl das eigentlich lächerlich war. „Ich wollte nicht…“
„Hören Sie auf“, unterbrach er sie. „Sie haben es verdient. Und ich würde die Republic
in keinen anderen Händen wissen wollen als in Ihren.“
Die Erleichterung war ihr direkt anzusehen. Da sie aber nichts weiter darauf als Erwiderung wusste, sah sie wieder hinaus. Und Sanawey tat es ihr gleich. So schwiegen sie für einen Moment und betrachtete die Arbeiten am Schiff. Kleine Roboter flogen umher, manche mit Bauteilen beladen, andere schraubten am Schiff herum. Und zwischendurch waren auch Menschen in Raumanzügen unterwegs, da nicht alles von Robotern erledigt werden konnte.
„Wie kommen Sie mit der Zusammensetzung der Crew voran?“ wollte Sanawey schließlich wissen.
Jackson verdrehte frustriert die Augen. „Erinnern Sie mich nicht. Es ist furchtbar. Die Sternenflotte hat mir eine Liste zukommen lassen. Aber ich kenne die meisten Personen darauf nicht. Ich weiß nicht, wie ich mich in einer Krise auf sie verlassen kann. Natürlich sind das alles Sternenflottenoffiziere und sie werden nicht umsonst diese Ränge erreicht haben. Trotzdem hätte ich lieber jemand dabei, von dem ich weiß wie er oder sie reagiert.“ Sie schüttelte kurz den Kopf. Sanawey verstand sie nur zu gut. Es war eine Sache eine bereits eingespielte Crew zu übernehmen. Aber eine ganz andere völlig neu aufzusetzen. „Leider ist die Crew der Republic
bereits vor einem halben Jahr auf andere Schiffe verteilt worden. Da ist nichts mehr zu machen“, fügte sie bedauernd hinzu.
Sanawey nickte. Das war ihm natürlich bewusst. Immerhin war es seine alte Crew, da wusste er zumindest bei einigen Personen, wohin es sie verschlagen hatte. Und natürlich wusste er auch so manches von seiner Tochter. Denn Karja war von den Versetzungen genauso betroffen gewesen wie alle anderen. Sie diente jetzt auf der USS Saratoga
. Er hatte sie seit dem Start des Schiffes vor einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Und er vermisste sie schrecklich. Es kam ihm so vor, als hätte er sie, kaum dass er sie kennenlernen durfte, schon wieder verloren. Zwar hatten sie regelmäßigen Kontakt, doch war das natürlich nicht vergleichbar mit einem echten Treffen. Zu Beginn hatten sie noch jeden zweiten Tag miteinander gesprochen, doch nun hatten sie es auf einmal die Woche beschränkt. Karja hatte sich gut an Bord eingelebt und folglich auch nicht mehr ganz so viel Zeit. Außerdem gab es auch nicht ständig so viel Neues zu erzählen. Sie hatte ihr eigenes Leben und das musste er respektieren, auch wenn es ihm recht schwer fiel.
„Sie werden trotzdem eine gute Crew finden“, sagte er zuversichtlich.
„Ich nehme sie beim Wort“, sagte sie keck, war aber insgeheim froh über seine aufmunternden Worte. „Wir sollten das Shuttle nicht länger warten lassen“, meinte sie dann und wandte sich um.
Richtig, fiel es Sanawey wieder ein. Der Shuttlepilot wartete ja noch immer auf sie. Sanawey hatte ihn mit den Worten zurückgelassen, nur kurz Captain Jackson abholen zu wollen. Eilige folgte er seiner einstigen Stellvertreterin, um mit ihr den Rückweg anzutreten.
Der Heimatplanet der Adrac leuchtete golden im hellen Licht der Sonne. Seine Farbe erhielt er durch die relativ trockene Oberfläche, die hauptsächlich aus Sand bestand. Die wenigen Wasserstellen strahlten wie auf einen Goldklumpen aufgesetzte Diamanten. Es gab nur wenig Vegetation. Und die, die es gab, war störrisch, hart und wenig farbenfroh. Die Evolution hatte hier keine Ressourcen zu verschenken gehabt, zu sehr galt es einfach nur das Überleben zu sichern. Es war ein heißer Planet, der einen roten Riesenstern umkreiste. Die Energien der Sonne verbrannten die Planetenoberfläche beinahe. Die Lebensbedingungen waren hart an der Grenze, um Leben im irdischen Sinne zuzulassen. Unter diesen Bedingungen hatten sich die Adrac entwickelt. Zähe Reptilien, die diese Hitze liebten. Kaltblüter, die auf die wärmende Sonne angewiesen waren, um funktionieren zu können. Doch hatten sie inzwischen nur noch wenig gemein mit ihren Vorfahren. Die Adrac, die heute hier lebten, waren weiter entwickelt. Und das war viel schneller vor sich gegangen, als es die natürliche Evolution zu leisten vermocht hätte. Denn vor hundert Jahren kamen die Xindi. Insektenwesen, die mit ihren Raumschiffen auf dem Planeten landeten. Wesen, die so anders waren und über so viel Macht verfügten, dass die Adrac sie als Götter verehrt hatten. Und die Xindi zögerten nicht lange. Sie nahmen den Status an und herrschten über die Adrac. Als dann wenig später der Plan reifte, die Erde vernichten zu wollen, sah man in den primitiven Wilden ein nützliches Werkzeug. Mittels Genmanipulation wurden einige Adrac verbessert. Sie wurden stärker, schneller, konnten besser sehen und sich besser bewegen. Und sie wurden auch ein wenig intelligenter. Wenigstens intelligent genug, um höher entwickelte Technologie nutzen zu können. Und nachdem diese Experimente erfolgreich verlaufen waren, nahmen die Xindi Massenbehandlungen vor. Sie erschufen sich so eine Marionettenarmee, die jeden Befehl blind ausführte. Der erste Auftrag lautete dann auch, alle Adrac, die nicht behandelt wurden, zu töten. Auf diese Weise wurden die weniger entwickelten Adrac vernichtet und es bestand nicht mehr die Gefahr, dass unbehandeltes Erbgut sich mit dem behandelten vermischte und damit die Arbeit der Xindi konterminierte. Denn jede Vermischung hätte nur eine Schwächung dieser Armee bedeutet. Das konnten die Xindi nicht zulassen.
Mit dem Tod des letzten freien Adrac war ihre natürliche Entwicklung beendet gewesen. Welche Potentiale das Volk vielleicht noch gehabt hätte und welche Möglichkeiten sich noch ergeben hätten, das alles war ab dem Moment nicht mehr relevant. Es gab keine Chance mehr, dass sich das noch entwickelte. Und in den vergangenen hundert Jahren hatten die Insektoiden alles daran gesetzt, diese Armee zu vergrößern. Inzwischen hatte sie eine Größe erreicht, mit der sie selbst das klingonische Reich in Verlegenheit hätten bringen können. Dazu kam, dass die Adrac die Technik eroberter Völker übernommen hatte. Und trotz der nur beschränkten Intelligenz war es ihnen gelungen diese verschiedensten Technologien zu kombinieren und daraus eine Waffentechnik zu konstruieren, die einmalig war im Universum. Natürlich hatte ihr Götterglaube, der absoluten Gehorsam verlangte, sie dazu veranlasst das den Xindi-Insektoiden mitzuteilen. Doch diese hatten sie gewähren lassen, in dem Glauben, alles unter Kontrolle zu haben und den Adrac an Intelligenz weit überlegen zu sein. Inzwischen waren die Adrac längst so stark, dass sie einen Aufstand gegen ihre Götter durchaus hätten gewinnen können. Wenn sie es denn gewagt hätten. Einzig ihr Glaube hinderte sie daran. Die Insektoiden jedoch sahen diese Gefahr nicht. Dazu hielten sie sich für zu überlegen.
Mehrere kleinere Schiffe tauchten wie aus dem nichts in der Nähe des Adrac-Heimatplaneten auf. Sie verließen den Vortex, eine Art Transwarpkanal. Es waren Xindi-Schiffe, genauer gesagt waren es Insektoide. Die Xindi hatten als einzige Lebewesen des bekannten Universums diese Art von Antriebstechnologie in den Griff bekommen. Diese Art des Reisens erlaubte nicht nur mehrfache Lichtgeschwindigkeit, sondern ging weit über die Geschwindigkeiten eines normalen Warpantriebes hinaus. Und ein Schiff im Transwarpkanal war für andere Schiffe nicht aufzuspüren. Es wurde für die Sensoren erst wieder sichtbar, wenn es den Kanal verließ und plötzlich vor einem auftauchte. Der Überraschungseffekt war dadurch enorm.
Die Föderation testete zur Zeit mit der USS Excelsior
eine ähnliche Antriebsart. Mit mäßigem Erfolg, wie inzwischen auch offiziell eingestanden wurde. Zwar gingen die Tests noch weiter, aber kaum jemand rechnete noch mit einem Durchbruch. Es war inzwischen jedem bewusst, dass auf unbefristet lange Zeit noch mit dem herkömmlichen Warpantrieb ausgekommen werden musste. Und solange das alle anderen, bis auf die Xindi, auch mussten, war das zumindest kein Nachteil.
Die erschienenen Schiffe waren klein, aber äußerst wendig. Und man konnte leicht den Fehler machen, sie aufgrund ihrer geringen Größe zu unterschätzen. Aber sie waren schwer bewaffnet. Und die Kombination aus Bewaffnung und Schnelligkeit machte sie zu einem äußerst gefährlichen Gegner.
Diese Schiffe waren hier, um die grausame Entscheidung der Xindi-Allianz in die Tat umzusetzen. Die Vernichtung aller Adrac. Das Experiment, das vor hundert Jahren begonnen hatte, war abgebrochen worden. Die Objekte zu vernichten. Dass es sich dabei nicht um irgendwelche Bakterienkulturen handelte, die in irgendeinem Labor standen, schien dabei niemanden zu stören. Millionen von Adrac stand der Tod bevor. Doch nicht von diesen Schiffen. Trotz der insgesamt zwanzig Schiffe waren sie nicht in der Lage einen ganzen Planeten zu zerstören. Dazu reichte ihre Feuerkraft nicht aus. Doch das mussten sie auch gar nicht. Sie waren nicht aus diesem Grund hier. Ihre Mission bestand darin, mögliche Adrac-Schiffe, die sich im Orbit um den Planeten befanden, aufzubringen und zu zerstören. Und das ohne Gefangene zu machen.
Für den Planeten hatten die Insektoiden andere Pläne. Es gab eine alte Sicherheitsvorkehrung, die sie vor vielen Jahrzehnten auf dem Planeten angebracht hatten. Eine Notfalllösung, sollten sie jemals die Kontrolle über die Adrac verlieren. Denn wenn das passieren sollte, dann mussten die Insektoiden mit einem Überfall rechnen. Die Aufständischen hätten dann sicherlich erst einmal Rache an ihren ehemaligen Herren nehmen wollen. Um dieses Risiko auszuschließen, hatten die Insektoiden vor vielen Generationen diese Sicherung vorbereitet. Sie hatten bei Aufnahme des Experimentes nichts dem Zufall überlassen. Später war diese Sicherheitsvorkehrung auch in alle Adrac-Schiffe eingebaut worden. Und sie war so gut ausgetüftelt, dass sie zwischen den Schiffssystemen nicht auffiel.
Die damaligen Vorkehrungen sollten sich nun als äußerst wertvoll erweisen. Es erleichterte die Aufgabe, die der Rat den Insektoiden gegeben hatte. Denn wenn sie den Auslöser betätigten, würden die Schiffe der Adrac sowie ihr Heimatplanet und alle Außenposten zerstört werden. Für eine Flucht gab es dann keine Chance mehr. Alle Adrac, egal ob Krieger oder Bauern, egal ob Frauen, Kinder oder Greise, würde diese Vorrichtung auslöschen.
Den Insektoiden war bewusst, dass bei der Vernichtung der Adrac Tausende weitere Wesen ums Leben kommen würden. Die Sklaven, die die Adrac auf ihrem Planeten und diversen Außenposten hielten, würden die Vernichtung ebenfalls nicht überleben. Sie würden mit ihren Peinigern sterben. Doch interessierte das die Insektoiden genauso wenig wie der Tod der Adrac selbst. Sie hatten ohnehin nur wenig übrig für humanoide oder ähnliche Lebewesen. In ihren Augen waren das niedere Lebensformen, nur vorübergehende Launen der Natur. Auf den meisten Planeten nur eine kurzfristige Erscheinung, während die Insekten fast überall die heimlichen Herrscher waren, die meist auch schon viele Millionen Jahre vor den anderen Lebewesen existiert hatten. Und auch auf den Planeten noch existierten, die ihre humanoiden Lebensformen längst verloren hatten. Die anderen vier Xindi-Rassen akzeptierten sie nur, da sie vom gleichen Planeten stammten und ein Teil deren DNA mit der ihren identisch war.
Die Schiffe bezogen Stellung rund um den Planeten. Sie hielten einen Sicherheitsabstand ein, konnten aber jederzeit eingreifen, falls das nötig werden sollte.
Dann geschah es. Mehrere Explosionen erschütterten den Planeten und rissen tiefe Gräben in die Kruste. Tief genug, dass sie den flüssigen Kern des Planeten erreichten. Dann lösten sich die hundert Jahre alten Sprengkörper von ihren Halterungen, mit einer solchen Zuverlässigkeit, als wären sie erst gestern errichtet worden. Es war ein technisches Meisterwerk. Über die gesprengten Zugangsschächte drangen die Sprengköpfe nun in das Planeteninnere ein. Alle gleichzeitig, präzise arbeitend wie ein Uhrwerk. Dort zündeten sie dann ihre zerstörerische Ladung. Und Millionen Megatonnen an Energien wurden mit einem Schlag freigesetzt. Eine gewaltige Explosion erschütterte den Planetenkern. Diese Explosion riss den Planeten buchstäblich in Stücke. Zuerst platzte die Oberfläche auf und das kochende Magma suchte sich überall seinen Weg nach oben. Dann platzte der Planet auseinander. Die Gesteinstrümmer flogen in alle Richtungen davon, nur um nach wenigen hundert Kilometern wieder von der Gravitation der Sonne eingefangen zu werden. Die Mehrzahl der Trümmer wurde von der Sonne gnadenlos angezogen, um dann in ihr zu verdampfen. Nur wenige Planetenreste blieben im Sonnensystem zurück, umkreisten nun auf anderen Umlaufbahnen die Sonne. Von einer einstigen Zivilisation war nichts mehr zu sehen. Es gab keine Spuren mehr, dass es hier bis vor wenigen Augenblicken einen bewohnten Planeten gegeben hatte. Nichts, das Forscher in einigen hundert Jahren auf die Spur der Adrac bringen würde. Wenn die Aufzeichnungen anderer Völker nichts über die Adrac enthielten, dann gab es keine Beweise mehr, dass dieses Volk je existiert hatte.
Den Raumschiffen und Außenposten der Adrac erging es nicht besser. Überall aktivierten sich auf ein Subraumsignal hin Sprengladungen, die alles zerstörten, was je von den Adrac errichtet worden war. Bis nichts mehr von ihnen übrig war.
Als sich die Schiffe der Insektoiden wieder in den Vortex begaben existierten die Adrac nicht mehr.
Unruhig ging Cortez vor dem Kommandosessel auf und ab. Er konnte seine innere Unruhe einfach nicht verbergen, obwohl er das als Führungskraft sollte. So übertrug sich seine Nervosität auf die Crew. Doch Cortez kam einfach nicht dagegen an. Er konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Schon vor Stunden hatten sie den Planeten erreicht, den die Xindi als Konferenzort für ein Treffen vorgeschlagen hatten. Und die Sternenflotte hatte das Eintreffen der Lexington
angekündigt gehabt. Trotzdem hatten die Xindi sie seither nur immer weiter vertröstet und hingehalten. In Cortez keimte allmählich der Verdacht, dass das Gesprächsangebot nicht ernst gemeint war. Vermutlich hatten die Xindi einen Hintergedanken gehabt, als sie die Diplomaten der Föderation eingeladen hatten. Wahrscheinlich eine Geiselnahme oder etwas in der Art. Und nun waren statt der Diplomaten nur ein paar Sternenflottenoffiziere aufgetaucht und die Xindi waren aus dem Konzept gebracht. Vermutlich beratschlagten sie gerade das weitere Vorgehen. Und ob Sternenflottenoffiziere genauso viel Wert waren wie Diplomaten.
Cortez blieb auf seiner Wanderung hinter Reed stehen. „Und?“ fragte er ihn.
Doch Reed zuckte nur mit den Schultern. „Noch immer keine Nachricht“, sagte er dann. Genau wie vor fünf Minuten, fügte er in Gedanken noch hinzu. Sagte aber nichts weiter.
Der Captain brummte mussmutig und setzte seine Wanderung dann fort. Auf der Brücke war es mucksmäuschenstill. Einzig die Schritte von Cortez waren zu vernehmen. Ansonsten aber hätte man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Die Anspannung war enorm. Es konnte schließlich jeden Augenblick die erlösende Nachricht eingehen. Oder auch erst in Stunden. Das war unmöglich vorherzusagen.
Plötzlich blieb Cortez wieder stehen. Er sah in die Runde auf der Brücke. Dann sagte er mit lauter Stimme: „Wir werden noch eine Stunde warten. Sollten wir dann keine Antwort der Xindi erhalten, werden wir wieder abfliegen.“
Die meisten Anwesenden rissen überrascht die Augen auf. Sie waren etwas erstaunt darüber, dass der Captain die Autorisation hatte, eine solche weitreichende Entscheidung ohne Absprache mit dem Sternenflottenkommando zu treffen. Doch niemand wagte es etwas zu sagen.
Reed wechselte einen kurzen Blick mit Barrow. Auch dieser war überrascht, gab Reed aber mit einem kurzen Zeichen zu verstehen, besser zu schweigen. Offenbar glaubte er, den Captain besser zu kennen als Reed es tat. Denn immerhin war er ja schon länger an Bord. Aber auch Reed war schon ein halbes Jahr hier und wusste sehr wohl wie er Cortez einzuschätzen hatte. Und er war sich sicher, dass der Mann nicht autorisiert war, solche Entscheidungen zu treffen. Daher wandte Reed sich langsam um. „Captain?“
„Was gibt es?“ Widerwillen lag in Cortez‘ Stimme. An der Art und Weise wie sich Reed zu Wort meldete wusste er, dass er sich nicht wegen einer empfangenen Nachricht meldete.
„Captain, wir können nicht einfach wieder abfliegen“, sagte Reed einfach und um einen neutralen Tonfall bemüht. Schließlich wollte er seinen Captain nicht angreifen. „Wir haben den Auftrag…“
„Ich kenne unseren Auftrag, Commander. Vielen Dank“, unterbrach Cortez ihn scharf.
„Dann ist Ihnen klar…“
„Danke, Commander.“ Seine Stimme bekam einen drohenden Unterton. Reed verstand sehr wohl, dass er jetzt besser schweigen sollte. Aber dieser Mann machte ihn einfach wahnsinnig.
„Captain Sanawey hätte nie…“
„Es reicht“, rief Cortez laut aus. Offenbar fühlte er durch Reeds Drängen seine Autorität untergraben. „Captain Sanawey ist nicht mit dieser Mission beauftragt worden sondern ich“, betone Cortez überdeutlich. „Und ich gebe hier die Befehle. Und Sie, Commander, haben Ihre Befugnisse überschritten. Sicherheit, eskortieren Sie Mr. Reed von der Brücke“, befahl er der Sicherheitschefin.
Alice Coltrane nickte knapp und stand dann auf. Mit einem kurzen Blick zu Reed gab sie ihm zu verstehen, dass er ihr zu folgen hatte. Und dass sie auch nicht davor zurückschrecken würde, ihn notfalls mit Gewalt von der Brücke zu führen. Und Reed war sich nicht sicher, ob er eine Chance gegen diese Frau hätte, falls er auf den Gedanken käme sich zu wehren.
So schüttelte er nur verständnislos den Kopf, fügte sich dann aber. Mit einem letzten Blick auf Cortez ging er zum Lift, dicht gefolgt von Coltrane. Kurz bevor die beiden den Lift betraten hob Cortez nochmal seine Stimme. „Und Ihr Auftritt eben wird in Ihrer Akte vermerkt werden.“
Reed tat das leichthin mit einem Schulterzucken ab. Es wäre nicht sein erster Aktenvermerk. Allerdings der erste seit knapp zwei Jahren. Trotzdem wollte er dem Captain nicht die Genugtuung einer bereuenden Reaktion geben. Und besonders nicht Commander Harrison. Dessen finsteren Blick spürte er ohnehin schon auf seinem Rücken.
Als sich die Lifttüren hinter ihnen schlossen wandte sich die Sicherheitschefin ihm zu. „Tut mir leid, Commander. In meinen Augen waren Sie im Recht und der Captain im Unrecht. Aber er ist nun einmal der Captain.“
Reed lächelte humorlos. „Ja das ist er. Und ein Arschloch obendrein.“ Aber was nützte das, wenn ihm niemand widersprach?
Coltranes sonst so grimmige Fassade bekam einen Riss und sie lachte. „Ja, das ist er“, gab sie dann leise zu, fast so als befürchtete sie, er könnte es hören. Außerdem schickte es sich nicht, so über seinen Captain zu reden.
„Warum sagt dann keiner etwas?“ wollte es Reed nicht in den Kopf.
„Er ist der Captain“, sagte sie noch einmal, so als ob das als Begründung ausreichen würde.
„Aber…“ setzte Reed an, doch sie hob sofort den Arm und gab ihm zu verstehen, dass sie darüber nicht weiter reden wollte.
„Ich werde Sie jetzt in Ihr Quartier geleiten und dort werden Sie bis zu Ihrer nächsten Schicht bleiben“, erklärte sie ihm.
„Und wenn ich das nicht tue?“ Der alte Rebell in ihm kam zum Vorschein. Er konnte die Befehle dieses Captains einfach nicht ernst nehmen. Dieser Mann war ein Idiot und hatte keinen Respekt verdient. Bei Captain Sanawey war das anders gewesen. Daher war es ihm dort auch leichter gefallen, sich in die Hierarchien hinein zu fügen. Hier aber konnte er das einfach nicht. Er wusste, dass er damit Probleme bekommen würde, aber es war ihm egal, er konnte nichts anders.
„Dann werde ich Sie in eine Arrestzelle sperren“, beantwortete sie seine Frage mit unbewegter Miene.
Reed nickte nur. Und ebenso schnell wie der Gedanke der Revolte gekommen war, war er auch wieder verschwunden. Er war im Moment einfach nicht in der Stimmung, sich irgendwo gegen aufzulehnen. Es spielte ja eigentlich auch keine Rolle, was der Captain machte. Wenn er sich vorschnell zurückzog machte er vermutlich eine Jahrhundertchance zunichte. Aber was kümmerte ihn das? Für ihn machte das ganze Universum ohnehin keinen Sinn mehr, seit er Elane verloren hatte. Nein, er würde nicht aufbegehren. Er würde sich in sein Quartier zurückziehen und dort einen ruhigen Tag verbringen. Er würde sich nicht aufdrängen. Sollte der Captain einen fatalen Fehler begehen. Es interessierte ihn nicht.
Während Drake Reed den Rest des Tages in seinem Quartier verbrachte, erhielt die Lexington doch noch eine Antwort der Xindi. Noch vor Ablauf der einstündigen Frist, die sich der Captain selbst gesetzt hatte. Die Xindi luden darin die Vertreter der Föderation zu einem Gespräch auf dem Planeten ein. Die Koordinaten des Treffpunktes waren mit angegeben. So entschied der Captain, dass sich ein Außenteam auf den Weg machen sollte. Entgegen den Bestimmungen der Sternenflotte, wonach der erste Offizier die Außenmissionen zu leiten hatte, machte sich Cortez hier aber selbst auf den Weg. Er war der Meinung, dass es einen besseren Eindruck machte, wenn der ranghöchste anwesende Vertreter der Sternenflotte zu so einem Treffen erschien. Doch sein Sicherheitsdenken war so ausgeprägt, dass er auf keinen Fall zu viel riskieren wollte. Auf gar keinen Fall wollte er sich und seinen Vertreter in Gefahr bringen. Er wollte das Schiff nicht führungslos zurücklassen. So entschied er, sehr zum Leidwesen von Harrison, dass der Commander an Bord bleiben musste. Stattdessen nahm er die Bordärztin sowie seine Sicherheitschefin mit. Auch der denobulanische Wissenschaftler Zerox sollte ihn begleiten. Er war gewissermaßen der Quoten-Außerirdische. Denn Cortez repräsentierte einen Völkerbund, da machte es einen schlechten Eindruck, wenn er nur in Begleitung von Menschen erschien.
Zu viert beamten sie sich direkt zu den Koordinaten, die ihnen von den Xindi angeben worden waren. Dort wurden sie auch sofort von einer Abordnung der Xindi in Empfang genommen. Die Gruppe bestand überwiegend aus den menschenähnlichen humanoiden Xindi. Zwischen ihnen standen aber auch zwei Arboreale. Bei deren Anblick mussten die Vertreter der Föderation sofort an irdische Primaten denken. Die Ähnlichkeit war kaum zu übersehen. Ein dichter Bart zierte das Gesicht und den Hals dieser Wesen, durch den sie ständig mit ihren langen Fingern fuhren. Sie wirkten wie übergroße Orang-Utans, nur dass sie eben nicht orange waren.
Aus der Gruppe der Xindi löste sich eine Person und kam direkt auf die Gäste zu. Es war ein etwas größerer Mann mittleren Alters. Sein Haaransatz lag weit zurück, was bei den Xindi normal war. Denn die Knochenwulst auf der Stirn zog sich bis nach oben und verhinderte damit das Haarwachstum. Der Mann hatte ein freundliches Gesicht und ein Lächeln aufgesetzt, das die Vertreter der Föderation willkommen heißen sollte. Zielstrebig ging er auf Captain Cortez zu, da dieser ein wenig vor seinen Kollegen ging. Somit war auch gleich die Hierarchie klar gestellt.
Als sie einander begegneten streckte der Xindi seine Hand aus. Er wusste um die menschliche Geste des Händeschüttelns. Und Cortez erwiderte den Gruß.
„Herzlich Willkommen“, sagte der Xindi. „Mein Name ist Narzjan. Ich bin zum Verhandlungsführer bei unseren Gesprächen berufen worden“, stellte er sich vor.
„Sehr erfreut“, erwiderte Cortez und bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln, mit dem er seine Nervosität überspielen wollte. „Ich bin Captain Cortez vom Raumschiff Lexington
. Meine Offiziere und ich“, damit machte er eine auslandende Handbewegung zu seinen Begleitern „bedanken uns für die Einladung und freuen uns auf die Gespräche.“
Narzjan nickte den Offizieren der Sternenflotte freundlich grüßend zu. Dann machte er eine einladende Geste. „Dann darf ich Sie jetzt in unseren vorbereiteten Besprechungsraum führen. Wir haben einiges zu bereden und sollten die Zeit daher möglichst effizient nutzen.“
Cortez konnte dem nur zustimmen. Sie folgten den Xindi, die sie zu den Räumlichkeiten führten. Gesprochen wurde dabei nichts. Es war fast so, als wüssten weder die Xindi etwas mit ihren Gästen anzufangen, noch umgekehrt. Für die Vertreter der Föderation war es ohnehin ziemlich ungewohnt, einem Volk gegenüber zu stehen, das aus fünf grundverschiedenen Spezies bestand, aber dennoch ein Volk repräsentierte. Das war verwirrend und faszinierend zugleich. Entsprechend angespannt waren sie, die restlichen drei Spezies kennenzulernen.
Der Raum, in den die Xindi ihre Gäste führten, ähnelte dem Raum des Xindi-Rates. Was natürlich niemand der vier Besucher wusste. Der einzige Unterschied war, dass der Tisch sechs Seiten statt nur fünf hatte. Eine für jede Xindi-Spezies, die jeweils einen Vertreter zu diesen Gesprächen gesandt hatten. Die sechste Seite war für die Vertreter der Föderation reserviert. So konnten die Gespräche auf Augenhöhe und mit einer Gleichberechtigung aller Vertreter geführt werden. Wobei Narzjan als Wortführer der Xindi benannt worden war. Vor allem deshalb, weil die humanoiden Xindi den Menschen am ähnlichsten waren und damit eine einfachere Vertrauensbasis vorhanden war.
Den Sternenflottenoffizieren gingen erst einmal die Augen über vor Staunen. Zum einen über die Vielfalt der Xindi. Darüber zu lesen und es zu hören war schon erstaunlich genug. Aber nun alle Spezies mit eigenen Augen zu sehen, das war etwas ganz anderes. Es machte die Fakten viel realer. Am meisten aber waren sie von der riesigen gläsernen Wand angetan, die sich an die eine Tischseite anschloss. Der Raum dahinter war mit klarem Wasser gefüllt und darin schwammen zwei Wesen. Sie hatten zwar einen Kopf und zwei Arme, die denen von Humanoiden glichen. Aber das war auch schon die Ähnlichkeit mit jeglichen Landlebewesen. Sie hatten keine Beine sondern zwei kurze Flossen im hinteren Körperbereich. Ihr ganzer Körper war stromlinienförmig und wurde nach hinten hin immer schmaler, um schließlich in einer kräftigen Heckflosse zu enden, wie bei einem übergroßen Aal. Ihre Haut war schuppenartig, ähnlich der von Fischen, doch farblich kaum interessant. Es war ein schlichter Braunton der leicht ins Beige überging. Trotzdem war es einfach nur faszinierend, diesen Wesen zuzusehen, wie sie mit seltenen, winzigen Flossenbewegungen ihre Position im Wasser hielten. Cortez musste sich beherrschen, um die Wesen nicht anzustarren. Auf keinen Fall wollte er respektlos erscheinen.
Narzjan wies den Gästen ihre Plätze zu, dann nahmen auch die anderen Platz. Nur Narzjan blieb erst einmal stehen. Dann stellte er der Reihe nach die Xindi vor.
„Das ist Karua, von den Reptilianern.“ Der Erwähnte nickte knapp und die aggressive und ablehnende Haltung, die von ihm ausging, war geradezu greifbar. Kleine Äuglein bewegten sich misstrauisch in dem Reptiliengesicht. Er trug eine lederne Uniform, die sich über einen starken Körper spannte. Cortez befürchtete, dass von ihm die größte Gefahr ausging.
Den Namen des Insektoids verstand der Captain nicht. Er war zu lange und zu unaussprechlich. Und er hatte den Eindruck, dass auch Narzjan dafür lange geübt und trotzdem seine Probleme damit hatte. Dieses Wesen war äußerst schwer einzuschätzen. Es sah aus wie eine übergroße Ameise, mit Elementen, die an eine Gottesanbeterin erinnerten. Der Kopf bestand hauptsächlich aus zwei großen Facettenaugen, die links und rechts am Kopf saßen. Den Mund bildeten ein paar eindrucksvolle Mahlwerkzeuge, denen man nicht zu nahe kommen wollte. Und auf dem Kopf, über den Augen, ragten zwei Fühler heraus, die sich leicht nach vorne bogen. Das Wesen sagte etwas und die Klickgeräusche, die es dabei machte, waren alles andere als angenehm. „Wir sind gespannt, was Sie uns zu sagen haben“, übersetzte der Computer die Laute.
Cortez legte leicht den Kopf schief. „Das beruht auf Gegenseitigkeit“, sagte er einfach.
Da das Insektenwesen daraufhin nichts erwiderte fuhr Narzjan mit seiner Vorstellung fort. Den Namen des Aquarianers konnte nicht einmal Narzjan aussprechen. Er entschuldigte es damit, dass die Namen der Aquarianer aus gesungenen Tönen bestanden, die der Computer nicht übersetzen konnte. Cortez war fasziniert. In seinem Kopf stellte er sich eine Art Walgesang vor. Doch der Aquarianer machte keine Anstalten etwas zu sagen, um damit Cortez‘ Vorstellungen zu bestätigen oder zu widerlegen.
„Und schließlich noch Sarwa, von den Arborealen“, stellte er das Baumwesen vor, dem sie schon vorher draußen begegnet waren. Die Ähnlichkeit mit einem Affen war unübersehbar und Cortez musste sich unwillkürlich fragen, ob dieser Mann auch am liebsten Bananen aß.
„Es ist uns eine Freude und eine Ehre, Sie bei uns begrüßen zu dürfen“, sagte Sarwa ruhig und bedächtig. Er machte den Eindruck, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen.
„Vielen Dank“, erwiderte Cortez freundlich, aber etwas reserviert. „Es ist uns eine Ehre hier sein zu dürfen.“
Die Worte schienen dem Wesen zu gefallen, denn er nickte freundlich.
„Und das sind Captain Cortez, Lieutenant Coltrane, Dr. Hardwick und Lieutenand Zerox“, stellte Narzjan den anderen Xindi ihre Gäste vor.
„Es ist eine Unverschämtheit, dass die Föderation uns einen einfachen Captain schickt“, polterte Karua, der Reptilianer, sofort los. „Die Föderation lässt nicht nur jeglichen Respekt vermissen, man will uns auch noch beleidigen und demütigen.“
Narzjan warf seinem Kollegen einen bösen Blick zu. Das war wieder einmal typisch für die Reptilianer. Ihnen konnte man nie etwas recht machen. Und von Gastfreundschaft verstanden sie ohne nichts. „Schweigen Sie“, sagte er mit gepresster Stimme. „Es sind unsere Gäste.“
„Gäste, die wir nicht eingeladen haben“, hielt Karua entgegen.
„Sie haben in Ihrer Einladung aber nicht gesagt, wer genau hier erscheinen soll“, mischte sich Captain Cortez in den Streit ein. Auf keinen Fall wollte er sich hier klein bei geben.
Narzjan schien ob dieser Bemerkung erst einmal sprachlos zu sein. Unterstrichen doch die Worte des Menschen, die Arroganz, die ihnen die Reptilianer unterstellten. Und Karua schien das genauso zu sehen, denn er blickte triumphierend in die Runde. „Ich habe es doch gesagt“, konnte er sich nicht verkneifen zu sagen.
Eine peinliche Stille breitete sich im Raum aus. Narzjan konnte noch immer nichts sagen. Und der Reptilianer musste nichts mehr sagen. Der Rest hielt sich erst einmal peinlich berührt zurück. Selbst die Begleiter Captain Cortez‘ blickten verlegen zu Boden. Sie waren nicht unbedingt mit den Worten ihres Vorgesetzten einverstanden, doch Offiziere genug, um ihm nicht vor allen anderen zu widersprechen.
„Ich denke, wir sollten uns jetzt alle beruhigen und Platz nehmen“, warf der Arboreale Sarwa in die entstandenen Stille ein. Sein Volk war die am wenigsten aggressive Xindi-Rasse und immer um einen Ausgleich bemüht. Er fühlte sich von der Delegation der Föderation auch nicht beleidigt. Für ihn war es einfach ein Vorkommnis, dass es bei solchen ersten Gesprächen geben konnte.
„Dem stimmen wir zu“, kam die Übersetzung des Wasser-Xindi aus den Lautsprechern. Fasziniert mussten die Sternenflottenoffiziere feststellen, dass der Aquarianer gesungen hatte. Seine Laute glichen verblüffend dem Gesang von irdischen Walen. Jeder Mensch kannte die Aufzeichnung der so lange ausgestorbenen Meeressäuger. Es waren Geräusche, die einem eine Gänsehaut verpassten. Und seit wenigen Wochen gab es diese Giganten der Meere auf der Erde wieder. Admiral Kirk und seine Crew hatten ein Pärchen dieser Wesen aus der Vergangenheit geholt. So standen die Chancen gut, dass diese Wale auf der Erde wieder heimisch wurden.
Damit schien auch Narzjan seine Stimme wieder gefunden zu haben. Denn er wandte sich an Cortez und deutete, auf die Stühle, die für die Menschen vorgesehen waren. „Bitte, setzen Sie sich.“
Cortez nickte knapp, dann nahm er Platz.
Die anderen folgten dem Beispiel. Auch die Xindi setzten sich auf ihre Stühle, wobei der Insektoid keinen gewöhnlichen Stuhl hatte. Sein Körper war nicht ganz so biegsam, daher hatte er einen, seiner Körperform angepassten Spezialsitz. Und der Aquarianer verharrte in seiner Position so, wie er war. Denn seine Spezies benutzte keine Sitzgelegenheiten. Das war im Wasser einfach nicht nötig.
„Ich darf Sie noch einmal im Namen aller Xindi bei uns willkommen heißen“, begann Narzjan an den Captain und seine Begleiter gewandt. „Wir freuen uns, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind und hoffen, dass dies eine neue Ära zwischen unseren Völkern einleiten wird.“
Cortez nickte freundlich, aber etwas zurückhaltend. Er war schließlich nicht hier, um diese neue Ära einzuleiten, sondern um den Xindi auf den Zahn zu fühlen und die wahren Hintergründe für diese plötzliche Gesprächsbereitschaft zu ergründen. Und erst wenn er grünes Licht geben würde, dann würden die Diplomaten der Föderation auf den Plan treten.
„Ich danke Ihnen im Namen aller Bürger der Föderation für diese Einladung“, sagte Cortez freundlich und fuhr dann mit deutlichen Worten fort: „Gerne würden auch wir ein neues Zeitalter mit Ihnen beginnen. Doch müssen Sie unsere Vorsicht und unsere Zurückhaltung verstehen. Als unsere Völker sich vor hundert Jahren das erste Mal begegnet sind, haben Sie die Erde angegriffen, sieben Millionen Menschen getötet und die Vernichtung der Erde geplant. Bei unserer zweiten Begegnung vor sieben Monaten hatten Sie erneut das Ziel, die Erde zu vernichten. Es ist nicht gerade so, dass wir besonders gute Erfahrungen mit Ihrer Spezies gemacht haben.“
„Was wir von Ihnen gehört haben, war auch nicht immer gut“, keifte Karua lautstark dagegen.
„Wir sollten beim Thema bleiben“, griff Narzjan ein, bevor die gegenseitigen Angriffe wieder ausarteten und alles nur noch schwieriger machten. „Sie haben Recht, Captain“, gestand er dann ein. „Unsere ersten Kontakte sind nicht sonderlich gut verlaufen. Umso wichtiger ist es, dass wir das ändern. Dass wir uns endlich besser kennenlernen, um solche tragischen Ereignisse wie vor hundert Jahren zu vermeiden. Um eine gemeinsame Zukunft zu bauen.“ Narzjan steigerte sich regelrecht in seine Worte hinein. Er schien fest davon überzeugt zu sein, dass es eine gemeinsame Zukunft geben konnte. Und Cortez konnte sich sogar vorstellen, dass der Mann das glaubte. Er schien ohnehin mehr mit den Menschen gemein zu haben, als mit den anderen Xindi-Spezies. Sie schienen sich so unendlich fremd zu sein, dass es unmöglich war, sich einen gemeinsamen Heimatplaneten dieser fünf Spezies vorzustellen.
„Wir werden sehen, was an Ihren Bekundungen dran ist und was sie letztlich bedeuten“, betonte Cortez deutlich und ließ seinen Blick dabei durch die Runde der Xindi schweifen. Sie mussten sich schließlich ihm beweisen, nicht umgekehrt. So einfach sah er das.
Mit zusammengekniffenen Augen sah Narzjan seinen Gast an. Das waren starke Worte des Captains. Worte der Macht. Einer Macht, die die Föderation hier offenbar demonstrieren wollte. Und zum ersten Mal keimten Zweifel in ihm auf. Zweifel darüber, ob diese Gespräche eine gute Idee gewesen waren. Ob sie überhaupt zu einem Ziel führen konnten, ohne dass die Xindi sich unter Wert verkauften. Und er fragte sich, ob der Reptilianer mit seiner ablehnenden Haltung nicht vielleicht doch Recht hatte.
Entsprechend zäh verlief auch der weitere Verlauf des Gespräches. Captain Cortez zeigte wenig Entgegenkommen und schien die Gespräche regelrecht blockieren zu wollen. Er zog seine harte Tour durch und ließ sich zu keinerlei Zugeständnissen an die Xindi hinreißen. Dazu wäre er auch gar nicht befugt gewesen. Doch gab er den Xindi damit das Gefühl, dass die Föderation an ernsthaften Gesprächen nicht interessiert sei. Um den Gesprächsverlauf nicht vollständig zum Erliegen kommen zu lassen, nahm Narzjan seinen Gast sogar für ein Gespräch unter vier Augen zur Seite und redete dort auf ihn ein. Doch Cortez ließ sich nicht erweichen. Im Gegenteil. Je mehr die Xindi redeten, desto mehr hatte er den Eindruck, dass sie der Föderation etwas aufdrängen wollten. Dieses äußerst seltsame Volk war seiner Meinung nach an ernsthaften Gesprächen nicht interessiert. Es ging ihnen doch um etwas ganz anderes. Doch was das war, das wusste er noch nicht. Seltsam waren diese Gespräche aber allemal. Denn es redete fast nur Narzjan. Dieses Affenwesen fügte ab und an etwas hinzu, strich sich aber sonst in einer stoischen Ruhe ständig durch den Bart, was einen wahnsinnig machen konnte. Der Reptilianer brachte bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Ablehnung zum Ausdruck. Und das Insekt und das Wasserwesen in seinem überdimensionalen Tank schwiegen und hörten einfach nur zu. Oder auch nicht, das war nicht zu erkennen. Aber würde ein Volk, das ernsthaftes Interesse an einer Annäherung zur Föderation hatte, nicht anders agieren? Würden nicht alle Vertreter sich aktiv an einem Gespräch beteiligen? Und würden sie nicht alles tun, um der Föderation zu gefallen?
Schließlich wurden die Beratungen ergebnislos beendet. Es gab noch nicht einmal einen Termin für eine Fortsetzung. Die Xindi verabschiedeten ihre Gäste ziemlich freudlos und nur noch mit der von der Etikette gebotenen Freundlichkeit. Aber Captain Cortez machte das nichts aus. Er hatte seine Aufgabe erfüllt und die Xindi genau beobachtet. Sie hatten kein echtes Interesse an einer Aufnahme von Beziehungen. Sie führten mit Sicherheit etwas im Schilde. Und die Föderation musste aufpassen. Genau das würde er in seinem Bericht an seine Vorgesetzten angeben. Und er war sich sicher, seine Offiziere würden diese Meinung teilen.
„Das ist empörend. Skandalös ist das“, rief der aufgebrachte Reptilianer Karua durch den Raum. „Dieses arrogante Föderationspack nimmt uns nicht einmal richtig ernst. Und das zeigen sie uns, indem sie uns kaum würdige Vertreter entsenden. Man speist uns mit einem einfachen Captain ab. Das ist nicht akzeptabel.“ Er machte sich nicht einmal die Mühe seinen Zorn zu zügeln.
„Wir sollten das nicht überbewerten“, erwiderte Narzjan ruhig.
„Sie wollen diese Demütigung einfach hinnehmen?“ empörte sich der Reptilianer weiter. „Sie wollen sich weiter behandeln lassen, als wären wir nichts anders als eine drittklassige Macht? Ihnen ist doch wohl bewusst, dass Sie damit alle Xindi beleidigen“, schleuderte er Narzjan seine Worte wütend entgegen.
„Wir kennen ihre Bräuche nicht und sollten nicht vorschnell urteilen“, verteidigte der Angegriffene seine Haltung, obwohl auch er mit dem Verlauf des Gespräches alles andere als zufrieden war. Doch konnte er schon aus Prinzip einem wütenden Reptilianer nicht zustimmen.
„Damit machen Sie sich zum Verräter an unserem Volk. Ich werde das nicht zulassen.“
„Wenn ich mir die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit so anschaue, dann frage ich mich, wer unser Volk verraten hat“, knurrte Narzjan gefährlich zurück.
Die Diskussion wurde mittlerweile in einer Lautstärke geführt, die es sogar Außenstehenden vor der Türe ermöglichte, die Worte mitzuhören. Eine sachliche Auseinandersetzung war dabei schon lange nicht mehr möglich. Sie stritten sich bereits, seit die Vertreter der Föderation den Raum verlassen hatten. Wobei die Aggression eindeutig von den Reptilianern ausging. Aus ihrer Sicht waren diese Gespräche vollkommen sinnlos. Und sie fühlten sich durch die Vertreter der Föderation beleidigt. Wenn es schon kein hochrangiger Politiker war, der zu solchen Gesprächen kam, dann hätten sie auf jeden Fall den obersten Admiral der Sternenflotte erwartet. Doch einen einfachen Captain zu schicken, das war für sie unerträglich. Und sie hatten das auch während der Gespräche und vor den Gästen mehrfach betont.
„Die Reptilianer werden auf Ihre Absetzung drängen“, brüllte das Reptil, ohne auf Narzjans Bemerkung einzugehen. „Sie sind völlig unfähig diese Gespräche zu führen. Sie geben den Menschen zu viel nach und setzen unsere Identität als Rasse aufs Spiel. Sie sind inkompetent.“
Narzjan holte ob dieser Anschuldigungen tief Luft. Er kniff die Augen zusammen und schickte dem Reptilianer wütende Blicke zu. Aber noch bevor er etwas erwidern konnte, meldete sich der Aquarianer zu Wort, der hinter der in der Wand eingelassenen Scheibe schwamm.
„Wir sollten die Diskussion für heute abbrechen und morgen nochmals zusammentreffen. Wenn sich unsere Gemüter beruhigt haben“, übersetzte der Computer den Gesang.
„Dem stimme ich zu“, beeilte sich der Arboreale zu sagen, bevor einer der beiden Streithähne etwas sagen konnte. Auch er hoffte, damit die Diskussion zu beenden. Es würde ohnehin nichts sinnvolles mehr dabei herauskommen.
Narzjan seufzte. Zwar hätte er das Thema gerne vom Tisch gehabt, doch auch er sah ein, dass es heute kein Ergebnis mehr geben würde. „Es war ein langer Tag“, nickte er zustimmend. „Wir sollten das ganze Morgen fortsetzen.“
Der Reptilianer schnaubte empört. Diese Zurückhaltung der Säuger brachte ihn immer wieder auf die Palme. Nie brachten sie etwas richtig zu Ende. Ständig mussten sie alles unterbrechen, sich zurückziehen, sich beraten. Es war kein Wunder, dass sie so schwach waren. Und dass die Reptilianer die stärksten Xindi waren. Die natürliche Auslese sorgte dafür, dass nur die kräftigsten Reptilianer überlebten. Und somit die Kranken und Schwachen frühzeitig aussortiert wurden. Nur so konnte eine starke Gesellschaft erwachsen, eine Gesellschaft, die allen andern überlegen war.
So gebot ihm auch der Stolz, sich einer Aussage zur Vertagung zu verweigern. Eher würde er einfach nichts sagen, als dem zuzustimmen. So lag die Verantwortung dafür wenigstens bei den anderen und nicht bei ihm.
Auch das Insektenwesen enthielt sich der Stimme. Somit gab es eine Mehrheit für die Vertagung. Bevor sie auseinander gehen konnten, fing der Aquarianer aber nochmals zu singen an.
„Ich möchte allen Beteiligten noch eine Überlegung mit auf den Weg geben, die wir morgen erörtern sollten“, übersetzte der Computer seine gesungenen Töne. „Wir sollten die Menschen nicht überfordern und ihre Traditionen und Bräuche respektieren. Aber wir müssen uns deswegen nicht herabsetzen lassen. Wir haben durchaus das Recht sie aufzufordern, auch unsere Bräuche zu respektieren. Und uns bedeutendere und vor allem entscheidungskompetente Gesprächspartner zu schicken.“
Der Reptilianer lachte laut auf. „Das habe ich doch…“
„Wir sehen uns morgen“, unterbrach ihn das Wasserwesen. Dann wandte es sich um und schwamm davon.
Im ersten Moment war der Reptilianer etwas überrascht, so unverschämt unterbrochen zu werden. Doch er fasste sich schnell wieder. Letztlich war der Auftritt typisch für einen Aquarianer. Ohne seine Kollegen noch eines weiteren Blickes zu würdigen wandte er sich um und verließ siegessicher den Raum.
Narzjan schüttelte nur müde den Kopf. Er empfand es immer als besonders anstrengend, wenn er es mit den anderen Xindi-Spezies zu tun hatte. Egal mit welcher.
Zur Lagebesprechung am nächsten Tag dufte auch Reed wieder erscheinen. Offenbar war sich der Captain sicher, dass Reed seine Lektion durch diese disziplinarische Maßnahme gelernt hatte. Außerdem gehörte er noch immer zur Führungscrew und konnte damit nicht ewig ausgeschlossen werden. So betrat Reed den Besprechungsraum. Zwar als letzter, aber immer noch pünktlich. Er fühlte sich gut. Fit und ausgeschlafen. Er hatte schließlich einen Tag Zeit gehabt. Und da er sein Quartier nicht hatte verlassen dürfen, war ihm viel Zeit zur Entspannung geblieben. Seine Tat, den Captain mit seiner Meinung zu konfrontieren – dieser hatte in seinen Augen etwas Falsches getan – bereute er nicht im Geringsten. Er sah es als seine Aufgabe. Ein guter Offizier musste das tun. Denn auch wenn die Sternenflotte eine militärische Einrichtung war, so konnte er nicht jedem Befehl blind folgen. Er war immer noch ein Mensch, mit einem eigenen Urteilsvermögen und einem eigenen Gewissen. Das konnte er nicht ignorieren. Und das sollte er auch nicht. Genau das hatte er bei Captain Sanawey gelernt. Und das würde er nie wieder ablegen, egal in was für eine Situation ihn das bringen würde.
Mit einem knappen Nicken begrüßte er seine Kollegen und setzte sich dann an seinen Platz. Alle anderen saßen bereits. Sie bedachten ihn nur mit einem knappen Blick. Teils, weil sie befürchteten, bei einem längeren Blickkontakt vom Captain als Komplize abgestempelt zu werden, teils aber auch, weil sie sein Verhalten als ungebührlich betrachteten. Nicht jeder teilte seine Ansichten über den Captain. Und nicht jeder, der es tat, stand auch dazu. Daher war er sich sicher, im Ernstfall immer den Kürzeren zu ziehen, da ihn niemand unterstützen würde.
„Schön, dass wir nun vollständig sind“, fing der Captain an. Für Reed war diese Bemerkung völlig überflüssig und er spürte, wie er sich schon wieder aufzuregen begann. Er war pünktlich erschienen. Sogar noch eine Minute zu früh. Da stand dem Captain eine solch versteckte Kritik nicht zu. Doch Cortez schien entweder nicht bemerkt zu haben, was er gesagt hatte, oder er wollte einfach nicht weiter darauf eingehen, denn er fuhr direkt fort. „Wie bereits alle wissen, war ich gestern, in Begleitung dreier Kollegen, auf dem Planeten und bin von den Xindi empfangen worden. Ein äußerst seltsames Volk, das bei weitem nicht den inneren Frieden einer Föderationswelt erreicht hat. Würde es um Beitrittsverhandlungen gehen, wären wir nicht einmal hier.“ Cortez spielte damit auf eine der Voraussetzungen zur Aufnahme in die Vereinigte Föderation der Planeten an. Denn diese besagte, dass nur Welten eintreten konnten, die ihre planetaren Konflikte beiseitegelegt hatten, und eine einheitliche Weltregierung hatten, die von alle frei gewählt war. Es durfte keine einzelnen Länder mehr geben. Denn nur dann waren die Bewohner soweit, Außerirdischen wirklich gegenüber zu treten, als gleichberechtigte Partner und als Bereicherung des Bündnisses. Die Xindi dagegen hatten nach wie vor fünf verschiedene Regierungen. Eindeutig zu viel für ein Volk.
Cortez‘ kurze Pause verstand der Denobulaner Zerox als Aufforderung, etwas zu den Erlebnissen des Vortages beizutragen. „Die Begegnung mit diesen Xindi ist eine äußerst interessante Erfahrung. Man weiß nie, ob man es mit einer Spezies oder mit fünf verschiedenen zu tun hat. Das heißt, eigentlich weiß man, dass es eine ist, aber das Empfinden spielt einem beim Anblick dieser Wesen einen Streich“, sagte er begeistert. Seine wissenschaftliche Neugier begrüßte es, es mit einem solch seltsamen Volk zu tun zu haben. Schließlich bildete die parallele Entwicklung mehr als einer intelligenten Spezies auf einem Planeten eine absolute Ausnahme im bisher bekannten Universum. Und wenn es doch einmal vorkam, dann gab es eine dominierende Rasse, die die andere beherrschte. Oder die beiden Rassen konnten nur in Symbiose miteinander leben. Die Entwicklung gleich fünf gleichberechtigter Spezies, die auch völlig unabhängig voneinander leben konnten, war sicher einmalig im Universum, mindestens aber in dieser Galaxie.
Der Captain warf Zerox einen kurzen Blick zu, der eindeutig besagte, dass er die Begeisterung des Wissenschaftlers für unangebracht hielt. „Die Sternenflotte hat uns entsandt, um herauszufinden, was die Xindi im Schilde führen und was hinter diesem Gesprächsangebot steckt“, fuhr Cortez düster fort. „Leider konnten wir das gestern noch nicht in Erfahrung bringen. Allerdings haben unsere Gespräche eindeutig ergeben, dass die Xindi nicht an ernsthaften Friedensgesprächen interessiert sind.“
Die Überraschung aller Anwesenden im Raum war geradezu greifbar. Mit dieser Schlussfolgerung hatte niemand gerechnet. Nicht einmal die Offiziere, die den Captain gestern begleitet hatten.
„Captain, das kann ich nicht ganz nachvollziehen…“ begann Zerox verwirrt, wurde aber sofort von Cortez unterbrochen.
„Nun, das ist eindeutig. Die Art und Weise, wie die Xindi reagiert hatten, hat uns eine Menge über ihre wahren Absichten verraten“, erklärte Cortez widerwillig. „Dieses Reptil hatte aus seiner Ablehnung uns gegenüber keinen Hehl gemacht und ganz offen gesagt, was es dachte. Das Wasserwesen und das Insekt haben so gut wie nichts gesagt. Als ob es sie nicht interessieren würde. Narzjan und dieser Affe waren auch nicht übermäßig daran interessiert, uns zu gefallen. Das zeigt eindeutig, dass sie nicht an ernsthaften Gesprächen interessiert sind. Ansonsten hätten sich alle an der Diskussion beteiligt und sich auch normal verhalten.“
„Normal nach welchen Maßstäben?“ wollte Reed wissen. „Nach menschlichen?“
Cortez betrachtete ihn nicht einmal, sondern sagte nur in den Raum hinein: „Sie waren nicht dabei, Sie können das nicht beurteilen.“
„Aber ich war dabei“, sagte Zerox deutlich. „Und ich kann mich Ihrer Meinung dazu nicht anschließen.“ Damit distanzierte er sich zum Captain. Eine echte Überraschung.
Die Cortez aber nicht im Mindesten beeindruckte. „Das interessiert mich auch nicht“, brummte er. Dann aber, wie erschrocken darüber, seine Gedanken laut ausgesprochen zu haben, lächelte er den Denobulaner nachsichtig an. „Sie sind Wissenschaftler und sehen das Ganze aus einer anderen Perspektive. Ich als Captain dagegen kenne die taktischen Spielchen, die bei solchen Verhandlungen gespielt werden. Ich kann das daher besser beurteilen als Sie.“
„Wenn Sie meinen“, gab Zerox ein wenig eingeschnappt zurück. Er würde hier heute garantiert nichts mehr sagen.
„Das meine ich“, sagte Cortez leichthin. „Zudem habe ich den Bericht über den gestrigen Verlauf bereits vor diesem Meeting an die Sternenflotte abgesandt.“ Seine Worte lösten Erstaunen aus. Denn er stellte seine Crew damit vor vollendete Tatsachen und machte deutlich, dass er der Captain war. Jeder der Anwesenden war der Meinung gewesen, in diesem Meeting nochmal die Begegnung mit den Xindi zu erörtern und zu bewerten. Doch lag das überhaupt nicht im Interesse des Captain. Er sah hier einfach nur eine Informationsveranstaltung für seine Offiziere. Die Beurteilung hatte er längst alleine erledigt.
In Reeds Augen war das typisch für den Captain. Der Mann musste enorme Komplexe haben, wenn er immer so den Vorgesetzten heraushängen musste. Wem musste er denn etwas beweisen, wenn er Entscheidungen immer im Alleingang traf? Wollte er seinen Vorgesetzten zeigen, dass er zurecht Captain war? Dass er Entscheidungen treffen konnte? Oder musste er sich selbst beweisen, dass er es wert war, in diesem Rang zu stehen?
Reed wusste es nicht. Und er konnte es auch nicht beurteilen. Doch war ihm schleierhaft, wie der Captain den Rat seiner Crew nicht einmal suchte. Es war doch schließlich keine Schwäche, wenn man sich mit seinen Kollegen besprach und sich deren Meinung einholte. Denn niemand war allwissend und konnte alles überblicken. Da wäre es doch wesentlich leichter, wenn man auch mal auf das Wissen anderer zurückgreifen konnte.
So dachte er inzwischen darüber. Das war aber nicht immer der Fall gewesen. Früher hatte er auch gedacht, dass ein Captain alles selbst wissen müsste und dass Rückfragen seinerseits ein Zeichen der Schwäche und Inkompetenz wären. Doch dann war er Captain Sanawey unterstellt worden. Und hatte viel gelernt. Denn Sanawey hatte sich viel mit seiner Crew beraten. Er war immer offen gewesen für Informationen, für Anregungen und auch Kritik. Wenn er vorgebrachte Argumente für richtig erachtete hatte, dann konnte er seine Meinung durchaus auch ändern. Etwas, das Cortez niemals tun würde.
Für Reed war es inakzeptabel, dass der Captain seinen Bericht schon an die Sternenflotte geschickt hatte. Und dann auch noch mit einer so falschen Meinung. Wenn die Sternenflotte das für bare Münze nahm – was sie sicher auch taten, für etwas anderes hatten sie gar keinen Anlass – dann wurde hier eine Jahrhundertchance vertan, nur aufgrund der sturen und falschen Haltung eines einzelnen Mannes. Das durfte nicht sein. „Captain, Sie müssen den Bericht revidieren. Sie müssen das ganze richtig stellen“, sagte er und versuchte dabei möglichst ruhig zu bleiben. „Wir verlieren sonst eine Chance…“
„Woher wollen Sie beurteilen können, dass die Xindi nicht ein doppeltes Spiel spielen?“ unterbrach ihn Harrison, der Stellvertreter des Captains und kein weniger großer Idiot. Seine Stimme war kalt und hart wie Stahl. Dass er Reed nicht mochte, war mehr als deutlich zu spüren.
„Die Xindi würden doch nicht einen solchen Aufwand betreiben, nur um die Föderation in eine Falle zu locken. Ein paar Botschafter, die sie bei einem diplomatischen Treffen erwarten könnten, mehr würde ihnen dabei doch nicht in die Hände fallen“, gab Reed ebenso kühl zurück. Die Unterstellungen des Captains und seines Vertreters waren einfach ungeheuerlich.
„Und woher wollen Sie wissen, dass die Xindi so denken?“ forderte Harrison ihn heraus. „Etwa aufgrund Ihrer Erfahrungen mit den Xindi? Hatten Sie nicht vor einigen Tagen noch gesagt, dass Sie die Xindi eigentlich gar nicht kennen? Dass Sie kaum Kontakt zu ihnen hatten?“ Er sah Reed durchbohrend an und sein Blick wirkte siegessicher. Er hatte Reed ausmanövriert.
Das war Drake auch bewusst. Obwohl es nicht einmal eine Grundlage für Harrisons Anschuldigungen gab. Reed hatte einfach nur seinen Verstand eingesetzt um die Situation zu analysieren. Etwas, das der Captain und sein Stellvertreter offenbar nicht konnten. Aber auch Reed selbst hatte seinen Verstand wohl nur halb eingesetzt und sich zu sehr auf die Xindi konzentriert, denn er hatten Harrison völlig unnötig eine Aussage in die Hand gegeben, auf die dieser schon gewartet hatte Wie ein Anfänger war er in diese Situation geraten. Bereitwillig hatte er Harrisons Köder angenommen und dann hatte sich die Schlinge zugezogen. Er hätte sich selber ohrfeigen können. „Warum sollten die Xindi das tun?“ begann er halbherzig seine Verteidigung, obwohl er wusste, dass ihm niemand mehr richtig zuhörte. „Sie haben keinen Anlass dazu. Es gab seit Jahrzehnten keinen Kontakt zwischen den Xindi und der Föderation. Wenn sie es dabei belassen hätten, dann wäre die Föderation auch keine Bedrohung für sie geworden.“
Commander Harrison wollte zu einer heftigen Erwiderung ansetzen, wurde aber von Cortez daran gehindert. Dann beugte sich der Captain ein wenig vor und sah Reed fest an. Er machte deutlich, er würde diese Worte nur einmal sagen. „Sie gehen bei Ihrer Betrachtung der Situation immer davon aus, dass die Xindi wirklich reden wollen“, sagte er langsam. „Und dass sie schwächer sind als die Föderation. Doch wissen wir das nicht. Und Sie müssen bei der Betrachtung der Situation das Gesprächsangebot ausblenden und das große Ganze sehen. Nur dann können Sie die Situation objektiv betrachten. Und dann können Sie mir nur zustimmen.“ Sein Tonfall machte deutlich, dass die Debatte beendet war. Weitere Worte dazu würde er nicht mehr akzeptieren.
So schwieg Reed denn auch, obwohl es in ihm brodelte. Er hatte es versucht und verloren. Nun konnte er nur noch darauf hoffen, dass die Admiräle einen klugen Einfall hatten und den Bericht des Captain ignorierten. Doch darauf würde er auf keinen Fall wetten.
Admiral Cartwright saß an seinem Schreibtisch und studierte gerade die neusten Daten der Tokyo
-Mission. Offenbar hatte das Raumschiff Signale aufgefangen, die von einer bewohnten Welt im Sektor P-497 stammen könnten. Das war überraschend, denn die Wissenschaftler hatten dort keinen bewohnten Planeten vorhergesagt. Eine solche Bestimmung war aber anhand von Tiefenraummessungen und Sondenaufklärungen normalerweise äußerst exakt. So ließ sich relativ sicher sagen, ob anhand der Beschaffenheit der jeweiligen Sonnen, ihrer Strahlung und ihrer Anziehungskraft sich überhaupt ein Planet entwickelt haben konnte, der in der Lage war, eigenes Leben hervorzubringen. Die Chancen dazu waren allerdings ziemlich gering. Zwar konnte man den Eindruck gewinnen, das Leben blühe nur so im All. Doch die Vielzahl der bewohnten Planeten war geradezu lächerlich gering, verglichen mit den lebensfeindlichen und toten Himmelskörper und Gesteinsbrocken, die dort so herumschwirrten.
So war denn auch die Überraschung groß, als die USS Tokyo
diese Signale empfangen hatte. Alte Radiowellen, die sich weit ins All hin ausgebreitet hatten. Bei der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegten, mussten sie mehrere hundert Jahre alt sein. Vielleicht existierte das Volk, das sie einst erzeugt hatte, längst nicht mehr. Oder sie waren in ihrer Entwicklung zurückgeworfen worden. Auf jeden Fall musste es eine Erklärung geben, weshalb die Föderation noch nie mit ihnen in Kontakt gekommen war. Unter den Wissenschaftlern waren wilde Spekulationen darüber entstanden. Es gab vermutlich keine Theorie, die nicht schon geäußert worden war.
Cartwright war genauso gespannt, wie alle anderen Admiräle und Politiker. Was würde sie dort erwarten? Eine tote Welt? Eine ausgestorbene Kultur? Oder vielleicht eine primitive Gesellschaft? Genauso könnte aber auch ein neues zukünftiges Mitglied der Föderation dort warten. Niemand konnte das vorher sagen, deshalb war es ja auch so interessant.
Plötzlich summte sein internes Kommunikationsgerät, das an der Seite des Schreibtisches angebracht war. Er schrak ein klein wenig zusammen, so wenig hatte er damit gerechnet. Und so vertieft war er in die Lektüre gewesen. Er fasste sich aber sofort wieder und bestätigte dann die Verbindung.
„Admiral Cartwright?“ hörte er die Stimme seiner Vorzimmerdame. Sie war bereits etwas älter, aber eine große Hilfe und die Herzlichkeit in Person. Cartwright würde sie gegen niemand anderen eintauschen wollen. „Admiral Penn ist hier. Er möchte Sie sehen. Und er sagt, es sei wichtig.“
An ihrem Tonfall erkannte Cartwright, dass sie es tatsächlich als wichtig ansah. Sie hatte ein außergewöhnliches Gespür dafür, wer in einer wirklich wichtigen Angelegenheit kam und wer sich nur wichtigmachen wollte. Und er hatte im Laufe der Jahre gelernt, sich darauf zu verlassen. Er war noch nie enttäuscht worden. Daher bat er, den Besucher hereinzulassen.
Penn wirkte ernst, als er eintrat. Dass er keine guten Nachrichten dabei hatte, war auf den ersten Blick zu sehen. Seine Lippen waren zusammengepresst und seine Augen wirkten schmal. Sein hageres Gesicht schien die Ernsthaftigkeit noch zu unterstreichen, obwohl er schon immer hager gewesen war.
„Wir haben eine Nachricht erhalten“, kam er gleich zur Sache und sah seinen Vorgesetzten dabei fest an. Er fürchtete sich nicht vor Cartwright. Warum auch, sie arbeiteten seit langem gut zusammen. Und er war auch nicht mehr in dem Alter, in dem er seinem Vorgesetzten schmeicheln musste. Das hatte er längst hinter sich gelassen. Dazu war er inzwischen viel zu weise geworden.
„Von wem?“ fragte Cartwright und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Eine Nachricht wäre normalerweise nicht zwangsläufig etwas Unangenehmes. Wenn man es nicht gerade ihm gebracht hätte.
„Den Xindi“, antwortete Penn knapp.
Das war nun wirklich überraschend. Das war nicht zu erwarten gewesen. Erst vor wenigen Stunden hatten sie einen Bericht von Captain Cortez von der Lexington erhalten. Und dieser Bericht hatte nicht gerade sonderlich freudig geklungen. Eigentlich hatte der Captain sogar vor den Xindi gewarnt. Sie führten irgendetwas im Schilde, nur konnte er nicht sagen was das war. Doch ihr Gesprächsangebot war wohl nicht sonderlich ernst gemeint. Cartwright hatte es nicht glauben wollen. Und Penn noch weniger. Es wäre eine solche Chance gewesen, die Beziehungen zu diesem mysteriösen Volk endlich verbessern zu können. Doch schien daraus auf absehbare Zeit nichts zu werden. Cortez‘ Worte waren eindeutig. Und die Föderation musste auf der Hut sein. Wenn die Xindi etwas vorhatten, dann bestand höchste Alarmstufe. Immerhin hatten sie bereits zweimal versucht die Erde zu vernichten. Und beide Male waren sie ihrem Ziel verdammt nahe gewesen. Zu nahe, nach dem Geschmack der Admiräle. So etwas durfte sich nie wieder wiederholen.
Dass sich die Xindi nun direkt meldeten war überraschend. Oder aber sie hatten Cortez‘ Nachricht abgefangen und wollten nun die Wogen wieder etwas glätten. Vielleicht um ihren Plan weiterhin umsetzen zu können. Möglicherweise war diesem Volk wirklich nicht zu trauen.
„Und was wollen sie?“ Cartwright war sich sicher, dass Penn die Nachricht schon gesehen hatte. Sonst hätte er nicht einschätzen können, ob es wichtig war.
„Auf den Punkt gebracht: Sie wollen, dass wir würdigere Vertreter schicken“, sagte Penn und schien diese Forderung sogar irgendwie verstehen zu können.
Cartwright war wenig überrascht. Er hätte sich an der Stelle der Xindi ebenso wenig mit einem einfachen Captain abspeisen lassen. Zudem waren Diplomaten auch wesentlich wertvoller, falls man eine Geiselnahme plante.
„Sie haben das etwas ausführlicher und freundlicher dargestellt“, fuhr Penn fort. „Nach Ansicht der Xindi ist Captain Cortez nicht befugt, irgendwelche Entscheidungen für die Föderation zu treffen. Er müsse bei allen Punkten Rücksprache halten und das würde die Verhandlungen nur erschweren und verzögern. Zudem bezweifeln sie, dass der Captain die politische Erfahrung habe, um solche Gespräche zu führen. Sie bezweifeln zwar nicht seine Kompetenzen als Captain, das betonen sie extra nochmals. Doch sie trauen ihm diese Art von Gesprächen nicht zu.“ Er machte eine kurze Pause, um Cartwrights Reaktion abzuwarten. Doch es kam keine. Daher fügte er den heiklen Punkt der Nachricht noch hinzu. „Sollten wir keine Diplomanten mit erweiterten Befugnissen und Kompetenzen schicken, wollen die Xindi die Gespräche abbrechen.“ Unwohl verlagerte Penn sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Für ihn war die Nachricht alarmierend. Eine einmalige Chance stand auf Messers Schneide. Sie hatten allem Anschein nach die Xindi verärgert. Ob das eine Bedrohung für die Föderation darstellte, vermochte Penn nicht einzuschätzen. Dazu kannte er die Xindi und ihre militärische und wirtschaftliche Stärke zu wenig. Er wusste nur, dass die Xindi es schon zweimal beinahe geschafft hatten, die Erde zu zerstören. Viel wichtiger aber war für ihn die Chance, mit diesem mysteriösen Volk endlich näher in Kontakt zu treten. Mit ihnen diplomatische Beziehungen aufzubauen und gegenseitig voneinander zu lernen. Und damit den eigentlichen Beweggründen der Gründungsväter zu folgen. Denn das hatten sie einst in die Charta der Föderation geschrieben. Aufzubrechen, um neue Lebensformen und neue Zivilisationen zu finden und kennenzulernen. Jede Kontaktaufnahme, die nicht friedlich verlief, war wie ein Verlust, den man nie wieder gut machen konnte. Und es schien wie ein Verrat an den Grundsätzen der Föderation zu sein. Daran änderte auch Cortez‘ Einschätzung der Lage nichts.
Doch Cartwright schien das wohl nicht so zu sehen, denn sein Gesicht ließ keinerlei Deutung seiner Gefühle auf diese Nachricht zu. Ohne auch nur eine Miene zu verziehen nahm er sie entgegen. Als ob es ihm nicht wichtig wäre. Was sich Penn allerdings nicht vorstellen konnte. Denn auch der ranghöchste Offizier der Flotte war sicherlich an einer friedlichen Koexistenz mit den Xindi interessiert.
Penn wartete auf eine Reaktion seines Vorgesetzten, doch dieser schien überhaupt nicht daran zu denken, etwas zu sagen. Entweder lag das in seiner Absicht oder aber er war von dieser Anforderung der Xindi völlig überfordert und wusste nicht, was er tun sollte.
Als das Schweigen im Raum andauerte und immer drückender wurde, wagte Penn einen Vorstoß. „Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte. Wir sollten unverzüglich den Föderationsrat einberufen und den Abgeordneten die Nachricht vorlegen. Dann kann…“
„Das werden wir nicht tun. Zumindest vorerst nicht“, unterbrach Cartwright ihn barsch. Er hatte seine Stirn in Falten und schien über die nächsten Schritte konzentriert nachdenken zu müssen. „Wir haben auf der einen Seite die Forderung der Xindi“, sagte er vor sich hin murmelnd. Penn war sich nicht sicher, ob er ihm seine Entscheidung gerade begründete oder ob er einfach nur laut vor sich hin dachte. „Eine Forderung, die sich auf den ersten Blick recht vernünftig anhört. Für uns aber ein großes Maß an Risiko bedeutet. Und auf der anderen Seite haben wir den Bericht Captain Cortez‘. Demnach führen die Xindi etwas im Schilde und wir können ihnen nicht ohne weiteres trauen. Wenn wir nun unsere Diplomaten schicken, dann könnten wir sie direkt in eine Falle laufen lassen. Und wenn wir sie nicht schicken, dann sind die Gespräche ohnehin beendet. Keine gute Situation“, schloss er seine Überlegungen.
„Sollte das aber letztlich nicht der Föderationsrat entscheiden?“ Penn wirkte alles andere als glücklich. Immerhin war die Föderation eine demokratische Institution, in der vom Volk gewählte Vertreter den Weg bestimmten, den der Völkerbund gehen würde. Da lag es nicht in der Hand der Militärs Entscheidungen zu treffen. Oder gar den Parlamentariern Informationen vorzuenthalten. Im Moment wusste weder der Präsident noch der Rat, dass es überhaupt eine Einladung der Xindi gab. Und auch vom Treffen der Lexington
mit den Xindi war niemand weiter informiert worden. Auf Cartwrights Befehl hin. Eine völlig gesetzeswidrige Situation. Der sich Penn nur gefügt hatte, weil er davon ausgegangen war, es sei eine einmalige und nur befristete Situation. Doch schien Cartwright dieses Versteckspiel noch immer nicht beenden zu wollen. Nur verstand Penn überhaupt nicht den Grund dafür.
„Wir sind noch nicht so weit, dem Rat gesicherte Daten übergeben zu können“, sagte Cartwright mit befehlsgewohnter Stimme. „Wir haben widersprüchliche Angaben, die im Rat zu keiner Entscheidung führen können. Wir müssen weiter Informationen sammeln, ehe wir das Ganze weitergeben können.“ Sein Tonfall machte deutlich, dass er keine andere Ansicht dazu zulassen würde.
Penn konnte jedoch noch nicht locker lassen. Es ging einfach zu sehr gegen seine Grundsätze. „Die Sternenflotte ist aber nicht befugt, solche Entscheidungen alleine zu treffen“, erinnerte er seinen Vorgesetzten, obwohl er sich sicher war, dass dieser das ganz genau wusste.
Grimmig sah Cartwright auf. Das Weiße in seinen Augen hob sich deutlich von seiner schwarzen Haut und den dunklen Pupillen ab. Sein Blick wies grimmige Entschlossenheit auf. Niemals würde er von seinem Standpunkt abweichen. „Die Sternenflotte ist aber auch für die Sicherheit und Ordnung innerhalb der Föderation zuständig“, gab er mühsam beherrscht zurück. „Wir sind für die Sicherheit der Ratsmitglieder und des Präsidenten verantwortlich. Wir müssen sie vor den Gefahren, die andere Völker darstellen könnten, bewahren. Nur so kann die Föderation handlungsfähig bleiben. Und daher ist es unsere Pflicht, zuerst alle Informationen zusammenzutragen, bevor wir den Rat oder den Präsidenten unterrichten können.“ Sein Blick war während seiner Worte immer bohrender geworden.
Penn senkte schließlich den Blick und nickte knapp. „Ja, Sir“, murmelte er und wünschte sich weit weg von diesem Büro. Wieso musste das ausgerechnet ihm passieren? Wieso ausgerechnet jetzt? Er hatte nur noch wenige Monate bis zu seiner Pensionierung. Warum hatte sich das Schicksal jetzt noch solch eine Wendung für ihn ausgedacht? Er machte sich zum Mittäter, wenn er Cartwright folgte. Und wenn er es nicht tat, dann missachtete er einen Befehl und konnte dafür unehrenhaft entlassen werden. Das wollte er auf keinen Fall riskieren. Doch sein Gewissen machte ihm schwer zu schaffen.
„Sonst noch etwas?“ wollte Cartwright wissen.
„Nein, Sir. Das wäre alles“, gab Penn steif zurück.
„In Ordnung. Dann sehen wir uns später.“ Cartwright warf ihn fast hinaus, was Penn aber nur recht war. Er hatte wenig Interesse daran, noch länger in diesem Büro zu bleiben. Er musste hinaus an die frische Luft. Seine Gedanken neu ordnen. Und verdrängen, was er eben gehört hatte.
Mit einer Tasse Kaffee in der einen und einem Datenpad in der anderen Hand saß Wendy Brooks am Tisch in der Messe der USS Excelsior
. Mit gefurchter Stirn studierte sie die Daten bereits zum wiederholten Male. Und wurde doch nicht schlauer aus ihnen. Irgendetwas passte hier nicht zusammen, doch konnte sie nicht sagen, was das war.
Sie war abkommandiert worden, um die Testflüge der USS Excelsior
zusammen mit einigen anderen Technikern zu analysieren. Noch immer gelang es den Maschinen des Schiffes nicht, einen stabilen Transwarp-Kanal zu erzeugen, der das Schiff mit bisher unvorstellbar hohen Geschwindigkeiten durch das All transportieren sollte. Theoretisch sollte es möglich sein, doch wie so oft scheiterte die Theorie in der Praxis. Bei jedem Versuch gab es eine Fluktuation in den Energiewerten, kurz bevor das Schiff in den Transwarpkanal hineinfliegen konnte. Und jedes Mal kollabierte der Kanal und hinterließ Unmengen an durchgebrannten Leitungen und Steuerelementen. Bisher war es weder Wendy noch einem ihrer Kollegen gelungen das Problem zu finden.
Eigentlich war das Transwarpprogramm schon so gut wie gescheitert gewesen. Doch der erneute Kontakt zu den Xindi hatte den Ehrgeiz der Verantwortlichen bei der Sternenflotte wieder geweckt. Die Xindi nutzten eine ähnliche Technologie, dann war es also möglich die Probleme in den Griff zu bekommen. Und wenn die Xindi das geschafft hatten, dann würde die Föderation das doch wohl auch schaffen.
Wendy war sich dessen aber nicht mehr so ganz sicher. Offenbar hatten die Xindi irgendetwas entdeckt, das der Sternenflotte bisher entgangen war. Oder aber, sie hatten einfach eine in dieser Hinsicht bessere Technologie. Irgendeine Komponente, die eine Überlastung verhinderte.
„Schon etwas weiter gekommen?“ erkundigte sich plötzlich eine männliche Stimme hinter ihr.
Wendy zuckte so heftig zusammen, dass sie sich einen Teil ihres Kaffees auf die Hose kippte. Sie hatte gemeint, alleine hier zu sein. Immerhin hatte das Schiff im Moment keine Crew, nur ein paar Techniker, die ihre Analysen durchführten. „Verdammt“, fluchte sie leise.
„Entschuldige“, sagte der Mann zerknirscht. „Das habe ich nicht gewollt.“
„Schon gut“, brummte sie missmutig. Sie stellte ihre Tasse ab, warf das Pad daneben und versuchte das Malheur so gut wie möglich zu beseitigen.
Der Mann reichte ihr eine Serviette und schaute dabei ziemlich betreten drein. Es sah so drollig aus, dass Wendy unwillkürlich lachen musste.
„Es ist nicht so schlimm“, beteuerte sie nochmal. „Ich werde mir nachher einfach eine neue Hose anziehen. So etwas passiert mir nicht zum ersten Mal.“ Sie grinste schief. „Bitte, nimm Platz.“
An den Abzeichen auf seiner Uniform war zu erkennen, dass auch er ein Techniker war. Wendy kannte ihn natürlich. Sie arbeiteten gemeinsam an dem aktuellen Problem. Und sie waren inzwischen auch ziemlich vertraut miteinander. Wenn auch noch nicht vertraut genug, wenn es nach Wendy ging.
„Kommst du weiter?“ wollte er wissen, nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte. Dann deutete er auf das Pad. „Ich meine natürlich mit dem technischen Problem, nicht mit dem Kaffeeproblem.“
Wendy legte ihren Kopf schief und sah ihn einen Moment streng an. Sie hatte eine spitze Erwiderung auf der Zunge liegen, überlegte es sich dann aber anders. „Nein, ich komme überhaupt nicht weiter“, gestand sie ein. Sie legte die kaffeegetränkte Serviette beiseite und nahm das Pad wieder zur Hand.
„Das ist schade. Und freut mich auf der anderen Seite. Immerhin arbeite ich schon seit zwei Jahren an diesem Projekt. Wenn du nach wenigen Monaten etwas gefunden hättest, käme ich mir ja wie ein Anfänger vor.“
Wendy überging seinen flapsigen Spruch einfach. „Jedes Mal, wenn wir den Kanal erzeugen, gibt es in den Systemen eine Überlastung. Hier.“ Sie deutete auf eine Grafik auf ihrem Pad und reichte sie ihrem Gegenüber. „Es gibt hier ein paar Energiespitzen, die ich nicht erklären kann. Sie stammen definitiv nicht von der Excelsior
. Obwohl das überhaupt keinen Sinn ergibt.“
Er sah sich die Daten lange an, tippte dann ein wenig auf dem Touchscreenmonitor herum und rief weitere Daten ab. Dann sah er sie an. „So wie es hier aussieht hast du Recht. Die Excelsior erzeugt diese Energie nicht.“ Anerkennung schwang in seiner Stimme mit. Er hatte das bisher nicht entdeckt. „Aber woher kommt die Energie dann?“
Nachdenklich sah Wendy durch ihn hindurch. Sie hatte eine Idee, aber es erschien so abwegig.
„Sag mir, was du denkst“, bat er.
Wendy atmete tief durch und kehrte mit ihrem Blick zurück. „Es ist fast so, als würde die Energie aus dem Subraum stammen“, sagte sie dann. Sie erwartete fast, dass er zu lachen begann, doch er schwieg und hörte ihr aufmerksam zu. „Es passiert immer im gleichen Moment“, fuhr sie fort. „Rein theoretisch müsste der Kanal sich in dem Moment stabilisieren, doch stattdessen gerät er außer Kontrolle und kollabiert. So als ob wir im Subraum eine Energie anzapfen würden, die als Feedbackschleife in unsere Systeme zurückkommt und alles überlastet.“
„Eine solche Energie gibt es im Subraum aber nicht“, hielt er skeptisch entgegen.
„Wissen wir das genau? Der Subraum ist noch immer nicht so genau erforscht, als dass wir das mit Sicherheit ausschließen können.“ Sie hielt inne und sah ihn an. „Das ist ja auch nur eine Theorie. Aber eine andere Erklärung für diese Energiespitzen habe ich nicht.“
„Ich werde es nicht wagen, dir zu widersprechen, wenn du es so darlegst. Dazu bist du zu genial.“
Erst jetzt bemerkte sie seinen intensiven Blick. Verlegen sah sie zur Seite. „Das ist nicht wahr, Mike. Ich habe vielleicht etwas gesehen, aber das hätten andere auch.“
„Das ist nicht wahr. Ich habe diese Daten seit knapp zwei Jahren vorliegen und habe diese Energiespitzen so nie gesehen.“
„Du hast diese Daten auch noch keine zwei Jahre“, berichtigte sie ihn. „Denn mit jedem Versuch kommen neue Daten dazu, die das Bild etwas runder machen. Dazu habe ich als Außenstehende wohl auch einen etwas anderen Blickwinkel. Wärst du neu dazugekommen, hättest du das sicher auch gesehen.“
Lächelnd schüttelte er den Kopf, sagte aber nichts weiter dazu. „Hast du Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen?“ wollte er stattdessen wissen.
Wendy sah ihn einen Moment an. Das kam jetzt etwas überraschend, aber auf keinen Fall ungelegen. „Gerne“, nahm sie das Angebot an. „Ich sollte mir vorher nur noch eine saubere Hose anziehen“, erinnerte sie ihn spitzbübisch an die vorherige Situation und musste dann auflachen, als er wieder schuldbewusst dreinsah.
DREI
Äußerst schlecht gelaunt materialisierte sich Admiral Cartwright vor dem Palais de la Concorde, dem Sitz des Föderationspräsidenten in Paris. Leichter Nieselregen empfing ihn. Das nasskalte Wetter passte irgendwie zum Umstand seiner Anwesenheit. Ihm stand eine äußerst unangenehme Unterredung mit dem Präsidenten bevor. Eine Unterredung, die er so nicht eingeplant hatte. Und die er gerne vermieden hätte.
Erst vor drei Stunden hatte er einen Anruf aus diesem Gebäude erhalten. Ein wütender Präsident war ihm auf die Bildschirme geschaltet worden, der auch sofort losgepoltert hatte. Er war geradezu außer sich gewesen, und es war ein Wunder, dass er Cartwright nicht auf der Stelle von seinen Aufgaben entbunden hatte. Ohne eine Pause hatte er seine Beschwerden gegen den Admiral vorgebracht und ihn dann zu sich nach Paris bestellt. Cartwright hatte keine Chance zu einer Äußerung gehabt. Das würde er alles jetzt vorbringen müssen. Falls er jetzt zu Wort kommen würde.
Irgendjemand hatte dem Präsidenten von den Gesprächen mit den Xindi erzählt. Und auch, dass Cartwright jede Information an die politischen Organe der Föderation verhindert hatte. Das hatte dann natürlich zur völligen Verärgerung des Präsidenten geführt. Der Admiral hatte eindeutig Penn im Verdacht die Informationen heimlich weitergegeben zu haben, auch wenn er keinerlei Beweise hatte. Trotzdem würde er sich den Mann nach seiner Rückkehr nach San Francisco erst einmal zur Brust nehmen. Penn hatte einen direkten Befehl missachtet und eigenmächtig gehandelt. Das war absolut nicht zu entschuldigen. Denn als Offizier der Sternenflotte hatte er Befehlen zu folgen, auch wenn sie ihm nicht passten. Wo käme die Flotte denn hin, wenn jeder das tat, was er für richtig hielt?
Als der Transporterstrahl Cartwright frei gab, setzte er sich in Bewegung, um das stattliche Gebäude direkt durch den Haupteingang zu betreten. Als Oberbefehlshaber der Sternenflotte hatte er den Transporter der orbitalen Raumstation nutzen können, um sich direkt von San Francisco hierher beamen zu lassen. Das Signal mit seinen Moleküldaten war dabei über Satelliten weitergeleitet worden. Eine äußerst bequeme Art zu reisen, ersparte sie doch einige Stunden Zeit, die ein regulärer Flug um den halben Planeten noch immer kostete.
Die Vorzimmerdame des Präsidenten wies ihn an direkt weiterzugehen. Ganz eindeutig wartete der Präsident schon ungeduldig auf ihn. Und genauso empfing er ihn auch. Er hatte sich hinter seinem Schreibtisch aufgebaut und schaute seinem Gast finster entgegen.
Der derzeitige Präsident, Hiram Roth, war ein Mensch. Er war zwar nur durchschnittlich groß, strahle aber eine Macht aus, die ihn sofort als wichtige Person hervorstechen ließ. Seine Haare waren bereits zum größten Teil ausgegangen. Nur ein schneeweißer Haarkranz lag noch um seinen Kopf herum. Unter den momentan grimmig dreinblickenden Augen hatte er eine breite Nase, und ein ebenfalls weißer Vollbart bedeckte die untere Gesichtshälfte bis zu den Wangenknochen. Sein Körperbau war zwar breitschultrig, doch sah man ihm an, dass er als Präsident wohl nicht mehr allzu viel Zeit für den Sport hatte.
„Mr. President“, salutierte Cartwright, als er die Türe hinter sich geschlossen hatte und vor dem Schreibtisch Aufstellung annahm. Immerhin war dieser Mann in seiner Rolle als Präsident auch gleichzeitig Oberbefehlshaber der Sternenflotte. Cartwright kannte ihn bereits seit langem.
„Admiral, mir sind schlimme Dinge zu Ohren gekommen“, kam Präsident Roth auch sofort zur Sache. Trotz seiner Wut schien er sich wieder einigermaßen gefangen zu haben, denn er sprach zwar mit gepresster Stimme, aber doch relativ ruhig. „Dinge, die sich wie eine Verschwörung anhören könnten, wenn man besonders argwöhnisch wäre.“
Cartwright hörte ihm zu, ordnete aber gleichzeitig auch nochmals die Worte in seinem Kopf, die er sich bereits zurecht gelegt hatte. Er war sich sicher, den Präsidenten von der Notwendigkeit seines Handelns überzeugen zu können und so mit einem blauen Auge aus dieser Affäre herauszukommen.
Während der Präsident ihm die Vorwürfe schilderte, die das Verschweigen der Einladung der Xindi zu Gesprächen beinhaltete sowie die eigenmächtige Führung dieser Gespräche durch die Sternenflotte, schaute sich Cartwright verstohlen im Raum um. Natürlich kannte er den Raum bereits durch diverse Besprechungen mit dem Präsidenten. Hinter dem Schreibtisch war groß das Emblem der Föderation, die stilisierte Milchstraße umrahmt von einem Lorbeerkranz, zu sehen. Links vom Schreibtisch stand ein großer Farn, direkt neben dem großen Panoramafenster, das einen Blick über Paris direkt auf den Eifelturm zuließ. Bei gutem Wetter war es eine grandiose Aussicht, auch wenn Cartwright das Glitzern des Meeresarmes fehlte, das er in San Francisco vor seinem Fenster hatte. Heute allerdings trübten der wolkenverhangene Himmel und der leichte Regen die Aussicht. Sein Blick galt aber ohnehin nicht der Aussicht oder der Einrichtung des Raumes. Vielmehr wollte er feststellen, ob noch jemand zugegen war. Und tatsächlich konnte er in einem Eck Admiral Penn stehen sehen, der allerdings den Eindruck machte sich ganz woanders hin wünschen zu wollen. Für Cartwright stand nun eindeutig fest, wer ihn verraten hatte. Zwar hatte er weiterhin keine Handhabe gegen seinen Kollegen, doch würde er dessen letzte Monate im Dienst nicht gerade sehr angenehm gestalten.
„Schauen Sie Admiral Penn nicht so an“, sagte Hiram Roth barsch, als ihm Cartwrights Blick auffiel. „Er hat nur seine Pflicht getan, als er sich an mich gewandt hatte. Er hat seine Verantwortung nicht vergessen. Was man eindeutig nicht von allen in diesem Raum behaupten kann.“
Cartwright zwang sich, seinen Blick wieder auf den Präsidenten zu richten, sagte aber erst einmal noch nichts. Er wartete darauf, dass Roth ihm das Wort erteilte.
„Was haben Sie sich nur dabei gedacht, derart gegen die Vorschriften zu verstoßen?“ fuhr Hiram Roth mit seinen Anschuldigungen fort. „Sie haben erst vor einem Jahr diese Position übernommen, überschüttet mit Vorschusslorbeeren und hohen Erwartungen. Sie schien das alles erfüllen zu können. Und nun das. Wieso?“ Er hielt abrupt inne und sah Cartwright direkt in die Augen.
Das war die Aufforderung, auf die Cartwright gewartet hatte. „Mr. President, ich hatte mit meinem Verhalten nicht vor jemandem zu schaden. Weder Ihnen, noch dem Amt, noch dem Föderationsrat. Im Gegenteil. Mein Interesse lag einzig und allein darin, all dieses zu schützen.“
Hiram Roth zog skeptisch die Augenbrauen nach oben. Ihm war völlig unverständlich, wie Cartwright nach seinem dreisten Vorgehen noch von Schutz sprechen konnte.
„Die Xindi hatten uns ein Gesprächsangebot zugesandt“, begann der Admiral seine Verteidigung. Wie auch schon Penn gegenüber, erläuterte er, dass die Sternenflotte erst einmal weitere Informationen sammeln musste, bevor das Ganze an den Präsidenten oder den Rat weiter gegeben konnte. Denn dass den Xindi nicht zu trauen sei, hatten sie erst vor wenigen Monaten wieder erfahren müssen, als es der Crew der Republic
gelungen war, einen erneuten Angriff auf die Erde zu verhindern. Selbst Hiram Roth war damals schockiert gewesen über die Xindi und hatte in einer geheimen Ratssitzung die Xindi als größte Bedrohung seit dem Zusammentreffen mit den Klingonen bezeichnet. Bevor der Rat nun über ein Gesprächsangebot mit den Xindi entscheiden konnte, mussten weitere Fakten erkundet werden. „Und bitte verzeihen Sie mir, wenn ich das so direkt sage“, fuhr Cartwright fort. „Aber mir ist aufgefallen, dass Politiker bei solchen Angeboten gerne die notwendige Vorsicht vermissen lassen und sich unnötigen Risiken aussetzen.“ Er sah Roth an und merkte, dass dieser schon einen Widerspruch auf der Zunge liegen hatte. Daher beeilte sich Cartwright ihm zuvorzukommen. „Nicht auszudenken, wenn eine diplomatische Abordnung von den Xindi als Geiseln genommen worden wäre, um damit die Föderation unter Druck zu setzen. Und schlimmer noch, wenn auch Sie persönlich dabei gewesen wären. Die Föderation hätte tun müssen, was die Xindi verlangen. Dieses Risiko konnten wir nicht eingehen“, schloss er seine Rechtfertigung.
„Das gab Ihnen aber noch lange nicht das Recht eigenmächtige Entscheidungen zu treffen“, gab Roth sofort zurück, wenn auch nicht mehr ganz so hart wie er es zu Beginn der Unterredung gesagt hätte.
„Wenn ich damit die Föderation vor Schaden bewahrt habe, dann kann ich damit leben“, sagte Cartwright zurückhaltend. Auf keinen Fall würde er lügen um seine Haut zu retten. Natürlich würde er in der gleichen Situation wieder so handeln. Aber er musste das ja nicht unbedingt in einem provozierenden Tonfall sagen. Denn seinen Job würde er doch ganz gerne behalten.
„Sie haben der Föderation damit aber nicht geholfen“, sagte Roth langsam und setzte sich. Er wirkte auf einmal müde. „Sie mögen gute Absichten bei Ihrem Handeln gehabt haben. Aber wie sagt schon ein altes Sprichwort: Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten. Tatsache ist, Sie haben die Föderation in eine schwierige Situation gebracht. Die Xindi sind verärgert. Es wird keine weiteren Gespräche geben, wenn wir nicht entscheidungsbefugte Diplomaten schicken. Das ist eine verzwickte Situation. Vermutlich können wir nur dann die größten Spannungen herausnehmen, wenn ich selbst mit zu den Verhandlungen reise. Um ein Zeichen zu setzen.“
Cartwright war bestürzt. Nun trat genau das ein, was er zu vermeiden versucht hatte. Der Präsident spielte den Xindi geradezu in die Arme. „Mr. President“, begann Cartwright noch einen Versuch. „Ich bitte Sie, lassen Sie die Sternenflotte noch weitere Informationen über die wahren Absichten der Xindi sammeln. Captain Cortez hatte…“
„Ich habe den Bericht Captain Cortez‘ gesehen“, unterbrach ihn Hiram Roth scharf. „Und ich denke, der Captain übertreibt ein wenig in seiner Darstellung der Situation. Die Xindi haben uns in den letzten hundert Jahren bereits zweimal bewiesen, dass sie die Fähigkeiten haben, die Erde auch über eine große Distanz hinweg zu zerstören. Wenn sie das wirklich tun wollten, würden sie es sicherlich wieder auf diesem Weg versuchen. Ein Treffen der Diplomaten wäre dazu nicht notwendig“, unterbreitete er dem Admiral seine Situationsanalyse.
Cartwright holte tief Luft. Wollte der Präsident etwa nicht verstehen, um was es hier ging? War er tatsächlich so blind? Es war so, wie er schon vermutet hatte. Die Politiker würden in dem Gesprächsangebot sofort eine Chance sehen, die sie zweifellos auch war, dabei aber die Risiken vergessen. Sie dachten anders wie die Offiziere der Sternenflotte. Sie schienen die Möglichkeit einer Falle gar nicht in Betracht zu ziehen. Einem Angehörigen des Militärs würde so etwas ganz sicher nicht passieren.
Ihm war aber auch bewusst, dass er den Präsidenten wohl kaum mehr von seinem Vorhaben abbringen konnte. Das Verhalten Roths war vermutlich schon fast eine Trotzreaktion auf Cartwrights Fehlverhalten. Der Admiral sah aber seine Pflicht noch immer darin, die Politiker zu schützen, daher wollte er wenigstens das Schlimmste vermeiden. „Dann bitte ich Sie, nein, ich flehe Sie an, nehmen Sie nicht direkt an den Gesprächen teil“, sagte er zum Präsidenten. „Das Schlimmste wäre nämlich, wenn die Xindi Sie als Geisel nehmen oder gar töten würden. Dann stünde die Föderation plötzlich führungslos da.“
Seufzend sah Roth auf. „Wenn ich nicht eilnehmen würde, wäre das das falscheste Signal überhaupt. Es geht nicht anders.“
Um seinen aufsteigenden Frust zu beherrschen schloss Cartwright kurz die Augen. Diese Uneinsichtigkeit war einfach unerträglich für ihn. Was bildete sich Roth eigentlich ein? Wollte er unbedingt ein Held werden? War ihm denn nicht bewusst, in welche Schwierigkeiten er die Föderation brachte, wenn ihr Präsident plötzlich abhanden käme? Für so uneinsichtig hatte er Roth nie gehalten.
Bevor er aber noch mehr sagen konnte, bewegte sich plötzlich Penn aus seiner Ecke heraus. „Mr. President“, mischte er sich in das Gespräch mit ein. „Ich muss Admiral Cartwright recht geben. Sie sollten an den Gesprächen nicht teilnehmen. Zumindest nicht gleich zu Beginn“, schränkte er ein, da er Roths überraschen Blick bemerkt hatte.
Cartwright sah zu Penn hinüber, ließ aber mit keiner Regung erkennen, was er von Penns Eingreifen hielt. Er wusste es eigentlich selbst nicht genau. Sollte er ihm etwa dankbar sein? Wohl kaum. Schließlich war das Leben des Präsidenten überhaupt erst durch Penn in Gefahr geraten. Er mochte nun den Schaden ein wenig minimieren, den er angerichtet hatte. Für Dankbarkeit reichte das aber ganz sicher nicht.
Stirnrunzelnd sah Roth von einem Admiral zum anderen und dann wieder zurück. Offenbar gab es ihm doch zu denken, dass die beiden Kontrahenten nun übereinstimmten. „Ich werde darüber nachdenken und mich mit meinen Ministern beraten“, sagte er schließlich. Was Cartwright jedoch nicht im Mindesten beruhigte. Denn die Minister waren alle Vollblutpolitiker und vertraten damit keine andere Meinung als es der Präsident auch tat. Trotzdem gab es nichts weiter dazu zu sagen. Und so entließ sie der Präsident.
Die Admiräle verließen gemeinsam den Raum, sprachen aber kein Wort miteinander. Sie würdigten sich auch keines Blickes, auch nicht, als sie den Aufzug betraten und hinab fuhren. Vor dem Gebäude empfing sie das nasskalte, trübe Wetter. Penn zog unwillkürlich den Hals ein, während Cartwright unbeeindruckt in den leichten Regen trat. Dann trennten sich ihre Wege, ohne dass sie sich gegenseitig noch eines weiteren Blickes würdigten.
Gedankenverloren starrte Drake Reed auf die Daten seiner Konsole. Seit Stunden lieferten sie ihm unveränderte Werte. Was eigentlich zu erwarten war, denn schließlich umkreiste die Lexington
noch immer die Umlaufbahn des Planeten, auf dem die ersten Gespräche mit den Xindi stattgefunden hatten. Das war allerdings schon vor zwei Tagen gewesen. Seitdem hatte sich keine der beiden Seiten bei der jeweils anderen gemeldet. Es herrschte absolute Funkstille zwischen den beiden Parteien. Die Lexington
wartete noch immer auf Befehle aus der Heimat. Und die Xindi schienen es genauso zu halten. Denn auch sie unternahmen keinen Kontaktversuch zu dem Sternenflottenschiff. So war die ganze Angelegenheit inzwischen zu einer nervenaufreibenden Hängepartie geworden. Und schuld war in Reeds Augen ganz klar Captain Cortez mit seiner fatalen Fehleinschätzung der Situation. Er hatte die Gespräche abgewürgt ehe sie richtig begonnen hatten. Zwar war Reed nicht dabei gewesen, aber er hatte von den anderen Teilnehmern der Mission das eine oder andere gehört. Zusammengesetzt ergab sich für ihn damit ein klares Bild. Und er konnte nur hoffen, dass bei der Sternenflotte und den zuständigen Gremien der Föderation verantwortungsbewusstere Personen saßen, die nicht genauso dachten wie Cortez. Doch wie sollten sie nach dem Bericht des Captains noch anders entscheiden? Sie hatten schließlich nur den einen Bericht zu Situation vor sich. Ihnen fehlte eine Gegendarstellung. Darüber hatte sich Reed bereits die letzten zwei Tage den Kopf zerbrochen. Lag es an ihm, die Situation noch zu retten? Doch wie würde das aussehen? Er war bei den Gesprächen nicht einmal dabei gewesen. Er konnte nur aus zweiter Hand berichten. Außerdem, was war schon seine Meinung, die eines Querulanten, gegen die eines angesehenen Captains? Die Chance überhaupt angehört zu werden waren geradezu lächerlich gering. Dazu kam, dass das Versenden einer Nachricht an die Sternenflotte hier auf dem Schiff bemerkt werden würde und er nach einer solchen ungenehmigten Aktion in richtigen Schwierigkeiten stecken würde. Aber war es das nicht wert?
Er seufzte und versuchte sich wieder auf die Daten zu konzentrieren. Mit seiner Entscheidungsfreudigkeit war es zur Zeit nicht sonderlich weit her. Seine private Situation hatte sich längst auf seine Arbeit übertragen und ihn dort genauso handlungsunfähig gemacht. Doch hatten die Grübeleien über die Xindi wenigstens dafür gesorgt, dass er nicht mehr ständig an Elane denken musste. Zwar waren die Gedanken an sie nicht gänzlich verschwunden, doch waren sie soweit zurückgedrängt, dass sie ihn nicht mehr ununterbrochen beschäftigten.
Noch während seine Gedanken weiter kreisten, fiel ihm eine Veränderung der Daten auf. Es schien sich tatsächlich etwas zu tun. Aber nicht unmittelbar dort draußen. Viel mehr war es eine eintreffende Botschaft. Vielleicht die lange ersehnte Antwort der Erde. Oder ein erneuter Versuch der Xindi, doch noch etwas zu retten. Wie auch immer, die Botschaft war verschlüsselt und direkt an den Captain gerichtet.
„Captain Cortez, wir empfangen eine Nachricht der Priorität eins“, gab er die Information sofort weiter und wandte sich um.
Cortez schien ein wenig zusammenzuzucken. Offenbar war auch er ein wenig in Gedanken versunken gewesen. Und schreckte aufgrund Reeds plötzlicher Worte zusammen. Er fing sich aber schnell wieder und nickte. „In Ordnung. Stellen Sie die Nachricht in meinen Raum durch.“ Dann stand er auf und verließ eilig die Brücke. Offensichtlich wurde auch er von der Neugier auf den Inhalt der Botschaft getrieben.
Reed führte ein paar Schaltungen durch, dann gab es erst einmal nichts mehr zu tun. Zu gerne hätte er die Botschaft selbst gesehen. So musste er sich weiter in Geduld fassen, was ihm nicht leicht fiel. Er sah zu Barrow hinüber. Dieser sah ihn an und an seinem Blick war zu erkennen, dass er genauso neugierig und gespannt war. Und dass er jetzt am liebsten darüber spekuliert hätte. Doch die Anwesenheit Commander Harrisons verhinderte jedes Gespräch auf der Brücke. So blieb jeder bei seinen Bedienelementen und wartete. Konzentrieren konnte sich im Moment ohnehin niemand. Nicht, solange niemand wusste, was die Nachricht für das Schiff und seine Crew bedeutete.
Sie wurden auf eine scheinbar unendlich lange Probe gestellt. Cortez erschien zwar nach etwas mehr als einer halben Stunde wieder, doch jedem auf der Brücke kam es deutlich länger vor. Entsprechend angespannt war die Stimmung, als sich die Lifttüren endlich öffneten und Cortez die Brücke betrat. Verstohlene Blicke wurden ihm entgegengeschickt und jeder versuchte anhand seiner Mimik bereits Anhaltspunkte zu erhalten. Und jedem fiel sofort der finstere Gesichtsausdruck des Captains auf. Was auch immer die Botschaft beinhaltet hatte, es schien nichts Gutes zu bedeuten.
Schweigend nahm er im Kommandosessel Platz und starrte noch einige Augenblicke finster vor sich hin. Dann holte er tief Luft und wandte sich direkt an Barrow. „Navigator, setzen Sie einen Kurs zurück zu unserer Kartographierungsmission. Wir nehmen sie dort wieder auf, wo wir sie verlassen haben.“ Mehr hatte er anscheinend nicht zu sagen, denn er lehnte sich im Kommandosessel zurück und hüllte sich in finsteres Schweigen.
Barrow brauchte einen Moment, ehe er reagieren konnte. Mit großen Augen sah er den Captain an, bis es bei ihm ankam, dass er einen Befehl erhalten hatte. „Aye, Sir“, bestätigte er dann verwundert und drehte sich wieder zu seiner Konsole um. Mit einem leichten Kopfschütteln gab er die entsprechenden Kursdaten ein. Wie alle anderen an Bord verstand er überhaupt nicht, was hier vor sich ging. Wie auch, wenn der Captain es nicht erklärte. „Kurs gesetzt“, bestätigte er schließlich.
„Gehen Sie auf Warp 5“, sagte Cortez matt.
„Ja, Sir.“ Barrow aktivierte die Triebwerke. Zuerst langsam, dann immer schneller setzte sich das Schiff in Bewegung. In einer eleganten Kurve schlug die Lexington
die Richtung ein, dann ging sie in den Warptransit.
Auf der Brücke herrschte eisiges Schweigen. Niemand wusste, was den Captain bewogen hatte, den Ort der Verhandlungen zu verlassen. War es das jetzt? War die Jahrhundertchance zur Versöhnung mit den Xindi dahin? Die Unsicherheit und die Verwirrung waren geradezu greifbar und nagten an der Moral der Crew. Zwar betraf das bisher nur die Brückencrew, doch war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Nachricht über die Geschehnisse durch das Schiff verbreitete. Die Buschtrommeln funktionierten bei solchen Dingen immer hervorragend.
Commander Harrison, der genauso wenig wusste wie der Rest, schien das nicht weiter zu stören. Zumindest ließ er sich nichts anmerken. Für ihn schien es absolut in Ordnung zu sein, dass der Captain seine Entscheidungen nicht erklärte. Das war schließlich nicht nötig bei einer militärischen Hierarchie. So machte er auch keine Anstalten den Captain zu einer Aussage zu bewegen.
Reed konnte das überhaupt nicht verstehen. Wie konnte der Commander nur so desinteressiert sein. Natürlich war die Sternenflotte eine militärische Einrichtung, aber sie befanden sich nicht mehr im tiefsten Mittelalter. Die Sternenflotte erwartete von ihren Offizieren nicht blinden Gehorsam, sondern Einsatz und auch eigenständiges Denken. Niemand wollte willenlose Marionetten haben. Und er war verdammt noch mal an dritter Stelle in der Rangfolge an Bord. Er hatte das Recht zu wissen was hier vor sich ging. Und er würde das einfordern. Hier und jetzt. Er drehte sich um und stand dann von seiner Station auf. Er wollte dem Captain auf Augenhöhe gegenüber treten. Das würde die Sache etwas einfacher machen.
Cortez nahm die Bewegung wahr und sah auf. Auch er wusste, dass es jetzt noch keinen Schichtwechsel gab. Somit war es ungewöhnlich, dass jemand seine Station verließ. Sein Blick begegnete fragend dem Reeds.
Jetzt oder nie, dachte Drake, bevor er wieder ins Zweifeln kommen würde. „Captain. Würden Sie uns bitte den Grund für den plötzlichen Aufbruch mitteilen? Sie würden damit den Spekulationen den Wind aus den Segeln nehmen.“ Seine Stimme war fest und er fühlte sich wieder so gut und selbstsicher, wie es früher der Fall gewesen war.
Von der anderen Seite der Brücke schickte Commander Harrison böse Blicke herüber. In seinen Augen war Reeds Auftreten eine Provokation, die sich kein kommandierender Offizier gefallen lassen musste. Schon gar nicht von jemandem wie Reed. Langsam stand er auf, um dem Captain zur Seite zu stehen. Er wollte auch schon etwas sagen, doch Cortez kam ihm zuvor.
„Sie haben Recht“, nickte der Captain langsam. Er schien nicht einmal groß mit sich ringen zu müssen. Er wirkte einfach nur niedergeschlagen und enttäuscht. „Sie haben ein Recht es zu erfahren. Sie alle“, fügte er lauter hinzu.
Sofort hatte er die Aufmerksamkeit der gesamten Brückencrew. Commander Harrison blickte äußerst überrascht drein. Damit hatte er nicht gerechnet, ebenso wenig wie alle anderen. Aber nun hielt er sich zurück, denn natürlich wollte auch er wissen, warum sie den Xindi den Rücken kehrten.
„Die Sternenflotte hat uns zurückbeordert“, sagte Cortez einfach und doch lag auch unüberhörbarer Frust darin. Was die meisten überraschte, denn genau darauf hatte Cortez mit seinem Bericht doch hingearbeitet. Wieso war nun enttäuscht darüber? „Die Föderation hat beschlossen, dass die Gespräche nun auf diplomatischer Ebene fortgesetzt werden sollen.“ Daher wehte also der Wind. Die Föderation war seiner Empfehlung nicht gefolgt. Was Reed nicht sonderlich traurig stimmte. Ebenso wenig wie die meisten anderen auf der Brücke. „Offenbar ist den Verantwortlichen bei der Föderation nicht bewusst, dass den Xindi nicht zu trauen ist. Niemand scheint die Gefahr zu erkennen, in die die Föderation hineinläuft. Und wir werden wieder zu Weltraumvermessern, anstatt an vorderster Linie die Gefahr durch die Xindi zu bekämpfen“, fügte er bitter hinzu.
Reed musste sich beherrschen, um nicht aufzustöhnen. Wie verbohrt konnte dieser Mann eigentlich sein? Wie konnte jemand mit solchen Vorurteilen und solch rassistischem Gedankengut nur Captain bei der Sternenflotte werden? Einer Flotte, in der mehr als ein Dutzend verschiedener Rassen ihren Dienst taten. In der das Miteinander verschiedener Spezies ganz groß geschrieben wurde und als eine der wichtigsten Tugenden galt.
„Aber Befehl ist Befehl“, sagte Cortez, als ob damit alles erklärt wäre. Er würde jeden Befehl der Sternenflotte ausführen, auch wenn er noch so sinnlos wäre.
Für Reed war die Wiederaufnahme der alten Mission jedoch ein gutes Zeichen. Hier konnten Cortez und Harrison keinen großen Schaden anrichten. Hier spielte es keine Rolle, was sie dachten oder wie sie handelten. Sollten sich fähigere Personen um die Xindi kümmern. Dann war die Gefahr, diese Chance ungenutzt verstreichen zu lassen, wenigstens deutlich geringer.
Nachdem Cortez wohl nicht die Absicht hatte, dem Ganzen noch mehr hinzuzufügen, nahm Reed wieder Platz. Und ihm wurde bewusst, was die Rückkehr zur Kartographierungsmission für ihn persönlich bedeutete: Er hatte keine Ablenkung mehr und damit wieder viel mehr Zeit, um über Elane nachzudenken.
Sie begeben sich auf die wichtigste Mission Ihres Lebens
, hallten die Worte des Präsidenten noch immer durch seinen Kopf, obwohl die Unterhaltung bereits mehr als einen Tag zurück lag. Trotzdem konnte er es nicht vergessen oder verdrängen. Natürlich hatte der Präsident Recht. Er hatte die Chance, die Entwicklung der Föderation in neue Bahnen zu lenken, der Zukunft eine neue Richtung zu geben. Eine lohnenswerte Richtung. Doch der Druck, den er spürte, war auch dementsprechend hoch. Von ihm und seinem Stab würde die weitere Entwicklung abhängen. Er hatte die Chance, in die Annalen der Geschichte einzugehen. Als großer Mann mit weitreichenden Visionen, wenn er es richtig machte und Erfolg hatte. Oder aber als der Mann, der die Zukunft zerstört hatte und die Föderation um ihre Entwicklungschance gebracht hatte, wenn er scheiterte. Und der Grad, auf dem er sich bewegte war verdammt schmal.
Er hatte keine wirklich Angst vor dieser Aufgabe. Dazu hatte er in seinem Leben bereits zu viel erreicht und richtig gemacht. Immerhin hatte er es zum Vizepräsidenten eines interstellaren Völkerbundes gebracht. Und das war kein Kinderspiel gewesen, sondern mit harter Arbeit und viel Ausdauer verbunden gewesen. Doch all seine Erfolge in der Vergangenheit, all seine Verhandlungen, die er schon geführt hatte, waren nichts im Vergleich zu der bevorstehenden Aufgabe.
Vor etwas mehr als einem Tag hatte der Präsident ihn in sein Büro zu einer Dringlichkeitssitzung gerufen. In knappen, aber deutlichen Worten, hatte Hiram Roth ihm von dem Gesprächsangebot der Xindi berichtet, und von dem ungeheuren Alleingang der Sternenflotte. Ein in der Geschichte der Föderation bisher einmaliger Vorgang. Zumindest gingen alle davon aus. Trotzdem hatte Präsident Roth eine offizielle Untersuchung angeordnet, um der Sache auf den Grund zu gehen und um zu klären, ob so etwas in der Vergangenheit bereits öfters vorgekommen war.
Nachdem er vom Präsidenten über den Stand der Dinge unterrichtet worden war, hatte er auch sofort den Auftrag bekommen, die Gespräche mit den Xindi fortzuführen. Es ging vor allem darum, den durch die Sternenflotte angerichteten Schaden wieder gut zu machen. Das hatte zu Beginn der Gespräche oberste Priorität. Das verloren gegangene Vertrauen war wieder herzustellen. Danach konnte das Ziel dann die Einrichtung einer ständigen diplomatischen Vertretung sein. Und wenn es richtig gut läuft, dann könnten wir die Xindi vielleicht in einigen Jahren als neues Mitglied der Föderation willkommen heißen
, hatte Hiram Roth eine vorsichtige Zukunftsprognose gewagt. Aber natürlich war auch ihm bewusst, dass es bis dahin noch ein weiter und anstrengender Weg war. Trotzdem musste das letztlich ihr endgültiges Ziel sein.
So war er nun mit seinem Stab, einem Andorianer, einem Vulkanier und drei Menschen, auf dem Weg zum Treffen mit den Xindi. Der Aufbruch war relativ überstürzt gewesen, da der Präsident der Ansicht gewesen war, es dürfe keine weiteren Verzögerungen mehr geben. Er hatte den Eindruck gemacht, als wäre er am liebsten selbst mitgekommen. Doch letztlich hatte er sich auf Drängen seiner Berater doch dagegen entschieden, sich aber vorbehalten, zu einem späteren Zeitpunkt eventuell noch zu den Gesprächen dazu zu stoßen.
Das Schiff mit dem sie reisten, ein Forschungsschiff der Oberth-Klasse, war ziemlich klein und bot nur wenig Platz. Doch hatten alle Berater gemeint, es wäre besser mit einem völlig unbewaffneten Schiff bei dem Treffen zu erscheinen. Nur mit diesem Zeichen der guten Geste könne die Föderation zeigen, dass es ihr Ernst sei mit den Gesprächen. Und die friedliche Grundhaltung der Föderation würde damit ebenfalls deutlich zum Ausdruck kommen. Ein Gedanke, den er nur voll und ganz unterstützen konnte. Trotzdem hätte er sich etwas mehr Komfort und Platz gewünscht. Aber schließlich war das hier auch keine Vergnügungsreise.
Sie hatten noch ein paar Stunden bis zu ihrem Ziel. Zeit, die er nutzen musste, um alle seine Unterlagen noch zu vervollständigen und alle Informationen, die es über die Xindi gab, zu lesen. Das war zwar nicht viel, doch da er sich bisher mit diesem Volk noch nie befasst hatte, musste er bei null anfangen. Durch den übereilten Aufbrach war für all diese Tätigkeiten vorher keine Zeit mehr geblieben. Trotzdem war er sich sicher, dass das kein Problem werden würde. Dann mussten sie eben etwas mehr improvisieren. Aber das hätten sie auch bei der besten Vorbereitung müssen. Denn da die Bräuche und die gesellschaftlichen Regeln der Xindi noch nahezu unbekannt waren, hätten sie ohnehin nicht viel vorbereiten können. Sie mussten vor Ort entscheiden, was im Einzelnen angebracht war und was nicht.
So vergingen die Stunden, im wahrsten Sinne des Wortes, wie im Flug. Hochkonzentriert arbeitete er sich durch die Daten hindurch, ergänzte seine Unterlagen, brachte neue Formulierungen in seine Rede ein. Er hatte sich vorgenommen, erst einmal die Föderation und ihre Prinzipien vorzustellen. Die Xindi sollten verstehen, dass die Föderation ein Völkerbund war, in dem alle Völker ihre Souveränität behalten und die Vorteile eines gemeinsamen Bündnisses genießen konnten. Dass die Ausrichtung friedlich war und von der Föderation keine Gefahr ausging. Und er war sich sicher, wenn er die Xindi davon überzeugen konnte, dann würde das dem weiteren Gesprächsverlauf den Weg ebnen.
Zwei Stunden vor der Ankunft am Verhandlungsort packte er alles zusammen und schaltete den Computer ab. Nun hatte er genug getan, mehr machte jetzt auch einfach keinen Sinn mehr. Stattdessen wäre es sinnvoller, wenn er sich noch ein wenig hinlegen würde, um dann ausgeruht die Gespräche beginnen zu können. Daher legte er sich auf das Bett und schloss die Augen. Es würde sicher kein besonders tiefer Schlaf werden, doch würde ihm das reichen. Er war es gewohnt, wenig zu schlafen.
So war er denn auch zwei Stunden später, als der Computer ihn weckte, ausgeruht und voller Tatendrang. Er zog den dunklen Anzug an, der dem aktuellen Stand der Mode entsprach, und trat dann kurz an den Spiegel. Ein älteres, schmales Gesicht sah ihm daraus entgegen, dem die Anstrengungen seines Jobs durchaus anzusehen waren. Tiefe Falten hatten sich darin eingegraben und die Tränensäcke unter den Augen hingen schwer und dunkler herab. Seine Haare waren fantasielos kurz und die trüben Augen täuschten über seine tatsächlich vorhandene Energie hinweg. Eine Hakennase zierte sein Gesicht, die das Erscheinungsbild nicht gerade positiv verbesserte. Die Behauptung, dass Männer mit dem Alter immer besser aussahen, traf auf ihn ganz sicher nicht zu. Aber darauf kam es ihm nicht an. Wichtig waren die Taten, die ein Mensch in seinem Leben hinterließ. Daran würde man von der Nachwelt gemessen. Und genau danach handelte er auch. Nur das zählte.
Schnell wandte er sich wieder vom Spiegel ab und schnappte sich die vorbereitete Tasche, die alle Unterlagen enthielt, die er vermutlich brauchen würde. Bevor er das Quartier verließ, schloss er noch einmal kurz die Augen, atmete tief durch und verlangsamte ein wenig den Atem. Es war wichtig, dort absolut ruhig aufzutreten. Nervosität war unprofessionell. Er musste den Eindruck erwecken, jederzeit Herr der Lage zu sein. Ein ruhiger und gleichmäßiger Atem war die Grundvoraussetzung dafür.
Als er schließlich die Türe öffnete, stand sein andorianischer Kollege davor und hatte gerade den Türsummer betätigen wollen. Mitten in seiner Bewegung hielt er inne und ließ dann die Hand wieder sinken. „Mr. Vice-President“, grüßte der Andorianer und deutete mit seinem blauen Kopf eine leichte Verbeugung an. Seine blauen Antennen neigten sich dabei ebenfalls nach vorne und legten sich fast schon auf die schneeweißen Haare. „Wir sind soweit“, sagte er dann und trat einen Schritt zur Seite.
„Dann wollen wir mal“, sagte er und verließ sein Quartier. Schweigend liefen sie durch den Gang in Richtung des Transporterraumes. Auch wenn das Schiff, das sie hierher gebracht hatte, im Verhältnis zu anderen relativ klein war, so war es trotzdem nicht für den Atmosphärenflug oder gar für eine Landung konstruiert worden. Daher blieb ihnen für den Weg hinunter zur Oberfläche nur das Beamen. Da das aber seit einigen Jahrzehnten zum Standardtransportmittel geworden war, dachte auch niemand weiter darüber nach.
Zu ihrem bevorstehenden Treffen gab es jetzt nichts mehr weiter zu besprechen. Sie hatten sich bereits zusammen ausführlich beraten, diskutiert und ausgetauscht und auf das Treffen vorbereitet, so gut es eben ging. Jedes weitere Wort wäre jetzt nur eine weitere Wiederholung und würde vielleicht zu neuen Verwirrungen führen. Daher schwiegen beide. Jeder ging still und für sich seine jeweiligen Rituale vor einem solchen Treffen durch. Denn auch wenn die wenigstens es zugeben würden, jeder hatte seine eigenen Rituale, seinen eigenen Aberglauben, mit dem ein solches Treffen gelingen sollte. Manchmal war es einfach eine bestimmte Reihenfolge, in der die Vorbereitungen getroffen wurden. Oder es war ein Talisman, dem man heimlich in der Tasche mit sich führte um sich sicherer zu fühlen. Manche mussten gewisse Sätze in Gedanken durchgehen oder ein kleines Gebet sprechen. Für solche Rituale war jetzt der geeignetste Moment.
Als sie den Transporterraum betraten, wartete dort bereits der restliche Stab auf die beiden. Der Vulkanier und die drei Menschen, die noch zur ihrer Gruppe gehörten, waren schon bereit aufzubrechen. Zudem hatte es sich der Captain des Forschungsschiffes nicht nehmen lassen, ebenfalls hier zu erscheinen, um sie für den heutigen Tag zu verabschieden. Am Abend würden die Diplomaten wieder an Bord zurückkommen. Denn das Schiff würde für die Zeit der Verhandlungen Wohnsitz der Föderationsabordnung sein.
Zu fünft betraten sie die kleine Transporterplattform, während der Captain an die Transporterkonsole trat.
„Mr. Penneteau, ich wünsche Ihnen viel Glück und gutes Gelingen“, gab der Captain dem Vizepräsidenten noch mit auf den Weg. Nach einem kurzen Nicken von Penneteau führte der Captain die Schaltungen durch. Der Transporter fing an zu summen und erfasste die Personen. Ein Scanner durchleuchtete sie und analysierte jedes Molekül. Dann wurden die Muster im Puffer gespeichert und die zu beamenden Personen Molekül für Molekül auseinander genommen. Über die Leitungen und Sender an der Außenhülle des Schiffes wurden die Daten dann an den Zielort übertragen. Dort wurde der Transporterstrahl gebündelt und die Personen wurden Molekül für Molekül wieder anhand der gespeicherten Muster zusammengesetzt. Es gab keinen Unterschied zu den Personen, die vor wenigen Sekunden noch im Transporterraum gestanden hatten. Einzig ein kurzes Gefühl der Kühle gaben die meisten an gespürt zu haben. Sehr empfindliche Personen behaupteten außerdem, kurz nach dem Transport, einen Moment der Desorientierung zu empfinden. Das ließ sich allerdings wissenschaftlich nicht bestätigen.
Die fünf Personen des Teams sahen sich um. Sie hatten sich direkt vor dem Gebäude materialisiert, das die Xindi für die Gespräche ausgewählt hatten. Hier war vor einigen Tagen auch schon Captain Cortez zu einem Gespräch erschienen, das mit Sicherheit nicht als Lehrstück der Diplomatie gelten konnte.
Die Luft war trocken und staubig, obwohl dichte Wolken am Himmel hingen. Sie schienen aber normalerweise nicht allzu viel Wasser von sich zu geben, nur so war die trockene Luft und das ganze trockene Umfeld zu erklären.
Bevor sie das Gebäude betreten konnten, kamen ihnen die Xindi entgegen. Es waren dieselben Personen, die auch Captain Cortez empfangen hatten. Wieder waren es nur die Humanoiden und die Arborealen. Die Reptilianer und die Insektoiden schienen ihre Ablehnung damit zeigen zu wollen, dass sie dem Empfang der Gäste fern blieben. Und die Aquarianer konnten aus nachvollziehbaren Gründen nicht vor die Türe kommen.
Penneteau war auf der einen Seite fasziniert vom Anblick seiner Gastgeber. Die beiden Spezies sahen ziemlich unterschiedlich aus. Dass sie sich auf ein und demselben Planeten entwickelt hatte, war kaum vorstellbar. Und trotz der Unterschiede gab es auch ein paar kleinere Gemeinsamkeiten, die sie als verwandte Spezies kenntlich machten. So zum Beispiel die Knochenpartie der leichten Stirnwulst oder auch die ausgeprägten Wangenknochen, die sich von der Schläfe heran herunterzogen. Bei den Baumwesen war allerdings fast das ganze Gesicht mit Haaren bedeckt, womit die Ähnlichkeiten nicht so deutlich wurden.
Auf der anderen Seite aber war Penneteau auch ein wenig enttäuscht. Die Baumwesen sahen nicht ganz so spektakulär aus, wie er sie sich vorgestellt hatte. Seine Phantasie hatte aus den Beschreibungen ein ganz anderes Bild geformt. Es war eben eine Sache, Beschreibungen der Spezies zu lesen, aber etwas ganz anderes, sie direkt vor sich zu sehen. Und da es kaum Bildmaterial der Xindi gab, hatte er nicht gewusst, wie die einzelnen Spezies aussahen. Die ersten Bilder der Humanoiden gab es erst seit knapp einem halben Jahr, seit Captain Sanawey nach Zerstörung der Xindi-Waffe, von einem Xindi namens Droga kontaktiert worden war. Von den anderen Spezies gab es keine Bilder. Nachdem die Arboreale aber nicht dem entsprachen, was er sich vorgestellt hatte, revidierte er gedanklich schon seine Vorstellungen von den anderen Spezies.
„Mr. Penneteau. Im Namen aller Xindi heiße ich Sie und Ihr Team bei uns Herzlich Willkommen“, begrüßte ihn einer der Humanoiden und reichte ihm, der menschlichen Geste entsprechend, die Hand. „Mein Name ist Narzjan.“
Penneteau schüttelte ihm erfreut die Hand. Nach der Nachricht der Xindi, die bei der Föderation eingegangen war, hatte er mit einem etwas kühleren Empfang gerechnet. Aber offenbar waren die Xindi bereit, das erste Gespräch mit der Föderation einfach zu vergessen und nochmal von vorne anzufangen.
„Vielen Dank“, erwiderte der Mensch erfreut. „Vielen Dank für die Einladung zu diesen Gesprächen. Wir freuen uns darauf, mit Ihrem Volk endlich offizielle Gespräche führen zu können. Das ist eine großartige Chance, ein Jahrhundert der Missverständnisse aufzuarbeiten und in eine bessere Zukunft zu starten.“ Penneteau hatte sich eigentlich eine Rede für die gesamte Versammlung zurechtgelegt. Er wollte zu allen Xindi-Spezies sprechen, daher musste er sich nun zügeln, um nicht jetzt schon alles zu sagen, was er sagen wollte.
Narzjan schien sich zu freuen, dass der Vizepräsident der Föderation solche Ansichten vertrat. Es waren verheißungsvolle Worte. Doch nach seiner Erfahrung mit Captain Cortez war seine Freude etwas verhalten. Den Worten des Vizepräsidenten mussten erst noch Taten folgen, die bestätigten, was er sagte. Doch war das ein besserer Anfang als vor einigen Tagen.
Nachdem die ersten Höflichkeiten ausgetauscht worden waren, bat Narzjan die Gäste herein. Und hier erlebte Penneteau eine wirkliche Überraschung. Denn die anderen drei Xindi-Spezies waren sogar noch exotischer, als er gedacht hatte. Es war geradezu überwältigend, die verschiedenen Spezies zu sehen. Reptilianer, Insektoiden und Wasserwesen. Nie zuvor hatte er so seltsame, intelligente Lebewesen gesehen. Und er hatte viele verschiedene Spezies gesehen. Aber noch nie war ihm ein intelligentes Insekt begegnet. Und von intelligenten Wasserwesen hatte er bisher gar nur einmal gehört. Es war schon fast einmalig, dass sich Wasserwesen soweit entwickeln konnten, so dass sie ihre Intelligenz dazu nutzen konnten, um eine vergleichbare Technologie zu entwickeln, mit denen auch Landbewohner etwas anfangen konnten. Meist scheiterte es daran, dass intelligente Wasserwesen keine vergleichbaren Technologien entwickelten, da ihre Physiologie vollkommen anders war. Sie besaßen selten Arme oder etwas den Fingern vergleichbares. Sie interessierten sich normalerweise auch nicht für das Leben außerhalb des Wassers. Es war kein Lebensraum für sie, daher mieden sie ihn für gewöhnlich. Dass die Aquarianer das hier nicht taten, lag wohl nur daran, dass sie nicht die einzige intelligente Spezies auf ihrem Planeten gewesen waren und daher zwangsläufig mit den Landbewohnern in Kontakt treten mussten.
Die Vorstellungsrunde war schnell erledigt. Zur Überraschung der Xindi kannte Penneteau die Namen der anwesenden Xindi-Vertreter bereits alle. Sie waren wohl davon ausgegangen, dass der Captain in seiner Arroganz und Hochmütigkeit das nicht behalten und schon gar nicht weitergegeben hatte. Schließlich hatte er ihnen den Eindruck vermittelt, nicht sonderlich an den Xindi und ihrer Kultur interessiert zu sein.
Die gründliche Vorbereitung, die die Vertreter der Föderation gemacht hatten, beeindruckte die Xindi. Selbst die sonst so aggressiven Reptilianer blieben ausnahmsweise einmal ruhig und begnügten sich damit ablehnend dreinzuschauen. Was bei ihnen schon fast mit Zustimmung gleichzusetzen war.
Penneteau nutzte die gute Stimmung, um seine vorbereitete Rede zu halten. Er überbrachte allen Xindi die Grüße des Präsidenten und aller Völker der Föderation. Dann betonte er den Willen der Föderation, mit den Xindi eine Allianz eingehen zu wollen. In seiner Rede brachte er auch nochmals die Grundwerte der Föderation an, die Freiheits- und Bürgerrechte, die jedem Bürger uneingeschränkt zustanden. Den friedlichen Auftrag der Sternenflotte zur Erforschung des Weltalls zum Nutzen eines jeden. Und die Gleichberechtigung jedes Mitgliedsvolkes der Föderation. Niemand musste befürchten, in dem Bündnis seine Identität zu verlieren und den Menschen oder Vulkaniern angeglichen zu werden. Zuletzt brachte er zum Ausdruck, wie sehr sich die Föderation freue, nun endlich, nach einhundert Jahren, Gespräche mit den Xindi führen zu können. Und dass man den Tag herbeisehne, an dem man die Xindi als neues Mitglied der Föderation würde aufnehmen können.
„Vielen Dank für die warmen Worte“, sagte Narzjan, nachdem der Vizepräsident geendet und wieder Platz genommen hatten. „Das sind ermutigende Aussagen. Aber eines möchte ich gleich zu Beginn klarstellen. Unser Ziel ist es nicht, ein Mitglied der Föderation zu werden. Weder jetzt noch irgendwann. Wir wollen einen dauerhaften diplomatischen Kontakt mit Ihnen herstellen. Und als gleichberechtigte Partner miteinander umgehen. Aber die Xindi werden stets unabhängig bleiben. Das steht zweifelsfrei fest.“
„Vergessen Sie das niemals“, brummte der Reptilianer Karua gefährlich. Allerdings war es nicht eindeutig, wem das gegolten hatte. Den Föderationsvertretern oder etwa Narzjan, dem der Reptilianer genauso wenig vertraute wie den Fremden.
Penneteau nickte, sagte aber nichts. Er wusste offenbar auch keine Erwiderung drauf. Und bevor ihm noch etwas einfiel hörte man plötzlich einen dumpfen Knall. Nur kurz und auch nicht besonders laut, aber dennoch bedrohlich genug, um ein ungutes Gefühl zu bekommen. Die Anwesenden im Raum sahen sich irritiert um. Dann plötzlich zerriss ein gewaltiger Donnerschlag die Stille. Die Vibrationswelle fuhr ihnen durch sämtliche Kochen. Und ehe auch nur einer von ihnen reagieren konnte, wurde ihnen die Wand des Raumes entgegengeschleudert und erschlug die Anwesenden. Ein hell leuchtender Feuerball folgte unmittelbar. Die große Scheibe zum Becken des Aquarianers brach. Unmengen an Wasser ergossen sich in den Raum, vermischten sich mit den Mauerteilen, den Körpern der Besprechungsteilnehmer und deren Ausrüstungen zu einem einzigen Chaos. Doch nicht einmal das Wasser konnte die gewaltige Feuersbrunst aufhalten, die sich in den Raum wälzte, in dem längst niemand mehr am Leben war.
Hoch über das Gebäude schoss eine Stichflamme empor, ein Gemisch aus einem durch Brandmittel genährtem Feuer, das mit dem Wasser in Berührung gekommen war. Es war fast wie der Feuerball über einem atomaren Sprengsatz. Alles im Umkreis einiger Meter fiel diesem Flammeninferno zum Opfer und es schien, als könnte niemand der Zerstörungswut des Feuers entkommen.
Alarmsirenen fingen an zu heulen, während das Feuer auf benachbarte Gebäude übergriff. Alles war innerhalb von Sekunden geschehen. Seit dem ersten dumpfen Knall war noch nicht einmal eine Minute vergangen. So hatte auch noch niemand reagieren können. Und als die ersten Lösch- und Rettungsmannschaften eintrafen, waren von dem Besprechungsgebäude nur noch die Grundmauern übrig.
Die Sirenen an Bord des Forschungsschiffes, mit dem die Delegation der Föderation hier eingetroffen war, fingen plötzlich laut an zu heulen. Rote Lichter pulsierten und tauchten alles in ein unheimliches Licht. Die Besatzung schaute erschrocken auf und für einen Augenblick schienen sie wie gelähmt zu sein. Damit hatte niemand gerechnet. Dann, nachdem die erste Schrecksekunde überwunden war, brach plötzlich eine Betriebsamkeit und Hektik aus, die in der letzten Zeit hier nicht mehr zu sehen gewesen war. Die eintrainierte Routine übernahm das Handeln, verdrängte die Überraschung und die Angst und ließ alle ruhig und konzentriert ihren Aufgaben nachgehen.
„Bericht“, rief der Captain über die Brücke. Bisher wusste noch niemand, wodurch der Alarm eigentlich ausgelöst worden war.
Schnell wurden Sensoren ausgerichtet, Daten gesammelt und bewertet. Nach wenigen Sekunden - die sich aber eindeutig länger anfühlten - kam endlich die erste Antwort. Ungläubig und mit dünner Stimme. „Das Verhandlungsgebäude ist explodiert.“
Der Captain fuhr auf. Und auch wenn er für Krisensituationen ausgebildet worden war, um diese Nachricht zu verarbeiten brauchte er ein paar Sekunden. „Schicken Sie einen Notruf an die Sternenflotte raus“, befahl er dann geistesgegenwärtig.
Die entsprechende Bestätigung wartete er noch ab, erst dann konnte es weiter gehen. „Wie schlimm ist die Zerstörung? Gibt es Anzeichen für Überlebende?“ wollte er wissen.
„Die von den Sensoren registrierte Explosion hatte die Sprengkraft von zehn Kilotonnen“, war die ernüchternde Antwort. „Im Umkreis von einhundert Metern um das Gebäude herum steht nichts mehr. Die ganzen Interferenzen lassen aber keine eindeutigen Messungen zu. Es ist unwahrscheinlich, dass das jemand überlebt haben könnte."
„Was sagen die Xindi dazu?“ wollte der Captain wissen. „Ich will eine Erklärung von ihnen. Und bieten Sie unsere Hilfe an.“
Er wollte seine Aufmerksamkeit gerade wieder dem Bildschirm zuwenden, der den Planeten zeigte, auf dem in der Vergrößerung die hell auflodernden Flammen zu sehen waren, die dort tobten. Es war zwar ein flächenmäßig kleines Gebiet, aber das Feuer musste mit ungeheurer Intensität lodern, wenn es so hoch und hell brannte. Doch er wurde durch eine weitere Meldung von einem genaueren Blick abgehalten.
„Tut mir leid, Captain, aber ich bekomme keine Verbindung zu den Xindi.“
„Ist die Kommunikationsstation auf dem Planeten zerstört worden?“
„Nein, Sir. Das ist es nicht. Es ist vielmehr so, dass ein Störsignal unsere Kommunikation nach draußen verhindert. Wir können mit niemandem mehr Kontakt herstellen. Als ob jemand verhindern möchte, dass wir mit irgendwem reden könnten.“
Diese Antwort gefiel dem Captain gar nicht. Sie waren hier zwar am Rand des Xindi-Gebietes, aber im Zweifelsfall eben doch in Feindesland. Ohne Chance, die Sternenflotte zu erreichen. Sie waren auf sich alleine gestellt in einer äußerst undurchschaubaren und chaotischen Situation.
„Was ist mit dem Notruf?“ wollte er wissen.
„Der ging noch raus.“ Wenigstens ein gute Nachricht, wenn auch eine kleine.
Langsam nahm er wieder im Kommandosessel Platz. Ihnen waren erst einmal die Hände gebunden. Und ohne weitere Informationen wollte er auch nichts unternehmen. So lag der nächste Schritt bei den Xindi, auf den sie nur reagieren konnten. Falls ihnen dann noch Zeit dazu blieb.
Die Türschotten öffneten sich vor Drake Reed und er betrat mit dumpfem Kopf sein Quartier. Es war ein äußerst eintöniger Tag gewesen. Sie waren wieder zurück bei ihrer Kartographierungsmission und entsprechend abwechslungsarm war die Arbeit wieder. Sein Geist war dadurch kaum noch beschäftigt und hatte plötzlich wieder die Zeit, sich mit anderen Gedanken zu beschäftigen. So waren seine Grübeleien über Elane wieder gekommen. Wieder hatte er ihr Gesicht vor sich gesehen, ihre Stimme gehört und sich gefragt, was sie wohl gerade machen würde. Und ob sie ihn auch vermisste. Obwohl er die Antwort darauf natürlich kannte. Sie vermisste ihn nicht. Sie war es schließlich gewesen, die ihre Beziehung beendet hatte. Da wäre es ja widersinnig, wenn sie ihn vermissen würde. Aber vielleicht ja doch, wenigstens ein kleines bisschen.
Es war zum wahnsinnig werden. Jetzt war er wieder da, wo er vor einigen Tagen auch schon gewesen war. Als ob es die letzten Tage nicht gegeben hätte. Aber andererseits, was hatte er auch erwartet? Dass er sie einfach so über Nacht würde vergessen können? Es war ja nicht so, dass dieser Zustand neu war. Immerhin war bereits mehr als ein halbes Jahr vergangen, in dem er an kaum etwas anderes denken konnte als an sie.
Seufzend öffnete der den ersten Knopf seiner Uniformjacke. Er würde sich jetzt bettfertig machen und schlafen gehen. Auch wenn er genau wusste, dass er von ihr träumen würde.
Plötzlich heulte der Alarm auf. Die Sirenen hallten durch das Schiff und durch jeden Raum. Wenn Alarmstufe Rot ausgerufen wurde, dann musste die gesamte Besatzung mobilisiert werden, unabhängig von den sonst üblichen Dienstzeiten. Jeder musste einsatzbereit sein, auch wenn das hieß, dass manche aus ihrem wohlverdienten Schlaf gerissen wurden.
Blitzschnell hatte er den Knopf seiner Uniform wieder zu und stand auch schon auf dem Gang. Rot pulsierende Lichter zeigten den Alarmzustand an. Diese Lichter würden auch aktiv bleiben, wenn die Sirene sich nach zwei Minuten wieder abschaltete. Reed lief mit schnellen Schritten zum Lift. Rennen wollte er nicht, das wäre unangebracht gewesen, solange er keinen dringenden Befehl erhalten hatte. Denn im Alarmzustand kam es darauf an, dass die Ruhe behalten wurde und alles routiniert ablief. Ein wildes Umherrennen war das Allerletzte, was man in dieser Situation haben wollte. Denn die Gefahr, dass man damit noch mehr Unheil anrichtete, indem man zum Beispiel andere umrannte, war einfach zu groß.
Auf der Brücke angekommen, trat er auf das Oberdeck und blieb dort erst einmal stehen. Er hatte gerade keinen Dienst, was bedeutete, dass jemand anderes an seiner Station saß. Aber als Führungskraft und Dritter in der Rangfolge war es seine Pflicht, auf der Brücke zu erscheinen. Ob er seine Station übernehmen musste, würde aber der Captain anhand der Situation entscheiden.
Captain Cortez erschien einige Sekunden nach Reed. Auch er hatte gerade keinen Dienst gehabt und war somit ebenfalls nicht hier gewesen. Noch während er im Kommandosessel Platz nahm, wollte er einen ersten Bericht haben. Noch war ihm nicht bekannt, was den Alarm ausgelöst hatte.
„Wir haben einen Notruf erhalten“, berichtete Reeds Vertreter eine Spur zu aufgeregt. „Von der USS Darwin
. Es geht um die Verhandlungen mit den Xindi. Offenbar hat es einen Zwischenfall gegeben. Was genau geschehen ist, war der Nachricht aber nicht zu entnehmen. Zum Ende der Nachricht hin war ein immer stärkeres Rauschen hinzugekommen, dann war sie plötzlich ganz abgebrochen.“
Cortez‘ Blick verengte sich ein wenig. „Diese verdammten Xindi“, brummte er halblaut. „Ich wusste es. Aber mir wollte ja keiner glauben.“ Er suchte den Blickkontakt zu Harrison, der inzwischen ebenfalls erschienen war. Sie schienen eine Art stille Übereinkunft zu treffen. Dann sah Cortez auf. „Wir sind dem Verhandlungsort von allen Sternenflottenschiffen am Nächsten. Wir werden dorthin zurückkehren. Steuermann, setzen sie einen Kurs und gehen Sie auf Warp 8. Kommunikation, schicken Sie der Sternenflotte einen entsprechenden Bericht zu. Sie sollen wissen, dass wir uns der Sache annehmen.“
Von allen Seiten kamen die Bestätigungen. Und während der Bericht an das Hauptquartier auf der Erde verschickt wurde, wendete die Lexington
und ging dann in den Warptransit über.
„Alarmstufe Rot beenden und bis auf weiteres auf Alarmstufe Gelb bleiben“, befahl Cortez. Eine sinnvolle Maßnahme, denn im Moment gab es keine direkte Bedrohung für das Schiff oder die Besatzung. Daher musste der höchste Alarmzustand nicht beibehalten werden. Es würde die Besatzung nur unnötig auf Trab halten und den Adrenalinausstoß überflüssigerweise hoch halten. Nicht, dass die Crew bei ihrer Ankunft am Tatort in einigen Stunden dann schon erschöpft war.
Die pulsierenden roten Lichter erloschen. Es gab auch keine gelben Lichter, die nun den Alarmzustand angezeigt hätten. Die Crew konnte wieder ihren normalen Schichtbetrieb aufnehmen. Es war eben nur etwas mehr Wachsamkeit als ohnehin gefordert. Und es war damit zu rechnen, dass der Alarmzustand jederzeit wieder erhöht werden konnte.
Für Reed gab es erst einmal nichts Weiteres auf der Brücke zu tun. Daher zog er sich wieder in sein Quartier zurück, um vielleicht noch ein wenig Ruhe zu finden. Was ihm nach einiger Zeit dann tatsächlich auch gelang. Nur träumte er, wie erwartet, natürlich wieder von Elane, was ihm hinterher nicht unbedingt das Gefühl vermittelte, einen erholsamen Schlaf gehabt zu haben. So saß er einige Stunden später, kurz vor Erreichen des Xindi-Planeten, wieder an seiner Station und war sich sicher, genauso müde zu sein, wie am Ende seiner letzten Schicht.
Die Stammbesatzung der Brückencrew war vollständig versammelt und verrichtete routinemäßig, aber doch mit einer gewissen Anspannung, ihren Dienst. Es herrschte wieder Alarmstufe Rot und in wenigen Augenblicken würden sie unter Warp gehen und in das Sonnensystem einfliegen, in dem die Verhandlungen zwischen den Xindi und der Föderation stattfanden. Dann würden sie endlich erfahren, was hier geschehen war und wie es zu dem Notruf gekommen war. Denn sie tappten nach wie vor im Dunkeln, da die Funkstille zum Forschungsschiff Darwin
auch während des Fluges angedauert hatte.
Als sie in das System einflogen, entdeckten sie sehr schnell, dass es dem Forschungsschiff gut ging. Es kreiste weiterhin in einer Umlaufbahn um den Planeten. Somit war es zumindest nicht zerstört worden. Denn das war nach dem Abbruch des Notrufes nicht auszuschließen gewesen. Damit endeten aber die guten Nachrichten schon. Denn eine Verbindung herzustellen war nach wie vor nicht möglich. Damit blieb das Schicksal der Crew erst einmal unbekannt.
Als die Lexington
schließlich parallel zur Darwin
ging und den Kurs anglich, wandte sich Cortez an den Kommunikationsoffizier. „Und?“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Noch immer keine Verbindung möglich. Es scheint aber nicht am Empfänger zu liegen. Es gibt hier anscheinend ein Störsignal, das jegliche Kommunikation verhindert, denn ich empfange gar nichts. Auf keiner Frequenz.“
Cortez sah wieder nach vorne zum Bildschirm. „Dann kann uns auch keiner sagen, was hier passiert ist.“
„Vielleicht doch, Captain“, meldete sich Reed zu Wort. „Ich habe den Ort der Besprechung gescannt. Wenn es dasselbe Gebäude ist, in dem auch Sie mit den Xindi geredet haben, dann haben wir ein Problem. Das Gebäude existiert nicht mehr. In einem Umkreis von knapp zwanzig Metern befinden sich nur verbrannte Erde und ein paar Mauerreste. Und viele Lebenszeichen, die dort umherlaufen.“ Reed wurde erst während er redete das volle Ausmaß bewusste, das sich aus den Zerstörungen ergeben würde. Wenn der Vizepräsident mit einem Stab dort unten ums Leben gekommen war, dann würde das neue Spannungen zwischen den Xindi und der Föderation aufbauen. Und sie waren dann plötzlich an vorderster Front.
„Sind auch menschliche Lebenszeichen dabei?“ wollte der Captain sofort wissen.
Während Reed die Daten nochmals durchging, mahnte er sich innerlich zur Ruhe. Noch gab es keinen Beweis, dass die Diplomaten dort gewesen waren, als der offensichtliche Brand alles zerstört hatte. Der Vizepräsident konnte sich auch wohlbehalten auf dem Forschungsschiff aufhalten. Und solange die Kommunikation nicht funktionierte, konnten sie auch nichts weiter in Erfahrung bringen. Also wäre alles nur Spekulation und damit unnütz. „Die Sensoren können keine klaren Werte erfassen. Ich kann keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Spezies machen“, beantwortete er dann die Frage des Captains.
Cortez brummte nur unbestimmt, sagte aber erst einmal nichts weiter. Offenbar dachte er über die nächsten Schritte nach. Dann stand er auf. „Dann werden wir uns das Ganze mal aus der Nähe ansehen“, sagte er bestimmt. „Wir werden hinunter gehen und die Xindi direkt fragen. Wenn sie die Kommunikation verhindern, dann gehen wir eben zu ihnen.“
Schnell wandte Reed sich um, um den Captain seine Gedankengänge zu eventuellen neuen Konflikten mit den Xindi mitzuteilen. Doch dann entschied er sich anders und schwieg. Der Captain hatte mit Sicherheit denselben Gedanken auch schon gehabt. Dazu war er einfach zu naheliegend. Und natürlich hatte er Recht. Wenn sie hier warteten, bis die Kommunikation wieder funktionierte, dann würden sie wahrscheinlich lange warten müssen und so schnell nichts erfahren. Und es gab nichts Schlimmeres, als die Zeit mit untätigem Warten verbringen zu müssen.
Cortez stand auf und wandte sich an den Kommunikationsoffizier. „Die Ärztin und unsere Sicherheitschefin sollen sich im Transporterraum einfinden. Wir gehen runter.“ Ohne eine Bestätigung abzuwarten wandte er sich sofort an Harrison. „Commander, Sie haben die Brücke. Halten Sie sich bereits notfalls einzugreifen.“
Harrison nickte knapp und ohne eine Miene zu verziehen. Wenn man ihn jedoch kannte, wusste man, wie sehr es ihm missfiel auf dem Schiff bleiben zu müssen. Gerne hätte er sich mit eigenen Augen ein Bild von der Lage gemacht. Aber natürlich fügte er sich den Befehlen, wenn auch nur ungern.
Bevor der Captain den Lift betrat wandte er sich noch einmal um. „Reed, Sie kommen ebenfalls mit.“
Etwas überrascht sah Reed auf. Damit hatte er nicht gerechnet. Nicht nach den letzten Auseinandersetzungen mit dem Captain. Und auch wenn er Harrison in dem Moment nicht ansah, spürte er doch dessen neidischen und verständnislosen Blick in seinem Rücken.
Ohne noch jemanden auf der Brücke zu beachten stand Reed auf und folgte dem Captain. Sollten sie es verstehen oder nicht, es interessierte ihn nicht.
Im Transporterraum warteten bereits ihre beiden Begleiter. Ohne sie zu grüßen ging der Captain direkt auf die Sicherheitschefin zu. „Haben Sie uns ein paar Phaser mitgebracht?“
Verwirrt sah sie ihn an. „Nein, Sir“, fasste sie sich dann aber wieder. „Dazu hatte ich keinen Befehl.“
Cortez sah so aus, als wolle er jeden Augenblick ausrasten. Dann aber schien er sich an seine Anweisungen zu erinnern und hielt sich zurück. Nur ein genervtes Seufzen konnte er sich nicht verkneifen. „Dann holen Sie jetzt noch vier Phaser. Wir werden da auf keinen Fall unbewaffnet hinunter gehen.“
Coltrane nickte zackig und machte sich dann schnellen Schrittes auf den Weg.
Noch bevor sich die Türen hinter Coltrane wieder geschlossen hatten, musste Reed seiner Verwirrung Luft verschaffen. „Captain, wir sind Gäste der Xindi. Es könnte als Provokation angesehen werden, wenn wir bewaffnet erscheinen.“
Mit einer schnellen Handbewegung wischte Cortez den Einwand beiseite. „Solange wir nicht wissen was hier passiert ist, werden auf keinen Fall unbewaffnet hinunter gehen. Wenn die Xindi uns feindlich gesinnt sind wären wir ohne Waffen so gut wie tot.“
Reed sah seinen Captain an, als ob er an dessen Verstand zweifeln würde. Wenn die Xindi ihnen wirklich feindlich gesinnt wären, dann würden vier Phaser ihnen nicht viel helfen. Dann würden die Xindi sie wohl einfach über den Haufen schießen. Abgesehen davon hätten die Xindi dann wohl schon längst auf die Lexington
geschossen. Sah der Captain das alles denn nicht? „Aber…“ setzte er zu einer Erwiderung an, doch Cortez unterbrach ihn sofort.
„Ich habe meine Entscheidung getroffen“, sagte er streng und funkelte Reed dabei an. Wenn diese Krise vorbei war würde er dafür sorgen, dass der unbequeme Drake Reed sein Schiff verlassen musste. „Aber um den friedlichen Charakter unseres Besuches zu unterstreichen, wird uns außer Coltrane auch kein weiterer Sicherheitsoffizier begleiten“, fügte er dann noch ironisch hinzu. Ob er Reed damit beruhigen wollte, würde sein Geheimnis bleiben.
Auf jeden Fall zog es Reed dann doch vor zu schweigen. Nicht aus Einsicht oder aus Angst vor dem Captain. Sondern weil er keinen Sinn darin sah, sich weiter mit ihm zu streiten. Der Captain war sturer als ein Esel. Einen Fehler würde er ohnehin nie eingestehen. Oder von seiner Position abweichen. Selbst wenn die Argumente noch so gut waren. Da hatte man größere Erfolgschancen, wenn man mit einer Wand sprach.
Reed war es ziemlich egal. Sollte der Narr machen was er wollte. Vielleicht würde die Sternenflotte dann endlich sehen, was für ein Idiot der Captain war. Und vielleicht würde dann eine fähigere Person das Kommando bekommen. Doch der nächste in der Rangfolge war Harrison. Und der war keinen Deut besser als Cortez.
So stand Reed schweigend im Transporterraum, starrte gedankenverloren die Transporterplattform an, während Cortez ungeduldig von einem Bein auf das andere schwankte und kaum die Rückkehr seiner Sicherheitschefin erwarten konnte.
Als sie endlich wieder kam hatte sie vier Handphaser dabei, die sie an ihre Kollegen verteilte. Die Ärztin zögerte ein wenig, nahm die Waffe dann aber, nach einem strengen Blick des Captains, doch an. Auch wenn der Phaser in ihrer Hand mehr wie ein Fremdkörper wirkte. Es blieb nur zu hoffen, dass sie ihn nicht würde benutzen müssen. Reed war sich nicht sicher, ob in dem Fall die Gefahr für ihre Kollegen nicht größer wäre als für den Feind.
Endlich nahmen sie die Aufstellung auf der Transporterplattform an und ließen sich dann hinunter beamen. Auf dem Planeten erwartete sie ein bizarres Bild. Sie hatten sich nicht weit vom Ort des Geschehens absetzen lassen. Nun standen sie im Licht der untergehenden Sonne, die ihre letzten Strahlen auf eine weite, verbrannte Fläche schickte. Die langen Schatten ließen die ganze Szenerie unwirklich erscheinen. Vor ihnen lag eine kleine Mulde, sie sich wohl aufgrund einer Explosion gebildet hatte. Die Erde war schwarz verbrannt. Kein Grashalm hatte den Feuersturm überstanden. Auch waren keine Überreste von Sträuchern oder Bäumen zu sehen. Nur ein paar Trümmer lagen verstreut herum. Und in der Mitte der verbrannten Fläche waren noch einige Mauerreste zu sehen. Zwei Häuser grenzten an das Feld an, doch auch ihre Außenfassaden waren stark in Mittleidenschaft gezogen und wohl nicht mehr zu retten.
Fassungslos sahen sich die Menschen um. Vor einigen Tagen waren sie hier schon einmal gestanden, doch hatte es da noch ganz anders ausgesehen. Damals hatte hier noch ein großes Gebäude gestanden, wo jetzt nur noch verbrannte Erde war. Nur Reed hatte keinen Vergleich, doch schockierte ihn der Anblick nicht minder.
„Was ist hier passiert?“ entfuhr es Cortez fassungslos. Er konnte kaum glauben, was er hier sah. Er kam sich vor wie mitten in einem Kriegsgebiet.
„Der Tag des Jüngsten Gerichtes“, antwortete Reed ohne nachzudenken.
Cortez sah ihn strafend an. Doch hatte ihn Reeds Bemerkung wieder in die Spur zurück gebracht. Er verbannte das Entsetzen in die hinterste Ecke seines Kopfes und erinnerte sich wieder an ihre Aufgabe. „Machen Sie Aufzeichnungen von dem hier. Wir müssen herausfinden was passiert ist“, befahl er seinen Begleitern.
Während die beiden Frauen, wie aus einer Trace erwachend, ihre Tricorder zogen und damit begannen, die Umgebung zu scannen, zögerte Reed noch. Es kam ihm nicht richtig vor. Immerhin befanden sie sich hier auf Xindi-Territorium.
„Captain, wollen Sie hier Untersuchungen durchführen, ohne die Xindi zu informieren?“ raunte er seinem Vorgesetzten leise zu. Es kam ihm fast wie Hausfriedensbruch vor. Als ob man in der Wohnung des Nachbarn ungefragt etwas suchen würde. Und auch wenn der gesuchte Gegenstand einem selber gehörte, es machte die Sache nicht richtiger. Und hier war es genauso. Zwar war die Föderation betroffen, da es möglicherweise auch tote Föderationsbürger gab, doch war es immer noch eine Angelegenheit der Xindi. Solange keine Einladung der Xindi vorlag, oder das nicht auf diplomatischer Ebene geklärt wurde, solange war es falsch hier zu sein.
Erwartungsgemäß sah Cortez das anders. „Es war wohl doch ein Fehler Sie mitzunehmen“, brummte er genervt. Dann sah er Reed an. „Wir werden die Xindi schon noch informieren. Und vermutlich werden sie uns schon bald entdeckt haben. Ist ja nicht so, dass wir uns verstecken würden. Aber bis dahin möchte ich ein paar Informationen haben.“ Sein Tonfall machte unmissverständlich klar, dass es sich um einen Befehl handelte, für den er keinen Widerspruch duldete. Etwas sanfter, wie um Reed beruhigen zu wollen, fügte er noch hinzu: „Mit mehr Informationen können wir den Xindi auch schneller helfen.“ Es klang allerdings nicht sonderlich aufrichtig.
Reed zog es vor, seinen aufkeimenden Ärger hinunterzuschlucken. Es machte keinen Sinn, hier und jetzt mit dem Captain zu streiten. Also zog er seinen Tricorder, so langsam es ging, ohne provozierend zu wirken, und begann ebenfalls die Umgebung zu sondieren. Dabei bewegten sie sich ganz langsam vorwärts. Die verbrannte Erde unter ihnen knirschte. Mit jedem Schritt wirbelten sie ein wenig Asche auf und der Geruch nach Feuer und Zerstörung setzte sich hartnäckig in die Nase.
Plötzlich rief eine wütende Stimme seitlich von ihnen etwas, das sie nicht verstanden. Aber die Worte waren eindeutig nicht freundlich gemeint. Wie auf Kommando fuhren die Köpfe der vier gleichzeitig hinüber. Ein Reptilianer stand dort, ein Strahlengewehr auf sie gerichtet. Seinen Kopf hatte er etwas abgewendet, da er etwas nach hinten rief. Vermutlich um weitere Xindi auf seine Entdeckung aufmerksam zu machen und um Verstärkung zu bekommen.
„Keine plötzlichen Bewegungen“, befahl Cortez seinen Untergebenen.
Innerlich verdrehte Reed die Augen. Das war ja wohl klar. So etwas lernte man schon im ersten Jahr auf der Akademie. Für wie blöd hielt der Captain seine Offiziere eigentlich? Aber vermutlich hätte Cortez sagen können was er wollte, Reed verachtete ihn so sehr, dass er vermutlich an jeder Bemerkung etwas auszusetzen gehabt hätte.
Vor ihnen sammelten sich weitere Xindi-Soldaten. Alles Reptilianer. Und auch zu ihrer linken kamen weitere Soldaten auf sie zu. Ein kurzer Blick zurück über die Schulter zeigte Reed, dass auch hinter ihnen bewaffnete Xindi standen. Sie kreisten die Menschen ein, und alle hatten ihre Waffen auf sie gerichtet.
Ein besonders grimmig aussehender Reptilianer löste sich aus der Reihe der Soldaten und kam auf die vier Menschen zu. Er trug kein Gewehr, doch hatte er eine Strahlenwaffe im Gürtel stecken. Aus seinem Gesicht waren seine Gefühle nur schwer zu lesen, zu fremdartig war das Reptiliengesicht. Es hatte den Anschein, als würde er einfach immer grimmig wirken.
„Was haben Sie hier zu suchen?“ fauchte er auch sofort, als er nahe genug vor dem Captain stand.
„Wir sind hier, um den Tod unserer Delegation zu untersuchen“, entgegnete Cortez in ebenfalls scharfem Tonfall. Er bot dem Reptilianer Paroli und wollte auf keinen Fall unterwürfig klingen. Obwohl er dabei ziemlich hoch pokerte. Noch wussten sie nichts über das Schicksal des Vizepräsidenten und seines Stabes.
„Sie haben hier nichts verloren, Mensch“, erwiderte der Reptilianer verächtlich. „Dies ist Xindi-Territorium. Verlassen Sie auf der Stelle den Planeten.“
„Das werden wir tun. Sobald wir wissen, was hier geschehen ist.“ Cortez sah ihm direkt in die Augen, mindestens ebenso grimmig schauend wie das Reptil.
Der Xindi schien beinahe platzen zu wollen. Mit einem solchen Widerspruch hatte er nicht gerechnet. Dass dieser Mensch es wagen konnte, seine Anweisungen zu ignorieren. Das würde er noch bereuen. „Sie wissen doch was geschehen ist“, erwiderte er aufgebracht. Dann aber schien er sich plötzlich wieder etwas zu beruhigen. „Kehren Sie auf Ihr Schiff zurück und erwarten Sie dort unsere weiteren Anweisungen.“ Bevor der Captain etwas erwidern konnte, hob der Reptilianer die Hand zum Zeichen, dass er noch nicht fertig war. „Wenn Sie nicht augenblicklich gehen, werde ich Sie einfach erschießen lassen.“
Cortez empfand diese Drohung als lächerlich. Daher schenkte er dem Reptilianer auch ein überhebliches Lächeln und ließ sich Zeit mit einer Antwort. Zeit, die Reed nutzte, um seinerseits etwas zu sagen. „Wir können nicht zurückkehren, da wir aufgrund Ihres Störsenders unser Schiff nicht kontakten können.“ Wie Cortez seine Einmischung zur Kenntnis nahm, konnte er nicht sehen, da er schräg hinter dem Captain stand.
Aber der Reptilianer wandte seinen Blick Reed zu und sah ihn durchbohrend an. Dann hieb er auf seinen Unterarm und sprach einige unverständliche Worte hinein. Offenbar war im Uniformärmel ein Kommunikator untergebracht. Dann sah er Cortez wieder an. „Wir haben das Störsignal kurz unterbrochen. Rufen Sie Ihr Schiff und verschwinden Sie.“ Ohne ein weiteres Wort abzuwarten wandte er sich um und ging.
Cortez verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Er würde nicht klein beigeben und weichen. Und Reed fragte sich, ob sie diese Überheblichkeit womöglich alle mit dem Leben bezahlen würden.
Noch im Laufen hob der Reptilianer seine Hand. Daraufhin hoben die Soldaten ihre bisher recht locker auf die Menschen gerichteten Waffen an und nahmen ihre Opfer direkt ins Visier. Sie würden schießen, sobald sie den Befehl dazu erhalten hatten.
„Reed an Lexington
, vier zum Beamen.“ Reed hatte seinen Kommunikator hervorgeholt und den Befehl erteilt. Auf keinen Fall wollte er sich hier für Cortez‘ wahnsinnigen Plan opfern. Die Reptilianer würden nicht zögern sie zu töten, da war er sich sicher. Auch wenn der Captain das nicht so sah.
Kurz bevor der Transporterstrahl sie erfasste, wandte Cortez sich kurz um. Sein Blick machte Reed klar, dass der Captain auf keinen Fall hatte klein beigeben wollen. Insofern würden Reed an Bord deutlich Konsequenzen für sein eigenmächtiges Handeln erwarten. Der Captain würde einen solchen Affront wohl kaum durchgehen lassen.
Als sie wieder auf der Transporterplattform standen, wandte sich Cortez dann auch gleich an die Sicherheitschefin. „Lieutenant. Bringen Sie Mr. Reed in eine Arrestzelle. Er ist von all seinen Pflichten entbunden und wird sich vor einem Kriegsgericht für sein Handeln verantworten müssen.“ Während er das sagte blickte er den Beschuldigten nicht einmal mehr an. Er tat so, als sei Reed nicht mit im Raum.
Coltranes Augen wurden langsam größer, so überrascht war sie von dem Befehl. Für einen Augenblick vergaß sie sogar, den Befehl auszuführen. Erst als der Captain die beiden Stufen von der Transporterplattform hinunter trat, reagierte auch sie wieder. Mit fast schon entschuldigendem Blick sah sie zu Reed hinüber. Aber sie hatte einen Befehl erhalten, den sie auch ausführen würde. Der Captain hatte inzwischen den Raum verlassen, als Coltrane mit einer knappen Kopfbewegung Richtung Türe Drake Reed zu verstehen gab, dass er sich in Bewegung setzen sollte.
Reed kannte die Sicherheitschefin nicht sonderlich gut, aber doch gut genug, um zu wissen, dass sie den Captain zwar nicht sonderlich mochte, aber seine Befehle ausführen würde. Sie würde ihn garantiert in eine Arrestzelle schaffen, und wenn sie ihn dorthin tragen musste.
Seufzend sah er sich um. Die Ärztin stand noch immer schweigend hinter ihm. Sie machte den Eindruck, als traue sie sich nicht an ihm vorbei, um den Raum verlassen zu können. Und als ob sie nur Aufgrund dieser Zwangslage noch hier war, aber möglichst klein und unauffällig wirken wollte. Auf ihre Hilfe brauchte er garantiert nicht hoffen. Also blieb ihm eben nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Auch wenn er es mehr als lächerlich fand. Das Kriegsgericht, wegen dieser Geschichte? Das passte wieder einmal absolut zu Cortez. Dieser kleinkarierte und völlig unfähige Vollidiot. Dieser Mann war einfach nicht fähig ein Kommando zu führen. Er hätte sie dort unten beinahe alle in den Tod geführt. Nur dank Reed waren sie zu diesem Zeitpunkt noch alle am Leben. Dafür hatte er das Kriegsgericht garantiert nicht verdient. Vielleicht einen Orden, aber bestimmt keine Verurteilung. So sah er das.
Während er den Gang entlang ging, gefolgt von Coltrane, konnte er immer wieder nur den Kopf schütteln. Über Cortez, über die Willenlosigkeit seiner Crew, und über die Wendungen des Schicksals. Vor einem halben Jahr, damals in der anderen Zeitlinie, da schien auf einmal alles in Ordnung gewesen zu sein. Seine Eskapaden der Vergangenheit waren nicht mehr relevant gewesen, er hatte die Liebe seines Lebens in Händen gehalten und mit einem Mal schien alles einen Sinn gehabt zu haben. Er hatte das Gefühl gehabt, endlich am Ziel einer Reise zu sein. Einer Reise, von der er noch nicht einmal gewusst hatte, dass er sie unternommen hatte. Und die Zukunft schien so vielversprechend und einfach zu werden, er musste einfach nur darauf zugehen.
Und nun fand er sich hier wieder. Auf dem Weg in eine Arrestzelle, um bei nächster Gelegenheit vor dem Kriegsgericht zu landen. Seine Karriere bei der Sternenflotte wäre damit beendet. Seine Liebe war zerbrochen und er wusste noch immer nicht genau, was eigentlich geschehen war. Was schief gelaufen war. Damit stand er vor einem Scherbenhaufen, der einmal sein Leben war. Wäre es nicht gerade sein Leben gewesen, er hätte sich über die Ironie des Universums amüsieren können. In der falschen Zeitlinie hatte er sich wohl gefühlt, während hier in der richtigen Zeit alles falsch lief. Als ob er nicht hierher gehören würde.
Der Arrestbereich des Schiffes befand sich hinter einer großen, massiven Türe auf Deck 13, im Rumpf des Schiffes. Dort lagen, an einem weiteren Gang, drei Arrestzellen. Zwei auf der linken Seite, eine auf der rechten. Dazu kam ein Bereich, in dem ständig ein Sicherheitsoffizier Wache schob. Von hier aus waren auf die Kraftfelder zu steuern, die die Zellen verschlossen. Es waren farblose Energiefelder, die den Blick in die Zelle zuließen. Privatsphäre gab es hier nicht.
Reed kannte diese Zellen. Nicht, weil er schon einmal darin gesessen hatte, sondern weil sie baugleich mit denen der Republic
waren. Und dort hatte Captain Sanawey einen Gefangenen verhört. Damals, in der anderen Zeitlinie. Vor einem halben Jahr und doch vor einer gefühlten Ewigkeit.
Ohne Widerstand zu leisten, trat er in die angewiesene Zelle. Er war derzeit der einzige Insasse, den es auf dem Schiff gab. Es kam ihm immer noch so surreal vor. Hinter sich hörte er das kurze elektrische Knistern, als sich das Kraftfeld sekundenschnell aufbaute, dann war es wieder ruhig. Langsam drehte er sich um. Er stand nun mitten in der zwei auf zwei Meter großen Zelle und sah hinaus. Das Kraftfeld war nicht zu erkennen, doch zeigten die in der Wand und an der Decke integrierten Lichter an, dass es aktiv war.
Coltrane stand nach wie vor schweigend vor der Zelle und sah ihn an. Sie gehörte ganz sicher nicht zu den gesprächigsten Personen, doch hatte die Situation offenbar auch ihr die Sprache verschlagen.
„Der Captain hatte dort unten völlig die Kontrolle über die Situation verloren“, sagte Reed schließlich. Er wusste nicht einmal genau, warum er das sagte. Er musste sich vor ihr ganz bestimmt nicht rechtfertigen.
„Ja“, kam die knappe und überraschende Antwort von Coltrane.
Trotz ihrer Zustimmung, zur Revolte brauchte er sie sicher nicht aufzurufen, da war er bei ihr an der falschen Adresse. Daher beschloss er, dass es nicht viel mehr zu sagen gab. Langsam machte er noch einen Schritt nach hinten und setzte sich dann auf die Pritsche, die direkt an der Wand angebracht war und die auch zum Schlafen diente. „Der Captain ist ein Schwachkopf und wird uns noch alle in Gefahr bringen“, sagte er einfach und lehnte sich dann zurück.
Dieses Mal bestätigte die stämmige Sicherheitschefin das nicht. Sie widersprach aber auch nicht. Stattdessen wandte sie sich um zum Gehen, blieb dann aber doch stehen. „Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es der Wache. Ich werde dann schauen, was sich machen lässt.“ Es klang fast so, als wolle sie ihm ein paar Privilegien zugestehen.
Bevor Reed darauf reagieren konnte verließ sie den Zellenbereich. So starrte Reed einfach gedankenverloren durch das Kraftfeld hinaus auf die gegenüberliegende Wand. Seine Gedanken waren jedoch weit weg. Dabei machte er sich weniger Gedanken wegen dem Kriegsgericht. Was dabei herauskommen würde, das würde sich schon noch zeigen. Vielmehr gingen seine Gedanken mal wieder zu Elane. Er fragte sich, was sie wohl dazu sagen würde, wenn sie ihn hier sitzen sehen könnte. Ob sie kommen würde, um ihn zu retten? Ein seltsamer Gedanke, der ihn trotzdem beschäftigte. Würde sie sich Sorgen um ihn machen, wenn sie erfahren würde, dass er vor Gericht stand, um seine Taten zu verantworten? Oder würde sie sich dann vielleicht gar nicht mehr bei ihm melden, jede Bekanntschaft mit ihm leugnen? Bei ihr war man sich schließlich nie sicher, wie sie reagieren würde. Aber er würde ja jetzt genug Zeit haben, um über solche Fragen nachdenken zu können.
So lehnte er sich zurück, schloss die Augen und gab sich seinem Schicksal hin. Da er ohne weitere Informationen hier saß, bekam her auch nicht mit, dass die Xindi ihr Störsignal wieder sendeten und damit jegliche Kommunikation wieder verhindert war. Die Lexington
konnte niemanden mehr erreichen oder erreicht werden. Und solange sich an diesem Zustand nichts änderte, würde bei der Föderation niemand etwas näheres zu den Geschehnissen erfahren.
VIER
Mit einer quäkenden Stimme wurde Droga aus dem Schlaf gerissen. Über die Lautsprecher des Schiffes wurde verkündet, dass sie das Ziel ihrer Reise bald erreicht hätten. Er brauchte einige Augenblicke, um den Sinn dieser Mitteilung zu verstehen. Sein Kopf war eben nicht sofort einsatzbereit, wenn er aus dem Schlaf gerissen wurde. Und die Zeit, die er brauchte um wach zu werden, schien mit jedem Jahr, das er älter wurde, länger zu werden. Zumindest war das sein Eindruck. Eine Tatsache, über die er sich nicht gerade freute. Früher war das noch anders gewesen. Da hätte man ihn aus dem Tiefschlaf reißen können, und er hätte sofort einen Vortrag über die politischen Verhältnisse der Xindi halten können. Doch diese Zeiten waren vorbei. Schon lange.
Auch heute hatte er das Gefühl, erst einmal minutenlang wie verblödet dreinzuschauen. Sein Gehirn wollte einfach nicht in die Gänge kommen. Wie bei einer alten Computersoftware, die etwas brauchte, um einsatzbereit zu sein. Da war es nur gut, dass er sein eigenes Quartier hatte und ihn niemand sehen konnte.
Er war auf dem Weg nach Pelek, dem Verhandlungsort zwischen den Xindi und der Föderation. Ursprünglich hatte er an den Gesprächen nicht teilnehmen sollen. Schließlich war er Ratsmitglied der Xindi und hatte somit andere Aufgaben zu erledigen. Ein Umstand, den er sehr bedauert hatte. Zu gerne hätte er diese Verhandlungen selbst geführt. Die Zukunft der Xindi in die Hände anderer zu legen war nicht seine Sache. Nicht, dass er den Verhandlungsführern nicht trauen würde. Das tat er natürlich. Aber es war trotzdem etwas anderes, wenn man selbst mit dabei war und Einfluss nehmen konnte.
Nun würde er diese Chance vielleicht bekommen. Wenn auch aufgrund von sehr negativen und traurigen Ereignissen. Er hatte in seinem Büro von dem Zwischenfall erfahren. Und war schockiert gewesen. Dass diese hoffnungsvollen Gespräche so enden sollten, das war furchtbar. Nicht nur für die Xindi, auch für die Menschen. Es hätte der Beginn einer besseren Zukunft sein können. Er konnte nur hoffen, dass das jetzt noch immer möglich war. Denn bisher war zu den Umständen der Explosion noch nicht sehr viel bekannt. War es ein Unfall gewesen? Dann war es sicher tragisch, all diese Opfer betrauern zu müssen. Doch dann war es erklärbar und ließe sich aus der Welt schaffen, so dass es nicht zwischen den Xindi und der Föderation stand. War es jedoch ein Anschlag, dann war eine der beiden Seiten nicht ehrlich und hatte die Verhandlungen absichtlich sabotiert. Dann würde sich das mit den weiteren Gesprächen sicherlich erst einmal erledigen.
Für Droga war es fast nicht vorstellbar, dass es ein Anschlag gewesen sein könnte. Wer sollte so etwas tun? Und vor allem, mit welchem Ziel? Bei der Explosion waren sowohl Xindi wie auch Menschen gestorben. Würde jemand seine eigenen Leute opfern, um die Gespräche platzen zu lassen? Das erschien ihm so unsinnig. Wenn die Föderation nicht reden wollte, dann hätten sie das Angebot ausschlagen können. Dazu müssten sie doch nicht ihre eigenen Leute töten. Und dass die Xindi einen Anschlag verübt hatten, das war für ihn keine Option, über die er nachdenken musste. Die Xindi würden so etwas nie tun, da war er sich sicher.
Doch letztlich blieben alle Gedankenspiele in diese Richtung reine Spekulation. Es gab noch keinerlei Fakten zum Hergang der Ereignisse. Bisher stand nur fest, dass es eine Explosion gegeben hatte, die die Delegationen beider Seiten ausgelöscht hatte. Den Rest galt es nun vor Ort zu klären.
Alle Ratsmitglieder waren aufgebrochen, um bei den Ermittlungen dabei sein zu können. Nicht, dass sie etwas dazu hätten beitragen können. Dazu verstand keiner von ihnen etwas von forensischen Untersuchungen oder Spurenanalysen. Aber sie wollten direkt erfahren, was die Untersuchungen für Ergebnisse brachten. Und falls es etwas zu entscheiden gab, dann konnten sie das vor Ort viel schneller tun. Außerdem war es ein wichtiges Zeichen an die Föderation. Man wollte damit signalisieren, dass man die Aufklärung der Ereignisse ernst nahm und für sehr wichtig erachtete.
Natürlich reisten sie unabhängig voneinander an. Jeder auf einem Schiff seiner eigenen Spezies. Niemals würden sie längere Reisen auf den Schiffen anderer unternehmen. Dazu waren die Sympathien untereinander dann doch nicht groß genug. Nicht, dass sie auf den Schiffen der anderen etwas zu befürchten gehabt hätten. Das nicht. Aber jede Spezies hatte ihre eigenen Vorlieben. Das fing bei solchen Kleinigkeiten, wie der Raumtemperatur oder dem Geschmackssinn an. Dazu kamen unterschiedliche Empfindlichkeiten bei der Lichtintensität und der Verträglichkeit verschiedener Speisen. Und dann gab es eben auch noch den Unterschied des Lebensraumes, der zumindest die Aquarianer von den anderen Spezies trennte. Denn ihre Schiffe mussten vollständig mit Wasser gefüllt sein, da sie außerhalb nicht überleben konnten.
Droga war das nur recht. Er war froh, wenn er einige Zeit ohne die anderen Ratsmitglieder verbringen konnte. So sehr er dem Ziel, einer engeren Verbindung zwischen den Xindi-Spezies, entgegenstrebte, so sehr empfand er die anderen aber auch als anstrengend. Die Reptilianer und die Insektoiden mit ihrer besonders ausgeprägten Aggressivität ganz besonders, aber auch die Arboreale mit ihrer langsamen Art oder die Aquarianer mit ihrer ewigen Sonderrolle, die sie auch noch besonders ausführlich zur Schau stellten, konnten mit der Zeit einfach nur nervenaufreibend sein. So genoss er die ruhigen Zeiten, wenn er nur sein eigenes Volk um sich hatte.
Nachdem er sich frisch gemacht und seine Klamotten übergestreift hatte, trat er zur Tür. Dann hielt er noch einen Moment inne und sammelte seine Gedanken. Was immer in den nächsten Stunden geschehen würde, er war sich sicher, es würden harte Stunden werden. Noch nie war er an einem so grausamen Ort gewesen, an dem so viele Personen ihr Leben lassen mussten. Er fragte sich, ob es noch irgendetwas zu sehen gab, das ihm zu schaffen machen könnte. Oder ob die Explosion vielleicht alle Spuren weggewischt hatte, so dass es kaum etwas zu sehen gab.
Doch alle Spekulation half nichts. Er würde es sehen, wenn sie dort waren. Was nicht mehr allzulange dauern würde. Daher entschloss er sich, keine Zeit mehr verstreichen zu lassen, und sich direkt auf die Brücke zu begeben. Auf keinen Fall wollte er den Moment verpassen, in dem sie in eine Umlaufbahn einschwenken würden. Er verließ sein Quartier und ging die wenigen Schritte zur Kommandobrücke. Es war kein weiter Weg, denn das Schiff war nicht sonderlich groß, wie alle Schiffe der Humanoiden. Es war vor allen Dingen ein Forschungsschiff, kaum bewaffnet. Mit den Schiffen der Humanoiden konnte man keinen großen Krieg führen. Sie dienten in erster Linie der Verteidigung und der Forschung. Eine Tatsache, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hatte. Denn als alle Spezies noch auf Xindus gelebt hatten, ihrer gemeinsamen Heimatwelt, da hatte es eine klare Rollenverteilung unter den Spezies gegeben. Eine über Jahrhunderte hinweg gewachsene Aufteilung. Die Reptilianer waren die Krieger gewesen. Ihre Aggressivität war kaum für etwas anderes geeignet, als dem stumpfen Ausüben von Gewalt. Forscher oder Gelehrte unter ihnen waren selten und genossen auch kein besonders hohes Ansehen. Bei dieser Spezies zählte nur der Erfolg eines Kriegers. Und die Insektoiden unterstützten sie dabei. Da diese beiden Spezies Xindus verteidigten, konnten sich die Arboreale und die Humanoiden auf die Forschung und die Weiterentwicklung der Technologie konzentrieren. Sie waren der Motor, der die Xindi-Wirtschaft am Leben erhalten hatte. Die beiden übrigen Spezies hatten dabei nie eine große Rolle gespielt. Die Aquarianer lebten in ihrem eigenen Element und suchten nur dann den Kontakt zu den Landbewohnern, wenn es unumgänglich war. Oder zu ihrem Vorteil. Und die Avianer, die Vogelspezies, hatte es vorgezogen, frei durch die Lüfte zu segeln. Sie hielten nicht viel von Technologie und verstanden auch das Streben der anderen nach ständiger Weiterentwicklung nicht. Sie waren zufrieden damit, wie es war. Vielleicht dachte man so, wenn man fliegen konnte und somit keine Grenzen kannte. Trotzdem ging aus den Überlieferungen hervor, dass die Avianer wohl nicht nur im wörtlichen Sinne über allen anderen flogen, sondern sich auch mit ihrer Einstellung über den Dingen schwebend sahen.
Zu einer Aufrüstung eigener Flotten hatte es für die Arboreale und die Humanoiden nie einen Anlass gegeben. Die Aufteilung der Aufgaben war von allen akzeptiert und es schien eine sinnvolle Konzentration der Kräfte auf die jeweiligen Fähigkeiten zu sein. Bis der große Krieg ausbrach. Über den Anlass und den Auslöser gab es verschiedene Theorien, und es schien, als nehme die Zahl dieser Theorien mit jedem weiteren verstreichendem Jahrzehnt zu. Je länger die Ereignisse zurücklagen, desto wilder wurden die Deutungen der damaligen Zeit. Letztlich war es auch egal, was genau geschehen war. Am Ende hatten alle Seiten verloren. Der Krieg zwischen den Spezies hatte sich über mehr als hundert Jahre hinweg gezogen. Es hatte verschiedene Allianzen gegeben, die entstanden und wieder zerbrochen waren. Für die Humanoiden und die Arboreale waren die ersten Kriegsjahre ein Desaster gewesen, das sie beinahe nicht überlebt hätten. Dabei hatte es sich als gewaltiger Nachteil erwiesen, dass sie nie eine eigene Flotte besessen hatte. So hatten sie den Reptilianern nichts entgegenzusetzen und sich in ihre Kolonien auf andere Planeten zurückziehen müssen. Aber aufgrund der Tatsache, dass sie Forscher waren und damit die gesamte Technologie der Xindi entwickelt hatten, konnten sie mit der Zeit auch einige Kriegsschiffe bauen, mit denen der Kampf aufgenommen werden konnte. Denn auf keinen Fall hatten sie es zulassen wollen, von der Heimatwelt vertrieben zu werden.
Auch die Aquarianer hatten ihre Vertreibung nicht zulassen wollen. Und zur Überraschung aller waren sie weitausbesser ausgerüstet gewesen, als dies allgemein angenommen worden war. Sie leisteten den Reptilianern erbitterten Widerstand und hielten stand. Ihre beeindruckende Schlagkraft hatten im Verlaufe des Krieges auch die Humanoiden zu spüren bekommen, die einige Jahre im Krieg mit den Aquarianern lagen. Einzig die Avianer hielten sich aus den Kämpfen heraus. Sie hatten sich in die Hochgebirgsregion Xandia zurückgezogen und dort in Höhlen gehaust. Die magnetischen Felder, die dort natürlich vorkamen, hatten jegliche Technologie durcheinander gebracht. Es war den Xindi auch nie gelungen, eine Abschirmung gegen diese Felder entwickeln zu können. So waren die Avianer dort sicher gewesen. Denn auch aufgrund der Unzugänglichkeit konnten sie dort nicht gestört werden. Nur den Vogelwesen war es möglich gewesen, dorthin zu gelangen.
Nachdem der Krieg sich bereits mehr als hundert Jahre hingezogen hatte und niemand mehr daran geglaubt hatte, dass es je ein Ende geben würde, zündeten die Reptilianer zusammen mit den Insektoiden seismische Bomben in den fünf geologisch kritischen Bereichen des äquatorialen Kontinentes. Eine fatale Entscheidung. Man ging heute davon aus, dass sie beabsichtigten, den Kontinent, der zu jener Zeit nur von Humanoiden und Arborealen bewohnt war, im Meer zu versenken. Ob das aber tatsächlich ihre Absicht war, darüber konnte nur noch spekuliert werden. Denn diese Bomben lösten eine Kettenreaktion aus, die binnen Minuten zur vollständigen Zerstörung des gesamten Planeten geführt hatte. Es hatte für niemanden eine Chance zur Flucht gegeben. Alle Lebewesen, die sich in diesem Augenblick auf dem Planeten befunden hatten, waren getötet worden. Millionen Xindi. Niemand kannte eine genaue Zahl. In den Kriegswirren hatte jeder den Überblick verloren. Aber es dürften so an die vierhundert Millionen Tote gegeben haben. Und noch heute umkreiste ein Trümmerfeld die Umlaufbahn um die Sonne, die einst das Leben auf Xindus erst ermöglicht hatte. Die Xindi selbst hatten nur überlebt, weil sie bereits seit langer Zeit durch das All reisten und viele neue Kolonien gegründet hatten.
Mit der Zerstörung des Heimatplaneten war aber auch Frieden eingekehrt. Der Schock über die Ereignisse saß tief in allen Xindi. Über den Verlust so vieler Leben. Aber auch über den Verlust des Planeten, auf dem sie sich alle entwickelt hatten. Und nicht zuletzt über den Verlust einer Xindi-Rasse. Denn die Avianer waren die einzige Spezies gewesen, die den Heimatplaneten nicht verlassen hatten. Sie hatten keine Kolonien gegründet und waren somit zusammen mit dem Planeten ausgelöscht worden. Ein Verlust, der alle fünf verbliebenen Spezies hart getroffen hatte, auch wenn das bei den Reptilianern niemand zugegeben hätte.
Die Waffen hatten geschwiegen und schließlich hatte man einen Friedensvertrag unterzeichnet. Um zukünftige Auseinandersetzungen friedlich beilegen zu können hatte man den Rat gegründet. Es wurde eine zukünftige Zusammenarbeit vereinbart. Und mit der Zeit spielten sich die alten Rollen wieder ein. Ganz von selbst und ohne, dass jemand darauf hingewirkt hätte. Schleichend, aber unaufhaltsam. Die Reptilianer nahmen ihre Kriegerrolle wieder an und stellten das Militär, während die Humanoiden sich wieder auf die Forschung konzentrierten. Was sich auch auf den Schiffsbau auswirkte. Und daher hatten sie, abgesehen von einer Handvoll Kriegsschiffe, noch immer die kleinsten Schiffe. Klein, schnell und wendig, aber weitaus schlechter bewaffnet als die Schiffe der anderen.
Als Droga die Brücke betrat war auf dem Hauptbildschirm der Planet Pelek zu sehen. Zunächst noch klein, schließlich waren sie noch weit entfernt. Aber er wurde mit jeder Minute größer, bis er schließlich den ganzen Bildschirm einnahm. Es war in Drogas Augen kein besonders schöner Planet. Zwar war es ein Planet, der Leben ermöglichte, doch lagen die Bedingungen dafür schon am äußersten Rand der Skala, die bestimmte, ob ein Planet Leben tragen konnte. Und das war schon vom Weltraum aus zu sehen, denn er war ein sandgelber, von einigen grauen Bergketten durchzogener Felsbrocken, mit gerademal 15.000 Kilometern Umfang. Ein Winzling, der nur dank seines extrem eisenhaltigen Kerns genug Masse aufbrachte, um ein geeignetes Schwerkraftfeld zu erzeugen, das eine Atmosphäre halten konnte. Bei genauerem Hinsehen konnte man auch erkennen, dass es auf dem Planeten sehr wohl eine Vegetation gab. Zwar nur eine dürftige, sparsame, doch immerhin gab es sie. Und in der Nähe der einzigen Siedlung, die einst von den Xindi angelegt worden war, gab es sogar noch mehr Bäume und Sträucher. Alle mühsam gepflanzt und mit viel Aufwand am Leben erhalten. Mit so viel Aufwand, dass es sich eigentlich gar nicht lohnte. Trotzdem wurde der Aufwand betrieben. Denn für gewöhnlich wurde die Kolonie nur von Humanoiden und Arborealen bewohnt. Und diese Baumwesen fühlten sich nur in grünen Wäldern wohl. Wovon es hier keine gab. Um ihren Aufenthalt trotzdem einigermaßen erträglich zu machen, waren extra diese Bäume gepflanzt worden. Daher war auch kein Aufwand zu viel, um diesen kleinen Lebensraum aufrecht zu erhalten.
Droga war der Umstand sehr wohl bewusst, dass sie sich hier in einer kleinen Forschungskolonie befanden, die während dieser Konferenz so viel Aufmerksamkeit erhielt, wie noch nie zuvor. Dass sie als Verhandlungsort ausgewählt wurde, lag nur daran, dass sie sich von allen Xindi-Kolonien am Nächsten zur Föderation befand. Dies sollte eine Geste an die Föderation sein und wenigstens als halbwegs neutraler Boden dienen. Für die Bewohner der Kolonie hatte das allerdings erhebliche Einschränkungen zur Folge gehabt. Es waren Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden, die nicht bei allen Bewohnern auf Gegenliebe gestoßen waren. Doch die Sicherheit ihrer Gäste hatte absoluten Vorrang gehabt. Schließlich sollte nicht schief gehen.
Sollte. Denn nun war es doch geschehen. Droga konnte es noch immer nicht glauben. Sie hatten doch alles durchgespielt, alles berücksichtigt. Wieso war es dann trotzdem schief gegangen? Wie hatte diese Katastrophe geschehen können? Er hoffte, hierauf Antworten zu bekommen. Denn er musste nicht nur seiner eigenen Regierung berichten, was geschehen war. Er musste auch der Föderation einen Bericht zukommen lassen. Immerhin hatte er die Empfehlung für diese Gespräche gegeben. Und bisher hatte noch keine der fünf Regierungen die Verantwortung auf sich genommen und die Föderation unterrichtet. Für Droga ein Skandal. Die Föderation musste unter diesen Umständen annehmen, dass die Xindi hinter allem steckten. Doch hatten seine Befürchtungen niemanden interessiert. Was er auf der anderen Seite auch ein wenig verstehen konnte. Wer wollte schon als der Überbringer schlechter Nachrichten dastehen? Doch machte die Verzögerungstaktik die Sache nicht besser.
„Stellen Sie mir eine Verbindung zum verantwortlichen Sicherheitsleiter her“, befahl Droga. Er wusste nicht, wer nach dieser Katastrophe die Leitung innehatte. Das gesamte diplomatische Corps war tot. Ebenso der für diese Konferenz benannte Sicherheitschef und sein Stellvertreter. Alle hatten sich innerhalb des Gebäudes aufgehalten, das nun nicht mehr existierte.
Der Captain nahm die Anweisung nur schweigend zur Kenntnis und nickte dem Kommunikationsoffizier knapp bestätigend zu. Ihm gefiel es nicht, dass er auf seinem eigenen Schiff Befehle entgegen nehmen musste. Doch die Anweisungen seiner Vorgesetzten waren eindeutig gewesen. Für die Dauer dieser Mission hatte Droga den Oberbefehl inne. So musste er sich fügen, ob es ihm gefiel oder nicht.
Es dauerte einige Minuten. Ein wenig zu lange für Drogas Empfinden. Seine Ungeduld konnte er kaum mehr zügeln. Er brannte darauf, zu erfahren, was vorgefallen war. Am liebsten hätte er alles selbst erledigt, aber das war unmöglich. Daher blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Der Kommunikationsoffizier sprach leise und ruhig mit jemandem am anderen Ende der Leitung. Scheinbar unendlich lange. Doch schließlich wandte er sich um. „Die Reptilianer haben derzeit die Kontrolle über das Gebiet. Sie gestatten niemandem auf den Planeten zu kommen. Sie sagen, sie müssen zuerst die Ordnung wieder herstellen und für die nötige Sicherheit sorgen. Erst dann können die Ratsmitglieder die Sache vor Ort betrachten.“
Eine Empörung stieg in Droga auf, die eines Ratsmitgliedes nicht würdig war. Er fühlte sich von den Reptilianern an der Nase herumgeführt. „Das ist doch eine Hinhaltetaktik“, entfuhr es ihm erregt. Was hatten die Reptilianer vor?
Der Kommunikationsoffizier schien seinem Gesichtsausdruck nach diese Meinung zu teilen, doch hielt er sich damit zurück. Die meisten Humanoiden hatten ihre Probleme mit den Reptilianern und den Insektoiden, doch niemand tat das öffentlich kund. Es galt als Tabu, negativ über andere Spezies zu reden. Denn niemand wollte einen erneuten Krieg zwischen den Xindi riskieren. „Und sie wollen die Ratsmitglieder nur gemeinsam auf den Planeten hinunter lassen“, fügte der Mann seinem Bericht noch hinzu. „So soll vermieden werden, dass jemand mehr Informationen bekommt, als andere.“
Unwirsch schnaubte Droga. Das war lächerlich. Sie waren ein Rat, eine Institution. Alle Informationen wurden geteilt. Niemand durfte ein Wissen, das alle Xindi betraf, für sich behalten. Und daran hielten sich schließlich alle. Zumindest hoffte er das. Ganz sicher sein konnte er sich dessen aber nicht.
Ein kurzer Blick auf die Daten der Sensoren zeigte ihm, dass er das erste Ratsmitglied vor Ort war. Die anderen Spezies hatten einfach nicht so schnelle Schiffe und würden daher noch einige Zeit benötigen. Zeit, die er nun irgendwie verbringen musste, ohne dabei ständig auf die Uhr zu sehen. Aber auch das würde er irgendwie schaffen. Gezwungenermaßen.
Droga verbrachte die Zeit des Wartens in seinem Quartier. Da es auf der Kommandobrücke nichts für ihn zu tun gab, wollte er der dort arbeitenden Crew auch nicht unnötig im Weg herumstehen. Doch auch in seinem Quartier gab es kaum etwas für ihn zu tun. Es gab keine neuen Berichte über die Geschehnisse. Woher auch? Auch die Sensorendaten lieferten hierzu nichts Neues. Sie hatten zwar den Ort der Explosion deutlicher vor sich, doch waren alle Daten, die sie gewinnen konnten, bereits in einem ersten Bericht enthalten gewesen, den der Xindi-Rat vor seinem Aufbruch erhalten hatte. Und so konnte er nichts weiter tun als warten. Und sich darüber Gedanken zu machen, was die Auswirkungen diese Katastrophe sein mochten. Das Furchtbare an diesen Gedankengängen war nur, dass sie mit jeder verstreichenden Minute schlimmer wurden. Sein Geist malte sich Szenarien aus, die sich ständig steigerten. Und dabei war alles nur Spekulation. Solange er keine Fakten auf dem Tisch hatte, konnte er eigentlich auch noch nicht über mögliche Folgen nachdenken. Zumindest nicht über realistische. Er tat es trotzdem, so sehr er es auch hatte vermeiden wollen.
Wenn die Gespräche zwischen den Xindi und der Föderation aufgrund dieses Zwischenfalles scheitern sollten, dann würde das wohl auch seine Karriere beenden. Immerhin hatte er auf diese Gespräche hingearbeitet. Er hatte sie eingefädelt und stets betont, wie wichtig sie für die Xindi seien und dass eine Partnerschaft mit der Föderation den Xindi nur Vorteile brächte. Ein Ende der Gespräche wäre auch sein Ende. Oder zumindest ein herber Rückschlag, der sein ambitioniertes Ziel, die Einheit der Xindi, wohl in unerreichbare Ferne rücken würde. Soviel konnte bereits jetzt mit einer hohen Gewissheit gesagt werden.
Die Zeit schien überhaupt nicht vergehen zu wollen. Sie zog sich dahin wie eine zähe Masse. Es war kaum zu glauben, dass die anderen Spezies so langsame Schiffe hatten. Normalerweise war er stolz auf diesen Vorteil, den die humanoiden Xindi hatten. Denn mit der Schnelligkeit machten sie ihren Nachteil bei den Waffen wieder wett. Doch jetzt wünschte er sich, die anderen hätten genauso schnelle Schiffe und wären bald hier.
Trotz seiner Unruhe versuchte er ein wenig die neusten Berichte seiner Regierung zu den Aktivitäten der anderen Spezies zu lesen. Vor allem die Entscheidungen, die die anderen Regierungen trafen, empfand er normalerweise als äußerst interessant. Sie zeigten ihm, in welche Richtung die einzelnen Spezies in nächster Zeit gehen würden. Für die Arbeit im Rat war dieses Wissen äußerst wichtig, konnte er so doch einige Reaktionen vorhersehen. Und er wusste, wie er argumentieren musste, um die anderen Spezies auf seine Seite zu bekommen.
Doch jetzt konnte er seine Gedanken einfach nicht beieinander halten. Er merkte, wie er auf ein Wort starrte, und das schon längere Zeit. Was er bis dahin gelesen hatte, konnte er nicht mehr sagen. Es war weg. Als ob er es nie gelesen hätte. Schließlich warf er die Berichte beiseite und ging unruhig in seinem Quartier auf und ab. Runde um Runde, bis er das Gefühl hatte, allmählich müsste sich der Bodenbelag lösen und seine Stiefel Spuren hinterlassen.
Als endlich das erlösende Signal kam, glaubte er fast, aus einem tiefen Traum zu erwachen. Wie viel Zeit wirklich vergangen war wusste er nicht, aber es mussten mehrere Ewigkeiten gewesen sein, so wie er sich fühlte. Daher stand er auch schneller als es irgendjemand erwartet hätte wieder auf der Brücke des Schiffes. Er konnte es kaum erwarten zu hören, was es neues gab. Umso erleichterter war er, als der Captain ihn gleich empfing.
„Vor wenigen Minuten sind die Reptilianer eingetroffen. Und sie haben sofort alle Ratsmitglieder eingeladen auf den Planeten zu kommen. In zehn Minuten sollen sich alle dort einfinden“, wusste der Captain zu berichten.
Droga nickte gedankenverloren. Die Reptilianer hätte er nicht als letzte erwartet. Ihre Schiffe waren garantiert nicht so langsam, dass sie nicht schneller hätten hier sein können. Die Erklärung lag natürlich auf der Hand. Immerhin kontrollierten reptilianische Truppen das Gebiet, so waren auch die Führer der Reptilien stets mit den neuesten Informationen versorgt. Und hatten damit einen Vorteil gegenüber den anderen. Daher hatten sie natürlich kein Interesse daran, ihr Wissen früher als unbedingt nötig mit anderen zu teilen. Doch Droga hatte dafür absolut kein Verständnis. Er spürte einen unbändigen Zorn in sich aufsteigen. Er fühlte sich von den Reptilianern hintergangen und hingehalten. Das war keine Art, so mit gleichgestellten Partnern umzugehen. Das würde ein Nachspiel haben, das schwor er sich.
„Dann werde ich mich auf den Weg machen“, sagte er, da ihm nichts besseres einfiel.
„Viel Erfolg“, rief ihm der Captain noch hinterher als Droga die Brücke wieder verließ. Er musste noch ein Aufzeichnungsgerät aus seinem Quartier holen. Schließlich würde er alles, was er dort sah, aufzeichnen müssen. Auf die Reptilianer war anscheinend kein Verlass. Wer wusste schon, was sie noch an Informationen zurückhielten? Da war es besser, wenn er eigene Daten sammelte.
Nur wenig später befand er sich auf der Oberfläche des Planeten, am mitgeteilten Treffpunkt. Wieder einmal musste er sich die Vorteile des Transporters eingestehen, auch wenn er das Gerät gar nicht mochte. Ihm wurde jedes Mal übel, wenn er da hindurch ging. Vielleicht lag das an den Transportern der Xindi, vielleicht aber auch nur an seiner Abneigung gegen diese Technologie. Die Xindi nutzten diese erst seit knapp zwanzig Jahren, und damit seit viel kürzerer Zeit als Romulaner, Klingonen oder Menschen. Diese hatten ihre Transporter schon seit hundert und mehr Jahren im Einsatz. Und obwohl diese Technologie auch bei den Xindi zuverlässig funktionierte, hatten doch noch viele einen Vorbehalt. Sich in seine einzelnen Moleküle zerlegen zu lassen und diese dann tausende von Kilometer weit zu verschicken, das war vielen nicht ganz geheuer. Wahrscheinlich würde es noch mindestens eine Generation benötigen, bis das Beamen zu einem gewöhnlichen Transportmittel wurde, das man benutzte, ohne vorher darüber nachzudenken.
Außer ihm erschienen auch noch seine Kollegen der Arborealen und der Insektoiden. Damit fehlte nur noch ihr reptilianischer Kollege. Doch der ließ sich erwartungsgemäß Zeit. Was der Laune der Wartenden nicht gerade zuträglich war. Die Ungeduld stieg mit jeder verstreichenden Minute und das Murren nahm zu. Selbst die Insektoiden schienen das Verhalten ihrer einstigen so engen Verbündeten nicht tolerieren zu wollen. Das Insekt versprach, die Reptilianer bei der nächsten Gelegenheit ebenfalls warten zu lassen.
Aufgrund ihrer Physiologie konnten die Aquarianer nicht direkt an dieser Untersuchung teilnehmen. Ihnen würde nicht einmal ein mit Wasser gefüllter Anzug helfen. Da sie keine Beine besaßen, hätten sie sich auch mit einer Art wassergefülltem Raumanzug nicht fortbewegen können. Wie gestrandete Wale würden sie damit am Boden liegen. Sie würden sich auf die Informationen der anderen verlassen müssen
Endlich bequemte sich auch der Reptilianer zu ihrem Treffen. Er hielt es nicht einmal für nötig, sich für die Verspätung zu entschuldigen. Nicht, dass sich schon einmal ein Reptilianer freiwillig für etwas entschuldigt hätte. Stattdessen forderte er sie schroff auf, ihnen zu folgen. Er wollte ihnen den Ort des Geschehens zeigen, schien aber nicht sonderlich erfreut darüber zu sein. Er machte auch keinerlei Erklärungen, während er sie an das große Feld der Zerstörung führte.
Der Blick, der sich ihnen bot, war trostlos. Ein weites Gebiet voll verbrannter Erde, aus der noch einige Trümmerruinen ragten. Auch ein verbrannter Baumstumpf ragte nicht weit vor ihnen auf, der am äußersten Rand der Explosionszone stand. Im Zentrum, dort wo einst das Gebäude gestanden hatte, gab es nur noch eine flache Mulde mit rußgeschwärzter Erde. Niemand, der sich dort befunden hatte, hätte eine Chance gehabt, dem Inferno zu entkommen, das hier getobt haben musste. Der Schock stand allen ins Gesicht geschrieben. Denn es war eine Sache, von einem Unglück zu erfahren. Aber etwas ganz anderes, es dann mit eigenen Augen zu sehen. Solange man nur davon hörte oder las, war es einfach nur schrecklich. Wenn man es dann aber selbst sah, mittendrin stand und die bedrückende Atmosphäre erlebte, die über einem solchen Ort lag, dann konnte man das Entsetzen erst wirklich spüren, zusammen mit der Hilflosigkeit, überhaupt nichts tun zu können. In diesem Moment kam sich jeder erst einmal klein und unbedeutend vor, völlig machtlos gegenüber dem Schrecken.
Doch dann setzte auch wieder ihre Professionalität ein. Sie waren schließlich nicht nur zum Zuschauen hier. Sie wollten dabei mitwirken, die Ursache dieser Katastrophe in Erfahrung zu bringen. Und alleine vom Betrachten der Szenerie bekamen sie keine Antworten. Ihr reptilianischer Ratskollege schien jedoch nicht die Absicht zu haben, ihnen etwas zu erklären. Er stand einfach nur schweigend da und beschäftigte sich grimmig dreinschauend mit einem Datenpad. Daher zogen die anderen Ratsmitglieder eigene Messinstrumente hervor, um die Umgebung zu scannen. Möglicherweise gaben Partikelrückstände Aufschluss über die Ursache. Wenn jede Spezies erst einmal ihre eigenen Untersuchungen durchführte, und sie danach ihre Daten zusammenlegten, dann sollte sich relativ schnell ein klares Bild ergeben. Für Droga lag genau darin die Stärke der Xindi. Sie hatten durch ihre Vielfalt verschiedene Betrachtungswinkel, was in der Regel zu besseren und ausgewogeneren Ergebnissen führte. Wenn sie zusammenarbeiteten. Nur lag in der Zusammenarbeit meist das Problem.
Nachdem sie ihre Messungen durchgeführt hatten, übermittelte jeder die Daten an sein Schiff. Dort würden die Auswertungen dann von den Experten zu weiteren Analysen herangezogen werden. Solange gab es für die Ratsmitglieder nichts weiter zu tun.
Zur Überraschung aller bat der Reptilianer sie dann aber doch noch in ein nahegelegenes, provisorisch aufgebautes Gebäude, von dem aus alle Untersuchungen und Sicherheitsvorkehrungen koordiniert wurden. Das ganze Gebäude bestand aus schnell aufbaubaren Containern und umfasste nur zwei Räume. Einen großen, in dem hektisches Treiben herrschte und ein scheinbar wildes Durcheinander. Und einen etwas kleineren, der für Besprechungen zwischendurch bestimmt war. Und dorthin wurden sie geführt.
Droga fiel auf, dass es nur Reptilianer waren, die sich derzeit im Gebäude aufhielten. Sie hatten hier tatsächlich das Zepter in der Hand und würden sich wohl nicht so einfach zurückziehen. Das konnte die ganze Sache schwieriger machen.
Im Besprechungsraum wartete auf einem großen Bildschirm bereits das Gesicht eines Aquarianers. Er wurde hinzugeschalten, um diese Spezies wenigstens so gut wie möglich einzubinden. Sie nahmen auf den bereitgestellten Stühlen Platz. Dann erschien ein weiterer Reptilianer. Er war groß und breit gebaut und hatte selbst für reptlilische Verhältnisse einen markanten Kopf. Seine Uniform wies ihn als hohen Militär aus, auch wenn Droga nicht genau sagen konnte, welchen Rang der Mann innehatte. Dazu kannte er die Rangordnung der Reptilianer nicht gut genug.
„Das ist General Alokin“, wurde der Mann vorgestellt. „Er leitet die Untersuchungen hier.“
Für Droga war das typisch reptlilianisch. Nur diese Spezies konnte eine wissenschaftliche Untersuchung dem Militär überantworten.
Alokin schaute mit grimmigen Augen in die Runde. Möglicherweise hatte er einen Vorbehalt gegen die Ratsmitglieder. Vielleicht aber schaute er auch immer so. Das war bei den Reptilien nie so genau zu sagen.
„Wir haben bereits erste Untersuchungen durchgeführt“, begann Alokin mit brummiger Stimme ohne Umschweife. Und ohne einen Willkommensgruß. „Und wir haben erste Ergebnisse.“
Sofort hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller auf sich. Auch derer, die sich bis eben noch über die Reptilianer geärgert hatten. Denn mit ersten Ergebnissen hatte noch niemand gerechnet.
„Die Explosion war kein Unfall“, sagte er deutlich und ließ dann die Worte erst einmal wirken. Was sie auch taten. Denn ein hörbares Luftholen erfüllte den kleinen Raum. Wenn es kein Unfall gewesen war, dann konnte das erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen. Droga sah bereits vor seinem inneren Auge seine Karriere in sich zusammenfallen.
„Wir haben in den Strahlungsrückständen einen erheblichen Anteil an Myonen gefunden, welche nur entstehen, wenn sich Materie und Antimaterie vermischen“, fuhr der General mit seiner Darstellung fort. „Da es hier aber keine Antimaterie gegeben hatte, weder gelagert noch in der Herstellung, kann dies nur bedeuten, dass jemand die Antimaterie vorsätzlich hierhergebracht hatte. Wohl in der Absicht, sie zu zünden.“
Mit weit aufgerissenen Augen sah Droga zu seinem Kollegen von den Arborealen. Auch dieser schien von den Ausführungen erschrocken zu sein. Denn er hatte aufgehört, sich durch den dichten Bart zu kämmen, wie er es üblicherweise tat. Es war aber auch eine schockierende Information. Schließlich hatten die Xindi alle nur denkbaren Anstrengungen unternommen, um die Konferenz abzusichern. Wie war es da nur möglich gewesen, dass jemand eine Bombe einschmuggeln konnte? Und vor allem, wer?
Droga war nicht nur erschrocken, er war regelrecht geschockt. So fiel es ihm auch schwer, den weiteren Ausführungen des Generals zu folgen.
„Wir versuchen derzeit noch eine genauere Bestimmung der Strahlung durchzuführen. Vielleicht kann über die Zusammensetzung festgestellt werden, woher die Antimaterie stammt. Möglicherweise gibt es auch noch weitere Rückstände, die den Absender der Bombe identifizieren könnten. Hier haben wir aber noch keine Ergebnisse.“ Was der Reptilianer bei diesen Worten dachte, war seinem Echsengesicht nicht anzusehen. Der grimmige Blick war dieser Spezies so zu eigen, dass sich Droga einen lachenden oder entspannten Reptilianer nicht vorstellen konnte. Gesehen hatte er noch nie einen.
Der General hatte seinen Bericht beendet und dem nichts weiter hinzuzufügen. Daher verabschiedete er sich knapp und verließ dann festen Schrittes den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die vier Ratsmitglieder saßen schweigend da. Der Schock über das gehörte stand ihnen in die Gesichter geschrieben. Zumindest soweit das aufgrund der jeweiligen Anatomien überhaupt zu erkennen war. Selbst der Aquarianer schien etwas unruhig im Wasser zu paddeln. Aber dieser Eindruck konnte auch an der Bildübertragung liegen. Niemand sprach etwas. Jeder musste erst einmal die Tragweite der Worte des Generals erfassen.
„Wer sollte ein Interesse an einem solchen Verbrechen haben?“ fragte Durat, der Vertreter der Arboreale schließlich nachdenklich in die Runde, ohne jemand direkt damit anzusprechen.
Droga fielen einige Gruppen ein, die in einem solchen Anschlag ihre Ziele erfüllt sähen. Jeder, der ein Interesse am Scheitern der Gespräche hätte, würde wohl so vorgehen. Es war relativ einfach und auf eine besonders grausame Weise effektiv. Weitere Gespräche zwischen den Xindi und der Föderation würden damit erschwert und mindestens um einige Zeit verzögert. Es lag auf der Hand, dass es hier um intergalaktische Interessen und Machtspiele ging. Und da niemand auf Durats Frage antwortete, übernahm das Droga. „Wer immer hinter diesem abscheulichen und feigen Anschlag steht, er wollte nicht, dass die Xindi und die Föderation sich annähern. Vermutlich hat jemand Angst vor einem solchen Bündnis. Angst davor, dass dies ein zu mächtiges Bündnis wird. Vor den gemeinsamen Kräften der Xindi und der Föderation müssten selbst die Klingonen oder Romulaner erzittern. Daher vermute ich, dass von diesen Mächten alles unternommen wird, um unsere Gespräche zu sabotieren.“ Während er redete steigerte er sich immer weiter in diese Vorstellung hinein. Der Gedanke erschien ihm selbst immer logischer, während er es aussprach. Es konnte keine andere Erklärung geben.
„Das ist lächerlich“, polterte der Reptilianer sofort los. „Die Sicherheitsvorkehrungen waren zu hoch, als dass ein Außenstehender einen solchen Sprengsatz hätte einschmuggeln können. Es muss einen Insider gegeben haben.“ Grimmig sah er in die Runde. Bei Droga blieb er schließlich hängen und sah ihm direkt in die Augen. „Es waren die Menschen. Sie haben den Anschlag durchgeführt. Sie haben unsere Politiker getötet. Ermordet.“ Das letzte Wort brüllte er geradezu durch den Raum, so als dulde er darauf keinen Widerspruch mehr.
Und wie immer, wenn es solche Meinungsverschiedenheiten gab, hielten sich die Aquarianer und die Arboreale zurück. Und auch die Insektoiden schienen erst einmal abwarten zu wollen. Daher wurde die Auseinandersetzung wieder einmal zwischen Droga und seinem reptilianischen Kollegen ausgetragen. Denn Droga konnte das so nicht stehen lassen.
„Warum sollten die Menschen ihre eigenen Politiker töten?“ stellte er eine Gegenfrage. Und dabei konnte er seine Ablehnung gegen den Reptilianer nicht ganz verbergen. Sein Tonfall verriet seine Geringschätzung. „So etwas tut die Föderation nicht.“
„Woher wollen Sie das wissen?“ brummte der Reptilianer angriffslustig zurück. „Wie gut kennen Sie die Föderation, um das beurteilen zu können? Oder ist das Ihr Urteil aufgrund deren Versicherungen?“ fragte er höhnisch.
Droga merkte, dass er auf dünnem Eis stand. Denn dass er die Föderation im Prinzip nicht kannte, das ließ sich nicht von der Hand weisen. Und dass ihm sein Gefühl das aufgrund der ersten Kontakte vermittelte, das konnte er kaum als Argument bringen. Nicht, wenn er sich nicht lächerlich machen wollte. „Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass die Menschen diesen Anschlag verübt haben. Aber auch gar keinen“, versuchte er sich in die Flucht nach vorne zu retten. „Dazu kommt, dass es für die Föderation einfachere Wege gegeben hätte, die Gespräche mit uns zu beenden. Dazu hätten sie nicht ihre eigenen Leute töten müssen. Andere Mächte könnten aber durchaus ein Interesse an so einem Anschlag haben. Wenn sie für Zwietracht sorgen wollten.“
„Und genauso könnten die Menschen wollen, dass es wie ein Anschlag aussieht. Vielleicht sind wir in deren Augen nur ein Werkzeug, das benutzt wird, um anderen Zwecken zu dienen“,
„Das sind nur Spekulationen“, gab Droga aufgebracht zurück. Warum wollte dieser Reptilianer unbedingt den Menschen die Schuld in die Schuhe schieben? Hatte er etwas zu verbergen? Doch bevor er sich mit diesem Gedanken befassen konnte fing der Aquarianer an zu singen.
„Solange uns weitere Fakten fehlen, ist alles nur Spekulation“, übersetzte der Computer. „Wir brauchen zuerst weitere Informationen, vorher ist jede Diskussion sinnlos. Wir sollten uns wieder treffen, wenn wir mehr wissen.“ Wie immer klangen die Worte des Aquarianers endgültig.
„Eines gibt es aber noch“, warf Droga schnell ein. „Wir müssen die Kommunikationsblockade gegen die beiden Föderationsschiffe aufheben.“ Warum er das sagte, war ihm selbst schleierhaft. Seine Karriere stand ohnehin schon auf wackligen Beinen, da konnte er es sich kaum erlauben, Partei für die Menschen zu ergreifen. Doch irgendwie erschien es ihm einfach richtig.
„Das geht nicht“, rief der Reptilianer sofort dagegen. „Die Menschen haben den Anschlag durchgeführt. Sie dürfen keine weiteren Anweisungen von ihren Vorgesetzten erhalten.“
Ohne das Reptil zu beachten, sprach Droga zu den anderen. „Wir haben eben festgestellt, dass wir noch nicht genügend Daten für ein Urteil haben. Das heißt, wir können auch der Föderation die Verantwortung für den Anschlag nicht zuschieben. Und auch sie haben Verluste erlitten. Sie sollten die Chance haben, dies ihrer Heimat mitzuteilen. Denn auch bei den Xindi gilt die Unschuld, bis die Schuld bewiesen wurde.“
„Nicht bei allen Xindi“, schränkte der Reptilianer sofort ein.
Droga ignorierte ihn weiterhin, obwohl ihn das einige Mühen kostete. Am liebsten hätte er seinen Kollegen mit einigen Faustschlägen niedergestreckt. Auch wenn er wusste, dass er im Zweikampf nur wenig Chancen gegen einen Reptilianer hätte. „Wir brauchen eine Entscheidung dazu“, sagte er stattdessen.
„Die Kommunikationsblockade soll aufgeboben werden“, entschied der Aquarianer. „Vorerst.“
„Wir stimmen dem zu“, schloss sich Durat für die Arboreale an.
Erwartungsgemäß waren die Reptilianer und die Insektoiden dagegen. Doch waren sie mehrheitlich überstimmt worden. Und sie mussten sich dem Entschluss fügen, was ihnen nicht gefiel.
Dann löste sich die Versammlung wieder auf, bis weitere Daten vorliegen würden. Die Ratsmitglieder wurden von reptilianischen Soldaten aus dem Raum geführt und mussten dann sofort wieder auf ihre Schiffe zurückkehren. Die Untersuchungen waren nach wie vor fest in der Hand der Reptilien.
Schläfrig schlug Reed die Augen auf. Er hatte ein wenig gedöst. Etwas anderes war in dieser Zelle auch gar nicht möglich. Und nun hatte jemand seinen Namen gerufen. Im ersten Moment war er sich nicht sicher gewesen, ob das in seinem Traum gewesen war oder in der Realität. Dann aber war er davon aufgewacht und die Stimme hatte ihn erneut angesprochen. Sie klang wie die Lieutenant Coltranes. Also musste es die Realität sein, denn diese Frau würde sich hoffentlich nie in seine Träume schleichen.
Als sein Blick die Konturen erfasste, sah er, dass sie in seiner Zelle stand, das Kraftfeld hinter ihr war ausgeschaltet. Wie lange war er schon hier? Er hatte sein Zeitgefühl verloren, aber es war schon mehr als ein Tag vergangen, dessen war er sich sicher.
Langsam richtete er sich auf. Betont langsam. Warum sollte er sich auch beeilen? Er war ein Gefangener und hatte nichts weiter zu verlieren. Da hatte er es nicht sonderlich eilig. Und erst als er endlich saß, sah er auf und die Sicherheitschefin mit leicht schief gelegtem Kopf an. Eine Begrüßung brachte er nicht über die Lippen. Nicht für die willenlosen Lakaien des Captain. Zwar hatte sie angedeutet gehabt, dass sie ihm ein paar Privilegien zugestehen würde, doch hatte er das nicht genutzt. Schließlich hatte er noch einen gewissen Stolz und wollte niemandem die Genugtuung geben, dass er um Vergünstigungen betteln würde.
„Guten Morgen“, sagte sie, und als von ihm keine Erwiderung kam, fuhr sie sachlich fort. „Der Captain hat befohlen, Sie in Ihrem Quartier unter Arrest zu stellen. Von jetzt an bis Sie den Sicherheitsbehörden der Erde überstellt werden können“, eröffnete sie ihm die Neuigkeiten.
Reed nickte nur. Natürlich war das eine gute Nachricht. Es war auf jeden Fall besser, die Zeit in seinem Quartier zuzubringen, als in einer kargen Zelle, in der er nicht mehr Möglichkeiten zum Zeitvertrieb hatte, als die Wand anzustarren. Trotzdem kam die Sache etwas unerwartet, denn sie war so ungewöhnlich mildtätig vom Captain.
„Wieso?“ fragte er daher skeptisch, als ob er einen Haken an der Entscheidung vermutete.
„Wir werden hier noch für einige Zeit festsitzen. Niemand weiß, bis wann wir einem geeigneten Sternenflottenschiff begegnen werden, das Sie zur Erde bringen kann. Solange möchte der Captain Sie nicht hier in der Zelle wissen. Das hält er trotz der Geschehnisse für menschenunwürdig“, erklärte sie ihm ruhig. Sie ließ mit keiner Miene erkennen, ob sie die Entscheidung für richtig oder falsch hielt. „Allerdings werden Sie Ihr Quartier auch nicht verlassen dürfen. Und eine Wache wird dafür sorgen, dass Sie sich auch daran halten.“
Erneut nickte Reed. Das hatte er schon verstanden. Natürlich war er nach wie vor ein Gefangener, wenn er auch ein etwas bequemeres Gefängnis bekam. „Na schön“, sagte er und erhob sich. Er wollte den Wechsel seiner Unterkunft auf keinen Fall noch länger hinauszögern. Nicht, dass es sich der Captain nochmals anders überlegte. „Gehen wir.“
„Nach Ihnen“, bot ihm Coltrane den Vortritt an.
Mit einer Eskorte von zwei Sicherheitsoffizieren wurde Reed zu seinem Quartier begleitet. Und mit einigen Schritten Abstand folgte dann Coltrane selbst. Als wolle sie sicherstellen, dass die Überführung nicht schief ging. Reed kam sich ein wenig wie ein Schwerverbrecher vor. Und solche Blicke bekam er von den wenigen Crewmitgliedern, denen sie begegneten, auch zugeworfen. Eine ziemlich absurde Situation, und so war er froh, als sie endlich sein Quartier erreichten und ihn alleine ließen. Hinter ihm schloss sich die Türe und er hörte die Mechanik, die die Türe verriegelte. Ohne die entsprechenden Befehlscodes ließe sie sich nun nicht mehr öffnen. Trotzdem würde noch ein Sicherheitsoffizier vor der Türe Wache schieben. Das hatte Coltrane ihm gesagt und er zweifelte nicht daran, dass sie es auch wahr machen würde. Offenbar wollte der Captain auf Nummer Sicher gehen. In Reeds Augen ein weiterer Beweis für die Unsicherheit des Captains.
Ihm war das jedoch egal. So hatte er wenigstens seine Ruhe. Es würden erst einmal ziemlich entspannte Tage anstehen. Und weiter wollte er im Moment nicht nachdenken. Zumal alles weitere ohnehin nicht in seiner Hand lag.
Als er sich auf sein Sofa fallen ließ, sah er den Monitor blinken. Er hatte eine Nachricht erhalten. Für einen Augenblick dachte er darüber nach, sie einfach zu ignorieren. Doch seine Neugier war dann doch größer. Denn vielleicht wäre es ja eine Nachricht von Elane. Die konnte er nicht ignorieren, auch wenn es sicherlich das Vernünftigste gewesen wäre. Nur konnte er ganz offensichtlich nicht vernünftig sein, wenn es um sie ging.
Er langte nach dem Pad und rief mit klopfendem Herzen die Nachricht ab. Und wie immer erhöhte sich sein Herzschlag noch, als er sah, dass die Nachricht tatsächlich von ihr war.
Auf dem Bildschirm erschien Elane. Sie sah so entzückend aus wie immer. Allerdings lag ein Schatten auf ihren Zügen. Sie schien ein wenig besorgt zu sein. Und genau das bestätigte sie auch mit ihren Worten.
„Hallo Drake“, fing die Botschaft an. „Wie geht es dir? Wo seid ihr denn unterwegs? Euer Schiff ist nicht zu erreichen. Es ist, als wärt ihr nicht mehr da. Bereits gestern habe ich dir eine Nachricht geschickt, aber sie kam zurück. Die Nachricht konnte nicht übermittelt werden, hatte es geheißen. Ich hab das dann dem ersten Offizier hier weiter gegeben. Der hat danach geschaut, hatte aber auch keine Erklärung dafür. Und schien auch nicht besonders besorgt zu sein. Er wollte sich nicht einmal weiter darum kümmern. Er hat nur gemeint, es kann durchaus mal vorkommen, dass ein Schiff zu weit entfernt ist. Oder interstellare Interferenzen durchquert, so dass es keinen Kontakt geben kann.
Das kann ja alles sein, aber ich kann das fast nicht glauben. Du hattest nie erwähnt, dass ihr euch einer solchen Zone nähert. Jetzt habe ich Angst, dass euch etwas passiert sein könnte. Also wenn du die Nachricht erhältst, dann antworte bitte sofort. Sonst finde ich vor Sorge keine Ruhe mehr.
Ich hoffe, dass es dir gut geht. Und dass ich bald wieder von dir höre.“ Sie lächelte nochmal besorgt in die Kamera, bevor sie die Aufzeichnung beendet hatte. Dann wechselte die Anzeige wieder in den Menümodus. Gedankenverloren starrte Drake durch das Gerät hindurch. Sie machte sich Sorgen. Um ihn. War das nicht ein gutes Zeichen? Denn schließlich machte man sich nur um jemanden Sorgen, der einem etwas bedeutete. Und das hieße, er war ihr nicht gleichgültig. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung. Hoffnung, dass sie ihre Beziehung wieder beleben konnten.
Er spürte, wie ihn eine Welle der Euphorie erfasste. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und auf einmal schien wieder alles möglich zu sein. Auf einmal hatte er das Gefühl, alles bewältigen zu können. Die Zukunft erschien ihm plötzlich wieder lebenswert. Und nichts würde ihn daran hindern können, die Zukunft positiv zu gestalten. Er hatte es in der Hand. Zusammen mit Elane würde ihn niemand stoppen können. Zusammen würden sie selbst dieses lächerliche Verfahren gegen ihn überstehen.
Freudig erregt fing er an, eine Nachricht für Elane aufzuzeichnen. Ob er in seinem Arrest überhaupt Nachrichten verschicken durfte, wusste er nicht. Aber wenn nicht, dann würde er schon einen Weg finden, die Botschaft trotzdem senden zu können. Und wenn er jemanden auf Knien bitten musste. Das wäre ihm dann auch egal. Irgendwie würde er es schon schaffen.
Er sah in das Objektiv der Kamera und berichtete Elane alles, was in den letzten Tagen geschehen war. Vom Notruf des Forschungsschiffes, mit dem der Vizepräsident unterwegs gewesen war, von den Überresten nach der Explosion des Verhandlungsortes und von dem Störsignal, mit dem die Xindi jegliche Kommunikation verhindert hatten. Offenbar existierte es nun nicht mehr oder die Crew der Lexington
hatte einen Weg gefunden es zu umgehen. Sonst wäre die Nachricht von Elane schon gar nicht durchgekommen. Er schilderte alles so ausführlich wie möglich, denn er wollte nicht, dass sie von Sorgen geplagt wurde. Auch den Teil seiner Inhaftierung ließ er nicht aus. Allerdings tat er es ab, als sei es nicht sonderlich von Bedeutung. Schließlich wollte er ihr keinen neuen Grund zur Beunruhigung geben. Also erzählte er alles in einem gut gelaunten Tonfall, was ihm angesichts seiner neu aufgeflammten Gefühle nicht allzu schwer fiel.
Nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte legte er das Pad beiseite und lehnte sich zurück. Wie lange es wohl dauern würde, bis Elane die Nachricht erhalten würde? Und bis wann sie darauf reagierte? Er konnte es kaum erwarten von ihr zu hören. Es war ein Jammer, dass sie nicht hier war. Denn dann ließe sich das alles viel leichter klären. Und schneller. So zog sich das alles wieder hin. Und das schlimme war, er wusste nicht, wie weit genau Elanes Schiff weg war. Aber im besten Falle würde er erst morgen eine Antwort von ihr erhalten. Vorher war es absolut unmöglich. Und obwohl er das wusste, blieb er auf der Couch sitzen und starrte das Pad an. Zu Beginn trug ihn sein neues Hochgefühl noch und er war mit seinen Gedanken ganz bei Elane. Doch je mehr Stunden verstrichen, desto unruhiger wurde er. Was, wenn er alles falsch verstanden hatte? Wenn doch nicht alles gut werden würde? Zweifel kehrten zurück. Er war sich so unsicher, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und hier in seinem Quartier gab es nichts, was er zur Ablenkung hätte machen können. So war er diesen Gefühlen ganz und gar ausgeliefert, bis er schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel, der durch seine unbequeme Lage auf dem Sofa nicht besser wurde.
Angespannt saß Cartwright vor seinem Bildschirm und starrte auf das eingeblendete Symbol des Föderationspräsidenten. Er musste darauf warten, zu Hiram Roth durchgestellt zu werden, nachdem er in dessen Vorzimmer herausgekommen war. Zwar hatte er eine direkte Leitung zum Präsidenten – aus früheren Zeiten stammte noch der Begriff des roten Telefons – aber nicht immer konnte der Präsident den Anruf direkt annehmen. Momentan befand er sich in einer Sitzung, aus der er soeben herausgeholt wurde. Cartwright hatte entschieden, dass die Umstände eine solche Maßnahme rechtfertigten.
In den letzten Tagen hatten Cartwright und Roth sehr häufig miteinander gesprochen. Der Präsident hatte darauf bestanden, über jede noch so kleine Erkenntnis bezüglich der Xindi informiert zu werden. So wollte er vermeiden, dass der Admiral ihm erneut etwas vorenthalten konnte. Und Cartwright spielte mit, immerhin ging es um seinen Posten, den er gerne noch ein wenig behalten hätte. So hatten sie es geschafft, ihre Differenzen beizulegen und wenigstens wieder zu einer professionellen Zusammenarbeit zurückzufinden. Allerdings schien es nach wie vor, als ob dunkle Wolken über den zweien hängen würden, wenn sie zusammentrafen. Es würde noch einige Zeit benötigen, bis die zwei wieder normal miteinander umgehen konnten. Falls das je wieder der Fall sein sollte.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis das Bild endlich wieder wechselte und den Präsidenten hinter seinem Schreibtisch zeigte. Sein Atem ging noch etwas schneller als üblich. Offenbar war er schnellen Schrittes in sein Büro zurückgekehrt.
„Admiral Cartwright“, grüßte er freundlich, die Anspannung in seiner Stimme war jedoch nicht zu überhören. Es konnte wohl kaum etwas Gutes verheißen, wenn ihn der Oberbefehlshaber der Flotte aus einer Besprechung holen ließ.
„Mr. President“, nickte Cartwright knapp. Dann kam er direkt zu Sache. „Sir, wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht erhalten“, kündigte er dem Präsidenten an. „Die Gute ist, wir haben wieder Kontakt zur Lexington
“, sagte er und die Erleichterung in seiner Stimme war deutlich heraus zu hören.
Hiram Roth brauchte einen Moment um zu verstehen. Er hatte mit neuen Hiobsbotschaften gerechnete, eine gute Nachricht musste er erst einmal richtig einsortieren. Dann aber entspannten sich auch seine Gesichtszüge ein wenig. „Das ist gut“, sagte er schlicht. „Und was ist die schlechte Nachricht?“ wollte er sofort wissen.
Cartwrights Blick trübte sich ein wenig ein. Seine nächsten Worte würden den Präsidenten hart treffen, dessen war er sich bewusst. „Vice-President Penneteau ist tot. Sowie die gesamte Delegation.“ Cartwrights Worte waren fast nur noch ein Flüstern. Trotzdem verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Roth zuckte sichtlich zusammen und schien für einen Moment das Atmen zu vergessen. Jaques Penneteau war nicht einfach nur der Vertreter Roths gewesen, die beiden hatte eine langjährige Freundschaft verbunden. Zusammen hatten sie auf die Präsidentschaftskandidatur hingearbeitet und nach Roths Wahlerfolg hatte er seinen Mitstreiter zum Vizepräsidenten ernannt. Die beiden hatten ein äußerst erfolgreiches und beliebtes Team gebildet. Entsprechend hart traf ihn nun diese Nachricht. Sämtliche Farbe wich Hiram Roth aus dem Gesicht und er machte den Eindruck, hinter seinem Schreibtisch versinken zu wollen.
Dass etwas geschehen sein musste, das hatten bereits alle vermutet, seit vor drei Tagen ein Notruf der USS Darwin
eingegangen war, dem Schiff, das die Delegation zum Verhandlungsort gebracht hatte. Leider war der Notruf etwas unverständlich gewesen und zum Ende hin abgebrochen. So wusste niemand genau, was geschehen war. Kurz darauf hatte die Lexington
mitgeteilt, dass sie den Notruf ebenfalls erhalten hatten und der Sache auf den Grund gehen würde. Eine eigenmächtige Entscheidung von Captain Cortez, doch nicht unbegründet. Immerhin war sein Schiff dem Verhandlungsort am nächsten. Und er kannte den Ort, da er selbst einige Tage vorher schon dort gewesen war. Aber das war auch das letzte, das sie von der Lexington
gehört hatten. Das Schiff musste längst den Verhandlungsort erreicht haben, trotzdem hatte sich niemand gemeldet. Und jede Kontaktaufnahme von der Erde aus war unbeantwortet geblieben. Als ob es dort draußen niemand mehr gäbe, der hätte antworten können. Es hatte absolut keine Informationen über die Geschehnisse gegeben. Sie waren in der Angelegenheit völlig im Dunklen getappt. So hatte ein Krisenstab nach dem anderen getagt und alle möglichen Lösungsszenarien durchgespielt. Ohne sich auf ein weiteres Vorgehen einigen zu können. Denn dazu fehlten einfach die Fakten.
Je länger die Funkstille angedauert hatte, desto schlimmer waren auch die Befürchtungen geworden. Natürlich konnte es viele Erklärungen dafür geben. Von natürlichen Störungsquellen, welche eine Transmission unmöglich machten bis hin zu einem einfachen, technischen Defekt. Da aber alles im Zusammenhang mit den Xindi stand, hielt niemand eine einfache Erklärung für wahrscheinlich. So ging man, ganz inoffiziell natürlich, vom schlimmsten aus. Jeder im Hauptquartier der Sternenflotte hatte insgeheim schon vermutet, dass die Lexington
ein grausames Schicksal ereilt hätte. Es hatte sich schon fast zu einer Gewissheit manifestiert.
Dann, vor einer Stunde, war endlich die erlösende Nachricht eingetroffen, auf die alle so lange gewartet hatten. Cartwright hatte das Gefühl gehabt, das Aufatmen beinahe schon in den Gängen hören zu können. Doch hatte das Schicksal noch eine grausame Wendung parat gehabt und das aufkommende Gefühl der Erleichterung sofort wieder zerstört. Denn was die Lexington
zu berichten hatte, war alles andere als erfreulich gewesen. Der Tod des Vizepräsidenten und seines Stabes war wie ein Schlag vors Gesicht. Ein Schock, der zusammen mit Cortez‘ Schilderung zum Tathergang neue Ängste schürte. Zwar hatte er in seinem Bericht angegeben, dass noch nicht alle Details des Vorfalles geklärt waren, aber der Grundtenor seiner Meldung machte deutlich, dass die Xindi hinter all dem stecken mussten. Die Angst, es plötzlich mit einem neuen Gegner zu tun zu haben, ging direkt mit der Nachricht einher. Denn niemand wollte einen weiteren Feind der Föderation haben. Davon gab es wahrlich schon genug. Und einen möglichen Krieg wollte erst recht keiner. Denn jedem Sternenflottenoffizier war bewusst, dass es in einem Krieg nur Verlierer geben konnte. Zumal niemand genaueres über die Xindi wusste. Weder wie weit ihre Technologie entwickelt war, wie stark ihre Waffen und Verteidigungssysteme waren, noch über wie viele Schiffe und Soldaten sie verfügten. Es gab einfach zu viele Unbekannte in dieser Gleichung.
In knappen Worten schilderte Cartwright, was Captain Cortez in seinem Bericht angegeben hatte. Die Miene des Präsidenten blieb dabei starr wie die einer Maske. Doch seine innere Anspannung, die bei diesen Worten immer weiter zunahm, spiegelte sich in seinen Augen wider. Die Besorgnis, über das, was ihnen möglicherweise bevorstand, konnte er nicht ignorieren. Als Präsident fühlte er die Verantwortung für jeden einzelnen Bürger der Föderation auf seinen Schultern ruhen. Und das Schlimmste an der Situation war die mangelnde Information. Was war dort wirklich vorgefallen? Was war geschehen? Auch der kurze Bericht der Lexington
konnte kein Licht in die Angelegenheit bringen. Im Gegenteil, er warf eher noch mehr Fragen auf. Nun tappten sie im Dunkel und wussten kaum mehr, als dass die Delegation offenbar tot war. Es waren viel zu dürftige Angaben, um darauf Entscheidungen zu begründen.
Insgeheim musste Hiram Roth dem Oberbefehlshaber der Sternenflotte im Nachhinein Recht geben. Schließlich war es Cartwright gewesen, der darauf gedrängt hatte, dass Roth nicht an den Gesprächen teilnehmen sollte. Und das zu Recht. Denn sonst stünde die Föderation nun ohne Führung da, was eine vorrübergehende Handlungsunfähigkeit bedeutet hätte. Aber dem war nun zum Glück nicht so.
Als Cartwright seinen Bericht beendet hatte, schwieg Roth erst einmal. Er schien regelrecht schockiert zu sein. Verständlicherweise, denn es hatte vorab keine Anzeichen für so etwas gegeben. Offenbar suchte er nach den richtigen Worten. Nach Worten, die in dieser Situation angebracht waren und ihn nicht handlungsunfähig erschienen ließen. Was ihm aber sichtlich schwer fiel. „Was halten Sie davon?“ wollte er schließlich von Cartwright wissen. Seine Stimme klang dabei nicht so fest wie gewöhnlich.
„Es ist schwierig mit den vorliegenden Daten die Situation beurteilen zu wollen“, erwiderte der Admiral ausweichend. Dass er den Xindi nicht vertraute war kein Geheimnis. Doch hielt er es in dieser Situation für pietätlos darauf hinzuweisen, dass er es ja gesagt hatte. „Es gibt keine Hinweise, die die Xindi in irgendeiner Weise belasten. Allerdings gibt es auch keine Hinweise, die die Xindi entlasten würden. Und aufgrund unserer Erfahrungen mit ihnen in der Vergangenheit halte ich es für wahrscheinlich, dass die Xindi hinter dem Tod des Vice-President stehen.“
Roth nickte. Ihm war anzusehen, dass es hinter seiner Stirn bereits wieder arbeitete, trotz der furchtbaren Nachricht, die er noch immer verdauen musste. „Sie sind der Meinung, die Xindi haben uns in eine Falle gelockt?“ Ohne eine Antwort abzuwarten nickte er und fuhr dann fort. „Die Anzeichen scheinen dafür zu sprechen, dass die Xindi ein doppeltes Spiel mit uns spielen. Allerdings haben wir bisher keine Beweise dafür. Noch nicht einmal stichhaltige Indizien. Solange wir nichts Genaueres wissen, können wir niemanden vorverurteilen. Doch lassen wir uns von den Xindi auch nicht an der Nase herumführen. Und auf deren Beteuerungen werden wir schon gar nicht vertrauen. Die Ereignisse müssen untersucht werden. Gemeinsam. Wir werden uns auf keinen Fall ausschließen lassen.“ Er machte eine kurze Pause. Seine gewohnte Entschlossenheit war zurückgekehrt. Vielleicht hatten aber auch nur die Gewohnheiten die Kontrolle übernommen, um mit dem Schmerz und dem Schock besser umgehen zu können. Trotzdem musste er sich nun ein wenig bremsen. Er war zwar der Präsident, doch auf keinen Fall konnte er Entscheidungen alleine treffen. Laut Verfassung dufte er das auch nicht. „Ich werde die Angelegenheit dem Föderationsrat vorlegen“, sagte er dann, allerdings mehr zu sich selbst. „Ich werde eine Dringlichkeitssitzung einberufen. Wir können uns hier keine Zeit lassen. Die Angelegenheit muss dringend besprochen werden.“
Cartwright nickte nur. Er wusste, wie die Gremien der Föderation funktionierten. Trotzdem hatte er die irrationale Erwartung gehabt, eine schnelle und deutliche Entscheidung für das weitere Vorgehen zu bekommen. Etwas, das den Xindi gegenüber ein deutliches Zeichen gesetzt hätte. Denn offenbar verstanden die Xindi nur die harte Tour. Und dann sollte die Föderation auch zeigen, dass sie das auch konnte. Doch stand zu befürchten, dass die Politiker die Antwort an die Xindi wieder weich spülten und sich somit nur lächerlich machten.
„Ich werde Sie auf dem Laufenden halten“, unterbrach Roth die Überlegungen Cartwrights.
„In Ordnung“, nickte Cartwright steif. Er hoffte, dass die Lexington
bald noch etwas handfestere Angaben machen konnte, die dem Rat die Dringlichkeit deutlich machten.
Als der Präsident die Verbindung beendet hatte, ließ Cartwright seinen Blick durchs Fenster in die Dunkelheit der Nacht hinaus schweifen. Es war bereits zwei Stunden nach Mitternacht, doch war ihm die Benachrichtigung des Präsidenten wichtiger gewesen als Schlaf. Zumal es in Paris Vormittag war.
Die Dunkelheit der Nacht war beruhigend. Sie hing wie ein schwarzer Schleier vor seinem Büro, das hell erleuchtet war. Und es schien ein wenig die Situation wieder zu spiegeln. Denn auch von den kommenden Tagen war nur wenig zu sehen, der Rest verlor sich in der Dunkelheit des Ungewissen. Vielleicht würde sich durch den Zwischenfall bei den Xindi nichts ändern, vielleicht aber auch alles.
Langsam kam Drake Reed aus dem Bad geschlendert. Er hatte nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen und sich auch beim Abtrocken keine besondere Mühe gegeben. So liefen ihm noch vereinzelte Tropfen über den Körper, die er aber nicht weiter beachtete. Während er herzhaft gähnte fuhr er sich mit einer Hand durch das noch nasse Haar. Auch nach der Dusche fühlte er sich kaum fitter als vorher. Was daran liegen konnte, dass er lange und heiß geduscht hatte. Oder auch einfach nur daran, dass er schon den ganzen Tag nur faul herumgesessen war. Was sollte er auch sonst tun, so ganz alleine in seinem Quartier? Er war noch immer eingesperrt und wartete auf die Dinge, die da kommen mochten. Einen Einfluss darauf hatte er ohnehin nicht. So war der Tag mit lesen, dösen und Musik hören vorübergegangen, ohne dass er den Eindruck hatte, heute etwas geleistet zu haben. Er fühlte sich irgendwie nutzlos und überflüssig. Immerhin lag sein letzter freier Tag schon einige Zeit zurück. Und da war er auf der Erde gewesen und hatte sich in Gesellschaft von Freunden befunden. Ganz alleine einen Tag in seinem Quartier hatte er noch nie zugebracht. Normalerweise befand sich die Crew an Bord eines Raumschiffes sieben Tage in der Woche im Dienst. So wusste er mit der plötzlich im Übermaß zur Verfügung stehenden Zeit nichts anzufangen. Zumal er in seinem Quartier eingesperrt war.
Seltsamerweise fühlte er sich trotzdem erschöpft. Mehr geistig als körperlich. Trotzdem war er sich sicher, heute Nacht nicht richtig schlafen zu können. Wenn er sich wenigstens im Fitnessbereich richtig hätte auspowern können. Aber selbst das war ihm nicht möglich. Wenn er hierfür nicht noch eine Ausnahmegenehmigung bekam, dann würde diese Haft sich sehr bald an seinem Körper ablesen lassen. All das mühevolle Training wäre dann umsonst gewesen und die sichtbaren Erfolge würden sich dann in Wohlgefallen auflösen.
Nochmal tief gähnend ging er zur Couch hinüber. Allerdings war er sich unschlüssig darüber, ob er sich hinsetzen sollte. Zum einen, weil er sich wohl besser erst einmal anziehen sollte. Nicht, dass er noch krank würde. Das wäre zumindest die erste Sorge seiner Mutter. Zum anderen, weil er diese Couch bereits nach einem Tag unter Arrest nicht mehr sehen konnte. Dabei standen mit Sicherheit noch unzählige weitere Tage bevor. Wenn die alle so werden würden wie dieser erste Tag, dann brauchte er am Ende noch eine psychologische Behandlung, dachte er innerlich den Kopf schüttelnd. Ein frustrierender Gedanken. Eigentlich hatte er nach den letzten Missionen der Republic
genug Zeit mit Psychologen verbracht. Er war nicht gerade erpicht darauf, das so schnell zu wiederholen.
Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie sein Datenpad blinkte. Jemand hatte ihm wohl eine Nachricht zukommen lassen, als er im Bad gewesen war. Wer das wohl sein mochte? Bisher hatte sich noch niemand bei ihm gemeldet. Was ihn aufgrund der Ergebenheit der Crew gegenüber dem Captain nicht wunderte. Offenbar traute sich einfach niemand, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Oder der Captain hatte es explizit verboten. Zuzutrauen wäre es ihm. Trotzdem hätte er erwartet, dass sich wenigstens Josh Barrow melden würde. Der Junge würde mit dem Wissen, wie es Reed ging, sicherlich die Aufmerksamkeit auf dem Freizeitdeck auf sich ziehen. Verwunderlich, dass er sich diese Chance entgehen ließ. Aber vielleicht wollte er auch nur noch einige Tage warten, um die Spannung unter der Crew zu erhöhen.
Reed beschloss, sich erst einmal nicht zu setzen. Die Nachricht konnte er auch im Stehen abrufen. Daher nahm er das kleine Pad auf und rief die Daten im Stehen ab. Überrascht setzte sein Herzschlag einen Moment aus, als er den Absender sah. Es war Elane. Er hatte ihr doch erst gestern geantwortet. Sie musste ihrerseits wiederum sofort geantwortet haben, als seine Botschaft bei ihr eingegangen war. Das war überraschend, denn so kurz hintereinander hatte sie sich seit ihrer gemeinsamen Zeit nicht mehr bei ihm gemeldet.
Nun musste er doch Platz nehmen. Auf diese Nachricht hatte er zwar gehofft, doch im Laufe des Tages waren seine Zweifel immer größer geworden, bis er sich schließlich sicher gewesen war, dass ihre Sorge um ihn nichts Tieferes zu bedeuten hatte. Dass sie sich nun so schnell wieder bei ihm gemeldet hatte, warf seine neuen Überlegungen erneut über den Haufen.
Schnell rief er die Nachricht ab. Vielleicht würde sie ihm ja jetzt endlich sagen, was er schon so lange hören wollte. Vielleicht enthielt die Nachricht genau diese Worte.
Sie erschien auf dem Bildschirm und wirkte so fröhlich wie immer. Vielleicht sogar etwas mehr. Was sie damit begründete, froh zu sein von ihm zu hören. Und zu hören, dass alles in Ordnung sei. Sie betonte das zwar extra, doch Reed versetzte es trotzdem einen Stich ins Herz. Er konnte nicht einmal sagen warum. Vielleicht war es die Art wie sie es aussprach. So als ob sie es mehr aus Pflichtbewusstsein heraus machen würde. Obwohl das jemand anderem vielleicht gar nicht so aufgefallen wäre. Sie sprach weiter über seine Inhaftierung und das bevorstehende Verfahren. In ihren Augen war das ganze absolut lächerlich, da musste sie ihm Recht geben. Und sie beschwichtigte ihn noch, dass er sich wohl kaum Gedanken machen müsste. Captain Cortez würde damit vor dem Militärgericht ganz sicher nicht durchkommen. Bei ihr klang das so einfach. Als wäre das alles keine große Sache und er sich keine Sorgen machen müsse. Es klang fast ein wenig zu einfach und er fragte sich, ob er das Ganze vielleicht nur zu skeptisch und negativ sah. Mit ihren Worten klang das nach einer kleinen Lappalie. Nach einem Klacks, der bald vorbei wäre und dann alles wieder in seinen Bahnen lief. War es das womöglich auch? Und dann wollte sie alles wissen über den Vorfall, den die Lexington
hier untersuchte. Sie wollte wissen, wer alles der Delegation angehört hatte, was genau geschehen war und wer hinter der Sache steckte. Ob es ein Unfall war oder womöglich ein Terrorakt. Ob es sicher sei, das alle Diplomaten tot seien und ob die Xindi sich schon dazu geäußert hatten. Sie gab zu, dass sie da etwas neugierig sei, aber schließlich müsse sie doch wissen, ob eine Gefahr für die Föderation bestand. Und ob eine Gefahr für ihn bestand. Die Nachricht endete schließlich mit der Bitte, dass er sich bald wieder melden möge. Dann warf sie ihm noch einen flüchten Kuss in die Kamera, bevor sie die Aufzeichnung beendet hatte.
Völlig verwirrt saß Reed auf dem Sofa und starrte den Monitor an. Mit solch einer Nachricht hatte er nicht gerechnet. Sie schien sich überhaupt keine Sorgen mehr um ihn zu machen. Und sie schien auch gar kein Interesse an seiner Situation zu haben. Sie hatte überhaupt nicht wissen wollen wie es ihm ging, wie er sich fühlte. Seine Situation schien für sie so einfach zu sein. Als hätte er keinen Grund zur Sorge. Stattdessen hatte sie sich nur für die Neuigkeiten des Vorfalles bei den Xindi interessiert. War er etwa ihr persönlicher Nachrichtendienst? Wollte sie von ihm Informationen, weil es noch nichts Offizielles gab? Ging es ihr einzig und alleine darum? Er konnte es kaum glauben. Und er fühlte auch eine Wut in sich aufsteigen. Eine Wut, die auf Enttäuschung basierte und dem Gefühl, einfach nur benutzt zu werden. Aber dann war da auch noch ihr Kuss am Schluss der Nachricht. Das hatte sie auch noch nie gemacht. War das ein Zeichen für ihn? Während er darüber nachdachte, brach seine ansteigende Wut sofort wieder in sich zusammen. Gab es etwa doch noch Hoffnung? Es war so verwirrend. Und er hasste dieses Gefühl. Er wusste einfach nicht woran er war. Wieso musste das mit den Gefühlen nur so kompliziert sein? Und wie hatte er da nur hineingeraten können? Es war doch früher alles so einfach gewesen. Er hatte die Frauen reihenweise um den Finger gewickelt, abgeschleppt und sich dann der nächsten zugewandt. Das war einfach gewesen, das war erfolgreich gewesen und er hatte absolut kein Gefühlschaos mit sich herumgetragen, das ihn nahezu handlungsunfähig machte. Und er war glücklich dabei gewesen. Zumindest solange, bis er das Gefühl einer echten Liebe erlebt hatte. Doch wenn er das nie erlebt hätte, dann hätte er doch auch nie etwas vermisst. Sein Leben hätte doch immer so weitergehen können wie es war.
Seufzend lehnte er sich zurück. Es hatte keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken, was gewesen wäre wenn. Er musste sich mit der Situation hier und jetzt befassen. Er musste herausfinden, was die Nachricht von Elane wirklich bedeutete, nicht dass er sich von Phantomen jagen ließ. Ein Jammer, dass Elizabeth nicht hier war. Er hätte ihre Hilfe jetzt brauchen können. Denn er selbst war viel zu unerfahren auf diesem Gebiet. Diese Art von Spielchen und Andeutungen lagen ihm nicht. Doch Elizabeth war weit weg und eine Nachricht zur Erde würde noch länger benötigen als bis zu Elane.
Frustriert legte er das Pad beiseite und schloss dann die Augen. Als erstes würde er sich anziehen müssen. So halbnackt wollte er keine Nachricht für Elane aufzeichnen. Und dann würde er erst nach den richtigen Worten suchen müssen. Er wollte keine Spiele spielen sondern ihr einfach sagen was er wusste. Vielleicht würde sie danach nochmal nach ihm fragen, wenn sie wusste, was überhaupt geschehen war. Und außerdem konnte er ihr schließlich auch von sich erzählen, auch wenn sie ihn nicht direkt danach gefragt hatte. Dann würde sie es wenigstens wissen und konnte dann in einer Antwort immer noch darauf eingehen.
Und genau so machte er es dann schließlich auch. Er zog sich an, versuchte möglichst ordentlich auszusehen und zeichnete dann die Antwort für Elane auf. Er erzählte ihr, was er wusste. Was allerdings nicht sonderlich viel war. Seit er mit dem Captain vom Planeten zurückgekehrt und dann unter Arrest gestellt worden war, hatte er nichts mehr erfahren. Er wusste nicht, was die Crew inzwischen alles herausgefunden hatte und was die Xindi taten. Man informierte ihn nicht und an die Informationen im Computer kam er nicht heran. So konnte er Elane nichts Neues erzählen. Daher erzählte er noch ein bisschen von sich selbst und wie langweilig es so ganz alleine im eigenen Quartier war. Als ihm dann nichts mehr einfiel beendete er die Nachricht. Dann zögerte er noch einen Augenblick. Hatte er wirklich die richtigen Worte gefunden? Oder sollte er alles löschen und die Aufzeichnung nochmal von vorne beginnen? Es war doch jedes Mal dasselbe. Er wollte die perfekte Nachricht abschicken, eine Nachricht, die ihr klar machen sollte, was sie an ihm hätte, wenn sie ihn zurücknehmen würde. Doch auch wenn er tagelang an den Worten feilen würde, es wäre doch nie gut genug.
Darum gab er sich einen Ruck und verschickte die Nachricht, ohne sie sich nochmals anzuschauen. Entweder waren es die richtigen Worte oder nicht. Er musste eben einfach auf das Beste hoffen.
Dann ließ er sich wieder zurückfallen und wurde von der Lehne des Sofas sanft abgefangen. Jetzt hieß es wieder warten. Warten und hoffen. Und es gab sonst nichts weiter für ihn zu tun, als über Elane nachzudenken. Mal wieder.
Noch immer kam sich Droga wie benommen vor. Die Eröffnung der Reptilianer, dass es sich bei der Explosion am Verhandlungsort um einen Anschlag gehandelt habe, hatte ihn innerlich total erschüttert. Zwar hatte er den Gedanken auch schon vorher gehabt, doch hatte er ihn nicht wahrhaben wollen. Nun schien alles darauf hinauszulaufen, dass es tatsächlich ein Anschlag gewesen war. Denn auch seine Aufzeichnungen, die er am Tatort gemacht hatte, waren inzwischen analysiert worden. Die Crew an Bord seines Schiffes hatte jedes Byte der Informationen ausgequetscht und am Ende konnten sie es bestätigen. Es gab einen deutlichen Anteil an Myonen in den Rückständen der Explosion. Ein Element, das so in der Natur nicht vorkam. Es bildete sich nur bei der Annihilation, also bei der Verschmelzung von Materie mit Antimaterie, in der sich beide Elemente unter Freisetzung von gewaltigen Energiemengen auflösten. Die Myonen, die sich dabei bildeten, waren alles andere als stabil und reagierten sofort mit anderen Elementen in der Umgebung. Trotzdem gab es nach einer Reaktion in dieser Größenordnung und mit den modernen Techniken noch immer die Möglichkeit diese Myonen nachzuweisen.
Die Bestätigung dieser Myonen durch die eigenen Wissenschaftler machte Droga erst bewusst, was das bedeutete. Es hatte tatsächlich jemand vorsätzlich diese Gespräche mit der Föderation vereiteln wollen. Denn in der ganzen Kolonie gab es keine Antimaterie. Die Energieversorgung hier basierte vollständig auf Solarenergie. Nur leider gaben die bisher vorgenommenen Messungen keinerlei Anhaltspunkte auf den Täter. Und die Reptlilianer verhinderten jede weitere Untersuchung. Sie begründeten das damit, dass sie keinerlei Kontaminierung des Tatortes zulassen wollten. Denn mit jeder weiteren Person, die dort unten herumlief, stieg die Gefahr, dass Spuren verwischt oder tatfremde Elemente hineingetragen wurden. Droga fand diese Begründung lächerlich. Natürlich bestand diese Gefahr, doch waren sie alle keine Amateure. Jeder wusste auf was es ankam und was es zu beachten galt. Nur hatten die Reptilianer überhaupt kein Interesse daran, die Kontrolle über den Tatort aufzugeben. Und er hatte keinerlei Möglichkeiten, das zu erzwingen.
Unermüdlich hatte Droga versucht, seine Heimatregierung davon zu überzeugen, dass sie Druck auf die Reptilianer ausübte, doch war dort bisher noch niemand bereit, wegen dieses Zwischenfalles erneute Spannungen zwischen den Spezies aufzubauen. Droga konnte darüber nur lachen. Es gab hier doch bereits neue Spannungen, wieso sollte man dann noch vorsichtig sein? Die Entscheidung ging über seinen Verstand. Aufgeben wollte er trotzdem noch nicht. Schließlich ging es nicht nur um die Wahrheit, sondern auch um seine Karriere.
Im Moment arbeitete er gerade an einer Idee, mit der er sich unbemerkt auf die Oberfläche begeben könnte. Mit den Transportern mussten die Reptilianer nicht einmal bemerken, dass er sein Schiff verließ. Denn anders als bei einem Shuttle, konnte der Energiestrahl nicht ohne weiteres bemerkt werden. Das einzig schwierige dabei war, dass er auch auf der Oberfläche unbemerkt bleiben musste. Sowohl für die Augen aller Anwesenden, wie auch für die Sensoren. Denn als Humanoid unterschied er sich schon aufgrund seiner Physiologie von den Reptilianern. Für Sensoren wäre es ein leichtes, ihn aufzuspüren. Und er zweifelte nicht daran, dass die Reptilianer den Tatort mit entsprechenden Sensoren überwachten. Trotzdem musste es eine Möglichkeit geben. So einfach durften die Reptilien nicht davon kommen. Denn auch ein weiterer Gedanke war ihm bereits mehrfach gekommen. Ging es den Reptilianern wirklich nur darum, die Kontrolle über all das hier zu behalten? Oder steckte vielleicht mehr dahinter? Was, wenn sie gerade dabei waren, selbst Spuren zu verwischen? Um womöglich ihre eigenen Tatbeteiligung zu verwischen. Sie waren nie besonders begeistert von den Gesprächen mit der der Föderation gewesen, das war kein Geheimnis. Doch würden sie so weit gehen, einen Anschlag zu verüben, der alle Beteiligte tötete? Auch die Xindi und die Vertreter der Reptilianer? Droga wollte das nicht glauben, doch je mehr er darüber nachdachte, desto weniger ließ sich der Gedanke wieder verdrängen. Auch wenn er ihm Unbehagen bereitete. Um solche Gedanken aus der Welt zu schaffen, mussten alle Xindi-Spezies an den Untersuchungen beteiligt werden.
Während er über dem Problem brütete, riss ihn plötzlich eine Stimme aus dem Lautsprecher in die Gegenwart zurück. „Droga, kommen Sie bitte auf die Brücke.“
Überrascht und verwundert zugleich sah Droga auf. Der Captain war doch normalerweise froh, wenn Droga in seinem Quartier blieb. Schließlich mochten sich der Captain und der Politiker nicht sonderlich. Also musste etwas Wichtiges vorgefallen sein. Wahrscheinlich gab es neue Erkenntnisse. Daher erhob er sich schnell von seinem Stuhl und eilte auf die Kommandobrücke.
Dort angekommen, empfing ihn der Captain sofort mit einem Kopfnicken in Richtung Bildschirm. Droga folgte dem Wink und sah dort zu seiner Überraschung ein Kriegsschiff der Aquarianer. Es war gigantisch groß. Es überragte selbst die Kriegsschiffe der Reptilianer um nahezu das Vierfache. Neben diesem Schiff sahen alle anderen anwesenden Schiffe wie Spielzeug aus. Droga war beeindruckt. Zwar hatte er schon viel von den Kriegsschiffen der Aquarianer gehört, gesehen hatte er noch nie eines.
„Was macht dieses Schiff hier? Und was zum Teufel haben die Aquarianer vor?“ sprach er seine Gedanken laut aus.
„Sie sind vor wenigen Augenblicken aus dem Vortex gekommen“, nahm sich der Captain Drogas Fragen an. Als Vortex bezeichneten die Xindi den Transwarptunnel, durch den ihre Schiffe reisten. Dabei nutzten sie allerdings nicht, wie alle andern Völker, den Subraum, sondern den Hyperraum, eine weitere Dimension, durch die Geschwindigkeiten schneller als das Licht möglich waren. Letztlich waren sie damit sogar schneller als Schiffe mit einem gewöhnlichen Warpantrieb. Allerdings benötigten sie auch wesentlich mehr Energie.
„Rufen Sie die Aquarianer“, befahl Droga. Er wollte unbedingt herausfinden, was die Aquarianer planten. Mit diesem Schiff konnten sie die vier anderen Spezies in Schach halten und das Geschehen hier bestimmen. Droga war wenig begeistert darüber. Nicht noch jemand, der die Kontrolle hier an sich reißen wollte.
Der Kommunikationsoffizier sah seinen Captain fragend an und erwartete von ihm die Bestätigung für diesen Befehl, ehe er sich an die Arbeit machte. Und während er sich bemühte, die Wasserwesen zu erreichen, schwiegen alle anderen Anwesenden erwartungsvoll. Nicht einmal das Atmen der Personen war zu hören. Als ob alle angespannt das Atmen eingestellt hätten.
Schließlich wandte der Mann sich um. „Tut mir leid, Captain. Aber die Aquarianer reagieren nicht auf unsere Rufe.“
Die Anspannung war mit einem Mal zerplatzt, auch wenn nun niemand wusste, was die nächsten Schritte wären. Denn was immer die Aquarianer vor hatten, sich ihnen in den Weg zu stellen wäre nutzlos gewesen. So konnten sie kaum mehr machen als abzuwarten und das ganze Geschehen aufmerksam beobachten.
„Die Sensoren sollen alles aufzeichnen“, befahl Droga und erntete damit einen finsteren Blick des Captains. Als Befehlshaber des Schiffes musste er auf so etwas offensichtlich nicht hingewiesen werden, es sei den Droga traute ihm nichts zu.
Droga wandte sich dem Bildschirm zu und beobachtete gebannt, was dort draußen geschah. Nur musste er ziemlich schnell erkennen, dass sich nicht viel tat. Genaugenommen war überhaupt nichts zu erkennen. Das riesige Kriegsschiff umkreiste den Planeten in einer stationären Umlaufbahn, neben den anderen Schiffen, die schon länger anwesend waren. Nichts deutete darauf hin, dass die Aquarianer irgendetwas taten. Vielleicht war das Kriegsschiff auch nur zufällig hier. Droga wusste nichts von den Missionen der aquarianischen Schiffe. Genauso wie sonst niemand etwas über die Ziele der Aquarianer wusste. Die Wasserwesen waren in jeder Hinsicht mysteriös und geheimnisvoll.
Nach mehreren Minuten ließ die Aufmerksamkeit der Brückencrew für das Schiff eindeutig nach. Was sollten sie auch alle auf den Bildschirm starren, wenn sich ohnehin nichts tat? Daher übernahm allmählich wieder die Routine das Geschehen. Und irgendwann musste auch Droga einsehen, dass sich dort draußen wohl nichts mehr tun würde.
Gerade wollte er in sein Quartier und damit zu seinem ungelösten Problem zurückkehren, als der Kommunikationsoffizier die Stimme erhob. „Captain. Wir werden gerufen.“
„Von wem?“ fragten Droga und der Captain wie aus einem Munde.
„Es sind die Aquarianer.“ Irritiert schaute er seine Daten an und überzeugte sich, dass er sie richtig gelesen hatte. Ganz eindeutig hatte er noch nie mit den Aquarianern kommuniziert. Dann fuhr er fort. „Sie wollen mit Ratsmitglied Droga sprechen. Auf dem Konferenzkanal.“
Droga sah erst den Captain an, dann machte er sich auf den Weg in sein Quartier. Dort konnte er sich ungestört mit den Aquarianern unterhalten. Denn diese Gespräche gingen außerhalb des Rates niemanden etwas an, solange nichts Konkretes zur Veröffentlichung beschlossen wurde. Daher durften auch der Captain und die Brückencrew nichts davon erfahren.
Als er die Türe hinter sich schloss und den Bildschirm aktivierte, stellte er fest, dass nicht nur er von den Wasser-Xindi gerufen worden war. Die Ratsmitglieder der anderen Spezies waren ebenfalls anwesend. Er sah ihre Zuschaltungen in kleinen Fenstern auf dem Bildschirm.
Der Aquarianer begann zu singen und es gab eine kleine Verzögerung, bis der Computer mit der Übersetzung begann. „Die Reptilianer haben sich bereit erklärt, weitere Untersuchungen am Tatort zuzulassen“, erklärte er schlicht. Wie es zu dem Einlenken der Reptilianer gekommen war, erklärte er nicht. Doch vermutete Droga, dass die Anwesenheit des riesigen Kriegsschiffes selbst die Reptilianer eingeschüchtert hatte. „Es dürfen nun alle Spezies Wissenschaftler zur Untersuchung schicken“, fuhr der Aquarianer fort. „Die Ergebnisse sind uns mitzuteilen.“ Auf diese Weise wollte er den Umstand wieder wettmachen, dass die Wasserwesen nicht auch ein Team schicken konnten.
„Moment“, mischte Droga sich ein. „Bevor wir damit beginnen, gibt es noch Punkte zu klären. Wer hat nun die Kontrolle über den Tatort? Irgendjemand muss dort das Sagen haben, sonst haben wir bald ein Chaos. Denn in einem hatten die Reptilianer recht. Es muss unbedingt verhindert werden, dass der Ort konterminiert wird“, gab er widerwillig zu. „Denn sonst besteht die Gefahr, dass wir nie herausfinden, was geschehen ist.“
„Ich verstehe Sie nicht, Droga“, sagte der Arboreale Durat langsam. „Zuerst wollten Sie einen Zugang zum Tatort und nun, wo wir ihn haben, sind Sie dagegen, dass wir uns selbst ein Bild von der Lage machen.“
„Das ist nicht richtig“, gab Droga mühsam beherrscht zurück. Wieso verstand ihn nie jemand? „Aber wir müssen unsere Untersuchungen koordinieren. Und es gibt auch noch die Forderung der Föderation, dass sie in die Untersuchungen mit eingebunden wird. Das sollten wir nicht vergessen.“
„Die Menschen haben diesen Anschlag ausgeführt. Wir dürfen Ihnen nicht trauen und auf keinen Fall Zugang zu unseren Anlagen gewähren“, polterte der reptilianische Vertreter erwartungsgemäß los. „Sie werden alle belastenden Spuren beseitigen.
„Es ist eine berechtigte Forderung“, hielt Droga entgegen. „Sie haben genauso Verluste hinzunehmen. Und dass sie für das Geschehene verantwortlich sein sollen, dafür gibt es keine Beweise. Es sind völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen.“
„Es gibt Beweise“, betonte der Reptilianer.
„Dann legen Sie sie uns vor“, brachte Droga empört entgegen. Diese ewigen Andeutungen, ohne dass Fakten vorgelegt wurden, ärgerte ihn.
„Das werden wir. Zu gegebener Zeit.“
„Das ist lächerlich“, rief Droga.
„Es ist richtig, dass wir die Untersuchungen koordinieren müssen“, brachte der Aquarianer ruhig ein. „Und ich schlage vor, dass Droga die Leitung der Untersuchungen übernimmt.“
Drogas Zorn war mit einem Mal verflogen. Damit hatte er nicht gerechnet. Von den Aquarianern auserwählt zu werden war fast schon wie ein Adelsschlag.
„Wieso soll diese Aufgabe ein Humanoid übernehmen?“ zischte das Insektenwesen, und der Reptilianer brummte zustimmend.
„Weil wir es nicht können“, kam die schlichte Antwort des Aquarianers.
Bevor das Insekt noch etwas erwidern konnte, kam Droga ihm zuvor. „Ich werde das aber nur machen, wenn wir die Föderation in die Untersuchungen mit einbeziehen.“
„Das ist eine dreiste Forderung“, rief der Reptilianer empört.
„Das sehen wir genauso“, stimmte der Aquarianer zu.
Doch dieses Mal war Droga nicht gewillt, es den Aquarianern so leicht zu machen. „Das ist mir bewusst. Trotzdem bleibe ich dabei. Ich mache das nur, wenn wir die Föderation in die Untersuchungen mit einbeziehen. Fordern Sie Captain Sanawey an.“ Droga wollte damit souverän klingen, so als wüsste er genau, warum er gerade diesen Menschen anforderte. Doch in Wahrheit war Sanawey der einzige Angehörige der Föderation, den er kannte. Und mit der Forderung selbst hoffte er, seine Karriere retten zu können. Denn wenn sich eine gemeinsame Untersuchung als Erfolg erwies, dann konnte das die Annäherung zwischen den beiden Machtblöcken vielleicht doch noch voranbringen und die Xindi damit zwingen, sich als ein Volk zu präsentieren. Natürlich war er sich der Gefahr bewusst, dass der Reptilianer vielleicht Recht haben könnte. Wenn die Menschen den Anschlag wirklich durchgeführt hatten, dann würde sich ihnen damit die Chance bieten, Spuren zu verwischen. Aber dieses Risiko mussten sie eingehen. Und außerdem würden die Menschen niemals alleine am Tatort sein. So gab es eine gewisse Überwachung und damit eine kleine Absicherung. Nichtsdestotrotz war er sich fast sicher, dass die Menschen nichts damit zu tun hatten. Es war zwar nur ein Bauchgefühl, doch vertraute er darauf.
„Aus welchem Grund sollten wir die Föderation mit einbeziehen?“ wollte der Aquarianer wissen. Jegliche Aggression, die er vielleicht empfand, wurde durch die Übersetzung des Computers herausgefiltert. So klang die Frage äußerst sachlich.
„Weil die Föderation durch den Vorfall ebenfalls Verluste hinzunehmen hatte. Sie haben ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihren Leuten passiert ist“, erklärte er und versuchte dabei möglichst ruhig zu bleiben. „Und wir sollten sie zu den Ermittlungen einladen, als Geste des guten Willens. Denn sie werden uns vielleicht genauso verdächtigen wie einige von uns sie. Daher werden sie sich kaum mit einem Bericht einverstanden geben. Außerdem liegt uns auch noch ihre Forderung vor, an den Untersuchungen beteiligt zu werden.“
„Eine ziemlich dreiste Forderung“, polterte der Reptilianer wieder los. „Das zeigt doch, dass die Föderation uns nicht vertraut.“
„Sie haben auch keinen Anlass dazu“, gab Droga zurück. „Unsere Völker hatten in der Vergangenheit kaum Berührungspunkte. Und wenn doch, dann haben wir versucht, ihren Heimatplaneten zu zerstören. Wie sollten sie uns da trauen?
Und zum anderen ist diese Forderung nicht dreist“, fuhr Droga schnell fort, bevor der Reptilianer darauf etwas erwidern konnte. „Wir würden genau dieselbe Forderung stellen, wenn die Situation umgekehrt wäre.“
„Das ist sie aber nicht“, knurrte das Reptil.
„Droga hat recht“, sagte Durat, der Arboreale. „Wir sollten die Föderation einladen, an den Untersuchungen teilzunehmen.“
„Wir sind dagegen“, zirpte das Insektenwesen. Eine Begründung für seine Entscheidung schien er nicht für notwendig zu halten.
Damit lag es wieder einmal an den Aquarianern, das Patt zwischen den Xindi-Spezies aufzuheben. Droga rechnete damit, dass die Wasserwesen sich wieder zurückziehen würden, um sich tagelang zu beraten. Wie immer. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals eine schnelle Entscheidung getroffen hatten. Das war einfach nicht ihre Art.
Doch zu seiner Überraschung und der aller anderen, antwortete der Aquarianer direkt: „Dann soll die Föderation an den Ermittlungen beteiligt werden.“
Droga glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. Hatten sich die Aquarianer tatsächlich innerhalb so kurzer Zeit entschieden? Oder gab es womöglich einen Fehler in der Übersetzungsmatrix des Computers?
Auch alle anderen schienen überrascht zu sein, denn niemand sagte etwas. Droga selbst konnte kaum glauben, dass er sich durchgesetzt hatte. So blieb ihm auch weiterhin die Sprache weg. Als erstes fand Durat, der ruhige Arboreale seine Stimme wieder. „Dann sei es so“, sagte er und Droga war froh darüber, dass es bestätigt wurde, bevor die Reptilianer oder die Insektoiden wieder aufbegehren konnten.
FÜNF
Voll gespannter Erwartung betrat Admiral Sanawey den Besprechungsraum im obersten Stockwerk des Hauptquartiers. Hier oben fanden nur die Meetings der allerhöchsten Führungsebene der Sternenflotte statt. Eine Ebene, zu der Sanawey noch nicht gehörte, auch wenn er inzwischen den Rang eines Admirals innehatte. Doch war seine Stellung unter den Führungskräften der Sternenflotte eher im unteren Bereich. Was ihm im Moment jedoch auch voll und ganz ausreichte. Nach wie vor musste er sich überhaupt erst noch daran gewöhnen, hinter einem Schreibtisch zu sitzen und nicht mehr auf der Kommandobrücke eines Raumschiffes. Das hatte er auch nach einem halben Jahr noch nicht gänzlich geschafft. Was auch nicht verwunderlich war. Das Leben auf einem Planeten unterschied sich deutlich von dem an Bord eines Raumschiffes. An Bord der Republic
hatte ein jeder seinen Dienst zu tun, jeden Tag, sieben Tage die Woche. Ein Wochenende gab es nicht. Und bei den Führungskräften kam noch hinzu, dass sie auch außerhalb ihrer Dienstzeiten jederzeit erreichbar sein mussten, um bei Problemen, die inner- und außerhalb des Schiffes entstehen konnten, parat zu sein. Denn die Führungsoffiziere hatten sowohl Vorbildcharakter, wie auch die Verpflichtung, das Wohl der Crew zu erhalten. So konnte es sein, dass ein Führungsoffizier auch einmal in seiner Freizeit einen Streit zwischen zwei Crewmitgliedern schlichten musste. Und da Sanawey bereits seit über zwanzig Jahren zu den Führungsoffizieren auf den jeweiligen Schiffen gehörte, auf denen er gedient hatte, war diese Situation so vertraut und so normal für ihn gewesen, dass ihm nun die Umstellung hier etwas schwer fiel. Denn in seinem neuen Job, hier auf der Erde, konnte er nach dem Ende seiner Arbeitszeit nach Hause gehen. Er hatte dann Feierabend. Und wirklich frei. Er konnte nach Hause gehen und niemand würde ihn mehr mit Themen der Sternenflotte belästigen. Natürlich würde man ihn bei einem Notfall sofort rufen, wie jeden anderen Offizier auch. Aber das wären dann auch tatsächliche Notfälle, nicht nur die manchmal kindischen Streitereien zwischen zwei Crewmitgliedern. Und das war ein ganz gravierender Unterschied. Seine Freizeit war wirklich Freizeit und absolut Privat. Das hatte durchaus seinen Charme, wie er inzwischen bereits festgestellt hatte. Trotzdem fehlte ihm das fast schon familiäre Umfeld, das er in den letzten Jahren auf seinem Schiff erlebt hatte. Dieses Gefühl würde im Hauptquartier sicher niemals aufkommen.
Die Einladung zu dieser Besprechung war überraschend gekommen. Und ziemlich kurzfristig. Erst vor einer Stunde hatte sie ihn erreicht. Mit einer so hohen Priorität, dass sie jede andere Besprechung ausstach. Er war neugierig darauf zu erfahren, was so wichtig sein konnte. Und was er dazu würde beitragen können. Oder müssen.
Natürlich war auch Admiral Cartwright als ranghöchster Sternenflottenoffizier anwesend. Ebenso wie der Rest der wichtigsten Entscheidungsträger. Sanawey war sich sicher, dass es interessant werden würde, fragte sich aber gleichzeitig, ob seine Einladung nur ein Versehen war. Da ihn aber niemand aufforderte wieder zu gehen, schien es doch seine Richtigkeit zu haben.
Cartwright eröffnete das Meeting. Nach ein paar knappen Begrüßungsworten kam er sofort zum Grund für dieses Treffen. Natürlich ging es um die Xindi. Sanawey hätte es sich eigentlich denken können. Zum einen war das momentan Thema Nummer Eins bei der Sternenflotte und der Föderation. Zum anderen war er eingeladen worden, und seit seiner letzten Mission und den Begegnungen mit den Xindi galt er als Experte für diese Spezies. Eine Einschätzung, die er überhaupt nicht teilte. Schließlich hatte er kaum Kontakt zu irgendwelchen Xindi gehabt. Und trotzdem war auch ihm bewusst, dass er von allen Angehörigen der Sternenflotte am meisten über diese Spezies wusste. Was in diesem Fall aber nicht schwer war, den der Wissensstand aller anderen war nahezu bei null, und er lag nur knapp darüber.
„Die Xindi haben auf unsere Forderung reagiert, bei den Untersuchungen zum Tode unseres Vizepräsidenten und seiner Delegation mitwirkend zu dürfen. Sie gestatten uns, ein Raumschiff zu den Untersuchung zu entsenden“, berichtete er über den neusten Stand der Bemühungen, eine Übereinkunft mit den Xindi zu erwirken.
Ein Raunen ging durch die Anwesenden. Es war Erleichterung dabei, aber auch vereinzelte Empörung darüber, dass die Föderation in dieser Angelegenheit so auf die Xindi angewiesen war. Immerhin ging es hier um nicht weniger als den Tod des zweitwichtigsten Politikers der Föderation.
„Allerdings gibt es eine Einschränkung“, dämpfte Cartwright die Hoffnungen gleich wieder ein wenig. Er sah ernst in die Runde. „Wir haben bereits zwei Schiffe vor Ort, doch wird das nicht akzeptiert. Die Xindi geben uns vor, wer unsere Untersuchungen leiten soll.“ Es war ihm deutlich anzusehen, dass er über eine solche Bevormundung alles andere als erfreut war.
Überrascht beugte sich Admiral Noughi vor. „Wie können die Xindi jemand spezielles anfordern? Haben sie so gute Informationen über uns, dass sie wissen, wer am geeignetsten ist?“
„Oder am leichtesten zu manipulieren“, fügte ein anderer nachdenklich hinzu.
Cartwright lächelte humorlos. „Wenn dem so wäre, müssten wir uns ernsthafte Gedanken über den Geheimdienst der Xindi machen. Und über Sicherheitslücken in unseren Reihen.“ Er machte eine kurze Pause. „Nein, die Anforderung der Xindi lässt sich einfacher begründen. Sie kennen sonst niemanden.“ Er sah zu Sanawey hinüber. „Sie erlauben nur Admiral Sanawey die Untersuchungen durchzuführen.“
Die Gesichter aller Anwesenden wandten sich dem überraschten ehemaligen Captain zu. Dieser wusste nicht, was er dazu sagen sollte, also begnügte er sich damit, einfach nur überrascht drein zu schauen. Er konnte die Forderung der Xindi nicht einordnen. Außer einem kurzen Gespräch mit einem Xindi namens Droga hatte er keinen Kontakt zu den Xindi gehabt. Dieses Gespräch war zwar äußerst interessant und in gewisser Weise auch harmonisch gewesen, immerhin hatte Sanawey Droga Informationen über den Verrat der Reptilianer übergeben können. Doch war es zu kurz gewesen, als dass es einem großen Vertrauensgewinn hätte dienen können.
„Sie müssen Eindruck bei den Xindi hinterlassen haben, Admiral“, sagte Cartwright. Es klang allerdings nicht unbedingt wie ein anerkennendes Lob. Eher war es fast so, als wollte er Sanawey einen Vorwurf daraus machen, dass die Xindi der Sternenflotte nun keine Entscheidungsfreiheit gelassen hatten.
Sanawey verzichtete auf eine Erwiderung. Was hätte er darauf auch sagen sollen? Jedes Wort dazu wäre zu viel gewesen. So schwieg er und sah Cartwright erwartungsvoll entgegen. Würde der Admiral ihn beauftragen? Und was noch viel wichtiger war: Würde er den Auftrag annehmen? Es wäre zweifellos eine ehrenvolle Aufgabe, bei der er viel für sich, vor allem aber für die Föderation gewinnen konnte. Scheiterte er allerdings, würde man alleine ihn dafür verantwortlich machen. Und ein Scheitern wäre unter den gegebenen Umständen wohl mehr als nur möglich.
„Da wir sonst keine Möglichkeit bekommen werden, selbst Untersuchungen vorzunehmen, werden wir auf die Forderung der Xindi eingehen“, fuhr Cartwright fort. „Admiral Sanawey, Sie werden sich der Angelegenheit annehmen.“
Sanawey zögerte mit der Bestätigung des Befehls. Noch immer wog er die Für und Wider in Gedanken gegeneinander ab. Wenn er einen Befehl bekam, blieb ihm keine andere Wahl mehr, dessen war er sich bewusst. Letztlich wollte er diese Mission auch durchführen. Es war zu wichtig für die weiteren Beziehungen zwischen Xindi und Föderation. Doch die Umstände der Mission behagten ihm gar nicht.
„Ihr Zögern ist nicht zu übersehen“, hakte Cartwright schließlich nach. „Glauben Sie nicht an einen Erfolg?“
„Nein, das ist es nicht“, sagte Sanawey langsam. Ihm kam plötzlich eine Idee und er musste seine Worte mit Bedacht wählen, wenn er etwas erreichen wollte. „Es ist nur, für diese Mission benötige ich Unterstützung.“
„Die bekommen Sie“, versicherte Cartwright schnell.
„Unterstützung von Personen, denen ich vertrauen kann und deren Verhalten ich einschätzen kann.“
Cartwright zog die Stirn in Falten. Er wusste nicht, worauf Sanawey hinaus wollte, doch er wusste, es würde ihm wohl nicht gefallen. „Was wollen Sie?“
„Für diese Mission benötigen wir ein Raumschiff und eine Crew, die es gewohnt ist, zusammenzuarbeiten und sich vertraut. Und es müssen die Besten auf ihrem Gebiet sein“, erklärte Sanawey. Er zögerte einen weiteren Moment, bevor er fortfuhr. „Wenn diese Mission auch nur den Ansatz einer Chance haben soll, dann benötigte ich meine alte Crew. Vollständig.“
Die Admiräle sahen ihn mit großen Augen an. Doch diejenigen unter ihnen, die selbst einmal ein Raumschiff kommandiert hatten, nickten wissend. Es gab nichts Wichtigeres als eine Mannschaft auf die man sich verlassen konnte. Erst recht bei einer Mission, die über den weiteren Verlauf der Beziehungen zwischen zwei Völkern entscheiden konnte. Vielleicht sogar über einen möglichen Krieg.
„Das ist unmöglich“, beschied Cartwright. „Die Crew ist längst aufgeteilt und dient zum Teil bereits auf anderen Schiffen oder hat andere Aufgaben übernommen.“
Diese unmittelbare Ablehnung ohne weiteres Nachdenken ärgerte Sanawey. Cartwright hatte nicht einmal überlegt, was sich hier machen ließe, ob sich nicht wenigstens ein Teil der Crew wieder zusammenführen ließe. Und Sanawey wiederum ließ sich nun von seinem Ärger leiten. „Entweder ich bekomme für diese Mission meine alte Crew wieder, oder jemand anders wird zu den Xindi gehen müssen“, sagte er deutlicher als er vorgehabt hatte, aber er musste seine Empörung einfach deutlich machen.
„Die Xindi akzeptieren niemand anderen“, brachte Cartwright die Sache auf den Punkt. Natürlich konnte er Sanawey einen Befehl erteilen, doch war er sich nicht sicher, inwieweit der ehemalige Captain nicht stur auf seiner Haltung beharren würde. Sanawey war alles andere als einfach zu lenken. Er hatte seinen Überzeugungen und seine Prinzipien, die er nicht brechen würde. Eher würde er die Sternenflotte verlassen. Und solange die Xindi ihn forderten, konnte sich Cartwright das nicht leisten. Und er wusste, dass Sanawey das wusste und diesen Trumpf ganz bewusst ausspielte. Und wieder konnte Cartwright nicht selbst entscheiden, sondern musste die Umstände entscheiden lassen. Die Situation mit den Xindi musste dringend bereinigt werden, bevor es noch länger so weiterging.
Cartwright sah Sanawey an und es war ihm deutlich anzumerken, dass er mit sich rang. Doch letztlich blieb ihm keine Wahl. „Wir werden sehen, was sich machen lässt“, sagte er schließlich und betrachtete das Thema erst einmal für erledigt. Insgeheim merkte er sich jedoch Sanaweys Auftritt und beschloss, ihm in einer ähnlichen Situation nicht wieder nachzugeben.
Sanawey war froh, dass es wenigstens eine kleine Chance gab, seine alte Crew zur Unterstützung zu bekommen. Ohne sie würde diese Aufgabe noch schwieriger werden, als sie ohnehin schon war. Und außerdem wusste er, wie sehr Sylvia Jackson bereits versuchte hatte, die ihr vertraute Crew zu bekommen. Nun bestand die Hoffnung, dass die Crew nach der Mission zusammenbleiben konnte. Das würde es Jackson einfacher machen. Zwar war ihm sehr wohl bewusst, dass er seine Position unter den Admiralen nicht gerade gestärkt hatte, doch war es das wert. Seine Loyalität galt natürlich der Sternenflotte und ihren Grundsätzen, doch waren ihm die alten Weggefährten, mit denen er so vieles erlebt hatte, doch wichtiger, als es irgendwelchen Vorgesetzten recht zu machen.
„Wir werden den Xindi dann mitteilen, dass Mr. Sanawey die Aufklärungsarbeit des Vorfalles zusammen mit den Xindi aufnehmen wird“, fasste Cartwright nach einem Blick in die Runde zusammen. „Den genauen Zeitpunkt müssen wir dann nochmals erörtern, wenn…“ Er zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr. „… wenn die Rahmenbedingungen stimmen“, sagte er dann und spielte damit auf Sanaweys Forderung nach seiner alten Crew an. „Allerdings haben wir nicht viel Zeit. Wir müssen bei den Xindi Präsenz zeigen, nicht dass der Eindruck entsteht, wir hätten kein Interesse an der Aufklärung. Zudem könnten eventuelle Spuren mit der Zeit verwischt und gar vertuscht werden.“
Als niemand weiter etwas dazu zu sagen hatte, wandte er sich wieder an Sanawey. „Vielen Dank für Ihr Erscheinen, Admiral. Wir werden Sie über die weiteren Schritte auf dem Laufenden halten.“
Das war ein elegant umschriebener Rauswurf, wie Sanawey sofort erkannte. Die anderen würden noch bleiben. Offenbar gab es noch Punkte, die nicht für seine Ohren bestimmt waren. Womöglich berieten sie bereits über mögliche Szenarios, die sich aus den Untersuchungen ergeben würden. Egal, wie sie am Ende ausgingen. Wenn das der Fall sein sollte, dann war Sanawey froh, hier nicht dabei sein zu müssen. Er sprach ungern über Dinge, deren Eintreten nur im Bereich des Möglichen lag, aber mehr hypothetisch als von irgendwelchen harten Fakten getragen wurde. Es war wie Haut des Bären zu verteilen, bevor man ihn erlegt hatte, wie das irdische Sprichwort sagte. Daher nickte er in die Runde. „Meine Damen, meine Herren“, sagte er und verließ dann den Raum.
„Auf uns“, sagte Karja und hob ihr Glas. „Auf uns und dass wir immer zusammenstehen.“ Damit prostete sie ihren beiden Begleitern zu, die mit ihr in der Bar der USS Saratoga
saßen. Tworek und Mira erwiderten den Toast und hoben ebenfalls ihre Gläser. Dann stießen sie laut klirrend an, so dass sich einige weitere Gäste nach ihnen umdrehten. Mira verzog entschuldigend das Gesicht. Es war ihr nicht so recht, dass sie so auffiel, immerhin war sie die Schiffspsychologin. Aber Karja lachte nur und leerte ihr Glas dann in einem Zug. Sie war viel zu guter Laune, als dass sie sich Gedanken machen konnte, ob sie auffielen.
Sie hatten sich seit ihrer Versetzung hierher gut eingelebt. Was ihnen auch leicht gefallen war, denn die Crew hatte sie gerne aufgenommen. Und Karja und Mira hatten auch schon etliche Verehrer an Bord. Was aufgrund ihres Aussehens auch nicht verwunderlich war.
Tworek wurde aufgrund seines scharfen Verstandes und seiner Auffassungsgabe geschätzt. An Bord der Saratoga
diente kein Vulkanier. Und Tworek kam dem nun mal am nächsten. Damit war er mit seiner ruhigen und zumeist logischen Art ein Ruhepol auf der Brücke und konnte immer wieder auch mit logischen Schlussfolgerungen etwas beitragen.
„Habt ihr etwas von den anderen gehört?“ wollte Mira dann wissen, nachdem sie ihr Glas wieder abgesetzt hatte.
„Wen meinst du speziell?“ wollte Karja wissen. Immerhin hatte die Crew der Republic
aus etwas mehr als vierhundert Personen bestanden.
„Naja, zum Beispiel deinen Vater“, zuckte Mira mit den Achseln. „Oder auch Jackson, Reed, Brooks und die anderen.“ Mira war nur für ein halbes Jahr an Bord gewesen, ehe das Schiff dann außer Dienst gestellt wurde. Sie hatte nicht sonderliche viele Kontakte geknüpft. Jemand ganz spezielles konnte sie daher nicht meinen.
Über Karjas Gesicht huschte ein freches Lächeln. „Mein Vater versucht noch immer, sich an seinen Schreibtisch zu gewöhnen.“ Sie hatte nicht viel Neues zu berichten. „Und Jackson wartet noch immer auf die Fertigstellung ihres Schiffes.“ Auch sonst wusste sie kaum etwas zu erzählen. Nach ihrer Versetzung hatten sie sich noch recht häufig über die alte Crew unterhalten und darüber, was jeder einzelne machte. Aber inzwischen war das alles schon ein halbes Jahr her. Dies war ihr neues Zuhause und es machte keinen Sinn, allzu viel in der Vergangenheit zu schwelgen. Außerdem tat sich bei den anderen auch nicht viel. Sie gingen genauso ihren neuen Aufgaben nach wie Tworek, Karja und Mira.
Als sie gerade alle drei schwiegen, kamen ein paar ihrer Kollegen zu ihrem Tisch. Vier junge Männer, die ungefähr in Karjas und Miras Alter waren. „Hallo Tworek, hallo Mädels“, grüßte einer von ihnen fröhlich.
„Hallo Tom“, grüßte Karja zurück. Denn natürlich kannte sie ihn. Wie sie die meisten Personen an Bord kannte.
„Die Jungs hier und ich haben uns gefragt, ob ihr uns nicht etwas von eurer Begegnung mit den Xindi erzählen könnt“, bat Tom sie. „Wir haben gehört, dass es derzeit Gespräche zwischen den Xindi und der Föderation gibt. Und ihr seid den Xindi doch schon begegnet.“
Mit kritischem Gesichtsausdruck sah Karja ihre beiden Kollegen an. Aber viel Unterstützung bekam sie dabei nicht. Mira zuckte nur mit den Schultern und Tworek sah sie mit unbewegter Miene an. Wer solche Freunde hatte, der brauchte keine Feinde mehr, dachte Karja.
Sie deutete auf Mira und Tworek und dann auf sich. „Wir hier waren bei keiner Begegnung mit den Xindi dabei“, musste sie die Fragesteller desillusionieren. „Wir haben persönlich nie einen Xindi gesehen.“
Enttäuschung zeichnete sich auf den Gesichtern der Fragenden ab. Sie hatten sich eine spannende Geschichte erhofft.
„Das ist so nicht ganz richtig“, korrigierte Tworek dann aber.
Alle Gesichter wandten sich überrascht dem Halbvulkanier zu. Auch Karja war ziemlich überrascht. Hatte sie etwas vergessen?
„Nachdem die Xindi-Waffe zerstört worden war und sich die Republic
auf dem Rückflug zur Erde befand, wurden wir von einem Xindi namens Droga kontaktet“, half er Karja auf die Sprünge.
„Richtig“, dämmerte es ihr langsam. „Allerdings war ich da nicht dabei gewesen. Ich war zu dem Zeitpunkt nicht auf der Brücke.“
„Wie war dieser Xindi?“ wollte Tom sofort wissen. Er nickte den anderen zu, wobei diese sich Stühle heranzogen und auch noch weiteren Barbesuchern Zeichen gaben. Sofort vergrößerte sich die Zahl der Neugierigen um den Tisch herum.
Tworek zog die rechte Augenbraue an ob dieser Frage. „Er war ein humanoider Xindi“, erklärte er dann sehr vulkanisch.
Das war natürlich nicht ganz das, was seine Zuhörer erwartet hatten. Was Karja ihm auch deutlich zu verstehen gab. „Dann erzähl doch einfach die ganze Begegnung“, fügte sie noch hinzu.
Tworek nickte leicht. „Wir befanden uns auf dem Rückweg zur Erde. Die Republic
war schwer beschädigt, unsere Maximalgeschwindigkeit betrug daher Warp 2“, fing er ruhig und sachlich an. „Unsere Sensoren registrierten nach vier Stunden Flugzeit ein Schiff, das uns folgte. Der Schiffstyp war uns unbekannt, aber aufgrund der verwendeten Legierungen konnten wir davon ausgehen, dass es die Xindi waren. Der Zustand des Schiffes ließ uns keine Chance zu entkommen oder zu kämpfen. Daher entschied Captain Sanawey auf Kurs zu bleiben und abzuwarten was passieren würde.
Aufgrund der Zerstörung der Xindi-Waffe durch uns, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Xindi uns verfolgten, um sich an uns zu rächen. Was nicht geschah. Stattdessen versuchten die Xindi uns zu kontakten.“
„Das lief aber nicht so ruhig ab, wie Tworek das erzählt“, unterbrach Karja ihn tadelnd. „Von meinem Vater habe ich erfahren, dass die Anspannung auf der Brücke extrem hoch war. Immerhin bestand die Gefahr, dass wir alle sterben könnten.“
„Diese Möglichkeit besteht immer. Es gab daher keinen Grund für eine erhöhte Anspannung“, gab Tworek zurück und erntete dafür Kopfschütteln aber auch ein paar Lacher über seine manchmal unpassende ruhige Art. Und von Karja einen Klapps auf seinen Handrücken.
„Erzähl weiter“, forderte sie ihn dann auf.
„Ein Xindi namens Droga hat uns kontaktiert und wollte von uns wissen, was wir im Raum der Xindi gemacht hatten und speziell in jenem Sektor. Er schien nicht so feindselig zu sein, wie es zu erwarten gewesen wäre. Captain Sanawey entschied, dass es am besten wäre, dem Xindi die Wahrheit zu sagen. Daher gestand er ihm dann, dass wir eine Waffe der Xindi zerstört haben, die die Erde bedroht hatte.
Erstaunlicherweise hatte Mr. Droga das relativ ruhig aufgenommen. Inzwischen wissen wir jedoch, dass es Spannungen zwischen den verschiedenen Xindi-Spezies gibt und die Reptilianer einen Alleingang unternommen hatten, mit dem die humanoiden Xindi nicht einverstanden waren. Daher war er an allen Informationen interessiert, die wir ihm zu der Waffe bieten konnten.“
„So wie du das erzählst, klingt das alles nach einem unspektakulären Ablauf“, schalte Karja ihn und zwinkerte ihm dann zu. „Die Anspannung war aber wesentlich höher, so wie ich das gehört habe. Die Xindi hatten die Republic
gestoppt und danach mit deutlichen Worten eine Erklärung für die Anwesenheit verlangt. Und dann genaue Angaben zum Vorfall und der Waffe haben wollen. Keiner wusste zuerst wofür die Xindi das haben wollten. Mein Vater hatte schon gedacht, die Xindi wollen damit die Waffe vielleicht rekonstruieren. Entsprechend bedeckt hielt er sich mit seinen Antworten. Und das, obwohl das Schicksal des ganzen Schiffes auf dem Spiel stand. Aber nach einem längeren Gespräch mit dem Xindi ist dieser auch zugänglicher geworden. So hat er dann erzählt, dass die Reptilianer die Waffe im Alleingang und ohne das Wissen der anderen Xindi gebaut hatten. Und als mein Vater dann erzählt hat, dass die Waffe den Zeitverlauf geändert hatte mit dem Ziel, die Reptilianer zu den Herrscher über die gesamten Xindi zu machen, da ist Droga wohl bleich geworden, nicht wahr?“ Die Bestätigung wollte sie von Tworek haben.
„Das ist mir nicht aufgefallen“, stellte Tworek richtig. „Er war jedoch für einen Moment sprachlos. Und offenbar auch schockiert. Denn er forderte alle Daten an, mit denen er beweisen konnte, dass die Reptilianer die Herrschaft angestrebt hatten. Das wollte er den anderen Xindi unterbreiten, um so den Reptilianern Einhalt gebieten zu können.“
„Und für diese Zwecke hat mein Vater ihm dann auch gerne alle Daten überlassen“, ergänzte Karja. „Denn wenn das die Reptilianer stoppen konnte, dann konnte das der Föderation nur helfen eine Gefahr zu beseitigen. Und um deine Frage vom Anfang zu beantworten, wie er war. Er schien wohl ganz nett zu sein.“
„Dann habt ihr nur diesen einen Xindi gesehen?“ fragte Tom nach. „Die Reptilianer und die anderen habt ihr nicht gesehen?“
„Nein“, bestätigte Karja mit einem Kopfschütteln.
Etwas enttäuscht blickte Tom sie an. „Schade. Diese wären mit Sicherheit interessanter gewesen.“
Karja zuckte nur mit den Schultern. Sie konnte nichts erzählen, was sie nicht wusste. Sie sah auf und stellte fest, dass die Gruppe um sie herum immer größer geworden war. Sie schienen mittlerweile die gesamte Bar zu unterhalten. Offenbar waren alle auf die Xindi gespannt.
„Glaubt ihr, durch die Gespräche wird die Gefahr gebannt?“ wollte jemand wissen.
Lächelnd schaute Karja zu Mira und Tworek. Insgeheim fragte sie sich, wann sie zu Experten der Xindi geworden waren. „Ich weiß es nicht“, gestand sie ehrlich ein.
„Erzählt doch nochmal etwas von euren Erlebnissen mit den Xindi“, rief jemand anderes.
„Von der Waffe und wie ihr sie zerstört habt“, ergänzte ein anderer.
Karja sah Tworek an und zwinkerte ihm dann zu. „Dann leg mal los“, ließ sie ihm den Vortritt und freute sich schon darauf, ihn wieder unterbrechen zu können.
Die vulkanische Sonne brannte heiß auf die Oberfläche des Planeten herunter. Die Luft flimmerte und die Hitze drückte einem den Schweiß aus allen Poren. Zumindest einem Menschen. Vulkanier waren diese Temperaturen jedoch gewohnt und zeigten sich so würdevoll wie sonst auch.
Sohral betätigte den Türmelder. Es war ein alter, aus einem Stück Eisen gefertigter Griff. Mit diesem galt es kräftig gegen das metallene Gegenstück zu schlagen. Das dabei erzeugte Klopfen war mit Sicherheit im gesamten Haus zu hören. Auf jeden Fall konnte man sich damit sehr deutlich bemerkbar machen.
Es dauerte auch nur wenige Augenblicke bis sich die Türe öffnete und ein älterer Vulkanier mit weißem Haar ihm entgegenschaute. Seine Haut hatte bereits Falten und die Augen einen leicht getrübten Blick. Trotzdem stand er noch aufrecht da, mit einer Körperspannung und einer Würde, die jedem Vulkanier eigen war. Er sah Sohral mit unbewegter Miene an und schien auf eine Erklärung für sein Erscheinen zu warten. Trotz seiner emotionalen Kontrolle spiegelte sich doch ein wenig Ablehnung in seinem Gesicht, als er die Sternenflottenuniform sah, deren rote Farbe in der grellen Sonne noch intensiver zu leuchten schien. Zwar gab es inzwischen eine Handvoll Vulkanier, die in der Flotte ihren Dienst taten, doch galt das bis vor einigen Jahren noch als verpönt unter den Vulkaniern. Und die Alten schienen noch immer daran festzuhalten, was allerdings nicht sonderlich logisch war.
„Mein Name ist Sohral und ich bin mit der Dame des Hauses verabredet“, gab er den Grund seines Kommens an. Er hatte bereits vorab diesen Termin vereinbart.
Der Mann nickte knapp und trat dann beiseite. Er war natürlich über den Besuch informiert worden, schließlich hatte er sich als Hausverwalter um solche Dinge zu kümmern. Die Bewohnerin war dazu leider nicht mehr in der Lage. Ihr Alter war bereits so weit fortgeschritten, dass sie sich nicht mehr alleine versorgen konnte. Trotzdem hatte sie sich dafür entschieden, hier, in dieser Abgeschiedenheit zu leben, weitab der nächsten Stadt. Sie führte ein Einsiedlerleben, das aber aufgrund der modernen Technologie nicht so entbehrungsreich war wie noch vor Jahrhunderten.
„Ich werde die Madam informieren“, sagte der Hausverwalter, nachdem er Sohral in den Salon des Hauses geführt hatte. „Bitte warten Sie hier.“
Sohral quittierte die Anweisung mit einem knappen Nicken und blieb dann mitten im Raum stehen. Als er alleine war, ließ er seinen Blick schweifen. Der Raum war nicht so spartanisch eingerichtet, wie es bei Vulkaniern normalerweise der Fall war. Die Fenster waren mit einem Vorhang abgedunkelt, so dass das grelle Sonnenlicht hier nicht so intensiv herein kam. Es hätte allerdings auch technische Lösungen geben, die wesentlich effizienter gewesen wären. Es gab keinen logischen Grund für Vorhänge.
Im Schrank an der Wand entdeckte Sohral ein wenig Nippes. Es waren Erinnerungsstücke, die von der hier wohnenden Person zusammengetragen worden waren. Erinnerungen aus ihrem langen Leben. Sohral überraschte das, denn Erinnerungen wurden aus Sentimentalität gesammelt. Ein Gefühl, das Vulkanier ebenso kontrollierten wie jedes andere auch. Wieso hatte die Bewohnerin das dann gesammelt?
Sein Blick blieb an einem kleinen Holobild hängen, das in einem Fach des Schrankes stand. Interessiert trat er näher und betrachtete es. Es zeigte eine Gruppe von Menschen, einen Denobulaner und eine Vulkanierin. Die Menschen trugen blaue Uniformen. Uniformen, die seit knapp achtzig Jahren nicht mehr verwendet wurden. Der Denobulaner hatte einen Arztkittel an und die Vulkanierin einen engen, neutralen Einteiler. Sohral erkannte den Menschen in der Mitte dieser Gruppe als Jonathan Archer, Präsident der Föderation am Ende des 22. Jahrhunderts. Auf dem Bild durfte er noch Captain gewesen sein.
„Dieses Bild stammt aus einer früheren Zeit. Fast könnte man sagen, aus einem früheren Leben“, erklärte eine brüchige Stimme hinter ihm.
Sohral wandte sich um und sah eine alte Frau in der Tür stehen. Sie hatte ein eingefallenes Gesicht und dünne, schulterlange Haare. Sie war hager und stand dort, auf einen Gehstock gestützt. Aber auch wenn ihre Augen inzwischen trüb geworden waren, so sah sie ihn immer noch durchdringend an. Und es war noch etwas in ihrem Blick. Wissen. Das Wissen und die Erfahrung, die sich in einem inzwischen beinahe zweihundertjährigen Leben angesammelt hatte. Und es war ein ereignisreiches Leben gewesen, hatte es doch bedeutende Wendepunkte der Geschichte gesehen. Sie war die Person, die er hier treffen wollte.
„Ich nehme an, die Vulkanierin auf dem Bild sind Sie“, entgegnete Sohral.
„Ja.“ Es schien fast so, als umspiele ein flüchtiges Lächeln ihre Lippen. Dann kam sie langsam näher. „Ja, das bin ich. Vor langer Zeit. Als ich ebenfalls in der Sternenflotte diente. Damals, noch vor Gründung der Föderation.“ Sie war nahe herangetreten, doch statt ihren Gast anzusehen blickte sie mit einem fast schon wehmütigen Blick auf das Bild.
„Es ist während Ihrer Zeit auf der Enterprise
aufgenommen worden“, erkannte Sohral. „Als Sie den Menschen bei deren ersten Schritten ins All geholfen hatten.“
Sie sah zu ihm auf. Sie war einen guten Kopf kleiner als Sohral und doch spürte er die Präsenz, die sie ausstrahlte. „Ja, ich habe ihnen geholfen, auch wenn sie das wohl kaum so gesehen hätten.“ Dieses Mal lächelte sie tatsächlich leicht. „Sie waren wie Kinder. Sie hatten etwas Hilfe gut gebrauchen können.“
„Das hat sich nicht geändert“, sagte Sohral ernst.
„Das ist wahr. Aber letztendlich haben sie es gut gemacht. Sie hatten einen positiven Einfluss auf diesen Quadranten. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz“, deutete sie einladend auf die Stühle, die am Tisch standen. „Möchten Sie etwas trinken?“
Dankend lehnte Sohral ab, während er sich setzte. Auch seine Gastgeberin nahm langsam Platz.
„Was genau wollen Sie von mir wissen?“ fragte sie ihn dann direkt.
„Es geht um Ihre Erfahrungen, die Sie mit den Xindi gemacht hatten“, erklärte Sohral seine Anwesenheit. „Wie Sie sicherlich erfahren haben, hatte die USS Republic
Kontakt zu den Xindi. Mit äußerst interessanten Erkenntnissen. Ich würde gerne mehr über diese Spezies erfahren und Sie sind die einzige noch lebende Person, die bereits Kontakt mit diesem Volk hatte.“
T’Pol nickte langsam. „Und Sie gehen davon aus, dass es zu weiteren Kontakten mit den Xindi kommen wird.“
„Das ist die logische Schlussfolgerung“, bestätigte Sohral.
„Nur muss nicht immer alles logisch sein.“
Sohral zog seine rechte Augenbraue nach oben. T’Pol zeigte erstaunlich viele Emotionen für eine Vulkanierin. Das hatte er so nicht erwartet. Ihre geistige Disziplin entsprach nicht dem, was er in alten Unterlagen über diese Frau gelesen hatte.
„Wenn Sie wollen, dann erzähle ich Ihnen von damals. Von den Xindi. Allerdings ist alles in den offiziellen Aufzeichnungen enthalten.“
Sohral schwieg und hörte ihr zu. Sie erzählte ihm mit dünner Stimme von der Mission der Enterprise
, von der Ausdehnung und der mühsamen Suche nach den Xindi. Von dem Zeitdruck, den die Crew damals verspürte hatte, denn es galt die Xindi aufzuhalten, bevor sie die Erde zerstören konnten. Sie erzählte von den Arborealen, den Baumwesen, auf die sie als erstes getroffen waren, und die vernünftigen Argumenten gegenüber sehr aufgeschlossen schienen. Von den humanoiden Xindi, die den Menschen sehr ähnelten, auch in ihrem emotionalen und unlogischen Verhalten. Von den rätselhaften Aquarianern und den aggressiven Reptilanern und Isektoiden. Sie konnte tatsächlich kaum mehr berichten, als in den Akten verzeichnet war. Offenbar hatte die Crew der Enterprise
damals alles sehr detailliert festgehalten. Trotzdem faszinierte es Sohral dieser Frau zuzuhören. Immerhin berichtete sie aus einer Zeit, die noch vor seiner Geburt lag. Aus der Zeit, als es noch keine Föderation gab und die Vulkanier noch eine eigene Raumflotte unterhielten. Als die Völker des Quadranten noch einzeln versuchten, mit den Gefahren des Alls fertig zu werden.
Mit ihrem Bericht bestätigte sie die Informationen, wonach es Captain Archer im letzten Moment gelungen war, die Waffe der Xindi zu zerstören, bevor sie die Erde vernichten konnte. Überhaupt sprach sie mit großem Respekt von Archer. Es machte auf Sohral fast den Eindruck, dass T’Pol noch immer gedanklich in dieser Zeit lebte. Als ob dies die beste Zeit in ihrem Leben gewesen wäre.
„Ich habe nie verstanden, weshalb es danach keinen weiteren Kontakt zu den Xindi mehr gegeben hatte. Das war nicht logisch“, schloss sie ihren Bericht. „Sie vermieden jeden Kontakt und wollten für sich bleiben. Irgendwann hatte die Sternenflotte das eingesehen und die Xindi in Ruhe gelassen. Jonathan hatte als Präsident einmal gesagt, er habe in all seinen Jahren im All nie mehr eine Spezies getroffen, die ihn so sehr fasziniert und zugleich verängstigt hatte.“
„Und wie würden Sie die Xindi einschätzen, nachdem was Sie mit ihnen erlebt haben?“ Das war die eigentliche Frage, die er geklärt haben wollte. Alles andere konnte er auch den offiziellen Berichten entnehmen.
Sie sah ihn einige Augenblicke an, bevor sie antwortete. „Die Xindi sind ein intelligentes Volk. Und wie alle intelligenten Völker wollen sie lediglich ihr Leben leben. Die meisten von ihnen in Frieden. Doch wie überall gibt es auch hier ein paar Hardliner, die ihren aggressiven Gefühlen freien Lauf lassen und ihr Volk mitziehen. Um es mit einer menschlichen Floskel zu sagen: Die Xindi sind keine Monster.“
Sohral zog die rechte Augenbraue an, sagte aber nichts. Wenn er nicht gewusst hätte, dass er einer Vulkanierin gegenüber saß, so hätte man sie auch leicht für einen Menschen halten können. Sie hatte anscheinend einige Wesenszüge der Menschen übernommen.
„Haben Sie etwa andere Erfahrungen mit den Xindi gemacht?“ wollte sie wissen.
„Ich glaube kaum, dass mich der kurze Kontakt zu diesem Volk befähigt, Schlussfolgerungen über deren Verhaltensweise zu ziehen“, erwiderte er sachlich.
„Und was glauben Sie“, ließ sie nicht locker.
Etwas irritiert sah Sohral sie an. „Glauben spielt hierbei keine Rolle. Alleine die Fakten können analysiert werden.“
Sie nickte nachsichtig. „Ja, natürlich.“ Sie schieg einen Moment, ehe sie das Thema wechselte. „Sie dienten auf einem Schiff der Sternenflotte.“
„In der Tat“, bestätigte er das Offensichtliche.
„Was halten Sie von den Menschen? Haben sie sich weiterentwickelt?“
Einen Moment musste Sohral nachdenken. Aber nur einen kurzen Moment. „Die Menschen sind emotional. Sie lassen ihren Gefühlen freien Lauf und leben diese zum Teil ausgiebig aus. Sie scheinen dabei nicht zu bemerkten, wie sich das auf ihre Umgebung auswirkt. Es kann mitunter anstrengend sein. Ein wenig mehr Disziplin und Logik wäre wünschenswert. Ob sie sich weiterentwickelt haben kann ich nicht aus einer persönlichen Erfahrung heraus beurteilten. Aufgrund der geschichtlichen Aufzeichnungen kann man aber eine gewisse geistige und moralische Weiterentwicklung erkennen.“
Die Andeutung eines Lächelns umspielte T’Pols Lippen. „Eine sehr vulkanische Antwort.“
Überrascht sah Sohral sie an, wobei die Überraschung in seinem Gesicht sicherlich nur ein Vulkanier erkannt hätte. Was für eine Antwort hätte er den sonst geben sollen?
„Es mag erstaunlich für Sie klingen, aber hören Sie auf den Rat einer alten Frau. Nicht alles im Leben dreht sich um die Logik. Und sie reicht nicht immer aus, um alles erklären zu können. Gönnen Sie sich hin und wieder etwas Freude im Leben. Ab und zu auf die Logik zu verzichten ist logisch.“
Sohral wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Ganz eindeutig war T’Pol nicht mehr völlig im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten. Anders waren diese Worte kaum zu erklären. Entweder lag dies am Alter oder aber sie litt an einer Krankheit. Das Bendii-Syndrom war bei alten Vulkaniern nicht ungewöhnlich und hatte den Verlust der emotionalen Kontrolle zur Folge. Doch wusste er nicht, ob T’Pol daran litt. Auf keinen Fall wollte er unhöflich werden und sie fragen, daher nickte er nur knapp.
Es wäre der passende Augenblick gewesen, um wieder aufzubrechen. Doch tat er es nicht. Stattdessen sah er sie. „Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“ erkundigte er sich.
„Selbstverständlich“, gestand sie ihm zu.
„Weshalb leben Sie hier? Soweit ab der nächsten Stadt?“ Er sah keinen logischen Grund dafür. Zwar zogen viele Vulkanier eine gewisse Ruhe vor, aber sich soweit zurückzuziehen war doch etwas ungewöhnlich.
„Das ist eine lange Geschichte“, begann T’Pol und schwieg dann erst einmal. Da Sohral keine Veranlassung sah, sie zu drängen, wartete er einfach schweigend, bis sie bereit war fortzufahren. „In der Einsamkeit kann ich besser meditieren“, sagte sie schließlich. „Es erleichtert es mir, meine Gedanken beisammen zu halten.“
Eine durchaus nachvollziehbare Erklärung, empfand Sohral. Er wollte sich gerade dafür bedanken, als sie fortfuhr. „Zudem fällt meine Gesellschaft den anderen Vulkaniern schwer. Sie glauben immer, eine Krankheit hätte mich befallen, die es zu untersuchen und zu behandeln gilt. Sie können nicht akzeptieren, das ich anders bin.“
„Inwiefern?“ fragte Sohral nach. Er konnte sich kaum vorstellen, dass seine logischen Landsleute Vorurteile entwickeln konnten.
„Emotionen, Sohral. Ich lebe mit Emotionen. Schon fast mein ganzes Leben lang.“
Mit dieser Eröffnung hatte Sohral nicht gerechnet. Überrascht zog er die rechte Augenbraue an. „Interessant.“ Mehr konnte er dazu nicht sagen.
„Nur mein Arzt und mein treuer Haushälter wissen davon.“ Sie schien ihn mit diesen Worten zum Schweigen verpflichten zu wollen, ohne es direkt zu sagen.
„Darf ich fragen, wie es dazu gekommen ist?“ Sohral wusste von einigen wenigen Splittergruppen, die den Weg zurück zu den Emotionen finden wollten. Aber das waren nur eine Handvoll Personen, keine wirkliche Bewegung. Und diese verließen für gewöhnlich Vulkan, da sie sich hier nicht mehr wohl fühlten. Aber dass T’Pol zu einer solchen Gruppe gehören würde, das erschien ihm als wenig wahrscheinlich.
Sie seufzte leicht. „Es geht noch auf meine Zeit auf der Enterprise
zurück. Damals bin ich mit einer Substanz namens Trellium D in Berührung gekommen. Ein Metall, das vor den Subraumverzerrungen der delphischen Ausdehnung schützen sollte. Das für Vulkanier jedoch giftig ist. Fatalerweise wirkte es wie eine Droge. Ich wurde süchtig danach und war der Substanz über einen längeren Zeitraum ausgeliefert. Nicht ohne bleibende Schäden. Die synaptischen Verbindungen im meinem Kopf wurden beschädigt. Ich hatte zeitweise sehr heftige emotionale Ausbrüche, die selbst die Menschen als extrem empfunden hatten.“ Bei der Erinnerung an diese Ereignisse blieb ihr für einen Moment die Stimme weg. Offenbar dachte sie nicht gerne daran. Immerhin hatte dieses Ereignis ihr Leben verändert und sie aller Karrierechancen beraubt, die sie vielleicht noch gehabt hätte. „Nachdem ich die Trelliumsucht überwunden hatte, haben sich die synaptischen Bahnen langsam wieder regeneriert. Allerdings niemals vollständig. Ich habe die Kontrolle über meine Emotionen nie mehr vollständig zurückerlangt. Zu Beginn war das äußerst irritieren und beängstigend gewesen, doch mit der Zeit hatte ich gelernt damit umzugehen. Und ich muss zugeben, dass es wohl nicht das Schlechteste war, was mir passieren konnte. Denn Gefühle erleben zu können, hat meine Sicht auf viele Dinge geändert und erweitert. Das Leben besteht nicht nur aus Logik.
Ich habe das noch nie irgendwem erzählt. Sie kennen nun mein Geheimnis, warum ich hier leben muss. Um alte Vulkanier, die am Bendii-Syndrom leiden, kümmert man sich. Dafür hat unser Volk Verständnis. Nicht aber für jemanden, der Mitten im Leben steht und trotzdem Emotionen verspürt.“
In Sohrals Augen ergab das durchaus einen Sinn. Emotionen passten nicht in das vulkanische Leben. Sie würden die Disziplin und die bekannte Lebensweise zerstören. Er wusste von Halbvulkaniern wie Spock, dass sie noch mehr Disziplin aufbringen mussten, um als Vulkanier akzeptiert zu werden. T’Pol musste durch ihre Krankheit – die zudem noch ziemlich einzigartig war – wohl in eine ähnliche Situation geraten sein. Es war umso erstaunlicher, dass sie es nicht vorgezogen hatte, den Rest ihres Lebens bei einer emotionaleren Spezies wie den Menschen verbracht zu haben. Stattdessen hatte sie ihr halbes Leben hier in der freiwilligen Isolation verbracht.
„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen“, sagte Sohral, bevor er sich von ihr verabschiedete. Es wurde Zeit für ihn zu seinen Studien über die Xindi zurückzukehren. Er hob die Hand zum V-förmigen Gruß. „Leben Sie lange und in Frieden“, sprach er die typischen Grußworte.
Sie erwiderte den Gruß, dann trat ein Leuchten in ihre Augen. „Und viel Glück“, fügte sie noch hinzu. „Passen Sie auf die Menschen in Ihrer Umgebung auf.“
Mit einem etwas unangenehmen Gefühl sah Wendy Brooks sich verstohlen um. Sie hatte das Gefühl, die Leute ringsherum starrten sie an, als ob sie grüne Punkte im Gesicht hätte. Dabei saß sie doch einfach nur alleine in einem San Franciscoer Luxusrestaurant. Aber vermutlich war genau das der Grund. Es war äußerst ungewöhnlich, dass eine Frau im schwarzen Abendkleid alleine vor einem mit Weingläsern und Kerzen gedeckten Tisch saß. Genaugenommen gab es nur einen einzigen Grund, warum eine Frau alleine hier sitzen sollte. Nämlich den, dass sie versetzt worden war. Und genau so sahen die Leute sie an. Die Blicke, die ihr zugeworfen wurden, waren voller Mitleid für ihre Situation. Eine versetzte Frau Anfang Vierzig, der eine weitere Chance auf das Glück zu zweit zwischen den Fingern verrann.
Wendy war das alles andere als angenehm. Sie hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. Zumal die Vermutungen der andern komplett falsch waren. Sie war nicht versetzt worden. Sie war nur zu früh hier eingetroffen. Mike hatte sie abholen wollen, doch war er noch kurzfristig zu seinem Vorgesetzten gerufen worden und es wäre etwas knapp geworden, wenn er sie dann noch abgeholt hätte. Denn dies hier war eine der angesagtesten Adressen der Stadt. Abends war es hier immer voll und wenn sie sich zu sehr verspätet hätten, wäre ihr reservierter Tisch in Gefahr gewesen. Wendy hatte ihm deshalb vorgeschlagen sich hier zu treffen. Und da sie vorher etwas nervös gewesen war, hatte sie sich mehr Zeit als nötig eingeplant. So saß sie nun vor der verabredeten Zeit hier und musste die Blicke über sich ergehen lassen.
Und es waren nicht nur die Blicke, die ihr unangenehm waren. Verstärkt wurde das Gefühl auch noch durch das Kleid, das sie trug. Ein schickes, schwarzes Abendkleid, dessen Rock knapp über die Knie ging und mit einem Dekolleté, der ihr das Gefühl gab, sie würde beinahe barbusig hier sitzen. Immer wieder zupfte sie verlegen an dem Ausschnitt herum und hoffte, dass niemand etwas davon bemerkte. Sie kam sich dabei vor wie damals zu Beginn der Pubertät. Nur war das inzwischen schon dreißig Jahre her.
Dass sie sich mit dem Kleid nicht wohl fühlte, war auch nicht verwunderlich. Es gab für sie praktisch nie eine Gelegenheit so etwas zu tragen. Im Dienst hatte sie ihre Uniform. Und für besondere Anlässe gab es die Galauniform. Niemals würde ein Offizier zu einem dienstlich besonderen Ereignis zivile Festkleidung tragen, selbst wenn sie noch so schick wäre. Das gehörte sich nicht. Und würde auch nicht passen. Privat gab es in ihrem Leben keine Anlässe, die das Tragen eines solchen Abendkleides rechtfertigen würde. Vor allem, weil sie es nicht darauf anlegt, in eine solche Gelegenheit zu kommen. Sie hatte diese Kleidung noch nie sonderlich gemocht. Zum einen fand sie, passte ihr roter Lockenkopf nicht zu so einem Kleid. Zum anderen war sie schon immer der Meinung gewesen, nicht genug Oberweite zu besitzen, um das Dekolleté eines solchen Kleides ausreichend zu füllen. Es sah immer etwas mickrig aus. So war es bestimmt schon zehn Jahre her, seit sie zuletzt ein solches Kleid getragen hatte. Und genauso weit lag ihr letztes Date zurück.
„Guten Abend schöne Frau“, sprach eine männliche Stimme sie an.
Wendy zuckte zuerst zusammen, dann aber fasste sie sich wieder und sah auf. „Guten Abend“, erwiderte sie automatisch. Dabei sah sie den Mann an. Er war schlank, elegant gekleidet und sah auch noch ganz gut aus. Er durfte ungefähr in ihrem Alter sein.
„So alleine hier?“ frage er und deutete auf den leeren Platz ihr gegenüber.
Sie lächelte traurig. „Nun ja, so ist das eben mit den Männern.“
Verständnislos schüttelte er den Kopf. „Wer eine so wunderschöne Frau wie Sie hier alleine sitzen lässt, hat entweder keine Augen im Kopf oder ist ein Narr.“ Er lächelte sie zurückhaltend, aber äußerst charmant an. „Wenn ich das sagen darf, Sie sehen bezaubernd aus.“
Wendy wurde verlegen. „Vielen Dank“, brachte sie hervor, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Es trat ein Moment der Stille ein, in dem keiner so recht wusste, was er sagen sollte. Bevor er jedoch weitergehen konnte, fiel Wendy noch etwas sein. „Sind Sie hier mit jemandem verabredet?“ wollte sie wissen und versuchte dabei nicht allzu interessiert zu klingen.
„Ich war es“, gab er zu. „Aber ich bin wohl versetzt worden.“ Er schaute dabei so leidend drein, dass sie fast nicht mehr an sich halten konnte.
Ihr Grinsen wuchs immer weiter in die Breite, bis sie kurz davor war in lautes Gelächter auszubrechen. Was für dieses Ambiente nicht ganz passen gewesen wäre. „Okay, das reicht jetzt“, sagte sie dann und grinst ihn immer noch breit an. „Setz dich endlich, wir fallen sonst noch auf.“
Er sah sich unschuldig um. „Wir können nicht mehr auffallen. Das tun wir schon.“ Verschmitzt grinste er sie an. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Schön dich zu sehen“, sagte er während er sich setzte. „Und dass du bezaubernd aussiehst, habe ich übrigens ernst gemeint.“
Mit leuchtenden Augen sah sie ihn an. „Danke Mike.“
Mike war ihr Kollege, mit dem sie zusammen am Transwarpprojekt arbeitete. Ihre Arbeit hatte sie zusammengeführt und mit der Zeit hatten sich mehr als nur die kollegialen Gefühle für einander entwickelt. Trotzdem war dies erst ihr zweites Date. Ihre Arbeit ließ ihnen derzeit nicht viel Spielraum.
Seit ihrem ersten Date war bereits etwas mehr als eine Woche vergangen. Es war ein schöner Abend gewesen, der allerdings nicht so verlaufen war, wie sie es gehofft hatte. Denn am Ende des Abends hatte er sie nach Hause gebracht, ihr einen Kuss auf den Handrücken gehaucht und sich dann mit den Wünschen für eine gute Nacht verabschiedet. Auf der einen Seite war das ja äußerst süß gewesen. Er hatte sich wie ein Kavalier der alten Schule verhalten und sich kein bisschen aufgedrängt. Andererseits hätte sie ihn gerne richtig leidenschaftlich geküsst, um ihn dann in ihr Bett zu zerren. Aber vielleicht würde sich das ja heute ergeben.
„Hast du lange gewartet?“ fragte er schuldbewusst, obwohl er pünktlich erschienen war.
„Nein“, winkte sie ab. Schließlich war es ja ihre eigene Schuld gewesen, dass sie so früh schon hier gewesen war.
Nachdem Mike sich gesetzt hatte, erschien auch sofort ein Ober um ihre Bestellung aufzunehmen. Beide entschieden sich für etwas leichtes, da ihr Dienst ihnen derzeit kaum Zeit für einen sportlichen Ausgleich ließ. Und dazu entschied sich Wendy für einen schweren Rotwein, dem er sich anschloss. Sie hoffte, dass der darin enthaltene Alkohol weiter seinen Gemütszustand lockerte, so dass es heute Nacht endlich passieren würde.
Ein Wunsch, von dem sie noch nicht wissen konnte, dass er sich erneut nicht erfüllen sollte.
Mit ernster Miene schaltete Sanawey den Bildschirm ab. Zuerst einmal musste er seine Gedanken ordnen. Er hatte zwar mit dieser Nachricht gerechnet, doch schien ihm die Last der Verantwortung jetzt erst so richtig bewusst zu werden, die nun auf seinen Schultern lag.
Admiral Cartwright hatte ihm eben die Entscheidung der Admiralität mitgeteilt. Danach ist die Sternenflotte auf die Forderung der Xindi eingegangen, dass Sanawey die Ermittlungen auf Seiten der Föderation durchführen soll. Zudem wurde – wenn auch etwas widerwillig – die Forderung Sanaweys erfüllt, dass er für die Mission die Crew der alten Republic
bekommen sollte, soweit das in der Kürze der Zeit möglich war. Diese Einschränkung hatten sich die Admiräle vorbehalten. Auf keinen Fall wollten sie es gestatten, dass sich durch diese Maßnahme der Aufbruch verzögerte.
Als Schiff hatte man ihm die neue Republic
zugeteilt. Sie war vor zwei Tagen fertig gestellt worden und sollte nun noch eine Woche getestet werden. Ursprünglich waren hierfür drei Monate vorgesehen gewesen. Dafür war nun jedoch keine Zeit mehr. Die wichtigsten Tests wurden nun vorgezogen, der Rest musste bis nach dieser Mission warten. Sanawey machte sich deshalb aber keine Gedanken. Es war die Republic
. Zwar nicht mehr das alte Schiff, aber mit einem Schiff, das diesen Namen trug, konnte es keine Schwierigkeiten geben, die er nicht bewältigen konnte. Sohral hätte solche Gedanken sicherlich als unlogisch und wenig qualifiziert abgetan, doch änderte das nichts an Sanaweys gutem Gefühl.
Das Erste, das es nach dieser Entscheidung nun zu tun galt, war Sylvia Jackson aufzusuchen. Sanawey wollte nicht, dass sie es von jemand anderem als ihm erfuhr. Immerhin hatte er bei dieser Mission den Oberbefehl, was das Kommando über das Schiff mit einschloss. Er hatte sie damit aus dem Kommandosessel verdrängt. Ein Gedanke, der ihm nicht sonderlich gefiel. Und er wollte nun mit ihr darüber sprechen, bevor sie das Gefühl bekam, herabgestuft zu werden.
Daher aktivierte er das Kommunikationssystem und stellte eine Verbindung zu seiner einstigen Stellvertreterin her. Er musste einen Moment warten, bis sie sich meldete. Und auch nur per Audio. Vielleicht hatte sie keinen Bildschirm in der Nähe.
„Admiral. Schön von Ihnen zu hören“, freute sie sich. Im Hintergrund hörte er zwei andere Stimmen, die sich eifrig unterhielten.
„Geht mir ebenso, Captain“, erwiderte er leichthin und hoffte, dass sie die Anspannung in seiner Stimme nicht wahrnahm. „Bitte entschuldigen Sie die Störung, Jackson, aber ich muss mit Ihnen sprechen.“
„Kann das nicht warten?“ Er konnte sich ihr Stirnrunzeln fast vorstellen. „Ich bin gerade auf der Republic
und wir bereiten den ersten Testflug vor, der in drei Stunden starten soll.“
„Es ist dringend“, beharrte Sanawey, auch wenn er dabei ein schlechtes Gewissen hatte. Er wusste sehr gut, dass Jackson in dieser Situation alle Hände voll zu tun hatte.
Sie zögerte auch ein wenig, ehe sie ihm antwortete. „Na schön, halten Sie sich bereit. Wir werden Sie direkt an Bord beamen. Ich bitte Sie aber, sich kurz zu halten.“
Ein leichtes Lächeln entstand auf Sanaweys Lippen. Er konnte sich zu gut vorstellen, wie sie auf ihren Vorgesetzten fluchte und sich fragte, wie es nur so schnell gehen konnte, dass er zu einem typischen Schreibtischadmiral geworden war, der keine Ahnung vom praktischen Ablauf hatte. „Ich werde mich bemühen“, gab er amüsiert zurück.
„Na gut“, brummte sie, als ob sie seine Gedanken erraten hätte. „Ich gebe dem Transporterraum Bescheid.“
Nur wenig später stand Sanawey im Transporterraum der Republic
. Er betrat zum ersten Mal das neue Schiff. Überhaupt betrat er zum ersten Mal ein Schiff der Excelsior-Klasse. Und sofort fiel ihm auf, dass der Transporterraum größer war, als auf dem alten Schiff. Und heller. Zumindest erschien es ihm so.
Ein junger Fähnrich salutierte vor ihm und begrüßte ihn etwas steif. Er schien nervös zu sein – immerhin begrüßte man nicht jeden Tag einen Admiral – und versuchte dies mit militärisch korrektem Verhalten zu überspielen. „Captain Jackson erwartet Sie in ihrem Bereitschaftsraum. Ich habe Befehl, Sie dorthin zu begleiten.“
Sanawey nickte und folgte dann dem jungen Mann. Er führte ihn durch den Gang zum nächsten Lift. Sanawey fiel auch hier auf, dass die Gänge etwas breiter wirkten. Auch die weiße Farbe der Wand und die Beleuchtung schienen nicht ganz so grell zu sein wie auf dem alten Schiff. Auch wenn ihm das nie unangenehm aufgefallen war. Und es roch anders. Es roch irgendwie neu. Nicht unangenehm, und auch nicht nach irgendwelchen speziellen, definierbaren Gerüchen. Nichts, was noch auf Rückstände irgendwelcher Materialien oder deren Verarbeitung schließen ließ. Es war nur dieser typische Geruch, der allem neuen anhaftete. Und der ein Gefühl der Veränderung hervorrief.
Mit etwas Wehmut dachte Sanawey daran, dass dieses Schiff seins hätte sein können, wenn man ihn nicht zum Admiral befördert hätte. Doch blieb ihm nicht viel Zeit für diese aufkommende Melancholie. Denn nach wenigen Augenblicken erreichten sie die Brücke. Der Blick, der sich Sanawey bot war einfach atemberaubend. Die Brücke des Schiffes war größer als die alte. Und auch hier galt seine Feststellung von vorhin. Alles wirkte aufgeräumter und freundlicher. Natürlich war es immer noch die Kommandobrücke eines Raumschiffes und vor allem auf Funktionalität ausgelegt. So hatte sich an der bewährten Anordnung der Konsolen nicht viel geändert. Noch immer stand der Kommandosessel in der Mitte und die beiden Konsolen vor ihm waren noch immer zum Bildschirm hin ausgerichtet. Einzig hinter dem Kommandosessel hatte es eine Änderung ergeben. Die Wissenschaftsstationen waren verschwunden. Dafür war der Raum der Brücke hier nach hinten hin erweitert worden. An den runden Kreis der Brücke war ein rechteckiger Raum angebaut worden, der ohne Trennung direkt mit der Brücke verbunden war. Hier waren erweiterte Computerkonsolen angebracht, die schon auf der Brücke noch umfangreichere wissenschaftliche Analysen zuließen. Zudem konnte die Brückencrew hier kurze Besprechungen abhalten, wenn die Situation eine kurze Absprache erforderte.
Sanawey wurde in diesen hinteren Bereich der Brücke geführt, von dem aus eine Türe zum Raum des Captain abzweigte. Denn hier lag der Bereitschaftsraum nicht mehr ein Deck unter der Brücke, sondern direkt neben an. Auf diese Weise war der Captain schneller wieder auf der Brücke, was in einer Krisensituation entscheidend sein konnte.
Sylvia Jackson wartete bereits hinter ihrem Schreibtisch auf ihn. Ein kleiner Ficus benjamina stand in der Ecke des kleinen Raumes und lockerte die kühle Arbeitsatmosphäre etwas auf. Ansonsten blieb in dem kleinen Raum kaum Platz zur persönlichen Gestaltung. Die Verlegung des Raumes auf Deck 1 hatte eben nicht nur den Vorteil der näheren Anbindung an die Brücke, sondern auch den Nachteil, dass Raum auf diesem Deck nicht übermäßig vorhanden war.
„Admiral“, grüßte sie ihn, und nahm damit ihre derzeitige Neckerei wieder auf, auch wenn ihr deutlich anzusehen war, dass sie nicht sonderlich begeistert war von seinem Besuch. Sie hatte im Moment alle Hände voll zu tun und einfach keine Zeit für einen freundschaftlichen Plausch. Trotzdem hatte sie seinen Wunsch an Bord kommen zu dürfen nicht ablehnen können. Dazu hatten sie einfach zu viel zusammen durchgemacht. Und ihr war bewusst, wie sehr es ihn schmerzte, dass er kein Kommando über ein Raumschiff mehr hatte.
„Captain“, erwiderte Sanawey den Gruß, gönnte sich jedoch nur ein kurzes Lächeln. Denn er wiederum wusste wie wenig Zeit Jackson hatte. Da wollte er ihr so wenig wie möglich davon stehlen.
Sie bot ihm den Platz vor ihrem Schreibtisch an, und nachdem sie sich gesetzt hatten kam er direkt zur Sache. „Ich komme nicht zu einem Freundschaftsbesuch“, eröffnete er ihr, was ihm einen überraschten Gesichtsausdruck einbrachte. „Ich komme, um Ihnen vorab, und ganz inoffiziell, die nächste Mission der Republic
mitzuteilen. Dabei versteht es sich von selbst, dass Sie mit niemandem darüber reden werden, bis die Befehle offiziell erteilt werden.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen lehnte Jackson sich in ihrem Stuhl zurück und sah ihn erwartungsvoll an. Die Arme hatte sie dabei vor der Brust verschränkt. Was auch immer nun kommen würde, es würde wohl äußerst interessant werden. Denn eigentlich sollte es noch keine Befehle für die Republic
geben. Während der nächsten drei Monate standen erst einmal alle möglichen Tests an.
„Es gab einen Zwischenfall bei den Gesprächen mit den Xindi“, fuhr er fort, wobei er das Wort Zwischenfall besonders betonte. „Die gesamte Delegation der Föderation ist tot, einschließlich Vice-President Pennetau.“
Jackson schnappte hörbar nach Luft, sagte jedoch nichts.
In knappen Worten schilderte er die Ereignisse, soweit sie ihm bekannt waren. „Die Xindi haben nun gefordert, dass ich die Untersuchungen auf Seiten der Föderation führen soll. Und die Republic
soll mich dorthin bringen“, schloss er seinen Bericht.
Langsam beugte sich Jackson wieder vor und sah Sanawey dabei in die Augen. „Und Sie haben den Oberbefehl über die Mission?“ schlussfolgerte sie, ohne dabei wirklich eine Frage zu stellen.
„Ja“, nickte Sanawey. „Aber Sie befehligen die Republic
. Es ist Ihr Schiff und ich habe nicht vor, es Ihnen wegzunehmen. Sie…“ Weiter kam er nicht, da sie ihn mit einer Geste unterbrach.
„Sie wissen genau, dass das nicht funktioniert“, erinnerte sie ihn. „Es kann bei so einer Mission nur eine Person geben, die die Befehle erteilt. Sonst führt das ins Chaos. Denn wo genau soll in einer Krisensituation die Grenze zwischen Schiff und Mission bestehen?“
Sanawey wusste genau was sie meinte. Doch wollte er auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass er ihr das Kommando streitig machen wollte. Denn das war nicht seine Absicht. Dazu respektierte er sie viel zu sehr. Dazu mochte er sie zu sehr. Es war ihr Schiff und sie hatte es sich verdient. „Ich will aber nicht…“
„Sanawey“, unterbrach sie ihn sanft. „Ich weiß. Trotzdem ist es nun so. Für diese Mission haben Sie das Kommando und ich werde Sie vertreten. Das ist in Ordnung so, und besser Sie als irgendwer anderes.“ Sie lächelte aufrichtig. „Wie in alten Zeiten.“
Der Admiral wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er war gerührt über ihre Loyalität und ihr Verständnis. Er würde es wieder gut machen, das schwor er sich.
„Die Mission kann aber nicht warten, bis wir unsere Tests abgeschlossen haben?“ Sie dachte das Thema bereits sachlich weiter und hielt sich nicht lange mit persönlichen Bewertungen auf. So war eben ihre Art.
Sanawey nickte nur.
„Das bedeutet, wir fliegen mit einem neuen Schiff, von dem wir nicht genau wissen, was alles zuverlässig funktioniert und was es aushält, in ein Krisengebiet, ohne genau zu wissen was uns dort erwartet?“ fuhr sie fort.
„Genau das“, bestätigte er. „Ich weiß, das sind nicht gerade ideale Voraussetzungen, aber…“
„Nicht ideal? Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts“, erwiderte sie sarkastisch. „Es ist wirklich fast wie in alten Zeiten.“ Sie schüttelte leicht den Kopf, aber ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
Auch Sanawey musste lächeln. „Ja, wie in alten Zeiten“, widerholte er, auch wenn der Gedanke an die letzten Missionen der Republic
nicht besonders amüsant war.
„Nicht ganz“, schränkte sie aber sofort ein. „Es war eine andere Crew.“
Nun wuchs Sanawey Lächeln in die Breite. „Wenigstens dafür habe ich eine gute Nachricht“, sagte er. „Die Sternenflotte wird die alte Mannschaft wieder zusammentrommeln. Das war meine Bedingung für diese heikle Mission. Und man hat dem stattgegeben. Alle ehemaligen Crewmitglieder, die binnen einer Woche versetzt werden können, werden versetzt.“
Ungläubig sah Jackson ihn an.
„Und wenn es gut läuft, dann bin ich mir sicher, werden Sie die Crew auch weiterhin behalten können. Das war das mindeste, was ich tun konnte.“
Jackson war auch weiterhin nicht in der Lage, etwas dazu zu sagen. Sie konnte es kaum fassen. Bis eben hatte sie noch gedacht, sich mit einer neuen Crew, neuen Personen auseinandersetzen zu müssen und nun bekam sie das alte, vertraute Team zurück. Es würde ihr alles um einiges leichter machen. „Danke“, sagte sie schließlich, da ihr sonst nichts einfiel.
Sanawey nickte nur knapp. Natürlich hätte es Jackson auch mit einer komplett neuen Crew geschafft, dessen war er sich sicher. Aber warum musste es immer auf die harte Tour laufen, wenn es auch mal leichter sein konnte? Dass sie nun nicht wusste, was sie sagen sollte, hatte Sanawey erwartet. Sie hatte schon immer ihre Probleme damit gehabt, Gefühle offen zu zeigen. Sie war was das angeht, eher verschlossen. Jackson war eben eher der sachliche Typ. Und wie er das einzuschätzen hatte, das wusste er genau. Sie hatten schließlich lange genug zusammen gearbeitet.
„Wir müssen nun schauen, wie wir die Crew so schnell wie möglich zusammen bekommen“, fuhr er fort, um Jackson aus ihrer unangenehmen Situation zu befreien. „Und Sie müssen sich Gedanken darum machen, wer Ihr neuer erster Offizier wird.“ Diese Position war natürlich trotz der Reaktivierung der alten Crew noch unbesetzt, nachdem Jackson zum Captain befördert worden war.
„Das ist richtig“, nickte sie langsam. „Allerdings habe ich dazu noch etwas länger Zeit. Wenn wir uns auf dieser Mission das Kommando teilen, dann ist ein erster Offizier erst einmal nicht nötig“, entscheid sie. „Und was den Rest der Crew angeht: Es wird nicht leicht sein. Manche sind ziemlich weit weg. Da könne eine Woche zu knapp sein.“
Sanawey lächelte. „Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren.“ Es war wirklich wie früher. Sie arbeiteten wieder zusammen und er genoss es. Gemeinsam machten sie sich daran, ihre Crew wieder zusammenzutrommeln.
Zusammen mit Mira verließ Karja den Fitnessraum. Sie hatten gerade ein zweistündiges Trainingsprogramm absolviert und waren nun beide erschöpft. Zwar hatte die warme Dusche nach dem Sport ein wenig zur Entspannung der Muskeln beigetragen, doch wirkliche Erholung konnte jetzt nur das Bett und ausreichend Schlaf bringen. Schweigend liefen sie durch die Gänge des Schiffes zu ihren Quartieren, die in unmittelbarer Nähe zueinander lagen. Zum Reden waren sie beide zu müde. Es gab ohnehin nichts, das nicht bis morgen warten konnte. Sie sahen sich jeden Tag und hatten dabei schon alles über alles gesprochen. Vor allem über die Männer an Bord, die im richtigen Alter wären. Aber sie waren übereingekommen, dass es auf Anhieb nur drei bis vier Männer gab, die wirklich überzeugen konnten. Was sich durchaus ändern konnte, wenn man die Leute näher kennenlernen würde.
Als sie um eine Gangbiegung kamen, wären sie beinahe mit Tom zusammenstoßen. Völlig überrascht murmelte Karja eine Entschuldigung. Sie war viel zu perplex um besser reagieren zu können. Immerhin war Tom einer der drei bis vier Männer, die durchaus einen zweiten Blick wert waren.
„Hallo ihr zwei Hübschen“, reagierte er besser. „Wie geht es euch?“
Mira winkte nur ab. „Kaputt“, sagte sie einfach. „Das Bett ruft.“
Zustimmend nickte Karja. Sie hatte keine Lust, sich jetzt länger zu unterhalten.
„Dann solltet ihr ins Bett gehen“, lächelte Tom, sah Karja aber nochmals an, bevor sie weitergehen konnte. „Kann ich kurz mit dir reden?“ wollte er sanft wissen.
Mit großen Augen sah Karja ihn an. Noch ehe sie reagieren konnte, dämmerte es Mira. Sie hatte Toms Tonfall analysiert. „Ich kann nicht mehr stehen und werde schon mal gehen“, entschuldigte sie sich, machte auf dem Absatz kehrt und war schneller weg, als es Karja lieb war.
Nun stand sie hier mit Tom und ihr stand ein Gespräch bevor, von dem sie nicht wusste, ob sie es wollte oder nicht.
„Karja, ich weiß, es geht mich nichts an, aber ich muss dir die Frage einfach stellen“, fing Tom an und sah ihr dabei direkt in die Augen. „Es lässt mir einfach keine Ruhe. Ich habe gesehen, wie du mit Tworek umgehst und mit ihm sprichst. Auch neulich in der Bar wieder. Das war so ein vertrauter Umgang zwischen euch. Läuft da etwas zwischen euch?“
Obwohl sie es nicht wollte musste Karja doch grinsen. „Zwischen Tworek und mir?“ fragte sei belustigt. Das war ein Gedanke, den sie sich nicht vorstellen konnte. „Nein“, sagte sie dann. „Er ist ein Freund. Ein sehr guter Freund. Aber mehr auch nicht.“
Es war Tom richtig anzusehen, wie die Anspannung sich in seinem Gesicht löste. Offenbar hatte er das ernsthaft in Erwägung gezogen. „Dann könnten wir beide mal etwas trinken gehen. Nur wir beide“, betonte er.
„Tom, ich weiß nicht…“ begann Karja zögernd. Mit einem Mal drängten sich die Erinnerungen an Danny Palmer wieder in den Vordergrund. Auch er war ein Kollege gewesen und hatte sie dann im Stich gelassen. Und nicht nur dass, er hatte sie verraten. Wie konnte sie wissen, dass Tom nicht genauso war?
„Komm schon, Karja. Bitte. Wir sind uns doch nicht mehr fremd.“
Immerhin hatten sie schon so manchen Feierabend zusammen verbracht. Auf dem Freizeitdeck, in der Bar oder auf dem Aussichtsdeck. Aber immer waren noch weitere Personen dabei gewesen. Mira, Tworek oder Freunde von ihm. Es war lustig gewesen, ja, und auch wenn er ihr schon aufgefallen war, so war für Karja doch nie ein ernsthafter Gedanke an mehr dabei gewesen. Hatte sie ihm etwa Hoffnung in diese Richtung gemacht? Sie war sich dessen nicht bewusst.
„Ich glaube nicht, dass wir das sollten“, entgegnete sie. Allerdings nicht sonderlich überzeugend. Was Ansporn für ihn war.
„Dann höre auch dein Herz und lass es uns ausprobieren. Wenigstens ein Date“, ließ er nicht locker.
Doch mit der Anspielung auf ihr Herz, hatte er bei ihr gerade die falsche Saite erwischt. „Nein“, entgegnete sie heftig. Hatte sie sich doch nach ihrer Erfahrung mit Danny fest vorgenommen, nie wieder auf ihr Herz zu hören.
Überrascht ob ihrer Reaktion sah er sie groß an. „Karja…“
„Gute Nacht“, schnitt sie ihm das Wort ab und ließ ihn dann stehen. Mit schnellen Schritten lief sie den Gang entlang, um ihm nicht noch eine Aufforderung zum Weitersprechen zu geben.
Kopfschüttelnd sah Tom ihr nach. Er verstand die Welt nicht mehr. Was hatte er nur gesagt, um eine solche Reaktion auszulösen? Manchmal waren Frauen einfach nicht zu verstehen.
Hinter der nächsten Gangbiegung, in Sichtweite ihres Quartiers, wartete Mira. Sie empfing Karja mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.
Mit funkelnden Augen sah Karja ihre Freundin an. Sie war jetzt in Fahrt und konnte nicht dafür garantieren, dass sie nicht auch Unschuldige traf. „Was ist? Hast du etwa zugehört?“
„Wieso hast du das getan?“ stellte Mira ganz ruhig eine Gegenfrage. Sie war professionell genug, um sich von Karja nicht provozieren zu lassen.
„Soll ich etwa auf jeden Verehrer eingehen? Ich kann doch nicht jeder Frage nach einer Verabredung zustimmen.“
„Natürlich nicht“, beschwichtigte Mira. „Aber Tom ist auch nicht irgendwer. Spielen deine Erfahrungen mit Danny Palmer hier etwa noch eine Rolle?“
„Mira, ich habe dir schon mal gesagt, lass deine Psychologennummer aus dem Spiel, wenn unsere Freundschaft Bestand haben soll“, betonte Karja, versuchte allerdings einen versöhnlichen Tonfall an den Tag zu legen. Was ihr nur bedingt gelang.
„Ich mache mir nur Sorgen um dich“, erklärte Mira ruhig. „Du hattest sei damals keine Verabredung mehr. Auch nicht, als du beinahe ein Jahr auf der Erde warst. Das mit Danny war eine extreme Ausnahmesituation. So etwas kommt bestimmt nicht nochmal vor. Glaube mir. Du solltest wieder vertrauen lernen.“ Sie hob die Hand, bevor Karja etwas erwidern konnte. „Denk einfach mal drüber nach. Mehr will ich gar nicht.“
Karja holte tief Luft, sagte aber nichts. Natürlich wusste sie, dass Mira recht hatte, aber es war nicht so einfach, wie es sich anhöre. Zuerst musste sie vor allem selber daran glauben. Aber das würde mit der Zeit schon kommen, da war sie sich sicher. „Das werde ich“, versprach sie dann artig.
„Wir werden sehen.“ Mira musste lächeln. „Wir sehen uns morgen. Gute Nacht.“
„Wünsche ich dir auch.“ Dann trennten sich ihre Wege. Während Karja ihr Quartier betrat musste sie nochmals über Tom nachdenken. Er schien wirklich nett zu sein. Allerdings konnte sie sein Angebot jetzt nicht mehr annehmen. Sie hatte ihn zurückgewiesen und ihr Stolz verbot ihr, ihn nochmals darauf anzusprechen.
Zufrieden lehnte Sanawey sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Seit mehreren Stunden war er nun hier in seinem Büro gesessen und hatte Unterlagen gewälzt, Gespräche geführt und Versetzungsanträge gestellt. Vor wenigen Augenblicken war der Letzte verschickt worden. Nun war diese Aufgabe erledigt und er konnte nichts weiter tun, als die Rückmeldungen überwachen. Wobei ohnehin nicht mehr viele ausstanden. Die meisten Versetzungen waren genehmigt worden. Oder mit einer plausiblen Erklärung abgelehnt worden. Meist war das Problem einfach, dass die ehemaligen Besatzungsmitglieder sich mit ihren neuen Schiffen zu weit entfernt aufhielten, um rechtzeigt zum Aufbruch wieder auf der Erde zu sein. Oder dass sie einfach nicht wollten. Denn es gab durchaus auch Crewmitglieder, die sich auf ihren neuen Posten wohl fühlten und gar nicht zurück wollten. Diese Entscheidung musste man natürlich respektieren. So nahm die neue Crew langsam Gestalt an. Und die in seinen Augen wichtigsten Personen hatte er beisammen.
Seine Tochter Karja, die Psychologin Mira Bozman und der Mischling klingonischer und vulkanischer Eltern, Tworek, waren zusammen auf der USS Saratoga
. Sanawey erinnerte sich. Es hatte ihn damals einige Anstrengungen gekostet, die drei zusammen auf einem Schiff unter zu bekommen. Karja und Mira Bozman wollte er auf jeden Fall zusammen auf einem Schiff sehen. Die beiden hatten sich während der letzten Mission so gut kennen gelernt und angefreundet, dass er diese Freundschaft einfach nicht zerstört sehen wollte. Zudem waren beide noch relativ jung und neu bei der Sternenflotte, da wollte er ihnen die negative Erfahrung der getrennten Wege, die der Dienst bei einer militärischen Einrichtung wie der Sternenflotte haben konnte, ersparen. Dies war auch relativ einfach zu regeln gewesen.
Schwieriger war es da schon mit Tworek gewesen. Der Halbklingone wollte schon aus der Sternenflotte austreten, nachdem er von der Aufteilung der Crew erfahren hatte. In einem langen Gespräch mit ihm hatte Sanawey dann schließlich erfahren, was Tworek bewegte. Der Mann war sein Leben lang ein Wanderer zwischen den Welten gewesen. Als Mischling dieser zwei extrem unterschiedlicher Spezies war er weder auf Vulkan noch auf Quonos akzeptiert worden. Er war nirgendwo daheim und damit zum Einzelgänger bestimmt. Und dieses Vagabundenleben hatte er angenommen. Mit den Jahren war es ihm so sehr zu Eigen geworden, dass es ein Teil seines Wesens geworden war. Auf der Republic
hatte er das erste Mal so etwas wie eine Heimat kennen gelernt und mit der Crew etwas wie eine Familie. Nun wurde dies auseinandergerissen und Tworek hatte wenig Interesse, sich wieder neu einleben zu müssen. Und er war einfach noch nicht lange genug bei der Sternenflotte, um diese als Heimat zu sehen und nicht nur ein einzelnes Schiff.
Es hatte Sanawey einige Mühe gekostet, Tworek davon zu überzeugen, dass die Sternenflotte kein Verein war, in den man ein- und austreten konnte, wie es einem beliebte. Zwar hatte er das Recht bei der Sternenflotte zu kündigen. Doch würde er dann seinen Dienst niemals mehr wieder aufnehmen können. Es gelang ihm schließlich Tworek davon zu überzeugen, es wenigstens noch einige Zeit zu versuchen. Seine disziplinierte, vulkanische Seite hatte sich am Ende als stärker erwiesen und über die impulsive, klingonische Seite gesiegt. Und mit dem Einfordern einiger Gefallen, die man ihm noch geschuldet hatte, war es Sanawey auch gelungen, den Halbvulkanier auf die Saratoga
zu bekommen. Karja war die Person, mit der Tworek am engsten befreundet war. So waren sie wenigstens drei ehemalige Crewmitglieder, die zusammen ihren Dienst versahen. Und wie es aussah funktionierte es ganz gut. Zumindest waren ihm keine weiteren Austrittswünsche Tworeks zu Ohren gekommen.
Für alle drei waren die Versetzungsanträge genehmigt worden. Die Saratoga tat Patrouillendienst an der neutralen Zone, der Grenze zum klingonischen Reich. Die drei würden abgeholt werden und in vier Tagen auf der Erde erscheinen. Gerade noch rechtzeitig.
Wendy Brook, die Chefingenieurin und Dr. Elizabeth Williams waren noch auf der Erde. Wendy kam im Transwarpprojekt ohnehin nicht weiter. Sie würde man dort herauslösen können. Das hatte er auch schon veranlasst. Sollte doch jemand anderes in diesem Projekt scheitern. Sanawey wusste jedoch nicht, ob Wendy über die Versetzung schon informiert worden war. Er hatte in den letzten Wochen nur wenig von ihr gehört und in den letzten Tagen gar nichts. Normalerweise mochte sie es nicht, wenn sie aus einem Projekt herausgenommen wurde, ohne dass es einen Fortschritt gab. Sie betrachtete es immer als ihre Aufgabe, Ergebnisse zu liefern. Vorzeitig etwas zu beenden kam ihr immer vor, wie eine Flucht. Und das lag ihr nicht. Wie es hier nun war, wusste Sanawey nicht genau. Vor einigen Wochen, als sie das letzte Mal Gelegenheit für ein ausführliches Gespräch hatten, klang sie sehr frustriert. Damals wäre sie über eine Versetzung froh gewesen, da es überhaupt keine Fortschritte zu verzeichnen gab. Die letzten Gespräche waren nur kurz gewesen, aber er hatte ein Eindruck gewonnen, dass es ihr inzwischen besser gefiel. Allerdings hatte er in den offiziellen Berichten nichts von einem Fortschritt erkennen können. Daher musste es andere Gründe für die Verbesserung ihrer Laune geben. Er wusste aber nicht, was das war.
Elizabeth Williams hatte sich eine Auszeit genommen und war auf irgendwelchen verschlungenen Pfaden in Tibet unterwegs. Die Erkenntnis, dass man die Zeit so einfach manipulieren konnte und damit den Verlauf von Milliarden von Leben änderte, hatte sie mehr getroffen, als sie zugeben wollte. Auch dass damit ein verübter Völkermord einfach ungeschehen gemacht wurde und nie jemand etwas von dem Leid der Betroffenen erfahren würde, hatte ihr zugesetzt. Dass die Bewohner der Kolonie Terra Ceti in der alternativen Zeitlinie gelitten hatten und gestorben waren, war für sie eine Tatsache. Sie hatten es mit eigenen Augen gesehen. Und nun soll all das nie passiert sein. Niemand hatte davon Notiz genommen, niemand konnte für die Verbrechen bestraft werden. Das war für sie unerträglich gewesen. Daher hatte sie sich auf einen Selbstfindungstrip begeben und zog nun alleine durch die Hochebene des Himalayas. Sanawey konnte auch nicht sicher sagen, ob sie wieder zurückkehren würde. Vielleicht mussten sie sich um einen anderen leitenden medizinischen Offizier kümmern. Das war noch abzuwarten.
Der Rest der Führungscrew würde sich aber wieder einfinden. Sohral war bereits auf dem Weg zur Erde. Zuvor hatte er einige Zeit in den Archiven auf Vulkan zugebracht. Er wollte dort nach Aufzeichnungen über die Xindi suchen. Immerhin betrieben die Vulkanier bereits seit einigen Jahrhunderten die interstellare Raumfahrt, lange vor den Menschen. Vielleicht gab es noch alte Aufzeichnungen über die Xindi, die niemals beachtet worden waren. Außerdem hatte er sich noch mit T’Pol, der letzten lebenden Person der damaligen Sternenflottenmission, treffen wollen. Auf diesen Bericht war Sanawey besonders gespannt.
Drake Reed mussten sie unterwegs abholen. Sie würden sich mit der Lexington
treffen, um Reed zu übernehmen. Die Lexington
hatte den Befehl erhalten, zur Erde zurückzukehren und würde dabei der Republic
begegnen.
Und Sicherheitschef Zien war bereits vor wenigen Stunden auf der Erde eingetroffen. Derzeit war er einige Zimmer weiter damit beschäftigt, sich seine Sicherheitsmannschaft wieder zusammenzustellen. Wie in jeder Abteilung würde auch er mit einigen Neuzugängen zurechtkommen müssen, da sich nicht die gesamte Crew wieder zurückholen ließ. Aber ein gewisser Personalwechsel war schließlich bei jeder neuen Mission normal. Daher würde es sich auch diesmal schnell einspielen.
Sanawey freute sich bereits auf den Start. Zwar war es nicht sein Schiff, doch würde er noch einmal die gesamte Crew zusammen erleben. Er würde einige Zeit zwischen ihnen verbringen und beobachten können, wie sie sich an die neue Kommandostruktur gewöhnten, ehe er sie dann alleine weiterziehen lassen musste. Der Moment des Abschiedes würde sich dadurch noch etwas verzögern, auch wenn er genau wusste, er würde ihm nicht entkommen.
Der Türsummer meldete ihm einen Besucher und holte ihn damit in die Gegenwart zurück. Mit einem schnellen Blick prüfte er, ob er irgendwo noch offene Personendaten herumliegen hatte, die niemanden etwas angingen. Als er sah, dass das nicht der Fall war, rief er den Besucher herein.
Es war Sylvia Jackson, die den Raum betrat.
„Ah, Captain“, empfing Sanawey sie fröhlich. „Nur herein.“
„Admiral.“ Sie sah ihn skeptisch lächelnd an. „So gut gelaunt?“ Sie konnte das nicht ganz nachempfinden, immerhin hatten sie so viel Arbeit wie selten vor sich.
„Ich habe sämtliche Versetzungsanträge abgesetzt und die Crew ist inzwischen fast vollständig“, erklärte er ihr seine gute Laune. „Sie haben nur noch keinen Vorschlag für einen ersten Offizier gemacht.“
„Das hat ja auch noch ein wenig Zeit, wie ich Ihnen schon mal gesagt habe.“
„Der nächste in der Rangfolge der Republic
wäre Drake Reed“, fuhr Sanawey fort, ohne auf ihren Einwand einzugehen.
Wenig überzeugt verdrehte Jackson die Augen und stöhnte leicht auf.
„Natürlich kann ein Offizier auch von einem anderen Schiff versetzt werden“, schränkte er seinen Vorschlag wieder ein, betonte aber trotzdem: „Ich halte Reed für einen geeigneten Kandidaten. Er würde das schaffen.“
„Das Thema hat noch ein wenig Zeit“, entgegnete Jackson deutlich. Sie wollte jetzt nicht darüber reden.
Sanawey war natürlich bewusst, dass dies ihre Entscheidung war. Er durfte sich nicht einmischen. Es war ihre Crew, ihr Vertreter und ihre Entscheidung. Sie musste mit dieser Person zusammenarbeiten und ihr vertrauen können. Er hätte damals auch keine Einmischung akzeptiert, als er Jackson als seine Stellvertreterin ausgewählt hatte. Daher sagte er nichts weiter zu dem Thema. „Als nächstes muss ich mit Wendy über ihre Versetzung sprechen.“ Er grinste schief. „Das werde ich wohl besser persönlich machen. Wenn ich einfach ihre Versetzung veranlasse, würde sie mir das wahrscheinlich übel nehmen.“
„Und ich Ihnen auch, wenn ich dann mit einer verstimmten Chefingenieurin auskommen muss“, erwiderte Jackson. Doch lächelte sie dabei ein wenig.
Sanawey sah sie an. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr musste er den Xindi eigentlich danken. Sie hatten es ihm ermöglicht, noch einmal mit seiner alten Crew einige Zeit verbringen zu können. Und danach all diese Personen zusammen auf diesem Schiff zu wissen war ein gutes Gefühl. Ein besseres Gefühl konnte es nicht geben. Vielleicht sollte er den Xindi wirklich dafür danken.
Mit vornüber gebeugtem Oberkörper stand Wendy Brooks im Maschinenraum der Excelsior
vor einer Konsole und starrte finster die angezeigten Daten an. Dort stand nicht das, was sie erwartet hatte. Wieder einmal. Es war zum Davonlaufen. Am liebsten hätte sie die Maschine herausgerissen und gegen die Wand geworfen, so frustriert war sie.
Sie hatte eine Simulation zur Funktionalität des Transwarpantriebes laufen lassen, die wieder einmal nicht aufging. Das Programm sagte ihr, dass auch diese Variante nicht funktionieren würde. Und allmählich gingen ihr die Ideen aus, was sie noch alles probieren konnte. In den letzten Wochen hatten sie nahezu alles ausprobiert, was nur möglich war. War es am Anfang noch ein professionelles Vorgehen gewesen, in dem sie die Probleme analysiert und dann die technischen Lösungen dafür ermittelt hatten, so hatte sich in den letzten Tagen die Verzweiflung eingeschlichen und sie hatten alles ausprobiert, was sie bisher noch nicht getestet hatten, teilweise einfach nur, um es einmal probiert zu haben. Ob das technisch überhaupt einen Sinn machte war dabei in den Hintergrund getreten. Aber manchmal konnte ja auch ein Schuss ins Blaue zu einem Treffer führen. Doch dieses Glück schien ihnen verwehrt zu sein. Und viel Zeit würden sie wohl auch nicht mehr haben, um vielleicht doch noch eine Lösung zu finden. Von Sanawey hatte sie gehört, dass die Admiralität sich überlegte, das Projekt Transwarptechnologie endgültig zu beenden.
„Mrs. Brooks, es ist eine Nachricht für Sie eingegangen“, ertönte die Stimme des leitenden Offiziers aus den Lautsprechern des schiffsinternen Kommunikationssystems.
Wendy sah auf und wusste nicht, ob sie über die Störung verärgert oder erleichtert sein sollte. Vermutlich war das Gefühl der Erleichterung aber eher angebracht, da sie wohl noch stundenlang auf die Daten hätte starren können, ohne eine Lösung zu finden.
An der Konsole, an der sie stand, konnte sie nur auf die Daten des Maschinenkerns zugreifen. Daher ging sie zum Platz des Chefingenieures hinüber und aktivierte dort den Bildschirm. Zu ihrer Freude erschien dort das vertraute Gesicht von Sanawey. Für einen Moment konnte sie sogar ihren Frust zurückdrängen.
„Sanawey, wie schön dich zu sehen“, begrüßte sie ihn.
„Hallo Wendy. Geht mir genauso“, erwiderte er lächelnd. Dann wurde er ernster. „Auch wenn du etwas müde aussiehst.“
Wendy erinnerte sich an das Gesicht, das sie vor einigen Stunden im Spiegel gesehen hatte. Sie hatte Ränder unter den Augen und sah tatsächlich etwas übernächtigt aus. Was daran liegen mochte, dass sie in letzter Zeit kaum geschlafen hatte. Zum einen wegen dem frustrierenden Gefühl, bei dem Problem mit dem Antrieb überhaupt nicht voranzukommen. Und das seit Monaten. Für sie ein sehr deprimierendes Gefühl. Und seit einigen Tagen kam auch noch das Thema Mike hinzu, bei dem sie keinen Schritt vorankam. Sie hing völlig in der Luft und wusste nicht wie es weitergehen sollte. Daher fand sie auch in ihrer im Moment recht knapp bemessenen Freizeit keine Ruhe.
„Es geht schon“, beschwichtigte sie dann aber tapfer und spielte die Sache herunter. „Es ist im Moment einfach nur etwas anstrengend.“
Sanawey nickte nachsichtig. Auch wenn er eindeutig nicht überzeugt war, ging er auf dieses Thema nicht weiter ein. „Es gibt einen anderen Punkt, über den ich mit dir reden muss“, sagte er stattdessen. Dann berichtete er in knappen Worten über seinen Auftrag, den Xindi bei der Aufklärung des Vorfalles zu helfen, der den Diplomaten auf beiden Seiten das Leben gekostet hatte. „Für diese Mission wird die Crew der Republic
wieder zusammengestellt. Und ich brauche dich als meine Chefingenieurin. Nur wenn ich das Schiff in deinen Händen weiß, würde ich mich dabei auch wohl fühlen.“
Nachdenklich sah Wendy zur Seite. Mit einer solchen Entwicklung hatte sie nicht gerechnet. Damit würde sich alles ändern. Auf der einen Seite würde das bedeuten, dass sie wieder eine Arbeit bekommen würde, bei der es auch wieder Erfolgserlebnisse geben konnte. Doch dann würde sie hier alles aufgeben müssen. Nicht nur ihre Arbeit an diesem Projekt, auch das noch immer ungeklärte Verhältnis zu Mike. Vielleicht würde sie damit ihre Chance auf eine glückliche Zukunft zu zweit aufgeben. Die Widersprüche in ihr zerrten an ihr und ließen sie noch kein klares Bild erkennen. Sie würde erst einmal in Ruhe darüber nachdenken müssen.
„Bitte, Wendy“, sagte Sanawey, nachdem von ihr keine Reaktion kam. „Ich brauche dich. Und Jackson braucht dich auch nach dieser Mission auf der Republic
.“ Er machte eine kurze Pause, um seinen nächsten Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Das Transwarpprojekt wird in den nächsten Tagen eingestellt oder zumindest soweit heruntergefahren, dass es nur noch in Laboren von einigen wenigen Wissenschaftlern und Ingenieuren weiterbetrieben wird. Aber das wäre garantiert nichts für dich, das weiß ich. Dazu kenn ich dich zu gut. Die Excelsior
soll einen normalen Warpantrieb erhalten und damit in den Dienst gestellt werden. Es gibt hier dann nichts weiter für dich zu tun. Wer weiß, wo du dann landen würdest. Nimm die Chance an und komm auf die Republic
.“
Wendy nickte steif. Sie hatte so viel Arbeit in dieses Projekt gesteckt, dass sie es nicht ohne Wehmut würde verlassen können. Und doch war da auch eine Stimme in ihrem Hinterkopf, die froh über die Chance war, hier weg zu kommen und die ihr riet, das Angebot umgehend anzunehmen. Und doch zögerte sie. „Ich werde darüber nachdenken“, erwiderte sie dann. Sie musste zuerst mit Mike reden.
Sanawey wirkte etwas überrascht davon. Offenbar hatte er mit einer sofortigen und erfreuten Zusage gerechnet. Doch fasste er sich augenblicklich wieder und lächelte verständnisvoll. „Natürlich“, nickte er. „Aber ich kann dir leider nicht viel Zeit geben. Ich brauche deine Entscheidung bis morgen Nachmittag, da ich ansonsten nach einer Alternative für dich schauen muss.“
Das waren noch knapp zwanzig Stunden. Das sollte reichen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, eine äußerst wichtige Entscheidung über ihre Zukunft völlig überhastet treffen zu müssen. Am liebsten hätte sie noch Monate Zeit gehabt, um alle Möglichkeiten gründlich auszuloten. Allerdings barg ein so großes Zeitfenster auch die Gefahr, dass man zu sehr ins Grübeln verfiel und eine Entscheidung verzögerte, bis schließlich die äußeren Umstände eine Entscheidung trafen, die man selbst vielleicht gar nicht wollte. Und oft waren die kurzfristigen und schnellen Entscheidungen die besten. Vielleicht auch nur, weil man keine Zeit hatte, um über die Alternativen länger nachzudenken. Über ein Was-wäre-wenn.
„In Ordnung. Ich werde dir Bescheid geben“, sagte sie fest und überlegte sich dabei schon, wo Mike im Moment gerade wohl war.
Sanawey nickte leicht und sah sie mit einem durchdringenden Blick an. „Alles in Ordnung bei dir?“ Echte Sorge schwang in seiner Stimme mit und für einen Moment hatte er seine Mission und die ganzen Vorbereitungen vergessen.
Wendy lächelte und wusste auf einmal, was sie wollte. Sie wollte auf dieses Schiff, zusammen mit der alten Crew, ihren Freunden und der vertrauen Umgebung. Sie wollte nichts lieber als das. Aber sie wollte auch Mike. Er war das einzige, was sie an einer sofortigen Zusage hinderte. Und diese Abhängigkeit ärgerte sie. Sie musste das klären. Sofort.
„Ja, alles in Ordnung“, beruhigte sie ihn. „Wir werden uns auf jeden Fall vor dem Abflug der Republic
noch etwas länger unterhalten“, versprach sie. Dann aber verabschiedete sie sich schnell. Sie hatte jetzt einiges zu klären und keine Zeit zu verlieren.
Nachdem die Verbindung beendet war, erkundigte sie sich umgehend nach dem Aufenthaltsort von Mike. Der Computer gab an, er sei auf der Brücke. Ihr fiel wieder ein, dass er dort auch noch einen Test durchführen wollte, zusammen mit der Navigation.
Sie machte sich auf den Weg. Während sie durch den Gang lief, überlegte sie sich, wie sie es angehen sollte, um ihm auch endlich mal zu entlocken, was er eigentlich wollte. Auch nach ihrem letzten Treffen war nichts weiter passiert, als dass er sie nach Hause gebracht hatte und sich vor ihrer Türe dann von ihr verabschiedet hatte. Und sie hatte das Gefühl, dass er sich seitdem etwas zurückhaltender verhielt, was aber auch einfach nur an ihren hohen Erwartungen liegen konnte, die sich nicht erfüllten. Sie konnte aber nicht glauben, dass er plötzlich das Interesse an ihr verloren hatte. Nicht, nachdem er sich noch vor nicht allzu langer Zeit so bemüht hatte. So schnell konnten sich Gefühle schließlich auch nicht ändern.
Als sie die Brücke betrat, saß Mike an der technischen Konsole, und ein weiterer Ingenieur an der Navigation. Gemeinsam schienen sie etwas auszuprobieren, was aber wohl nicht so ganz klappte, wie man aus ihren Gesichtsausdrücken schließen konnte.
Sie kam zu ihm herüber. Er sah kaum auf, bemerkte sie aber aus dem Augenwinkel heraus. Wendy wartete einen Moment, denn sie wollte ihn nicht unterbrechen. Da er aber keine Anstalten machte, sich ihr zuzuwenden, beugte sie sich schließlich zu ihm hinunter. „Wir müssen reden“, sagte sie leise.
Er sah tatsächlich auf, hatte aber einen Blick, der signalisierte, dass er es für unangebracht hielt während der Arbeit irgendetwas privates besprechen zu müssen.
„Es ist äußerst dringend“, ließ sie sich aber nicht abwimmeln. Sie fing an, sich ein wenig über seine Sturheit zu ärgern. Männer. Es waren doch alle irgendwie gleich. Sobald es ums Reden ging, fanden sie immer einen Grund um sich darum zu drücken.
Um seine Mundwinkel zuckte es etwas nervös, dann wandte er sich ab und sah zu dem Mann an der Navigationskonsole hinüber. „He, Matt, wir machen fünf Minuten Pause.“
Wendy verdrehte die Augen. Na klar, fünf Minuten. Warum nicht nur zwei? Es gab wichtige Dinge zu besprechen und er hielt fünf Minuten für ausreichend. Wieder so typisch.
Der Mann sah herüber und sein Blick wanderte zwischen Mike und Wendy hin und her. Dann schien er zu verstehen, denn er nickte und stand auf. „Ich werde mir dann mal einen Kaffee holen“, sagte er etwas verlegen und verließ dann die Brücke.
Mike sah wieder zu ihr und wirkte etwas genervt. Ihm war ganz offensichtlich überhaupt nicht nach einem Gespräch. „Was gibt es denn so dringendes?“ wollte er wissen und Wendy meinte, einen leicht ironischen Unterton wahrgenommen zu haben.
Zum ersten Mal erschien in Wendys Hinterkopf die leise Frage, ob sie hier eigentlich das Richtige tat. „Ich habe gehört, dass das Projekt eingestellt werden soll“, sagte sie, obwohl es eigentlich ein ganz anderes Thema gab, das sie klären wollte.
„Ich weiß“, nickte er und entspannte sich ein wenig. Offenbar hat er ein brisanteres Gespräch erwartet. „Ich habe es bereits gestern erfahren. In drei Tagen wird entschieden, wie es weitergeht. Und dabei steht wohl nur noch die Frage im Raum, ob es in deutlich eingeschränkter Form in Labors weitergeht oder ob es ganz eingestellt wird. Aber die Entscheidung, dass die Excelsior
einen normalen Warp-Antrieb erhält, ist schon gefallen.“ Er sah sich auf der Brücke um. „Das ist verdammt schade. Das Schiff hat das nicht verdient. Es hätte es verdient gehabt, als erstes Schiff in völlig neue und unbekannte Bereiche des Universums vorzudringen.“ Dann zuckte er mit den Schultern, als ob er sagen wollte, dass er nichts mehr gegen die Entscheidung machen konnte.
„Und was hast du dann vor?“ Wendy war etwas perplex. Er hatte es gewusst und nichts davon erzählt. Tat er vielleicht nur äußerlich so ruhig, obwohl es ihn viel härter traf? Würde das sein Verhalten erklären?
Wieder zuckte er mit den Schultern, als ob es ihm gleichgültig wäre. „Ich werde dann eben einem anderen Projekt zugeteilt. Aber vielleicht habe ich ja das Glück und kann doch noch weiter am Transwarpantrieb arbeiten.“
„Und der Rest des Teams?“
Für einen Moment sah er sie aus fast schon leblosen Augen an. „Bei einer solchen Verkleinerung eines Teams muss jeder selber sehen wo er bleibt“, sagte er dann.
Wendy konnte kaum fassen was sie da hörte. War das wirklich seine Meinung? Hatte sie sich so in ihm getäuscht?
„Mir ist eine Versetzung auf die Republic
angeboten worden“, sagte sie dann und versuchte dabei so gleichgültig zu wirken wie er.
„Hast du sie angenommen?“
„Sollte ich denn?“
„Du wirst kaum etwas Besseres bekommen. Ich an deiner Stelle würde das annehmen.“
Sie sah ihn an. Es schien ihm tatsächlich egal zu sein, ob sie ging oder nicht. „Wir wären dann Lichtjahre voneinander getrennt“, wandte sie ein.
„So ist das eben in unserem Beruf. Kollegen kommen und gehen“, zuckte er mit den Schultern. „Das wird auch nie anders sein.“
„Ist dir das wirklich so egal?“ Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie hätte für ihn eine Beschäftigung auf der Erde angestrebt, um in seiner Nähe bleiben zu können und ihm war das überhaupt nicht wichtig. Hatte er sich nie ernsthaft für sie interessiert? Das wäre eine Erklärung dafür, dass er bei all ihren Treffen nie den letzten, entscheidenden Schritt getan hatte. Doch warum hatte er dann mit ihr geflirtet?
„Natürlich nicht“, gab er mit ein wenig mehr Leidenschaft zurück. „Man arbeitet nicht oft mit solch brillanten Menschen wie dir zusammen.“
„Und persönlich?“ fragte sie kühl. Sie fürchtete die Antwort fast schon.
„Ich habe mich selten so gut mit jemandem verstanden wie dir. Ich denke, wir hätten gute Freunde werden können. Vielleicht wird das ja noch. Wir können ja in Kontakt bleiben.“ Er meinte das absolut ehrlich.
Für Wendy war das wie ein Schlag ins Gesicht. Er hatte nie etwas anderes gewollt als Freundschaft? Hatte sie seine Bemerkungen so falsch verstanden? Er hatte doch eindeutige Bemerkungen für mehr gemacht. Oder hatte er kalte Füße bekommen und zog jetzt schnell zurück? Manchmal waren Männer einfach nicht zu verstehen.
„Ja, das können wir“, erwiderte sie wie automatisch. Ihr war mit einem Mal so schlecht, sie musste einfach weg hier. Und sie wusste, wie sie sich bei Sanaweys Angebot entscheiden musste.
SECHS
Allmählich verzweifelte Reed in seinem Quartier. Er hatte das Gefühl, als ob ihn die Wände des Quartieres bedrohen würden. Als ob sie auf ihn zu rückten und ihn zerquetschen wollten. Es war zum Wahnsinnig werden. Immerhin hatte selbst so ein Quartier wie seines nur ein paar Quadratmeter. Und auf jeden Fall zu wenig, um darin längere Zeit zu verbringen. Besonders wenn man es musste.
Er saß bereits seit zehn Tagen hier unter Arrest, was er zu Beginn noch relativ locker weggesteckt hatte. Doch allmählich zehrte es doch sehr an seinen Nerven. Es gab hier einfach nichts mehr für ihn zu tun. Alles, was noch ausgestanden hatte, war inzwischen gemacht. Er hatte noch ein paar Filme angeschaut, doch war auch das irgendwann genug. Er hatte ein Buch gelesen und sich bei weitem genug entspannt. Er hatte sogar sein Quartier aufgeräumt und geputzt. Früher wäre das fast schon eine Sensation gewesen, da er in der Vergangenheit in dieser Hinsicht nicht sehr ordentlich gewesen war. Doch seit einem halbem Jahr, seit er Ablenkung von Elane brauchte, war sein Quartier in einem top Zustand. So war ihm auch jetzt, während seines Arrestes, nicht viel geblieben, das er hätte tun können.
Der Captain schien es mit seiner Ankündigung, ihn vor ein Kriegsgericht bringen zu wollen, tatsächlich ernst zu meinen. Anfangs hatte Reed das für eine lächerliche Drohung gehalten, die es nicht einmal wert war, daran einen Gedanken zu verschwenden. Doch je mehr Zeit verging, desto weniger war er sich dessen sicher. Zwar war die ganze Sache noch immer äußerst lächerlich, nur schien außer ihm das niemand so zu sehen.
Das Schlimmste an dieser Isolation war, dass er nichts mitbekam. Niemand informierte ihn, niemand berichtete ihm, was sich gerade tat. Waren sie noch bei den Xindi? Und wenn ja, was war alles geschehen? Bestand noch Frieden oder befanden sie sich schon im Krieg? Das war zwar eher unwahrscheinlich, denn in dem Fall wäre die Lexington
das erste Ziel gewesen, und einen Treffer am Schiff hätte er auf jeden Fall bemerkt. Trotzdem wusste er nicht was los war. Und er wusste nicht, wie lange sich dieser Zustand noch hinziehen würde. Das war extrem frustrierend. So lag er, wie fast jeden Tag, auf seinem Sofa, starrte die Decke an und hing seinen Gedanken nach.
In diese Stille hinein ertönte plötzlich der Türsummer. Im ersten Moment zuckte Reed zusammen, so wenig hatte er damit gerechnet. Seit Tagen war niemand mehr vor seiner Tür gestanden. Warum auch? Er hatte einen Replikator im Quartier, konnte sich also ernähren und auch sonst hatte er alles, was er zum Überleben brauchte. Dass nun jemand zu ihm wollte, kam etwas überraschend. Aber was immer es war, es konnte wohl kaum etwas Gutes sein. So etwas gab es auf diesem Schiff nicht. Daher stand er auch betont langsam auf und ließ sich Zeit damit, zur Tür zu gehen. Soviel, dass der Türmelder nochmals betätigt wurde.
Als sich die Türe öffnete stand Coltrane, die Sicherheitschefin davor. Sie lehnte seine einladende Geste, das Quartier zu betreten, auch sofort ab. Ihrem Blick nach zu urteilen, fühlte sie sich ohnehin etwas unwohl. Sie hatte ganz eindeutig keine guten Nachrichten.
Reed lehnte sich betont gelassen an den Türrahmen und sah sie fragend an. Wenn sie ihm was sagen sollte, dann musste sie schon selbst damit herausrücken. Er würde sie nicht danach fragen.
Ihre Wangenknochen bewegen sich noch ein wenig, dann rückte sie damit heraus. „Sie sollen Ihre Sachen packen. Und zwar alle. In drei Stunden müssen Sie fertig sein. Sie werden das Schiff verlassen.“
Das kam jetzt doch etwas überraschend. Reed sah sie mit großen Augen an. „Wie bitte?“ Er meinte, sich verhört haben zu müssen.
„Sie werden das Schiff verlassen“, wiederholte sie unbehaglich.
„Wo werde ich denn hingehen?“ Das war ja wirklich ein starkes Stück vom Captain. Oder hatten sie die Erde erreicht und er wurde nun ins Sternenflottengefängnis gebracht.
„Das darf ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid“, brachte sie hervor. Ihr Unbehagen wuchs mit jedem weiteren Wort.
„Kommen Sie schon, Coltrane. Das ist nicht richtig. Das kann der Captain nicht machen.“ Er musste sie von diesem Unrecht überzeugen, vielleicht erfuhr er dann wenigstens etwas. Denn der Captain hatte kein Recht, ihn über sein Ziel im Unklaren zu lassen.
Verlegen sah sie sich im Gang um. Außer der Wachte vor Reeds Quartier war niemand sonst hier. Dann sah sie ihn wieder an und senkte die Stimme. „Sie werden an ein anderes Schiff übergeben. Mehr kann ich aber wirklich nicht sagen.“ Und noch bevor er etwas darauf erwidern konnte zog sie sich einen Schritt zurück. „Sie haben drei Stunden“, sagte sie nochmals laut und deutlich, dann wandte sie sich um und ging. Der Sicherheitsoffizier, der vor Reeds Quartier Wache hielt, hinderte ihn daran, ihr hinterherzulaufen.
Seine Gedanken rasten, als sich die Türe hinter ihm wieder schloss. Es war ein Glück, dass er so ordentlich geworden war. Denn nun würden drei Stunden sicherlich reichen. Viel hatte er ohnehin nicht. Und so richtig eingerichtet hatte er sich hier auch nie.
Coltranes Worte gaben zwar nicht viel her, aber immerhin konnte er damit einige Schlussfolgerungen ziehen. So waren sie noch nicht auf der Erde. Doch würde er dieser bald sehr viel schneller näher kommen, als ihm lieb war. Offenbar hatte Captain Cortez einen schnelleren Transport zur Erde organisieren können. Um ihn schneller vor Gericht bringen zu können. Keine besonders guten Aussichten. Andererseits hieß ein neues Schiff auch, dass er die Chance hatte, mit einer neuen Crew besser zurecht zu kommen. Vielleicht würde er dort angehört werden. Wenn man ihn zu Wort kommen ließe. Der Flug zur Erde war zwar nicht lange, aber vielleicht konnte er dort jemanden von seiner Version der Geschichte überzeugen und ein wenig Rückendeckung bekommen. Vielleicht würde dort jemand erkennen, dass man ihm unrecht tat. Zugegeben, das war eine vage Hoffnung, aber es war besser als nichts.
Mit dieser Hoffnung fing er an, seine Habseligkeiten zusammenzupacken.
Pünktlich drei Stunden später kam Holgrem wieder um ihn abzuholen. Wieder in Begleitung zweier Sicherheitsoffiziere. Und auch jetzt war ihr nichts zu entlocken, weshalb Reed schweigend zwischen ihnen ging. Er würde ohnehin gleich erfahren, wo es hinging.
Im Transporterraum wurde er mit knappen Worten von Coltrane verabschiedet. Sonst war niemand anwesend. Was Reed nur Recht war. Er verspürte kein Interesse den Captain oder seinen Vertreter nochmals zu sehen. Dann erfasste ihn der Transporterstrahl und brachte ihn fort.
Vor seinen Augen bildete sich langsam das Bild eines Transporterraumes. Und obwohl er eben noch in einem solchen Raum gestanden hatte, registrierte sein sich wieder zusammensetzendes Gehirn die Unterschiede. Dieser Transporterraum wirkte größer und irgendwie auch freundlicher als der andere. Zwar waren beide weiß gestrichen, doch der Ton der Farbe schien hier angenehmer für das Auge zu sein. Zumindest machte das den Eindruck. Die Konturen zweier anwesender Personen konnte er noch erkennen. Die eine stand hinter der Transporterkonsole, die andere direkt vor der Plattform, als ob sie ihn erwarten würde.
All das registrierte er, obwohl der Beamvorgang selber nur wenige Sekunden andauerte. Als der Transporterstrahl ihn schließlich freigab, erkannte er zu seiner Überraschung Karja in der Person hinter der Transporterkonsole. Und noch mehr erstaunte es ihn, direkt vor sich Sylvia Jackson zu erkennen. Den Abzeichen an ihrer roten Uniform nach zu urteilen, war sie Captain dieses Schiffes. Was es doch für Zufälle im Leben gab. Er sah seine Chancen, hier Unterstützung zu finden, deutlich steigen.
„Captain Jackson“, lächelte er sie freundlich an.
„Mr. Reed“, grüßte sie ihn etwas zurückhaltend, doch nicht unfreundlich. „Willkommen an Bord der Republic
.“
Sein Erstaunen wuchs weiter. „Republic
?“ echote er etwas dümmlich. „Wow, das Schiff hat sich ziemlich verändert. Natürlich nur zum Guten hin.“
Ihr Lächeln wuchs etwas und drückte ihren Stolz aus. „Das kann man wohl sagen.“
Während er die beiden Stufen von der Transporterplattform herunter kam, nickte er Karja freundlich zu. Dann ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Ihm fiel auf, dass kein Sicherheitsoffizier anwesend war. Würde Jackson ihn persönlich in eine Arrestzelle eskortieren? Oder wartete seine Eskorte draußen vor der Türe? Da er es mit seinem erneuten Arrest jedoch nicht besonders eilig hatte, fing er ein unverfängliches Gespräch an.
„Ich sehe hier noch Karja. Wie viele Crewmitglieder der alten Mannschaft haben Sie hier denn noch an Bord?“ wollte er wissen. Sein letzter Stand war, dass sich die Crew in alle Richtungen der Föderation verstreut hatte.
Einen kurzen Moment lang wirkte sie von seiner Frage überrascht, schien sie dann aber richtig einordnen zu können. „Es sind 288 Personen der alten Crew hier.“
Jetzt war es Reed, der das nicht ganz einordnen konnte. „288?“ echote er ungläubig. „Wen haben Sie dafür denn bestochen?“ Er schüttelte noch immer überrascht den Kopf. „Und jetzt sagen Sie mir bestimmt noch, dass die komplette Führungscrew dabei ist.“
Sie warf ihm einen irritierten Blick zu, so als wisse sie nicht, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. „Jetzt, da Sie an Bord sind, ja. Es ist die gesamte Führungscrew des alten Schiffes anwesend. Selbst Admiral Sanawey befindet sich derzeit an Bord.“ Sie sah ihn tadelnd an. „Haben Sie etwa das Begleitschreiben zu Ihrer Versetzungsurkunde nicht gelesen?“
Drake war wie vom Donner gerührt. Für einen Moment konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Er kam weder auf den Gedanken, dass Jackson ihn auf den Arm nehmen wollte, noch dass es vielleicht die Wahrheit sein könnte. Er war einfach nur perplex und starrte sie an, als ob er nicht bis drei zählen könnte. „Versetzungsurkunde?“ brachte er schließlich tonlos hervor.
Jackson sah ihn durch zusammengekniffene Augen heraus an. „Stehen Sie unter dem Einfluss von berauschenden Substanzen?“
Wie automatisch schüttelte er den Kopf. „Sie sind also nicht hier, um mich zur Erde und vor ein Kriegsgericht zu bringen?“ fragte er, ohne auf ihre Frage weiter einzugehen.
„Nein.“ Sie zog die Augenbrauen nach oben. „Die Anklage wurde ausgesetzt.“
Reed konnte kaum glauben, was er da hörte. „Wann?“
„Vor drei Tagen.“ Argwöhnisch zogen sich ihre Augen zusammen. „Hat man Ihnen das nicht gesagt?“
Noch immer überrascht, doch von einem Gefühl unglaublicher Erleichterung durchströmt, schüttelte Reed den Kopf. „Das muss Captain Cortez wohl vergessen haben“, sagte er ironisch.
„Heißt das, Sie standen bis eben noch unter Arrest?“ Jackson konnte das kaum glauben.
Reed nickte und zuckte dann mit den Schultern. Was sollte er dazu sagen? Er hatte ja schon immer gewusst, dass Cortez ein arroganter Idiot war.
„Dazu hatte er kein Recht mehr. Das ist Freiheitsberaubung“, empörte sich Jackson. „Cortez hat seine Befugnisse überschritten und einen direkten Befehl ignoriert.“
„Ja, hat er“, bestätigte Reed schwach. „Aber das ist ja nun vorüber.“
„Sie wollen sich nicht dagegen wehren?“ Jackson wirkte überrascht.
„Es ist ja jetzt vorbei“, wiederholte er nochmals nachsichtig. Er war im Moment viel zu erleichtert, um seinem alten Captain etwas heimzahlen zu wollen. Und im Grunde war er einfach nur froh, dass seine Zeit auf der Lexington
vorüber war. Auch wenn er es noch gar nicht richtig glauben konnte. Da war es ihm jetzt auch egal, dass er unfair behandelt worden war. Nur nicht zurückschauen. Sollten Captain Cortez und die Lexington
doch zur Hölle fahren. Oder sonst wohin. Hauptsache weit weg von ihm. „Was ist geschehen?“ wollte er wissen, bevor Jackson das Thema weiter vertiefen konnte.
„Admiral Sanawey ist vom Föderationsrat beauftrag worden, mit den Xindi zusammen die Katastrophe von Pelek zu untersuchen. Und er hat durchsetzen können, dass dazu die alte Mannschaft wieder zusammengestellt wurde. Als wir Ihre Versetzung beantragt hatten, war von Cortez nur die kurze Information gekommen, dass Sie nicht versetzt werden könnten, da Ihnen das Kriegsgericht bevorstehen würde.“
Reed verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran.
„Wir waren etwas überrascht darüber“, fuhr Jackson mit ihrer Erzählung fort. Während sie weiter berichtete, verließ sie den Transporterraum und ging mit Reed die Gänge entlang. „Wir waren ehrlich gesagt weniger überrascht, dass Sie in Schwierigkeiten steckten. Aber dass es gleich das Kriegsgericht war, kam doch etwas unerwartet.“ Sie sah ihn schief an. „Ich habe daraufhin die Gründe für diese Anklage angefordert, doch Cortez hatte die Herausgabe verweigert. Erst Sanawey war es dann gelungen, die Informationen zu bekommen. Dem Befehl eines Admirals konnte Cortez sich nicht widersetzen.
Die Fakten, auf denen eine Anklage erfolgen sollte, waren geradezu lächerlich. Mit Ihrer Entscheidung, das Außenteam an Bord zurückzuholen, haben Sie Verantwortungsbewusstsein bewiesen und die Lage auch völlig richtig eingeschätzt. Captain Cortez war es, der die Sicherheit seiner Crew aufs Spiel gesetzt hatte. Sanawey hatte das genauso gesehen und die Admiralität davon überzeugt. Das Verfahren ist auf Eis gelegt. Nach dieser Mission soll endgültig darüber entschieden werden. Mit Sicherheit zu Ihren Gunsten. Bis dahin gelten für Sie keinerlei Einschränkungen. Am Ende war Cortez nichts anderes mehr übrig geblieben, als die Versetzung zu akzeptieren. Aber offenbar hatte er bis zum Ende den Vorgesetzten spielen müssen“, schlussfolgerte sie aus Reeds Unkenntnis ob der Versetzung. „Er hat wohl seinen Fehler nicht eingestehen können.“
„Cortez hatte nie einen Fehler eingestehen können“, erwiderte Reed scharf.
Sie waren inzwischen vor einem der Crewquartiere stehengeblieben. „Wie dem auch sei“, sagte Jackson. „Nun sind Sie hier. Ihr Eigentum wurde bereits herübergebeamt und befindet sich schon in Ihrem Quartier.“ Sie deutete auf die Tür, vor der sie standen. „Auf Ihrem Pad finden Sie ein Memo über die aktuelle Mission. Bitte lesen Sie sich das durch und machen Sie sich mit der bevorstehenden Aufgabe vertraut.“
„Ja, Captain“, nickte Reed knapp. Er freute sich darauf, wieder etwas zu tun zu bekommen, nach den vielen Tagen des Nichtstuns. Jetzt aber war er erst einmal gespannt auf sein neues Quartier. Das, was er bisher von diesem Schiff gesehen hatte, war beeindruckend gewesen. Alles wirkte größer und freundlicher. Was vielleicht nur daran lag, dass alles neu war. Aber wenn der Eindruck auch auf sein Quartier zutreffen würde, dann würde er sich sicher pudelwohl fühlen.
Die Türe öffnete sich, aber noch bevor Reed hindurch treten konnte, wandte er sich noch einmal Jackson zu. „Danke“, sagte er aufrichtig. „Dafür, dass Sie, trotz der Anschuldigungen, an mich geglaubt und mich da herausgeholt haben.“
Jackson winkte leichthin ab. „Sie hatten sich bei uns bewährt. Und die Fakten der Lexington hatten für Sie gesprochen. Aber nehmen Sie es nicht zu leicht. Sie stehen jetzt mehr denn je unter Beobachtung. Ich werde Sie genau im Auge behalten.“ Sie sah ihn ernst an, damit er die Botschaft auch ja verstand.
„Natürlich.“ Ein wenig seines Hochgefühls war bei diesen Worten gewichen, auch wenn ihm bewusst war, dass sie so handeln musste. Er konnte sogar Verständnis dafür aufbringen.
„Eins noch“, fiel ihm dann noch stirnrunzelnd ein. „Wenn die komplette Führungscrew wieder an Bord ist, Sie aber Captain sind, wer ist dann der erste Offizier?“
„Wir haben noch keinen. Bis auf weiteres sind laut Rangfolge Sie mein kommissarischer Vertreter“, erklärte sie knapp und sachliche. „Ich sehe Sie bei Ihrem Dienstantritt auf der Brücke.“ Damit wandte sie sich um und ließ ihn stehen.
Nachdenklich betrat Reed das Quartier. War das nun seine Chance zum Commander befördert zu werden? Und wollte er das überhaupt? Eigentlich war er mit seinen Aufgaben und seinem Verantwortungsbereich ganz zufrieden. Und würde Jackson ihn als Vertreter überhaupt wollen? Sie hatten in der Vergangenheit nicht unbedingt das beste Verhältnis zueinander gehabt. Jackson schien immer etwas reserviert ihm gegenüber gewesen zu sein, so als ob sie Vorbehalte gegen ihn hätte.
Diese Überlegungen verschwanden aber ganz plötzlich, als er sich in seinem Quartier umsah. Natürlich wirkte es noch nicht sonderlich wohnlich. Seine Sachen, die hierher gebeamt worden waren, standen quer im Raum. Doch konnten sie den Eindruck des Quartiers nicht schmälern. Es war ein wenig größer, als sein altes. Und im Gegensatz zu dem Quartier, das er auf der Lexington
bekommen hatte, gab es hier ein großes Panoramafenster, das einen Blick auf die Sterne freigab. Im Moment konnte er zusätzlich noch einen Teil der Untertassensektion der Lexington
sehen, die neben der Republic
lag.
Reed hatte das Gefühl, nach Hause zurückzukehren, auch wenn er nie zuvor auf diesem Schiff gewesen war. Aber er fühlte sich auf Anhieb so wohl, dass er noch nicht einmal merkte, dass er seit der Ankunft an Bord nicht einmal an Elane gedacht hatte.
Nachdem Reed an Bord gekommen war, stand der eigentlichen Mission nun kein weiterer Zwischenstopp mehr im Wege. Die Republic
raste daher mit Höchstgeschwindigkeit ihrem Ziel entgegen. An Bord herrschte eine freudige Atmosphäre. Zwar wusste jeder, um was es bei dieser Mission ging und was ein Scheitern zur Konsequenz hätte. Doch zum einen war die Sicherheit des Schiffes dabei nicht unmittelbar gefährdet, auch wenn man sich in ein fremdes Hoheitsgebiet wagte. Dies geschah aber mit Zustimmung der Xindi. Es stand nicht zu erwarten, dass es so gefährlich werden würde, wie die letzten Missionen. Und zum anderen freuten sich alle über das unverhoffte Wiedersehen mit den ehemaligen Kollegen. Niemand hatte ernsthaft geglaubt, dass die alte Crew, die so viel zusammen erlebt hatte, wieder vereint werden würde. Tief in ihrem Inneren hatte sich jeder schon darauf eingestellt, nun neuen Aufgaben nachzugehen und neue Kollegen kennenzulernen. Daher war die Freude umso größer. Und entsprechend ausgelassen war die Stimmung. Was sich auch auf die Moral und den Arbeitseifer übertrug.
Jackson war froh, dass sie bei ihrem Start als Captain eine solche Crew befehligen durfte. Es machte die Arbeit deutlich einfacher. Auch wenn sie bei dieser Mission mehr in die Rolle des ersten Offiziers zurücktrat. Admiral Sanawey hatte den Oberbefehl. Allerdings führte er diesen bisher äußerst rücksichtsvoll aus. So hatte er ihr auch den Bereitschaftsraum überlassen, in dem sie sich gerade befand, und sich bisher kaum auf der Brücke sehen lassen. Sie kommandierte das Schiff und noch gab es auch keinen Grund für ihn einzugreifen, denn noch hatten sie mit der eigentlichen Mission nicht begonnen. Sie führte das Kommando auf dem Schiff und sie war sich sicher, dass ihre Zusammenarbeit mit Sanawey reibungslos funktionieren würde, auch während des Aufenthalts bei den Xindi. Sie hatten schließlich lange genug erfolgreich zusammengearbeitet.
Im Moment ging sie noch einige Personalakten ihrer neuen Crewmitglieder durch. Aufgrund des schnellen und sehr kurzfristigen Aufbruches, war sie noch nicht dazugekommen, sich über alle Personen zu informieren. Denn knapp ein Drittel der Crew war neu an Bord. Die Führungscrew war zwar vollständig und mit vielen Crewmitgliedern würde sie es ohnehin kaum zu tun bekommen, doch empfand sie es als Captain wichtig, wenigstens ein wenig über jeden ihrer etwas mehr als vierhundert Schützlinge zu wissen. Zum einen, weil sie für jeden einzelnen verantwortlich war und zum andern, weil es einfach der Höflichkeit und einer guten Vorgesetzten entsprach. Nur Narren würden sich um ihre Untergebenen keine Gedanken machen.
Zudem versprach das Studium dieser Informationen ein wenig Ablenkung. Denn sie wollte einfach nicht mehr über die möglichen Konsequenzen ihrer Mission nachdenken. Was es für Auswirkungen hätte, wenn sie scheiterten. Oder wenn sie herausfanden, dass es tatsächlich ein Anschlag gewesen war. Von wem auch immer. Da gab es so viele Varianten, was geschehen konnte, welche Auswirkungen das auf die Beziehungen zu den Xindi oder gar noch weiteren Völkern hätte. Und letztlich war alles nur Spekulation, da niemand voraussagen konnte, was sie entdecken würden und wie darauf reagiert wurde. Wahrscheinlich würde es dann sowieso ganz anders kommen, als sie sich im Voraus ausmalte. So wie eben immer.
Nach knapp drei Stunden des Studiums von Personalakten hatte sie das Gefühl, ihr Kopf würde schwirren. Sie benötigte unbedingt eine Pause und Bewegung. Daher beschloss sie, sich ein wenig die Beine zu vertreten und durchs Schiff zu spazieren. Das tat sie derzeit sehr gerne. Es gab für sie zur Zeit nichts Schöneres, als durch das Schiff zu laufen. Sie konnte sich gar nicht daran sattsehen. Aus ihrer Sicht war es nicht einfach nur neu, es war viel mehr. Sie hatte es im Dock langsam wachsen sehen, wie es Stück für Stück zusammengebaut worden war. Wie es sich aus vielen Metallteilen zu einem skelettartigen Gerippe entwickelt hatte und dann nach und nach zu einem vollständigen Schiff. Und nun war es ihres. Es war ihr Schiff und sie hatte vor, dass es möglichst lange so bleiben sollte. Sie musste mit ihm vertraut werden, mit jeder Paneele und jeder Plasmaleitung. Im Ernstfall musste sie wissen, was wo auf dem Schiff passierte oder passieren konnte. Sie musste eins werden mit dem Schiff. Nur so konnte sie spüren, was es brauchte. Nur so konnte sie ein wirklich guter Captain werden.
Während sie gemächlichen Schrittes durch die Gänge lief, begegneten ihr einige Crewmitglieder, die ihrer Arbeit nachgingen oder bereits Dienstschluss hatten und in zivilen Klamotten zu einer Freizeitbeschäftigung gingen. Und sie konnte jeden mit Namen begrüßen, was ein freudiges Lächeln auf die Gesichter ihrer Gegenüber zauberte. Es kam gut an, wenn der Captain die Namen kannte. Nur einmal hatte sie das Problem, das Gesicht keinem Namen zuordnen zu können. Ein schneller Blick auf die Rangabzeichen seiner Uniform hatte ihn als Lieutenant ausgewiesen und mit einem unguten Gefühl hatte sie ihn mit dem Rang gegrüßt. Und natürlich hatte er nicht so erfreut ausgesehen wie die anderen. Er war einfach nur höflich geblieben, was auch absolut in Ordnung war.
Ihr Weg führte sie ganz unbewusst zum Maschinenraum. Das hatte sie zwar nicht geplant gehabt, kam ihr aber auch nicht ungelegen. Die Ingenieure, auf die sie dort traf, gingen ruhig aber konzentriert ihrer Arbeit nach. Die meisten schienen sie nicht einmal zu bemerken, so konzentriert waren sie. Denn noch funktionierte nicht alles an Bord. Dazu war der Aufbruch etwas zu voreilig gewesen. Es waren nur Kleinigkeiten, die weder die Funktionalität beeinträchtigten noch die Lebensqualität. Die meisten Crewmitglieder hatten noch nicht einmal Kenntnis davon genommen, was nicht funktionierte. Doch keines der Systeme an Bord war umsonst und wenn nicht alles einwandfrei funktionierte, konnte das im Krisenfall vielleicht schwerwiegende Folgen haben.
Langsam lief Jackson durch den Maschinenraum auf den Warpkern zu. Er war im Vergleich zum alten Schiff nicht größer geworden. Noch immer durchbrach die senkrecht stehende Säule drei Decks. Aber die Technik darin war weiterentwickelter. Dieser Warpkern war leistungsstärker und lieferte mehr Energie, die das hungrige Schiff auch benötigte. Denn mit jeder Neuentwicklung wurden die Systeme eines Schiffes zwar sparsamer, gleichzeitig wurden es aber auch immer mehr Systeme, so dass der Energiebedarf ständig stieg.
„Captain, ich habe Sie gar nicht erwartet“, kam ihr Wendy Brooks entgegen. Ihr rostroter Lockenkopf leuchtete seltsam bizarr im bläulichen Lift des Warpkerns, welches sich ständig in einer Fließbewegung befand. „Wenn ich gewusst hätte…“
„Das ist keine Inspektion“, unterbrach Jackson ihre Chefingenieurin. „Ich wollte mir nur etwas die Beine vertreten und bin dabei hier gelandet.“ Sie wollte beruhigend klingen, war sich aber nicht ganz sicher, ob sie das geschafft hatte. So hoffte sie, dass sie wenigstens ehrlich klang.
Wendy kam sich für einen Moment etwas seltsam vor. Auf keinen Fall hatte sie den Eindruck vermitteln wollen, als fürchte sie einen Besuch ihres Captains oder als müsse sie etwas vorbereiten und verbergen. Dann aber kam ihr das lächerlich vor. Vor ihr stand schließlich keine Fremde, sondern Sylvia Jackson, eine Person, die sie gut kannte und sogar als Freundin bezeichnen würde. Wieso sollte sie sich jetzt plötzlich anders verhalten, nur weil sie jetzt ihr Captain war?
„Natürlich“, lächelte Wendy daher dann auch aufrichtig. „Schauen Sie sich nur etwas um. Aber halten Sie niemandem von der Arbeit ab.“ In dem Moment, in dem sie es ausgesprochen hatte, hätte sie sich auf die Zunge beißen können. Egal, ob sie Jackson als Freundin sah, so etwas durfte sie nicht sagen. Jackson war nicht Sanawey, zu dem sie ein ganz anderes Verhältnis hatte.
„Ich werde versuchen, daran zu denken“, gab Jackson zurück, allerdings wirkte das bei ihr etwas bemüht. Jackson hatte sich schon immer schwer damit getan, Gefühle zu zeigen. Sie wurde hinter vorgehaltener Hand nicht umsonst als Eisberg bezeichnet. Entsprechend steif wirkte sie, und ihre Bemühungen, etwas lockerer zu wirken, passten da nicht wirklich dazu.
Brooks zwang sich trotzdem ein leichtes Lächeln ab. Dann begab sie sich aber thematisch auf sichereres Terrain. „Wir sind gerade dabei, einige Tests und Simulationen durchzuführen. Soweit das eben möglich ist ohne die entsprechenden Testumgebungen und während eines Einsatzes.“
„Reicht das aus?“ wollte Jackson wissen.
„Es wird reichen müssen.“ Brooks grinste schief. „Natürlich würde ich gerne noch mehr testen. Zumal uns zu den Maschinen noch Erfahrungswerte fehlen. Immerhin sind sie in dieser Form zum ersten Mal im Einsatz.“ Ein Umstand, der auch Jackson bewusst war. Die Republic
war das zweite Schiff der Excelsior-Klasse und das erste mit einem herkömmlichen Antrieb. Während mit der USS Excelsior
bisher erfolglos am Transwarpantrieb herumexperimentiert wurde, hatte man sich beim Bau dieses Schiffes entschieden, wieder einen herkömmlichen Warp-Antrieb einzubauen. Doch auch dieser Antrieb war im Vergleich zu seinen Vorgängerversionen weiterentwickelt worden. Und auch wenn es umfangreiche Tests in den Labors und Maschinenfabriken gegeben hatte, an Bord eines Schiffes, im Dauereinsatz, war er noch nie gewesen. „Ich habe aber ein gutes Gefühl was den Antrieb angeht“, fuhr Brooks fort. „Und sämtliche Tests bisher bestätigen das. Die tatsächliche Feuerprobe wird aber sicherlich erst unter Echtbedingungen stattfinden.“
„Die tatsächliche Leistungsfähigkeit zeigt sich meistens erst während einer echten Krise“, nickte Jackson. „Das kann kein Test vorab ermitteln. Was ist mit den restlichen Systemen?“
„Alles einsatzbereit. Nun ja, fast alles. Die Sternkartographie macht uns immer noch Probleme. Aber ich denke, dass wir das in den nächsten Tagen in den Griff bekommen.“
„Das klingt doch sehr gut.“ Jackson ließ ihren Blick noch einmal durch den Raum schweifen, dann nickte sie Jackson zu. „Ich werde Sie wohl besser wieder arbeiten lassen. Wir sehen uns später.“ Damit verließ sie den Maschinenraum, um sich wieder ihren Personalakten zu widmen. Sie wollte nicht noch jemanden durch ihre Wanderungen aus dem Konzept bringen.
Knapp zwei Stunden war Drake mit der Einrichtung seines Quartiers beschäftigt, als ihm der Computer einen Termin meldete. Er sollte sich zu einer Kontrolluntersuchung auf der Krankenstation melden. Ein Standardverfahren, wenn man auf ein anderes Schiff wechselte. Zwar wurden die medizinischen Daten übermittelt, doch wollte jeder Arzt seine neuen Schützlinge mit eigenen Augen in Betracht nehmen. Das gehörte selbstverständlich zum guten Grundton. Außerdem diente es dazu, eine Beziehung zwischen Arzt und Patient herzustellen. Es war für keine der beiden Seiten angenehm, wenn die erste Begegnung im Ernstfall stattfand.
Natürlich war es hier etwas anders. Drake brauchte seinen Arzt nicht erst kennenlernen. Elizabeth Williams war an Bord der alten Republic
schon Chefärztin gewesen. Außerdem kannte er sie schon seit Jahren. Immerhin waren sie einmal ein halbes Jahr lang ein Paar gewesen. Was allerdings schon Jahre zurück lag. Und während ihrer gemeinsamen Zeit auf der Republic
hatte sich zwischen ihnen eine Freundschaft entwickelt, die er auf keinen Fall mehr missen wollte. Er wusste, er konnte ihr grenzenlos vertrauen. Daher freute er sich jetzt auch richtig darauf, sie wieder zu sehen.
Er ließ sein Quartier in dem leicht chaotischen Zustand zurück, in dem es jetzt war und ging gut gelaunt in Richtung Krankenstation. Als sich die Tür der Krankenstation öffnete und er eintrat, sah Elizabeth von einem medizinischen Gerät auf, an dem sie gerade gearbeitet hatte. Als ihr Blick auf ihn fiel, fing sie an zu strahlen.
„Hallo Drake“, begrüßte sie ihn und kam auf ihn zu.
Ihm blieb kaum genug Zeit ihre Begrüßung zu erwidern, denn sie drückte ihn sofort herzend an sich. Eine Begrüßung, die ihm nach den Erlebnissen der letzten Monate gut tat. So legte er seine Arme um sie, schloss seine Augen und genoss einfach nur ihre Nähe. Der süße Geruch ihres Haares stieg ihm in die Nase. Diese Umarmung war Balsam für seine Seele. Doch leider löste sie sich nach kurzem wieder von ihm und ihm war, als ob er für einige Augenblicke weit weg gewesen wäre und nun in die Realität zurückgeworfen wurde.
Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn kritisch an. „Du siehst nicht besonders gut aus“, stellte sie besorgt fest.
„Das ist ja auch kein Wunder. Die Zeit auf der Lexington
war nicht gerade die beste Zeit meines Lebens“, erklärte er flapsig.
„Laut den übermittelten medizinischen Daten bist du aber in Topform.“ Sie sah auf einen kleinen Bildschirm und runzelte die Stirn. Dann entspannten sich ihre Gesichtszüge und stattdessen erschien ein verschmitztes Lächeln. „Oder hast du die Ärztin auf der Lexington
etwa verführt und damit den Bericht beeinflusst?“
Reed verzog bei dem Gedanken an die verhärmte Chefärztin das Gesicht. Zum einen hätte sie gut und gerne seine Mutter sein können, zum anderen entsprach sie eher den Vorstellung einer Märchenhexe denn einer attraktiven Frau. „Nein, meine Werte sind tatsächlich so gut“, überging er ihre Bemerkung einfach. „Zumindest waren sie das bei der letzten Untersuchung. Die letzten zwei Wochen dürften sich da eher negativ ausgewirkt haben.“
„Ach ja. Dein Arrest“, murmelte sie vielsagend, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Reed fragte sich insgeheim, ob sie das aus ihren Unterlagen heraus wusste, oder ob das an Bord des Schiffes schon seine Runde machte und jeder darüber Bescheid wusste. Er wagte jedoch nicht, diese Frage laut zu stellen. Es war besser, wenn er nicht wusste, ob sein jeweiliger Gesprächspartner über seinen Arrest informiert war. Lieber wollte er weiter glauben, keiner wüsste davon. Um am besten sollten ihn auch alle in dem Glauben lassen. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte er dieses Ereignis genutzt, um eine riesen Geschichte daraus zu machen und um damit die Frauenwelt zu beeindrucken. Doch schien das eine gefühlte Ewigkeit her zu sein und er hatte nicht einmal ganz kurz eine solche Möglichkeit auch nur in Erwägung gezogen.
„Dann ist es ja gut, dass du jetzt wieder unter meine Fittiche kommst“, neckte sie ihn, nachdem er schweigend auf der Liege gesessen hatte.
„Ja“, sagte er einfach, da er auch nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Dann sah er sie wieder direkt an und lächelte. „Ja, das ist wirklich gut. Schön, dass du wieder da bist. Denn dich hatte man ja kaum erreichen können.“
Williams lächelte schuldbewusst. „Ich hatte eine Auszeit gebraucht. Da war es etwas schwieriger gewesen, Nachrichten abzurufen und zu empfangen.“
„Und wäre deinem Ziel auch nicht dienlich gewesen“, ergänzte er und wirkte verständnisvoller als er sich dabei fühlte. Er hätte doch auch ihre Stütze benötigt. Aber vermutlich war das ein wenig zu egoistisch gedacht. „Und? Hat es dir geholfen? Wo genau warst du eigentlich?“
„Ich war im tibetischen Hochland. Einer der wenigen Regionen der Erde, die technisch noch nicht vollkommen erschlossen ist“, erklärte Elizabeth und ihre Augen begannen dabei zu leuchten. „Wusstest du, dass es dort noch immer einige Dörfer gibt, in denen es nicht einmal Elektrizität gibt?“
Reed sah sie skeptisch an. „Und das gefällt dir?“
„Naja, für einige Zeit schon. Auf Dauer wäre das nichts“, gab sie zu.
„Geht den Bewohnern dort sicher auch so. Wahrscheinlich wird das dort nur für die Touristen durchgezogen. Die haben dort sicher in ihren Kellern die Stromgeneratoren stehen, die sie anwerfen, wenn die Touristen fort sind“, flachste Reed.
Sie sah ihn durch zusammengekniffene Augen streng an.
„Entschuldige“, murmelte er daraufhin schuldbewusst. Auf keinen Fall hatte er sie verärgern wollen. Daher sah er sie auch auffordernd an, mit ihrer Erzählung fortzufahren.
Sie schien noch ein wenig schmollen zu wollen, doch dann hellte sich ihre Miene wieder auf. „Wenn man von der Welt und der Hektik der heutigen Zeit mal genug hat, dann ist das genau das Richtige. Dort reduziert sich alles auf das Wesentliche, nämlich auf die anwesenden Personen und das Zusammenleben. Das Zwischenmenschliche und das Miteinander.“ Sein kritischer Gesichtsausdruck ließ sie innehalten. „Verstehst du was ich meine?“
Langsam nickte er mit dem Kopf. „Ja, ich glaube schon“, sagte er dann, obwohl er sich nicht sicher war. Seine Frage, ob sie dort auch bewusstseinserweiternde Rauschmittel genommen hatte, verkniff er sich lieber. Das hätte sie wohl wirklich verärgert.
„Welche hochtrabenden Pläne wir auch haben, was auch immer wir für unsere Zukunft alles entscheiden, es spielt keine Rolle, wenn wir dabei unsere Mitmenschen vergessen“, fuhr sie fort. „Denn letztlich kann unser Leben jederzeit vorbei sein. Und der Wert unseres Lebens lässt sich nicht am Erfolg bemessen, sondern nur an der Anzahl der Personen, die wir im Laufe unseres Lebens glücklich gemacht haben.“ Sie schaute in seine Richtung, doch schien ihr Blick weit in die Ferne zu gehen.
„Du warst auch bei den tibetischen Mönchen, oder?“ fragte er sanft.
Ihr Blick kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Sie lächelte fast schon entschuldigend. „Ja, das ist richtig. Ich dachte, sie könnten mir vielleicht zu einem besseren Verständnis der Welt, des Universums und dessen Verlauf verhelfen“, sagte sie und wirkte dabei plötzlich klein und verletzlich.
Reed sprang von der Liege und trat neben sie. Sanft legte er seine Hand auf ihren Oberarm. „Was ist passiert?“ Ihre Worte hatten ihn zutiefst besorgt. Dass sie etwas beschäftigte, das hatte er schon damals, nach der Rückkehr zur Erde bemerkt. Doch sie hatte nicht darüber gesprochen und es tapfer überspielt. Und er war viel zu beschäftigt mit sich selbst gewesen, als dass er sie danach gefragt hätte. Als er dann auf der Lexington
war, hatte er erfahren, dass Elizabeth auf unbestimmte Zeit ihren Dienst bei der Flotte ausgesetzt hatte. Doch da war er schon weit weg gewesen und konnte sie kaum noch erreichen. Und selbst bei ihren wenigen Kontakten hatte sie nie darüber gesprochen, was sie so beschäftigte.
Sie blickte zu ihm auf und sah in seine Augen. Dort konnte sie nur ehrliche Besorgnis erkennen. Wie sehr er sich doch verändert hatte, schoss es ihr durch den Kopf. Früher hätte er sich nie solche Sorgen um andere gemacht, höchstens um sich selbst. Sie wusste, andere würden ihre Ängste vielleicht nicht ganz so ernst nehmen, sie wusste aber auch, Drake würde sie ernst nehmen.
„Wir haben gesehen, wie leicht es ist, den Ablauf der Geschichte zu ändern“, spielte sie auf den letzten Versuch der Xindi an, die Erde zu vernichten. „Wie leicht es ist, ganze Völker nicht nur zu töten, sondern deren Existenz aus der Geschichte zu löschen. So, als ob es sie nie gegeben hätte. Welchen Sinn macht das Leben dann noch, wenn all unser Tun, all unser Handeln, so einfach getilgt werden kann, als ob es nie stattgefunden hätte? Wenn nicht einmal bereits erreichtes, längst Vergangenes, noch sicheren Bestand hat. Und wenn, wie in unserem Fall, nur der Zufall dafür sorgt, dass wir es wieder richtigstellen konnten.“ Sie sah ihm noch immer intensiv in die Augen. „Wie kann ich wissen, dass unsere Zeitlinie die richtige ist? Dass wir vor einigen Augenblicken auch schon existiert hatten und es in den nächsten Sekunden auch noch werden? Dass niemand genau jetzt die Zeitlinie manipuliert?“
Etwas überfordert runzelte Reed die Stirn. „Das sind ziemlich viele Fragen.“ Auf die er keine Antwort hatte. Er hatte bisher noch nicht einmal über so etwas nachgedacht.
„Ja, das sind es“, nickte sie und wandte ihren Blick ab.
„Konntest du in Tibet Antworten finden?“
Sie schien einen Moment darüber nachdenken zu müssen. „Ja und nein“, sagte sie dann. „Es gibt keine Antworten darauf. Aber es gibt eine Möglichkeit damit umzugehen. Ich habe gelernt, dass es unnötig ist, sich um Dinge, die wir nicht beeinflussen können, Sorgen zu machen. Denn ob wir uns sorgen oder nicht wird in solchen Fällen nicht das Geringste ändern. Wir können nur immer unser Bestes geben und unser Leben so leben, wie wir es für richtig halten. Und den Glauben daran behalten, dass im Universum alles so läuft, wie es laufen soll. Alles andere liegt nicht in unserer Macht.“
„Wow.“ Reed zog die Augenbrauen nach oben. „Bis auf die Sache mit dem Glauben hätte das auch von den Vulkaniern kommen können.“
Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Es ist eine Lebenseinstellung. Und ich denke, ich habe sie mir zu Eigen gemacht.“
„Und das hilft dir?“ Er klang wieder skeptisch noch ironisch. Er schien es zu akzeptieren, wenn es ihr half.
Ihr Lächeln wuchs. „Definitiv, ja. Es wäre sicher besser gewesen, wenn ich noch etwas mehr Zeit für diese Erkenntnisse gehabt hätte, aber es wird schon gehen.“
„Du bist aber nicht zum Hinduismus übergetreten?“
„Buddhismus“, korrigierte sie ihn. „Und nein, soweit ist es nicht gegangen. Trotzdem bin ich froh, dass ich dort gewesen war. Ich kann es nur jedem empfehlen, um ein wenig innere Klarheit zu bekommen. Könnte dir sicher auch nicht schaden. Du hast schließlich auch schon einiges aus deinem Leben zu verarbeiten.“ Sie zwinkerte ihn schelmisch an. „Wie geht es dir denn? Deine letzte Nachricht hat auch nicht gerade positiv geklungen.“
Er seufzte, als sie ihn damit wieder an Elane erinnerte. Zwar hatte er bis eben nicht an sie denken müssen, doch hatte er damit bestimmt nicht erwartet, sie jetzt plötzlich überwunden zu haben. Und da er nicht wusste, wie viel Elizabeth während ihres Selbstfindungstrips von seinen Nachrichten erhalten hatte, fing er einfach von vorne an. Er erzählte ihr alles, was seit seiner Versetzung auf die Lexington geschehen war. Von den relativ regelmäßigen Kontakten mit Elane, die allerdings nur auf den Austausch von Videonachrichten beschränkt gewesen waren. Und natürlich von seinen widersprüchlichen Gefühlen dabei. Wie ihm das alles zu schaffen machte, wie der stetige Wechsel zwischen Hoffnung und Ernüchterung ihn zermürbte und er selbst nicht mehr wusste, was er eigentlich wollte. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob er Elizabeth seine Gefühle richtig beschreiben konnte. Verstand sie überhaupt, warum ihn das so beschäftigte? Konnte man das überhaupt verstehen?
Nachdem er der Meinung war, alles erzählt zu haben, sah sie ihn mit leicht schief gelegtem Kopf nachdenklich an. „Das ist wirklich eine verzwickte Situation. In so einer Lage ist es immer schlecht, wenn das Herz nicht auf den Verstand hören will.“
„Wie wahr“, seufzte Reed frustriert, obwohl er nicht wusste, ob er mit seinem Verstand besser fahren würde. „In der letzten Nachricht hat sie mir am Ende sogar noch einen Kuss zugeworfen. Nur um sich danach wieder nicht mehr zu melden. Warum macht sie so etwas?“
Elizabeth sah ihn für einen Moment an, als wolle sie ihn darauf hinweisen, dass er doch am besten wissen müsste, warum ein Mensch mit den Gefühlen anderer spielte. Stattdessen sagte sie aber: „Ich würde in so ein Küsschen in einer Nachricht nicht allzu viel hinein interpretieren. Es gibt Menschen, die mit so etwas um sich werfen, ohne darin eine tiefere Bedeutung zu sehen.“ Sie machte eine Pause und kniff ein wenig die Augen zusammen. „Geht es dir eigentlich dabei noch um Elane? Oder projektierst du deine Wünsche und Sehnsüchte inzwischen nur noch auf sie?“
Etwas verständnislos sah Drake sie an. Er wusste nicht, was sie meinte.
„Eure Beziehung ist nun schon Monate her. Und so eine Zeitspanne verändert die Erinnerungen, vor allem wenn solche Gefühle damit verbunden sind wie bei dir. Du siehst eure Zeit inzwischen in einem ganz anderen Licht und so mit den Wünschen von dir vermischt, dass es ohnehin nur schief ginge, wenn ihr zwei wieder zusammen kämt. Sie könnte deinen Vorstellungen ohnehin nicht mehr gerecht werden, so wie du sie inzwischen gedanklich aufgebauscht hast. Ich denke, dir geht es auch nicht mehr so sehr um Elane, sondern vielmehr um eine Person, die deine Liebe so erwiderte, wie du sie ihr entgegenbringst.“
Erstaunt sah er sie an. Und wieder brachte er nur ein „Wow“ über die Lippen, weil er nicht wusste, was er sonst dazu sagen sollte. „Glaubst du das wirklich?“
„Ja, das tue ich“, nickte sie. „Ein wenig Psychologie war auch in meinem Studium dabei. Denk einfach mal drüber nach. Und falls du mir nicht glaubst kannst du ja nochmal mit Mira Bozman sprechen. Sie wird dir das sicherlich bestätigen. Vielleicht mit etwas blumigeren Worten und etwas ausführlicher, aber inhaltlich das Gleiche.“
Reed verzog das Gesicht. Er legte es nicht unbedingt darauf an, mit der Bordpsychologin zu sprechen. Auch wenn sie eine nette Person zu sein schien. Doch war es ihm ohnehin schon unangenehm, wenn eine fremde Person ihn analysierte. Und wenn diese Person auch noch jünger war als er, dann konnte er nicht offen reden. Und bei diesem Thema schon gar nicht.
„Denk einfach mal drüber nach“, wiederholte Williams, nachdem er nichts sagte. „Und noch was, auch wenn’s ein ziemlich abgedroschener Spruch ist: Andere Mütter haben auch hübsche Töchter. Da ist was Wahres dran.“
Amüsiert sah Reed auf. „Ja, zweifellos“, lächelte er. Aufgrund seiner Vergangenheit gab es wohl kaum jemanden, der das besser beurteilen konnte als er.
„Na schön“, nickte die Ärztin und wandte sich kurz ihrem Computer zu. „Ich habe gleich das nächste Crewmitglied hier. Deine Untersuchung werde ich ausnahmsweise als erledigt betrachten. Das nächste Mal kommst du mir aber so nicht davon.“ Sie drohte ihm mit erhobenem Zeigefinger.
„Das werden wir ja dann sehen“, erwiderte er vielsagen.
Bevor er sich verabschieden konnte, sah Williams ihn wieder an. „Drake…“ begann sie zögernd, brach dann aber wieder ab. Sie schien mit sich selbst zu ringen, ob sie ihm sagen sollte, was sie auf der Zunge hatte. „Was weißt du eigentlich über Elanes Privatleben? Hat sie dir in letzter Zeit davon erzählt?“
Reed hatte das Gefühl, sein Herz müsse einen Schlag aussetzen. Das klang nicht gut. „Nicht viel“, musste er aber zu seiner Schande zugeben. Sie hatte sich in ihren Nachrichten immer um persönliches herumgedrückt. Und er hatte vielleicht nicht hartnäckig genug nachgefragt. „Wieso?“
„Bevor wir abgeflogen sind, habe ich mich über Elane schlau gemacht. Aufgrund deiner Nachrichten dachte ich, das könne sinnvoll sein. Ich kenne ein paar Leute auf der USS Endeavour
. Mit denen habe ich gesprochen und sie haben mir gesagt, Elane hat seit knapp vier Wochen einen Freund. Ich denke, das solltest du wissen.“
Reed sah sie an, als sei sein Gehirn nicht in der Lage diese Information zu verarbeiten. Vielleicht weigerte sich sein Unterbewusstsein, diese Worte wahr zu nehmen, als eine gewisse Art von Selbstschutz. Tatsächlich versuchte er aber das gedanklich irgendwie einzuordnen. Vier Wochen! In dieser Zeit hatte sie sich dreimal bei ihm gemeldet. Das aber hatte sie nie erwähnt. Stattdessen hatte sie ihm beim letzten Mal noch einen Kuss zugeworfen. Und bei Freunden machte man das doch nicht, egal was Elizabeth sagte. Er hatte Williams in seinen Nachrichten schließlich auch niemals einen Kuss übermittelt. Und sie ihm auch nicht. Das alles passte für ihn nicht zusammen. „Bist du dir sicher?“ wollte er schließlich tonlos wissen.
Sie seufzte. Es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr ihn das traf und jetzt fühlte sie sich schuldig, da sie es ihm gesagt hatte. Doch irgendwann hätte er es ja erfahren müssen. „Ich habe das von drei Personen bestätigt bekommen. Ich glaube ihnen.“ Sie sah ihn besorgt an. „Sie hat nie etwas davon erwähnt, nicht wahr?“
„Nein.“ Er lächelte humorlos. „Aber das muss sie auch nicht. Wir sind schließlich nicht mehr zusammen. Nur Freunde. Da muss man sich nicht alles erzählen.“
Verständnislos schüttelte Elizabeth den Kopf. „Wenn es eine richtige Freundschaft ist, dann gibt es aber auch keinen Grund so etwas zu verheimlichen. Und ich vermute, sie weiß ganz genau, was in dir vorgeht. Dann hätte sie so rücksichtsvoll sein können und dir die Wahrheit sagen müssen. Wie kannst du sie noch verteidigen?“
Hilflos hob er die Schultern.
„Weiß sie, dass du auf die Republic
versetzt worden bist?“
Wieder zuckte er nur mit den Schultern. „Ich habe es ihr nicht gesagt. Dazu gab es noch keine Gelegenheit.“ Er hatte es bis vor wenigen Stunden ja selbst noch nicht gewusst.
„Nun, wenn sie es nicht weiß, kann sie sich auch nicht mehr melden. Dann wärst du sie los und könntest dein Leben wieder in die Hand nehmen“, versuchte sie ihn aufzumuntern.
„Ja“, sagte er schlicht. Dann wandte er sich in Richtung Tür. „Wir sehen uns“, murmelte er und ging.
Sie sah ihm nach wie er davon schlich. Sie wünschte sich, ihm irgendwie helfen zu können. Doch sie wusste auch, außer für ihn da zu sein konnte sie nicht viel tun. Da musste er alleine durch.
Gerade als Sanawey die Brücke betrat, hörte er wie Jackson den Befehl gab, irgendetwas auf den Bildschirm zu legen. Im nächsten Augenblick sah er, wie auf dem Bildschirm ein sandgelber Planet sichtbar wurde, der um eine helle Sonne kreiste. Es gab von hier aus keine blauen Stellen zu sehen, was auf eine sehr trockene Welt hinwies. Insgesamt wirkte der Ort wenig einladend und doch, so wusste er, lag hier ihr Ziel.
Er war vor wenigen Minuten darüber informiert worden, dass sie den Planeten Pelek erreichten, den Planeten, auf dem die Konferenz und die Katastrophe der Explosion stattgefunden hatten. Und das hieße, dass nun seine Aufgabe beginnen würde. Bisher war er mehr Gast auf diesem Schiff gewesen, zumindest hatte er sich so gefühlt. Er hatte die Zeit damit verbracht, sich dieses wunderbare neue Schiff anzuschauen und sich auf diese Mission vorzubereiten, so gut es unter diesen Voraussetzungen eben möglich war. Und er hatte versucht, so wenig wie möglich aufzufallen. Denn das letzte was er wollte, war, es Jackson schwerer zu machen, weil die Leute möglicherweise vergaßen, wer das Schiff befehligte, wenn sie ihren alten Kommandanten sahen. Nun aber musste er zur Kommandobrücke kommen, um die Ankunft mitzuerleben. Von jetzt an wollte er nichts mehr verpassen. Alles konnte wichtig sein und zum Erfolg der Mission beitragen.
„Captain, wir bekommen eine Eskorte“, meldete Reed gerade von seiner Station aus. „Drei Xindi-Schiffe sind auf Abfangkurs. Sie haben eine Meldung übermittelt, wonach sie uns den restlichen Weg bis in eine Umlaufbahn begleiten werden.“ Er wandte sich Jackson zu. „Es sind zwei reptilianische Kriegsschiffe und eines der Insektoiden.“ Sein Tonfall machte deutlich, dass er darin keine Eskorte sah, sondern eine Bewachung der Republic
. Eine durchaus berechtigte Einschätzung.
„Danke, Mr. Reed. Wir werden die Eskorte dankend annehmen.“ Ihr Tonfall wies einen leichten Sarkasmus auf. Ganz eindeutig teilte sie Reeds Einschätzung in Bezug auf die Eskorte. Dann sah sie Sanawey an. „Admiral, willkommen auf der Brücke.“ Sie machte Anstalten, aufzustehen und ihm Platz zu machen, doch er winkte mit einer knappen Geste ab. Es gab keinen Grund, weshalb er jetzt das Kommando übernehmen sollte. Das würde er ohnehin nur tun, wenn es die Situation erforderte. Im Moment beschränkte er sich auf den Hintergrund und auf Beobachtungen.
Sie nickte ebenso knapp und konzentrierte sich dann wieder auf die aktuellen Geschehnisse.
Ihre Begleitschiffe nahmen gleichmäßig verteilt um das Schiff herum ihre Stellungen ein und dann ging der Weg gemeinsam weiter. Sie hatten noch einige tausend Kilometer vor sich, bis sie eine geostationäre Umlaufbahn erreichten. Kein weiter Weg und nach wenigen Minuten hatten sie ihn zurückgelegt. Die Eskortschiffe zogen aber danach nicht ab. Stattdessen nahmen sie seitlich und über der Republic
eine neue Position ein, während sich unter der Republic
der Planet befand. Ganz eindeutig wollten die Xindi ihre Gäste im Auge behalten und bei Bedarf die Bewegungsfreiheit des Föderationsschiffes einschränken.
„Das habe ich mir ja fast gedacht“, murmelte Jackson leise. Sie war nicht sonderlich begeistert darüber, musste sich aber insgeheim eingestehen, sie hätte es nicht anders gemacht. Und da sie keinerlei Aktionen geplant hatten, um die Xindi zu hintergehen, war es ihr auch beinahe gleich, ob die Xindi sie eingekreist hatten oder nicht. Aber eben nur beinahe. Denn wer wusste schon, was sie im Schilde führten. „Mr. Reed, behalten Sie die Xindi genau im Auge. Im Notfall müssen Sie sofort und vielleicht auch ohne ausdrücklichen Befehl die Schilde aktivieren.“
„Erwarten Sie einen Angriff?“ fragte er etwas überrascht.
„Nein, aber man kann ja nie wissen. Und unsere Kenntnisse über die Xindi sind zu gering, als dass wir ihre Motivationen vorhersagen könnten.“
Verständnisvoll nickte Reed, auch wenn er hoffte, die Vorsichtsmaßnahme würde sich als überflüssig erweisen. „Ich werde die Augen offen halten“, sagte er dann und versuchte es positiv zu sehen. So hatte er eine Aufgabe, auf die er sich konzentrieren konnte, während sie um den Planeten kreisten.
Jackson wandte sich in ihrem Kommandosessel um und sah ihren ehemaligen Kommandanten an. „Wir sind am Ziel angekommen. Nun sind Sie am Zug.“ Sie schien ihn nicht um seine Aufgabe zu beneiden.
Sanawey nickte konzentriert und trat einen Schritt vor. Er musste gedanklich erst einmal sortieren, was es nun zu tun galt. Denn da die Xindi ihn angefordert hatten, gemeinsam die Untersuchungen durchzuführen, hatte er damit gerechnet, dass sie hier in irgendeiner Weise empfangen werden würden. Nicht nur von einer Eskorte, sondern von einer Nachricht oder gar einer persönlichen Begrüßung durch eine Person, am besten durch Droga selbst. Doch das schien nicht zu passieren. Damit lief es etwas anders als geplant.
Die Instrumente auf der Brücke summten leise vor sich hin und alle Anwesenden warteten auf seine nächsten Befehle. Das war er gar nicht mehr gewohnt. Im letzten halben Jahr hinter seinem Schreibtisch hatte er Befehle erteilt, die nicht mehr unmittelbar umgesetzt wurden, sondern erst in die Befehlskette eingebracht werden musste. Wie schnell man sich doch an diese andere und etwas langsamere Gangart gewöhnte. Hier nun musste er die Initiative ergreifen und das sofort.
Entschlossen trat er bis neben den Kommandosessel. „Mr. Reed, rufen Sie die Xindi. Teilen Sie Ihnen mit, dass wir angekommen und bereit sind, mit den Untersuchungen zu beginnen“, befahl er mit ruhigem, aber kräftigem Ton.
„Aye, Sir“, kam die Bestätigung und es war, als sei damit der Bann auf der Brücke gebrochen.
Dann wandte Sanawey sich an die Wissenschaftsstation. „Mr. Sohral, scannen Sie das Gebiet unter uns. Wenn ich es richtig gesehen habe, dann befindet sich dort unten das zerstörte Gelände, das wir untersuchen sollen.“
„Das ist richtig“, bestätigte der Vulkanier und präzisierte sofort: „Allerdings befinden wir uns nicht unmittelbar über dem zerstörten Ort. Die Abweichung beträgt 5,43 Grad.“
Sanawey musste ein Lächeln unterdrücken, was seine Mundwinkel trotzdem kurz zucken ließ. Es war fast schon ein nostalgisches Gefühl hier zu stehen, die Befehle zu erteilen und die typischen Reaktionen der Crew zu erleben. Doch war er nicht hier, um in Erinnerungen zu schwelgen. „Eine Abweichung von 5,43 Grad wird die Sensorenwerte nicht gerade drastisch beeinflussen“, erwiderte er daher ein wenig lapidar.
„Die Abweichungen liegen in einem tolerierbaren Rahmen“, gab Sohral ihm denn auch recht.
Sanawey ging nicht weiter darauf ein, sondern wandte sich direkt dem andorianischen Sicherheitschef zu. „Mr. Zien, halten Sie Ihre Leute in Alarmbereitschaft. Wir können jederzeit ein Sicherheitsteam benötigen, um auf den Planeten oder zu den Xindi oder sonst wohin zu gehen.“
Der Andorianer nickte knapp, wobei seine Antennen diese Bewegung zu verdeutlichen schienen.
„Mr. Tworek, Sie errechnen mit Computersimulationen den besten Fluchtweg, um ohne größere Schäden unserer Eskorte entkommen zu können“, war er mit seinen Befehlen noch nicht am Ende. „Falls die Dinge hier nicht so gut laufen, sollten wir vorbereitet sein.“
„Aye, Sir“, nickte der Halbvulkanier knapp und machte sich sofort an die Arbeit.
So waren erst einmal alle auf der Brücke beschäftigt und niemandem würden aufgrund von Untätigkeit die Nerven blank liegen.
Er sah zu Jackson, die ihm anerkennend zunickte. Sie wusste nicht, ob sie ähnlich reagiert hätte. Vermutlich schon, sicher war sie sich dessen aber nicht. Ohne Aufsehen zu erregen stand sie auf und bot Sanawey den Kommandosessel an. Immerhin hatte er das Oberkommando über diese Mission und für den Captain des Schiffes gab es jetzt nicht mehr viel zu tun.
Diesmal nahm Sanawey das Angebot an und setzte sich in den Kommandosessel, während Jackson an seine Seite trat. Es war ein tolles Gefühl in diesem Stuhl zu sitzen. Das war es immer gewesen, doch merkte man das irgendwann nicht mehr, wenn die Routine einsetzte. Doch mit einem halben Jahr Abstand war es wieder da, das unbeschreibliche Gefühl, das ganze Raumschiff hier konzentriert zu spüren, im Zentrum der Schaltzentrale, als das absolute Zentrum. Fast war er versucht, um eine Degradierung zu bitten und wieder die Republic
zugeteilt zu bekommen. Doch wusste er, dass das ein kindischer Gedanke war.
So hatten sie den vorübergehenden Kommandowechsel durchgezogen, ohne viel Aufsehen zu erregen.
Als Reed sich schließlich umwandte, war ihm nicht anzusehen, ob er den Wechsel bemerkte, oder was er dabei dachte. „Sir, wir haben einen Kontakt zu den Xindi herstellen können. Mr. Droga hat uns bereits erwartet und ist nun in der Leitung.“
Im Hintergrund zog Sohral ob dieser Wortwahl stumm die rechte Augenbraue hoch. Es war wohl kaum anzunehmen, dass eine Person in einer Leitung war. Schon gar nicht in einer, die nur aus übermittelter Energie bestand. Doch er korrigierte Reed auch nicht. Der Admiral schien ihn verstanden zu haben, nur darauf kam es an.
„Auf den Schirm“, befahl Sanawey denn auch sofort.
Auf dem Hauptbildschirm des Schiffes erschien ein Xindi, der starke Ähnlichkeit mit einem Menschen aufwies. Zumindest auf den ersten Blick. Allerdings war seinem Gesicht anzusehen, dass er einer anderen Spezies entstammte. Die Ähnlichkeit lag nur daran, dass er der humanoiden Xindi-Rasse angehörte. Und offenbar schien es ein Naturgesetz zu sein, dass intelligente humanoide Wesen einander ähnlich waren. Aber das traf schließlich nicht nur auf menschenähnliche Wesen zu. Auch intelligente Reptilien waren auf den ersten Blick einander ähnlich, auch wenn sie sich unabhängig voneinander auf verschiedenen Planeten entwickelt hatten.
Der Xindi kam Sanawey bekannt vor. Immerhin hatte er auch schon mit ihm gesprochen. Das Gespräch hatte damals zwar nur knappe dreißig Minuten gedauert und war auch schon ein halbes Jahr her, trotzdem hatte Sanawey dieses Gesicht nicht vergessen. Und da ihm bereits angekündigt worden war, mit wem er sprechen würde, erkannte er Droga auch sofort wieder. Allerdings wirkte der Xindi müde und abgespannt.
„Mr. Droga. Es ist schön Sie wiederzusehen“, grüßte er den Xindi freundlich.
„Admiral Sanawey. Willkommen. Die Freude ist ganz auf meiner Seite, auch wenn die Umstände unseres Wiedersehens nicht gerade erfreulich sind“, erwiderte Droga ebenso freundlich. Allerdings trug seine Stimme dieselbe Erschöpfung, die auch schon sein Gesicht widerspiegelte. Irgendetwas in den letzten Tagen schien ihn sehr viel Kraft gekostet zu haben.
„Ja, ein furchtbares Ereignis, das unsere beiden Völker getroffen hat“, nickte Sanawey diplomatisch. „Haben Sie bereits neue Erkenntnisse zum Hergang der Ereignisse?“
Etwas frustriert schüttelte Droga den Kopf. „Wir haben die letzten Tage so viele Messungen wie möglich durchgeführt. Um möglichst alle Details zu erfassen. Aber noch haben wir daraus keinen Tathergang rekonstruieren können. Es scheint fast so, als ob jede Antwort noch mehr Fragen aufwirft. Das einzige, was wir bisher sicher sagen können ist, dass es eine fatale Kettenreaktion einer Materie-Antimaterieverschmelzung gegeben hat. Nur wissen wir noch nicht, woher die Antimaterie gekommen ist. Laut den Aufzeichnungen der Kolonie gab es hier keine Antimaterie. Die Kolonie bezog ihre Energie aus Sonnenkollektoren, die bei der Sonnenintensität hier äußerst effektiv und wesentlich leichter zu steuern und zu überwachen sind als eine komplizierte Materie-Antimaterie-Mischung. Wir hatten gehofft, etwas über die Herkunft der Antimaterie zu erfahren, bisher jedoch noch keinen Fortschritt erzielen können.“
Während Droga über den aktuellen Stand der Untersuchungen berichtete, war Sohral neben den Kommandosessel getreten. Er hatte den Ausführungen aufmerksam zugehört und Sanawey wusste, dass er jedes Detail der Schilderung aufgenommen und abgespeichert hatte. Das vulkanische Gehirn war in dieser Hinsicht absolut unübertroffen. Fast wie ein Computer konnte Sohral die aufgenommenen Daten jederzeit wieder abrufen. Mit einem kurzen Blickkontakt mit dem Admiral hatte Sohral sich die Erlaubnis geholt, sich an Droga wenden zu dürfen.
„Mr. Droga. Mein Name ist Sohral, ich bin der Wissenschaftsoffizier der Republic
“, stellte er sich kurz vor. „Darf ich Sie um einen Einblick in die Aufzeichnungen bitten? Eventuell kann ich bei der Analyse der Daten behilflich sein.“
Droga nickte. „Natürlich, Mr. Sohral. Wir stellen Ihnen die Daten gerne zur Verfügung. Ich würde Sie jedoch vorher bitten, zu uns an Bord zu kommen. Ich würde Ihnen die Daten gerne persönlich präsentieren und Ihnen zeigen, was wir schon in Erfahrung bringen konnten. Auch wenn es nicht viel ist, wie ich zugeben muss.“
Sanawey wechselte einen schnellen Blick mit Jackson. Natürlich hatten beide für einen Moment den Gedanken an eine Falle im Kopf. Aber genauso schnell war er wieder verschwunden. Die ganze Mission konnte schließlich eine Falle sein. Und irgendwo mussten sie mit dem Vertrauensaufbau ja beginnen. Daher nahm Sanawey die Einladung dankend an. „Wann sollen wir bei Ihnen an Bord erscheinen?“
„Ich würde das am liebsten so schnell wie möglich machen“, lächelte Droga, ob seiner Ungeduld. „Aber damit wir und Sie sich noch vorbereiten können, würde ich sagen, in einer Stunde. Ist das für Sie machbar?“
Sanawey nickte. „Einverstanden. Wir werden dann in einer Stunde zu Ihnen hinüberbeamen.“
„Ich schicke Ihnen die Koordinaten. Bis nachher. Droga Ende.“
Die Ansicht auf dem Bildschirm wechselte und zeigte wieder einen Teil des Planeten und das All im Hintergrund.
„Mr. Sohral, ich möchte, dass Sie mich auf das Xindi-Schiff begleiten“, wandte Sanawey sich an den Vulkanier. „Stellen Sie alle Daten, die unsere Sensoren gesammelt haben zusammen. Wir werden diese mitnehmen.“
„Ja, Admiral“, nickte Sohral knapp und ging dann zu seiner Station zurück.
Jackson trat nahe an Sanawey heran. „Sie wollen Droga alle Daten zeigen?“ raunte sie ihm zu, so dass nur er es hören konnte.
„Ja“, nickte der Indianer. „Wir sind hier, um zusammen mit den Xindi herauszufinden, was passiert ist. Wir sollten dabei mit offenen Karten spielen. Nur so haben wir eine Chance den Vorfall aufzuklären.“
„Falls die Xindi uns alle Daten zeigen, die sie haben“, sagte Jackson ohne jegliche weitere Bewertung.
Sanawey lächelte. „Das ist das Spannende bei solchen Mission.“
Auch Jacksons Mundwinkel deuteten ein leichtes Lächeln an. „Solange Sie Ihren Spaß daran nicht verlieren, werde ich mir keine Sorgen machen.“ Dann übernahm sie von Sanawey wieder den Platz im Kommandosessel. Sie musste noch den Logbucheintrag des Schiffes vornehmen. Die Ankunft bei den Xindi musste noch dokumentiert werden. Zwar zeichnete der Computer sämtliche Schiffsbewegungen auf, doch musste noch immer von einer Person eine Zusammenfassung der Daten vorgenommen werden. Denn auch die Gespräche und deren Inhalte waren zu erwähnen, soweit es für die Mission wichtig war. Und das wurde nicht auch noch alles aufgezeichnet.
Sanawey nahm an der Konsole neben Sohral Platz. Die Konstruktionsweise des Schiffes gefiel ihm jetzt schon. Es gab genug Platz für alle. So konnte er hier in Ruhe arbeiten, ohne jemanden von seinem Platz verdrängen zu müssen. Er wollte die Stunde noch nutzen, um sich die bereits gesammelten Daten anzuschauen. Auf keinen Fall wollte er sich völlig unvorbereitet mit Droga treffen. Er war sich sicher, dass es einen besseren Eindruck auf die Xindi machte, wenn er schon ein wenig wusste. Und außerdem würde es unnötig Zeit kosten, wenn er sich erst von den Xindi alles erklären lassen musste. Zeit, die sie nicht hatten, denn auf beiden Seiten würde man nicht lange warten, bis erste Ergebnisse verlangt würden.
So verging die Stunde sehr schnell und Sanawey war sich trotz aller Vorbereitung nicht sicher, auch wirklich alles gesehen zu haben. Denn die Sensoren lieferten ständig neue Daten, so dass es fast unmöglich war hinterher zu kommen.
Zusammen mit Sohral materialisierte er sich auf dem Xindi-Schiff. Die Umgebung war angenehmer als er erwartet hatte. Die Lichtintensität entsprach dem der Sternenflottenschiffe. Und die Wände waren in einem Beigeton gehalten, der auch für menschliche Augen sehr gut passte. Die Ähnlichkeiten lagen vermutlich daran, dass es sich hier um ein Schiff der humanoiden Xindi handelte. Ihre Physiologie war der der Menschen nicht ganz unähnlich, so dass sie wohl auch ganz ähnliche Bedürfnisse hatten. Sanawey war das nur recht. So musste er sich nicht auf andere klimatische Verhältnisse einstellen.
„Willkommen an Bord“, wurden sie von einem Xindi begrüßt, der direkt vor ihnen stand.
Sanawey erkannte ihn sofort wieder. Es war Droga. „Vielen Dank.“ Er streckte ihm die Hand entgegen, die Droga nach einem Moment des Zögerns dann auch ergriff. Der Xindi kannte die menschliche Geste des Handreichens natürlich nicht. „Hoffen wir, dass diese ersten Schritte der Zusammenarbeit, wenn sie auch aus einem unerfreulichen Anlass heraus beginnen, der Auftakt für ein weiteres und besseres Verständnis und Miteinander unserer Kulturen sind“, sagte Sanawey.
Droga nickte leicht. „Das wollen wir hoffen. Ich befürchte allerdings, das wird nur funktionieren, wenn wir schnell Ergebnisse liefern können. Und wenn nicht doch eines unserer Völker in den Vorfall verwickelt war.“ stellte Droga eine unangenehme Möglichkeit in den Raum.
„Glauben Sie das?“ fragte Sanawey überrascht. Natürlich hatte auch er schon daran gedacht, dass es einen Saboteur gegeben haben könnte. Aber der Gedanke schien ihm irgendwie unpassend zu sein.
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll“, erwiderte Droga ehrlich und machte dann eine einladende Geste, ihm zu folgen.
Für Sanawey hörte sich das gar nicht gut an. Hatten die Xindi womöglich schon etwas entdeckt, das solch eine Thesen stützen konnte? Oder war Droga einfach nur eine pessimistische Person?
Sie gingen durch einen kurzen Gang, der in einen Raum führte, in dem Dutzende Computerkonsolen angebracht waren. Diese waren sowohl an den Wänden angebracht, wie auch an Terminalgruppen mitten im Raum. Und überall standen Xindi, die daran arbeiteten oder leise miteinander sprachen. Es waren nicht nur humanoide Xindi, es waren auch drei Baumwesen dabei, Arboreale, wie Sanawey gelernt hatte.
„Hier werden alle Daten zusammengefasst und analysiert“, erklärte Droga das Offensichtliche. „Allerdings arbeiten nur die Arboreale hier mit uns zusammen.“ Es klang fast schon entschuldigend. „Die anderen Xindi-Spezies führen ihre jeweiligen Nachforschungen auf eigene Faust durch. Und informieren uns dann über ihre Erkenntnisse. Im besten Falle und mehr oder weniger umfangreich.“ Er zuckte mit den Schultern und schien das als normal hinzunehmen.
„Und was haben Sie bisher erfahren können?“ wollte Sanawey wissen.
„Wie schon gesagt, nicht viel. Es hat eine Materie-Antimateriereaktion gegeben. Wir wissen aber noch nicht, wo die Antimaterie hergekommen ist. Und leider hinterlässt eine solche Reaktion auch kaum noch Spuren, die man rückverfolgen kann.“ Er wirkte bereits ein wenig resigniert. Sanawey konnte das durchaus verstehen. Droga musste sich bereits seit Tagen damit auseinander setzen und konnte keine Fortschritte vorweisen. Trotzdem war es noch zu früh aufzugeben.
„Hier sind die Daten unserer Sensoren“, sagte Sohral und übergab dabei den isoliniaren Stab, der die gespeicherten Daten enthielt. „Eventuell können sie weitere Hinweise liefern.“
Droga nahm sie entgegen. „Das können wir nur hoffen. Vielen Dank.“ Er gab den Stab an einen seiner Kollegen weiter. „Hiron, mein Kollege, wird Ihnen gerne im Detail erklären und zeigen, was wir alles entdeckt haben und welche Schlussfolgerungen wir daraus gezogen haben“, sagte er an Sohral gewandt.
Der Vulkanier deutete ein leichtes Nicken an und begab sich mit dem genannten Xindi dann an eines der Computerterminals.
„Wir würden auch den Tatort gerne selbst untersuchen“, sagte Sanawey und wollte dabei nicht wie ein Bittsteller klingen.
„Natürlich“, nickte Droga. „Das können Sie. Sie müssen aber verstehen, dass Sie eine Eskorte dazu bekommen werden. Einige Vertreter meines Volkes sind etwas skeptisch, was die Föderation angeht“, versuchte er, sich möglichst diplomatisch auszudrücken.
Sanawey verstand ihn trotzdem nur zu gut. Und nach allem was er gehört hatte, ging er davon aus, dass die Reptilianer und die Insektoiden sicherlich nicht gerade begeistert davon waren, dass die Föderation hier war. Droga hatte mit Sicherheit keinen leichten Stand bei seinem Volk. Und da er ihr einziger Verbündeter bei den Xindi war, wollte Sanawey seine Position nicht noch weiter schwächen. „Mit einer Eskorte habe ich kein Problem“, gab er daher zurück. „Solange wir alles untersuchen können, was wir für wichtig erachten.“
„Das wird kein Problem sein“, beeilte sich Droga zu versichern. Vielleicht ein wenig zu schnell. „Und ich hoffe, Sie werden etwas finden. Sie sind meine letzte Hoffnung.“
„Wie meinen Sie das?“ hakte Sanawey stirnrunzelnd nach.
Droga seufzte. „Wir haben bereits alles untersucht. Mit allen uns bekannten Methoden. Aber wir konnten keinen Hinweis auf die Herkunft der Antimaterie finden. Vielleicht arbeiten Ihre Instrumente etwas anders und Sie finden etwas. Wenn nicht, dann werden wir wohl nie erfahren, was gesehen ist.“
Seine ernsten Worte steigerten in Sanawey die Befürchtung, dass diese Mission kein gutes Ende nehmen würde. Wenn Drogas Befürchtungen eintreten sollten, dann wäre das keine gute Basis für eine gemeinsame Zukunft. Das Misstrauen gegeneinander wäre aufgrund dieser Ereignisse einfach zu groß, da mit Sicherheit jede Seite die andere verdächtigen würde, etwas damit zu tun gehabt zu haben. Das waren keine sehr vielversprechenden Aussichten.
SIEBEN
Als sich die Turbolifttüren der Brücke öffneten, wandte sich Jackson erwartungsvoll um. Vor wenigen Augenblicken waren Sanawey und Sohral von Drogas Schiff zurückgekehrt. Sie mussten daher jeden Moment auf der Brücke erscheinen. Und natürlich war sie neugierig auf das, was der Admiral zu berichten hatte. Denn immerhin hatten die Xindi einige Tage mehr Zeit für ihre Nachforschungen gehabt, sie mussten mehr wissen, als die Crew der Republic
, auch wenn Droga in seiner Begrüßung die Erwartungen heruntergeschraubt hatte.
Und tatsächlich traten die beiden Erwarteten aus dem Turbolift heraus. Ihre Gesichter wirkten angespannt. Zumindest das von Sanawey. Sohrals Gesicht war wie immer eine unbewegte Maske, aus der man nur wenig erkennen konnte und das auch nur, wenn man ihn gut genug kannte, um zu wissen, auf was man achten musste.
Der Vulkanier ging auch direkt an seine Station und widmete sich sofort wieder seinen Daten. Es gab viel zu analysieren, denn die Sensoren der Republic
hatten weitere Daten gesammelt, auch wenn nicht mehr viel Neues dabei war. Und kurz vor Sanaweys und Sohrals Rückkehr waren von dem Xindi-Schiff die Daten übermittelt worden, die Droga und seinem Team zur Verfügung standen. Sohral wollte damit seine eigenen Analysen durchführen. Vielleicht hatte er einen anderen Betrachtungswinkel und sah damit vielleicht etwas, das den Xindi entgangen war. Es war zumindest eine kleine Hoffnung.
Sanawey dagegen kam zu Jackson herüber und stellte sich neben dem Kommandosessel. Allerdings sagte er nichts und schien grüblerischen Gedanken hinterherzuhängen. Daher stand sie auf und sah ihn fragend an. Sein Blick kehrte zurück und er sah sie an. Er wusste, dass sie den aktuellen Stand wissen wollte. Schließlich konnte das Auswirkungen auf die Sicherheit des Schiffes haben und das musste sie als Kommandantin wissen. Das war ihm sehr wohl bewusst, immerhin hatte er jahrelang selbst ein Schiff kommandiert.
Langsam schüttelte er den Kopf. „Droga hat uns seine Daten gezeigt, aber sie sind kaum etwas wert“, berichtete er ihr dann leise. Der Rest der Crew sollte vorerst nichts davon erfahren. „Sie wissen tatsächlich so wenig, wie er gesagt hatte.“ Er machte eine Pause und sah gedankenverloren an ihr vorbei. „Wir dürfen aber auf den Planeten hinunter und selbst Untersuchungen durchführen. Allerdings weiß ich nicht, wie viele neue Informationen wir nach der langen Zeit dort noch finden können. Im Moment denke ich, es könnte schwierig werden, die Sache aufzuklären. Und womöglich müssen wir uns in den nächsten Tagen damit befassen, was wir tun, wenn wir tatsächlich nie erfahren werden, was passiert ist.“ Als er ihren besorgten Gesichtsausdruck sah, beschwichtigte er sofort wieder. „Noch wäre das aber zu früh. Wir sollten uns auf die Untersuchungen konzentrieren.“
„Dann werde ich vorerst noch nicht besorgt sein“, sagte Jackson stirnrunzelnd, konnte aber nicht verbergen, dass sie das Ganze ziemlich beschäftigte.
„Und ich werde eine Liste mit den Instrumenten zusammenstellen, die wir für die Untersuchungen brauchen werden“, überging Sanawey ihre Bemerkung. „Ich möchte so schnell wie möglich auf den Planeten hinunter. Nicht, dass wir es dann womöglich doch nicht mehr dürfen.“
„Trauen Sie Droga nicht?“ Jackson war etwas überrascht. Bisher hatte Sanawey nicht den Eindruck gemacht, Vorbehalte gegen den Xindi zu haben.
„Droga schon. Aber nicht den Reptilianern. Und nicht ganz seinem Einfluss, der offenbar nicht so groß ist, wie ich gedacht hatte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin im Hauptbesprechungsraum“, sagte er, dann wandte er sich um und ging zum Lift. Aber noch bevor er ihn erreicht hatte, hörte er Reed eine Meldung machen.
„Captain, wir empfangen eine Nachricht von der Erde. Sie ist vom Sternenflottenhauptquartier.“ Reed wandte sich um, damit er seine Vorgesetzte sehen konnte. „Die Nachricht ist für Sie und Admiral Sanawey bestimmt.“
Etwas überrascht sah Sanawey zu Jackson herüber. Dass die Sternenflotte so schnell einen neuen Zwischenstand über die Ereignisse haben wollte, hatte er nicht erwartet. Das war auch nicht vereinbart gewesen. Immerhin waren sie doch erst vor wenigen Stunden hier angekommen. Was erwarteten die Admiräle denn so früh zu erfahren?
„Legen Sie das Gespräch in meinen Raum“, befahl Jackson. Dann nickte sie Sanawey zu, als Zeichen, dass er ihr folgen solle. Zusammen gingen sie in den Bereitschaftsraum des Captains. Dort aktivierte Jackson den Bildschirm auf ihrem Schreibtisch und drehte ihn dann so, dass auch Sanawey etwas darauf sehen konnte.
Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht Admiral Noughis. Er schien alleine in seinem Büro zu sein, was Sanawey schon überraschte. Er hatte eine ganze Reihe an Admirälen erwartet. Und Noughi schien auch nur wenig Interesse am aktuellen Stand der Mission zu haben. Denn nach einer kurzen Begrüßung fragte er nur mehr aus Höflichkeit nach der Lage.
„Wir sind vor knapp vier Stunden hier angekommen und haben erste Kontakte zu den Xindi aufgenommen. Dazu haben wir unsere Daten ausgetauscht und sind gerade mit deren Analyse beschäftigt“, gab Sanawey eine knappe Auskunft. Solange er noch nicht mehr wusste, wollte er die Sternenflotte nicht mit Spekulationen füttern. Er wusste, dass das bei manchen Admirälen zu einer Überreaktion führen konnte.
Noughi nahm die Erklärung mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis und wechselte dann das Thema. „Es gibt noch einen weiteren Punkt, über den Sie Informiert sein sollten und den Sie vielleicht mit den Xindi besprechen sollten. Es geht um die Adrac.“
Sanawey tauschte einen kurzen Blick mit Jackson aus. Die Erinnerungen an ihre Erlebnisse mit den Adrac waren noch immer präsent und keineswegs angenehmer geworden mit der Zeit. Was sollte nun mit diesen Wesen sein?
„Unsere Außenposten in der Nähe des Adrac-Territoriums haben eine verdächtige Ruhe festgestellt, die nun schon seit mehr als zwei Wochen anhält“, fuhr Noughi fort. „Es gibt keine Signale mehr aus diesem Bereich, dafür ein plötzliches, überdeutliches Hintergrundrauschen, das erst langsam wieder abnimmt. Zudem haben wir Übermittlungen kleinerer Völker abgefangen, die sich widersprüchlich über den Verbleib der Adrac äußern. Offenbar gibt es Grund zu der Annahme, das Volk sei verschwunden.“ Er klang nicht sonderlich überzeugt davon, was auch verständlich war. Schließlich war es kaum möglich, dass ein Volk einfach verschwand. „Wir haben die Lexington beauftragt, sich die Sache einmal anzusehen. Sie sollen Untersuchungen durchführen und herausfinden, ob die Adrac eventuell etwas im Schilde führen. Wir können uns an dieser Ecke keinen neuen Konflikt leisten. Und schon gar keine Überraschung durch die Adrac. Wenn uns hier etwas droht, dann müssen wir darauf vorbereitet sein.“
Sanawey nickte verständnisvoll. „Vielleicht haben wir bei unserem Kontakt mit den Adrac bei den dortigen Führern den Eindruck hinterlassen, dass die Föderation eine Gefahr für die Adrac wäre. Und nun planen sie vielleicht einen Präventivschlag, um der Gefahr vorzubeugen.“
„Das wurde hier genauso gesehen“, erwiderte Noughi.
„Nur ist das reine Spekulation“, schränkte Sanawey sofort wieder ein. Er wollte seine Aussage nicht als Bewertung verstanden wissen. Auf keinen Fall wollte er Öl ins Feuer einiger übereifriger Admiräle gießen. „Vielleicht haben sich die Adrac auch nur etwas zurückgezogen, um uns nicht weiter zu begegnen, obwohl ich nicht den Eindruck hatte, dass sie Konflikten aus dem Weg gehen würden. Oder sie sind in einem anderen Teil ihres Territoriums so beschäftigt, dass sie ihre Truppen dort zusammenziehen mussten. Es gibt viele Erklärungen.“
„Daher haben wir die Lexington
zur Untersuchung geschickt“, sagte Noughi. „Wir werden sehen, was Captain Cortez uns berichten wird. Solange müssen wir uns noch gedulden.“
„Was hat das Ganze mit den Xindi zu tun?“ wollte Jackson wissen. Der Zusammenhang war ihr noch nicht ganz klar.
„Das hat zwei Gründe. Erstens liegt das Adrac-Territorium direkt neben dem von den Xindi beanspruchten Raumgebiet“, erklärte Noughi. „Die Xindi könnten daher vielleicht etwas wissen. Und im Rahmen unserer neuen Zusammenarbeit könnten Sie sie vielleicht dazu bringen, uns diese Informationen zu geben.“
Jackson nickte. Das klang einleuchtend, auch wenn sie sich nicht sicher war, wie weit das neue Vertrauen schon ging und ob die Xindi solche Informationen mit der Föderation wirklich teilten. „Und zweitens?“ hakte sie nach.
„Zweitens haben die Adrac laut Ihren Berichten eine herrschende Schicht, die als Götter verehrt werden. Und laut diesen Berichten sind Sie in der Mine einem dieser Götter begegnet. Einem Xindi-Insektoid. Das ist ein Grund mehr, warum die Xindi etwas wissen könnten.“
Sanawey verzog das Gesicht. Das war sicherlich gut gedacht von den Verantwortlichen bei der Sternenflotte. Aber die Insektoiden gehörten nicht gerade zu den aufgeschlossensten Spezies. Wenn sie etwas mit den Adrac zu tun hatten, dann würden sie das wohl kaum zugeben. Und schon gar nicht den Menschen gegenüber. Aber vielleicht wusste ja Droga etwas. „Wir werden sehen, was sich machen lässt“, sagte Sanawey unverbindlich zu. Auf keinen Fall wollte er durch ein übermäßiges Drängen bei den Xindi den Erfolg dieser Mission gefährden, auch wenn ihm bewusst war, dass die anderen Informationen für die Föderation ebenfalls wichtig waren.
„Ich weiß, dass Sie alles tun werden, was notwendig ist“, erwiderte Noughi vielsagend. Ob er sich Sanaweys Dilemma bewusst war, ließ er sich nicht anmerken.
„Bitte halten Sie mich in dieser Sache auf dem Laufenden“, bat Sanawey. „Wenn ich das mit den Xindi klären soll, muss ich immer den aktuellen Stand wissen.“ Zumindest schob er das als Grund vor. Insgeheim ging es ihm aber weniger um die Gespräche mit den Xindi. Sein Interesse war mehr persönlicher Natur. Nach den Erlebnissen mit den Adrac wollte er einfach wissen, was sich dort tat.
„Das werde ich“, sagte Noughi zu. „Viel Erfolg Ihnen beiden.“ Dann war die Übertragung beendet und der Bildschirm zeigte für einige Sekunden das Logo der Sternenflotte, ehe er sich abschaltete.
Jackson sah Sanawey an. Nun gab es noch einen Konflikt, der Anlass zur Sorge bot. Als ob sie hier nicht schon genug zu tun hätten. Aber wie immer schien das Sprichwort recht zu behalten: Ein Unglück kommt selten allein.
„Das macht unsere Mission nicht einfacher“, sagte Jackson schließlich.
„Nein, wirklich nicht“, stimmte Sanawey dem zu. „Aber in einem hat Noughi recht. Wenn bei den Adrac irgendetwas passiert, dann müssten die Xindi das wissen. Zumindest die Insektoiden. Können Sie sich an Terac erinnern? Den Adrac, der uns bei der Flucht aus der Mine geholfen hatte?“
„Ich kann mich an Ihre Schilderungen erinnern, aber ich selbst bin ihm nie begegnet.“ Terac war damals nicht an Bord der Republic
gekommen, sondern bei den anderen Flüchtlingen aus der Mine geblieben, ehe er sich dann den Piraten um Captain Craigs angeschlossen hatte.
„Richtig“, nickte Sanawey. „Ich hatte damals die Gelegenheit ein wenig mit ihm zu sprechen. Er hat mir erzählt, dass seine Götter den Adrac jede Handlung vorgeben würden. Die Adrac würden niemals eigenmächtig und ohne Anweisung ihrer Schöpfer handeln. Und diese Schöpfer sind die Xindi-Insektoiden. Was im Umkehrschluss bedeutet, egal was die Adrac jetzt unternehmen, sie haben dazu ihre Befehle von den Insektoiden erhalten.“
„Was nicht gerade beruhigend klingt, wenn man bedenkt, dass die Insektoiden in der Vergangenheit bereits zweimal maßgebend an dem Versuch, die Erde zu vernichten, beteiligt waren“, ergänzte Jackson seine Überlegungen.
Sanawey legte seinen Kopf schief und seufzte. „Und wir haben darauf im Moment keinen Einfluss. Aber wir können versuchen, hier ein paar Informationen zu bekommen. Damit könnten wir einen nicht ganz unwichtigen Beitrag leisten. Ich werde bei meinem nächsten Treffen mit Droga dieses Thema einmal anschneiden. Aber jetzt sollten wir erst einmal so weitermachen wie geplant. Die Untersuchungen auf dem Planten stehen an, die wir auf keinen Fall verschieben sollten. Mit jedem Tag wird es dort weniger zu messen geben“, gab er seine Bedenken preis.
Jackson nickte und stand auf. „Na, dann an die Arbeit, Admiral.“
„Haben die Daten der Republic
irgendetwas ergeben?“ wollte Droga von seinen Wissenschaftlern wissen, die er zu einer kurzen Besprechung einberufen hatte. Bevor er die Menschen auf den Planeten begleitete, wollte er auf dem neuesten Stand sein.
Als Antwort bekam er erst einmal ein kurzes Schweigen, in dem sich die Wissenschaftler untereinander ansahen und abwarteten, wer als erstes das Wort ergreifen würde. Das war dann schließlich einer der Älteren unter ihnen. „Nein, nichts. Die Daten haben keine neuen Erkenntnisse gebracht, die die Frage nach dem Hintergrund des Vorfalles klären könnte. Allerdings“, setzte der Mann noch an, zögerte aber dann. Erst ein aufmunternder Blick Drogas brauchte ihn dazu, weiterzureden: „Ihre Sensoren haben dieselben Daten sammeln können wie wir, und das zwei Wochen später. Unsere Sensoren wären dazu kaum in der Lage. Vielleicht können deren Untersuchungen vor Ort neue Informationen liefern, die uns weiter bringen.“
Droga war beeindruckt. Solche hochauflösenden Sensoren kannten die Xindi nicht. Für wissenschaftliche Untersuchungen mussten das traumhafte Bedingungen sein. Damit mussten sich Dinge erforschen lassen, die den Xindi bisher noch verborgen waren. Das Wissenschaftlerherz in ihm schlug bei diesem Gedanken schneller. Allerdings war er auch Politiker genug um zu erkennen, dass dieser technische Fortschritt der Föderation kaum einen Vorteil brachte. Denn die Waffentechnik und die Verteidigungspotentiale beider Völker waren ungefähr gleichstark. Und beim Antrieb lagen die Xindi mit ihrer Hyperraumsprungtechnologie weit vor der Föderation. Die Xindi konnten Entfernungen weit schneller zurücklegen als die Schiffe der Sternenflotte. Und das war ein echter Vorteil.
„Na schön“, sagte Droga schließlich. „Dann werden wir sehen, was die Menschen herausfinden können.“ Insgeheim war er sich nicht sicher, was er hoffen sollte. Dass die Menschen Erfolg hatten und damit neue Informationen zur Verfügung standen. Oder dass sie scheitern sollten, was beweisen würde, dass ihr Vorsprung auf diesem Gebiet nicht ganz so groß war.
Er schüttelte diese Gedanken ab und wandte sich dann um. „Das Außenteam soll sich im Transporterraum einfinden. Wir werden auf den Planeten hinunter gehen“, wies er den Captain des Schiffes an.
„Das Team wird in zehn Minuten bereit sein“, kam umgehend die Antwort.
Droga nickte. Das ließ ihm gerade noch die Zeit, sich nochmal schnell frisch machen zu gehen. Wortlos verließ er die Brücke, um zu seinem Quartier zurückzukehren. Er musste sich beeilen, denn auf keinen Fall wollte er zu spät erscheinen. Und so schaffte er es dann auch, auf die Minute pünktlich im Transporterraum zu erscheinen. Wie der Rest des Schiffes, war auch dieser Raum äußerst klein, so dass er zusammen mit seinen drei Kollegen, die ihn begleiten sollten, auch schon den ganzen Raum ausfüllte.
Nachdem alle Geräte, die sie mitnehmen wollten, verteilt und verstaut waren, traten sie auf die Transporterplattform. Es war gut, dass sie nur zu viert waren, denn mehr konnte der Transporter auch nicht gleichzeitig erfassen. Wenige Augenblicke fanden sie sich in gleißendem Sonnenlicht auf dem Planeten wieder. Das helle Licht blendete im ersten Moment und Droga benötigte einige Sekunden um sich daran zu gewöhnen. Erst dann bemerkte er, dass sich drei reptilianische Wachen zu ihm gesellt hatten. Sie hatten ihre Waffen im Anschlag, wollten jedoch nicht Droga und seine Begleiter bedrohen, sondern hatten es auf die Menschen abgesehen, die noch erscheinen würden.
Mit einem Nicken gab der Anführer der Reptilianer, ein besonders grimmig dreinschauender Mann, Droga das Zeichen, dass die Menschen nun erscheinen dürften.
Droga nahm sein Kommunikationsgerät und stellte es auf die Frequenz des Sternenflottenschiffes ein. Dann rief er das Schiff und wartete auf eine Antwort.
„Hier ist Captain Jackson“, meldete sich schließlich eine gedämpfte Frauenstimme aus dem Lautsprecher des kleinen Gerätes.
„Droga hier. Sie können dem Admiral ausrichten, dass wir ihn nun hier unten erwarten“, gab Droga seine Botschaft durch.
„Vielen Dank. Unser Team wird in wenigen Momenten bei Ihnen erscheinen“, kündigte die Frau an. Durch das das kleine Gerät ließ sich kaum sagen, ob sie besonders freundlich war oder nicht. Aber das spielte auch kaum eine Rolle. Immerhin hatte er eine Vereinbarung mit dem Admiral. Und daran würde dieser sich halten, dessen war Droga sich sicher.
„In Ordnung“, bestätigte er. „Droga Ende.“ Damit schaltete er das Gerät ab und schob es in die Halterung an seinem Gürtel zurück.
Tatsächlich dauerte es kaum mehr als wenige Sekunden, bis sich neben Ihnen drei Energiesäulen aufbauten und sich die Silhouetten dreier Personen bildeten. Als der Transport abgeschlossen war, erkannte Droga dort Admiral Sanawey, den Vulkanier Sohral sowie eine weitere, ihm unbekannte blonde Frau.
Mit ausgestrecktem Arm ging Droga auf Sanawey zu. Er hatte sich die menschliche Geste gemerkt. „Admiral, schön Sie wieder zu sehen.“
„Die Freude ist ganz meinerseits“, nickte Sanawey freundlich, obwohl es erst wenige Stunden her war, dass sie gemeinsam auf Drogas Schiff waren. Dann ließ der Admiral seinen Blick über die Landschaft schweifen und das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Droga konnte das gut verstehen. Ihm hatte es beinahe den Magen umgedreht, als er das erste Mal hier gewesen war. Insofern nahm der Admiral es erstaunlich gut auf. Offenbar hatte er in seinem Leben schon deutlich Schlimmeres erlebt. Was bedeutete, dass der Mann wohl eher zu bedauern denn zu beneiden war. Auch die Frau an seiner Seite war schockiert, wie ihr deutlich anzusehen war. Einzig der Vulkanier schien völlig unbeeindruckt zu sein. Sein Gesicht zeigte keine Regung, als er die Umgebung betrachtete.
„Kaum vorstellbar, dass es hier noch etwas geben soll, das sich untersuchen lässt“, fand Sanawey schließlich seine Stimme wieder, auch wenn sie etwas rau klang.
„Nun, einige der durch die Explosion entstandenen Elemente und ein Teil der Reststrahlung hat sich sicherlich schon verflüchtigt“, gab Droga zögernd zu. Es war einfach schon zu viel Zeit für detaillierte Untersuchungen vergangen.
„Wir werden sehen, was sich machen lässt“, sagte Sanawey und wirkte dabei zuversichtlicher als er sich fühlte. Dann nickte er Sohral zu.
Der Vulkanier nahm seinen Tricorder zur Hand und begann damit die Umgebung zu scannen. Langsam ging er dabei das Feld der Zerstörung entlang, ohne hineinzutreten. Eine der reptilianischen Wachen folgte ihm mit einigen Schritten Abstand. Er hatte Befehl, den Vulkanier nicht aus den Augen zu lassen und ihn an irgendwelchen unerlaubten Tätigkeiten zu hindern, er durfte ihn aber auch nicht stören. So beobachtete er mit ein wenig Abstand argwöhnisch die Bewegungen des Vulkaniers.
Während Sohral seine Untersuchungen machte, trat Sanawey zu der Frau, die nach wie vor auf die verbrannte Erde vor ihr starrte. „Doktor, alles in Ordnung?“ fragte er sanft.
Williams zuckte leicht zusammen, nickte dann aber tapfer. „Ja, Sir. Alles in Ordnung.“ Sie wollte ihm nicht sagen, dass der Anblick ihr mehr zusetzte, als sie gedacht hatte. Nicht so sehr, weil es grauenvoll war. Das war es zwar, aber wenigstens hatte die Explosion alle Überreste irgendwelcher Lebewesen ausgelöscht. So gab es außer verbrannter Erde und einigen rußgeschwärzten Mauerresten kaum etwas zu sehen. Doch der Anblick erinnerte sie zu sehr an die zerstörte Kolonie auf Terra Ceti aus der anderen Zeitlinie. Und diese Bilder drängten sich ihr nun wieder auf.
„Na schön, dann machen wir unsere Arbeit und verschwinden wieder“, sagte er leise und hoffte, sie mit der Erinnerung an ihre Pflicht etwas antreiben zu können. Auf eine andere Motivation, wie etwa ihr kurz die Hand auf ihre Schulter zu legen, verzichtete er in Anwesenheit der Xindi lieber. Er wusste nicht, welche Bedeutung solche Gesten bei ihren Gastgebern womöglich hatten. Nicht, dass es zu einem Missverständnis kam.
Williams nickte und nahm dann ebenfalls ihren Tricorder zur Hand. Während Sohral nach Strahlungsrückständen suchte, die Aufschluss über den Verlauf der Explosion geben könnten, war Williams mehr an organischen Rückständen interessiert, die sich vielleicht noch messen ließen. Wenn sie Glück hatten, konnten anhand dieser Rückstände vielleicht sogar ermittelt werden, wie viele Opfer es gegeben hatte und welcher Spezies sie angehört hatten.
Immer ihre Tricorderdaten im Blick schritten sie langsam um das Feld der Zerstörung herum. Aufgrund des Ausmaßes der Zerstörung und der gründlichen Aufzeichnung aller Daten benötigten sie etwas mehr als zwei Stunden, bis sie wieder alle am Ausgangspunkt zusammentrafen. Ihre Begleiter waren ihnen dabei ständig auf den Fersen gewesen und hatten jede ihrer Bewegungen mit Argwohn verfolgt. Aber nur einmal hatte ein Reptilianer einschreiten müssen, als Sanawey etwas tiefer in den zu untersuchenden Bereich hinein wollte. Da hatte der ihn begleitende Reptilianer kurz geknurrt und ihn unsanft am Arm zurückgezogen. Ansonsten aber hatten die Wachen sich wie Schatten verhalten. Ständig präsent, aber unauffällig und still.
Nachdem die drei Offiziere wieder beieinander standen, sah Sanawey seine beiden Kollegen erwartungsvoll an. „Hat einer von Ihnen einen wichtigen Hinweis entdecken können?“
Verneinend schüttelte Williams den Kopf. „Die Daten, die ich mir angesehen habe, geben keine entscheidenden Hinweise. Allerdings lassen sich auf den ersten Blick nicht alle Daten erkennen“, schränkte sie ein wenig optimistisch ein. „Vielleicht kann der Schiffcomputer eine noch etwas tiefergehende Analyse machen, die zu umfangreicheren Ergebnissen führt.“
Sanawey war da etwas weniger optimistisch, wollte aber jetzt nicht zu negativ klingen. „Das wäre zu hoffen, sagte er daher schlicht. Dann sah er Sohral an.
Der Vulkanier überlegte einen Augenblick, ob er Sanawey daraufhin weisen sollte, dass jeder Hinweis wichtig wäre und er somit mit einem ausführlichen Bericht aufwarten konnte. Doch Sohral lebte lange genug unter den Menschen, um deren Angewohnheiten für das Einfache zu kennen, das keine Details berücksichtigte. Daher bemühte er sich um eine entsprechend knappe Antwort. „Die Daten bestätigen sowohl unsere Sensorenwerte wie auch die Daten der Xindi. Es hatte eine Materie-Antimaterie-Reaktion gegeben, die für diese Zerstörungen verantwortlich ist. Die Reaktion muss in wenigen Millisekunden erfolgt sein, was eine gewaltige Energiefreisetzung zur Folge hatte, mit der alles um Umkreis von einhundert Metern vernichtet worden ist. Den Daten zufolge kann man von einer Antimateriemenge von zehn Kilogramm ausgehen“, wusste er zu berichten.
„Das ist keine Kleinigkeit“, sagte Sanawey etwas überrascht. Das Ausmaß der Zerstörung hatte er zwar gesehen, doch eine Rückrechnung auf den Ausgangswert hatte er nicht vornehmen können. Daher überraschte ihn die hohe Zahl jetzt, auch wenn sie ihm seltsam vertraut vorkam.
„Das entspricht den Vorräten an Bord eines Sternenflottenschiffes, wenn es zu einer neuen Mission aufbricht“, erklärte Sohral die Zahl.
Es war, als würde er den Zusammenhang nicht sehen, so ruhig wie er es sagte, doch war das geradezu unvorstellbar. Der Vulkanier übersah niemals Zusammenhänge. Für Sanawey dagegen stand sofort fest, was das bedeutete. Und er hatte Mühe seine Gesichtszüge im Griff zu behalten. Denn auf keinen Fall wollte er die Reptilianer übermäßig auf sich aufmerksam machen.
„Die Menge der hier eingesetzten Antimaterie entspricht den Standardvorräten auf einem Sternenflottenschiff?“ wiederholte er fast im Flüsterton, damit die Reptilianer ihn nicht hören konnten.
„Das ist richtig“, bestätigte Sohral immer noch völlig ruhig.
Dafür dämmerte es Williams, worauf Sanawey hinauswollte. Überrascht riss sie die Augen auf und ihr Mund öffnete sich. „Wollen Sie etwa sagen…“
„Genau“, unterbrach Sanawey sie scharf, da ihr Ton etwas zu laut für solche Spekulationen gewesen war. Dann setzte er leiser, aber nicht weniger besorgt erneut an. „Die Menge stimmt genau überein. Das macht die Sternenflotte im Moment zum Hauptverdächtigen.“
Energisch stürmte Sanawey aus dem Lift auf der Brücke. Er war eben erst von der Planetenoberfläche zurückgekehrt und noch immer etwas schockiert von den ersten Erkenntnissen, die sie dort gewonnen hatten. Wenn ihre ersten Vermutungen zutrafen, dann konnte die Föderation in etwas verwickelt werden, das sich leicht in einen Krieg verwandeln konnte. Zum Glück waren es bisher nur Vermutungen, auch wenn sie leider zu genau passten. Nur konnten sie sich auf dieses Glück nicht verlassen. Wenn die Xindi diese Daten erhalten würden, und das würden sie früher oder später, dann würden sie wohl kaum auf die Beteuerungen der Föderation hören. Sie würden ihre eigenen Schlüsse ziehen und ihre Konsequenzen daraus. Daher musste er sich erst Gewissheit verschaffen, bevor er die Daten an die Xindi weiter geben konnte.
„Mr. Reed, stellen Sie eine Verbindung zum Sternenflottenhauptquartier her. Ich möchte mit Admiral Cartwright sprechen. Sofort. Und benutzen Sie eine sichere Verbindung.“ Auf keinen Fall wollte er, dass die Xindi mithören konnten. Denn dann hätte er ihnen die Informationen auch direkt zuspielen können.
„Ja, Admiral“, bestätigte Reed sofort, auch wenn er während der Bestätigung noch einen schnellen Blick zu Jackson warf. Immerhin war sie sein Captain. Zwar wusste er auch vom Oberbefehl Sanaweys über die Mission, so dass er seine Befehle auch direkt akzeptieren konnte. Trotzdem wollte er Jackson nicht einfach übergehen.
„Wir müssen uns in Ihrem Raum besprechen“, sagte Sanawey dann etwas leiser zu Jackson. Als Captain musste sie informiert werden, auch wenn er sich nicht sicher war, ob die Verantwortlichen bei der Sternenflotte das auch so gesehen hätten. Er war jedoch lange genug Captain gewesen um zu wissen, wie wichtig das war.
Etwas besorgt sah Jackson ihn an. Sein Tonfall und sein energisches Auftreten verhießen nichts Gutes. Auf dem Planeten war offenbar etwas vorgefallen, das so nicht geplant gewesen war. Und dessen Konsequenzen keinen Aufschub erduldeten. Sie war mehr als gespannt auf seinen Bericht.
Daher stand sie aus dem Kommandosessel auf und wollte ihm gerade folgen, als ihr noch etwas einfiel. „Mr. Reed, wenn Sie die Sternenflotte erreichen, dann stellen Sie die Verbindung in meinen Raum durch.“ Sie war sich sicher, auch ohne ihn vorher gefragt zu haben, dass Sanawey nicht von der Brücke aus mit Admiral Cartwright sprechen wollte. „Und falls Sie niemanden erreichen, geben Sie uns bitte ebenfalls Bescheid.“
„Ja, Ma’am“, nickte Reed, konzentrierte sich aber nebenher weiter auf seine Daten. Auch er hatte die Dringlichkeit erkannt und wollte keine wertvolle Zeit verlieren, indem er sich zu ihr umwandte.
Sanawey ließ Jackson den Vortritt in den Bereitschaftsraum. Immerhin war es ihr Raum und er war nur der Gast, auch wenn er im Moment den Oberbefehl innehatte. Trotzdem respektierte er das. Und so folgte er ihr dann unmittelbar. Hinter ihm schloss sich die Türe wieder, so dass sie sich ungestört unterhalten konnten.
„Wo ist Mr. Sohral?“ wollte Jackson dann als erstes wissen. Es war ungewöhnlich, dass der Vulkanier nach einer solchen Außenmission nicht sofort auf der Brücke erschienen war, um die Daten zu analysieren.
„Er ist in seinem Quartier“, wusste Sanawey über seinen Verbleib zu berichten. „Er wollte dort ungestört und in Ruhe die Daten auswerten, die wir gesammelt haben.“ Sohral verfügte über einen eigenen Zugang zum Hauptcomputer der Republic
, mit dem er sämtliche wissenschaftlichen Arbeiten auch von seinem Quartier aus durchführen konnte, für die er sonst auf der Brücke hätte erscheinen müssen. Da er als Vulkanier weniger mit den Vergnügungen der übrigen Crew anfangen konnte und auch weniger Schlaf benötigte, zog er es vor, seine Freizeit mit logischer Aktivität zu füllen. Und das war für ihn oft die Fortsetzung seiner Arbeit.
„Will er uns damit sagen, er könnte sich auf der Brücke nicht konzentrieren, weil wir zu laut sind?“ fragte Jackson mit dem Anflug eines Lächelns.
Auch Sanawey fing an zu lächeln. „Ich glaube kaum, dass er so etwas zugeben würde. Er würde es wohl eher als eine emotional geladene Stimmung bezeichnen“, erwiderte Sanawey und für einen Moment verlor er ein wenig seiner Anspannung.
Jackson nickte. Wenigstens war ihrem Wissenschaftsoffizier nichts zugestoßen, was sie im ersten Moment schon befürchtet hatte. „Was ist dort unten geschehen?“ wurde sie wieder ernst.
„Wir haben ein erstes Indiz über die Herkunft der Antimaterie gefunden. Und es lässt die Sternenflotte in keinem guten Licht dastehen.“ In knappen Worten erzählte er von den ersten Analysen Sohrals. Sollte sich das als wahr herausstellen, würde das die Föderation in arge Bedrängnis bringen.
„Das ist aber kein Beweis“, sagte Jackson schließlich. Sie schien seine Befürchtungen nicht zu teilen. „Die Menge könnte auch reiner Zufall sein.“
„Ja, das könnte es“, nickte Sanawey. „Ich glaube aber kaum, dass die Xindi – und damit meine ich vor allem die Reptilianer und die Insektoiden – an diesen Zufall glauben werden, wenn sie davon erfahren.“ Er sah sie an und fuhr dann etwas ruhiger fort. „Ich glaube auch nicht an eine Verwicklung der Sternenflotte in der Sache. Dafür hätte sie auch keine Motive. Die Sternenflotte hätte keinen Nutzen davon.“
Skeptisch sah sie ihn an. „Oder vielleicht auch nur keinen, den wir kennen.“
Sanawey wusste nicht worauf sie hinaus wollte und sah sie auch entsprechend an.
„Vielleicht ging es ja gar nicht um die Xindi. Vielleicht war das nur eine Gelegenheit den Vizepräsidenten aus dem Weg zu räumen.“ Sie musste über sich selbst lachen und schüttelte den Kopf. „Entschuldigung, ich habe während der letzten Monate einige alte Krimis von der Erde gelesen. Offenbar hat mir das nicht gut getan.“
„Ihre Theorie halte ich für unwahrscheinlich“, erwiderte Sanawey ernsthaft. „Aber wie die Vulkanier zu sagen pflegen: Man muss immer alle Optionen in Erwägung ziehen, solange es keinen Gegenbeweis gibt, auch wenn es noch so unglaubwürdig klingt.“
„Die Vulkanier formulieren das zwar anders, meinen aber genau das“, bestätigte Jackson. „Auch wenn ich meine eigene Theorie für sehr unwahrscheinlich bis nahezu unmöglich halte.“
„Geht mir genauso. Trotzdem dürfen wir es nicht von vornherein ausschließen.“
„Und nun wollen Sie mit diesen Informationen Cartwright versorgen?“ vermutete sie.
„Ja und nein. Alleine deswegen würde ich mich noch nicht bei Ihnen melden, auch wenn die Sternenflotte auf eventuelle Anschuldigungen vorbereitet sein sollte. Nein, ich will vielmehr selbst Informationen erhalten. Ich will von Cartwright hören, dass die Sternenflotte nicht darin verwickelt ist. Und ich will wissen, ob vielleicht auf einem Schiff die Antimaterievorräte vermisst werden. Oder vielleicht gar ein ganzes Schiff.“
„Glauben Sie, das würde Cartwright Ihnen verraten?“ Sie wirkte skeptisch, was durchaus verständlich war. Eine Beteiligung der Sternenflotte würde wohl niemand zugeben und schon gar nicht über eine Subraumverbindung.
„Ja, das hoffe ich. Oder aber wenigstens, dass ich aus seiner Reaktion etwas ableiten kann.“ Er wusste selbst, dass das ein Griff nach dem berühmten Strohhalm war, aber er wollte jede noch so kleine Kleinigkeit in Erfahrung bringen. Vielleicht ließe sich daraus ein großes Gesamtbild erstellen.
In diesem Moment meldete sich Drake Reed. Er hatte es geschafft, die Sternenflotte zu überzeugen, dass es äußerst dringend war und Admiral Cartwright umgehend Zeit haben musste. Sanawey konnte Reed nur Respekt zollen. Der junge Mann wusste überhaupt nicht was vorgefallen war und was es zu berichten gab, und doch schien er überzeugend genug aufgetreten zu sein. Natürlich hatte ihm die Art der Mission dabei geholfen, aber das alleine war es eben nicht, was Cartwright so schnell in die Leitung holte.
Jackson aktivierte den Bildschirm. Auf Cartwrights dunklem Gesicht, das sofort erschien, waren Sorgenfalten zu sehen. Offenbar glaubte er nicht, dass man wegen einer guten Nachricht so einen dringenden Termin einberufen würde. „Admiral. Captain“, grüßte er angespannt. „Was gibt es so Dringendes?“
Und wie eben schon Jackson, erzählte Sanawey auch dem Admiral nun, was sie entdeckt hatten. Cartwrights Gesicht schien dabei immer tiefere Falten zu bekommen, doch hörte er wortlos zu. Sein Mund zog sich zu einem schmalen Strich zusammen und die Hände hatte er vor sich auf seinem Schreibtisch liegen, die Fingerspitzen aufeinander gelegt.
Nachdem Sanawey mit seinem Bericht geendet hatte, nahm Cartwright das Wort wieder auf. „Diese Erkenntnisse sind aber noch nicht gesichert, nicht wahr?“ wollte er sofort wissen.
„Nein, Sir, das sind sie nicht“, bestätigte Sanawey. Trotzdem war er weiterhin der Meinung, dass die Sache ernst genommen werden musste.
Und Cartwright schien das genauso zu sehen. „Ich werde die Admiralität darüber informieren und wir werden uns auf eine gemeinsame Reaktion verständigen. Bitte halten Sie uns in jedem Fall auf dem Laufenden. Denn wenn sich das bestätigen sollte, dann könnte sich dieser Konflikt in eine sehr unangenehme Richtung entwickeln.“
„In der Tat“, nickte Sanawey. Über das, was dann geschehen konnte, wollte er gar nicht weiter nachdenken.
„Behalten Sie diese Informationen so lange wie möglich für sich. Niemand darf etwas davon erfahren“, befahl Cartwright streng. „Je mehr Personen davon wissen, desto größer ist die Gefahr, dass es auch die Xindi erfahren.“
Sanawey deutete ein knappes Nicken an, als Zeichen, dass er das verstanden hatte. Auch wenn er sich insgeheim fragte, ob Cartwright eigentlich wusste, wie unmöglich sein Befehl war. Derzeit arbeitete Sohral an den Daten. Er hatte die Daten aber bereits auch der Wissenschaftsabteilung zur Verfügung gestellt. Dort kümmerten sich inzwischen bis zu zehn Personen darum. Und dann hatten sie auch noch eine Vereinbarung mit den Xindi, was den Austausch der Daten betraf. Irgendwann mussten sie die Daten an die Xindi weitergeben. Auch wenn es noch so unangenehm war. Wie sollten sie sonst eine Vertrauensbasis schaffen?
Noch aber war es nicht soweit und daher wollte Sanawey auch noch nicht gegen diesen Befehl aufbegehren. Wer wusste denn schon, was sich in den nächsten Stunden noch alles tat und was sich noch alles änderte? Da musste er nicht voreilig ungewisse Daten weitergeben.
„Hat die Sternenflotte denn bei dieser Explosion ihre Finger im Spiel gehabt?“ wollte Sanawey schließlich wissen. Er wollte seinen Vorgesetzten schonungslos damit konfrontieren, um eine ehrliche Reaktion zu erhalten. Um die Feinheiten seiner weiteren Karriere machte er sich keine Gedanken. Über solche Dinge war er längst hinaus. Oder vielleicht wurde er auch einfach nur alt.
Cartwrights Augen weiteten sich für einen Moment, ehe er sie wieder zusammenzog. „Wie können Sie das auch nur denken?“ wollte er mit empörter Stimme wissen. „Natürlich nicht. Die Sternenflotte würde niemals solche Taten unterstützen oder gutheißen.“ Sein Entsetzen wirkte echt.
„Das hatte ich auch nicht erwartet“, gestand Sanawey ein. „Ich darf nur keine Möglichkeit außen vor lassen. Vermisst die Sternenflotte denn Antimaterievorräte? Hat sich ein Schiff gemeldet, dem diese Vorräte abhandengekommen sind?“
„Davon ist mir nichts bekannt“, kam die ehrliche Antwort. „Aber ich werde eine entsprechende Untersuchung veranlassen. Ich denke aber nicht, dass wir hier ein Leck haben.“
Sanawey nickte. „Na schön. Wir werden die weiteren Untersuchungsberichte abwarten und Sie dann über den neuesten Stand informieren. Bis dahin werden wir erst einmal keine weiteren Schritte veranlassen.“
„Einverstanden“, gab Cartwright seine Zustimmung. Dann verabschiedete er sich und beendete die Verbindung.
Jackson sah ihren Freund und Mentor fragend an. „Und was machen wir mit den Xindi, bis die Analysen abgeschlossen sind?“
Seufzend wich Sanawey ihrem Blick aus. „Das wird eine harte Nuss. Aber wir haben erst einmal keine Wahl, wenn wir eine Überreaktion verhindern wollen. Ich werde versuchen, Droga hinzuhalten, ohne dass es nach einer Hinhaltetaktik aussieht.“
„Das wird nicht leicht werden“, kommentierte Jackson lakonisch.
„Ich werde mir ein paar glaubwürdige Argumente überlegen müssen.“ Dabei klang er alles andere als motiviert. Eigentlich war er hierhergekommen, um ein neues Fundament für eine zukünftige Zusammenarbeit und Vertrauen aufzubauen. Und nun musste er sich überlegen, wie er das unbemerkt hintergehen konnte. Diplomatie konnte mitunter anstrengend und verlogen sein.
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen lief Drake Reed durch die Gänge der Republic
. Er fühlte sich gut und zufrieden. So zufrieden wie schon seit langem nicht mehr. Zwar kamen sie mit den Untersuchungen des Vorfalls nicht voran und die Xindi hielten das Schiff noch immer umzingelt, was ihm natürlich Sorgen bereitete. Doch konnte das nichts an seiner Grundstimmung ändern. Denn noch immer konnte er nicht glauben, dass er tatsächlich hier war. Dass der Albtraum der letzten Monate vorüber war. Ihm war, als könne nun alles nur besser werden, trotz der Schwierigkeiten außerhalb des Schiffes. Er hatte das Gefühl hier völlig sicher zu sein und dass ihm nun nichts mehr zustoßen konnte. Natürlich wusste er, dass das irrational war und dass sie sich nicht gerade im sichersten Teil des Weltraums aufhielten. Trotzdem fühlte er sich gut. Denn hier gab es eine Mannschaft, die als richtiges Team funktionierte, nicht nur als Befehlsempfänger. Und das war es, was ihm das gute Gefühl vermittelte. Was sollte hier denn schief gehen? Nach den Erfahrungen auf der Lexington war ihm erst richtig bewusst geworden, was er hier hatte und was so eine gute Crew für einen Wert hatte.
Und so konnte er gar nicht anders, als ziemlich zufrieden den Gang entlang zu gehen. Sein leichtes Lächeln brachte ihm zwar auch den ein oder anderen irritierten Blick ein, doch zumeist wurde das Lächeln einfach erwidert. Ganz offenbar waren die meisten Crewmitglieder glücklich darüber, wieder zusammen dienen zu können.
Nachdem er seinen Dienst beendet hatte, war er gerade auf dem Weg zu seinem Quartier. Und in Gedanken schon mit der Abendgestaltung beschäftigt. Ob er den Abend wohl wieder alleine in seinem Quartier zubringen würde oder vielleicht doch einmal das Freizeitdeck des Schiffes besuchen sollte? Immerhin war das von der Neukonstruktion genauso betroffen wie der Rest des Schiffes. Damit könnte sich ein Besuch dort direkt lohnen. Während er noch darüber nachdachte kam ihm Elizabeth Williams entgegen. Sie wirkte nicht ganz so fröhlich wie er, doch hellte sich ihr Gesicht auf, als sie ihn erkannte.
„Hallo Drake“, grüßte sie ihn freundlich.
„Hallo Elizabeth, wie schön dich zu sehen“, freute er sich. Und dann entschied er sich ganz unbewusst für eine Abendgestaltung. Und Elizabeth sollte ihn begleiten. „Was machst du heute Abend?“ wollte er daher von ihr wissen. „Hast du Lust aufs Freizeitdeck zu gehen?“
Sie sah ihn aus müden Augen an. „Ich weiß nicht. Ich bin ziemlich kaputt. Ich hatte letzte Nacht nicht sonderlich gut geschlafen, so dass ich mir echt schon überlegt habe, einfach mal in meinem Quartier zu bleiben.“
Etwas erstaunt sah er sie an. Er selbst hatte seine Rückkehr ins Leben vor sich, da konnte er sich kaum verstehen, dass diese Tage für andere nichts Besonderes waren.
„Ja, das kann man doch auch mal machen“, rechtfertigte sie sich aufgrund seines Blickes sofort. „Ich weiß, früher wäre das unvorstellbar gewesen, aber inzwischen ist es auch mal ganz angenehm, einfach auf dem Sofa zu sitzen und die Ruhe zu genießen“, erklärte sie und fügte ironisch hinzu. „Solange man sich nicht noch über einen Berg Süßigkeiten hermacht. Oder über einen Eimer voll Eis.“
„Hattest du das etwa schon mal?“
„Nein“, lachte sie auf. „Das wird auch nie so weit kommen. Schließlich gibt es für den Körper kaum etwas Schädlicheres.“
Drake grinste sie an. Sie sah tatsächlich nicht so aus, als würde sie so etwas machen. Zumindest nicht regelmäßig. Aber die Vorstellung war amüsant, wie sie mit einem großen Eimer Eis unter dem Arm auf ihrem Sofa saß und unermüdlich löffelte. „Wenn du nicht mit aufs Freizeitdeck willst, dann werde ich wohl bei dir vorbei schauen müssen und dir etwas Eis mitbringen.“ Ein verschmitztes Lächeln lag auf seinem Gesicht.
„Dann musst du aber mitessen“, betonte sie augenzwinkernd. „Dann werden wir zweit Liter Eis nieder machen. Und schlapp machen gilt dann nicht. Also Bauchweh oder die Figur sind dann keine Ausreden.“
„Dann wird das wohl eher nichts werden. Ich muss schließlich schon die zwei Wochen meines Arrestes abtrainieren“, gab er spaßig zurück, obwohl er das durchaus nicht nur spaßig meinte.
„Tja, dann eben nicht“, zuckte sie mit den Schultern. „Dann sehen wir uns morgen.“
„Ja, bis morgen“, nickte er und sein Grinsen wurde wieder etwas breiter. „Oder bis heute Abend, wenn ich mit dem Eis vorbei komme.“
„Dann bring aber zwei Löffel mit.“
Er sah sie mit halb gesenkten Augenlidern an und seine Stimme klang rauchig, als er erwiderte: „Das brauchen wir nicht. Wir essen mit einem Löffel und füttern uns gegenseitig.“
Sie lachte laut auf und schlug ihm liebevoll gegen den Oberarm. „Mach dass du weiterkommst. Und wehe, du lässt dich heute Abend blicken.“
Auch Drake musste lachen. Er wünschte ihr eine gute Nacht und ließ sie dann ihres Weges ziehen. Für einen Moment sah er ihr noch nach. Und wieder einmal konnte er sich nur darüber wundern, wie so eine Freundschaft zwischen ihnen hatte entstehen können, obwohl die Vorbedingungen nicht gerade günstig gewesen waren. Und ob er eine solche Freundschaft überhaupt verdient hatte, dessen war er sich auch nicht sicher.
Mit einem leichten Kopfschütteln ging er weiter. Die kleine Unterhaltung eben hatte sein Zufriedenheitsgefühl noch weiter gesteigert. Es war einfach schön, wieder hier zu sein. So als ob die Zeit zurückgedreht worden wäre und alles wieder so war wie vorher. Dass er damit ein unglaubliches Glück hatte, das war ihm sehr wohl bewusst, denn in den seltensten Fällen führten einen die Veränderungen des Lebens wieder zurück an den Ort, an dem man am Glücklichsten war.
Sein Quartier war dunkel als er es betrat. Und in dem Sekundenbruchteil, den der Computer benötigte, um das Licht zu aktivieren, sah Drake, dass sein Pad blinkte. Der Computer hatte eine Nachricht für ihn. Das konnte alles mögliche sein. Von einer Erinnerung an einen Termin über eine empfangene Nachricht bis hin zu einem neuen Befehl oder neuen Vorschriften, die ihm zur Verfügung gestellt worden waren. Was es auch war, es war nichts, was er jetzt wissen wollte. Trotzdem nahm er das Pad auf um nachzusehen. Es konnte ja etwas wichtiges sein.
Als er den Absender der Nachricht sah, hatte er das Gefühl, einen Schlag vor den Kopf zu bekommen. Und gleichzeitig brach seine Zufriedenheit wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Nachricht war von Elane. Woher hatte sie gewusst, dass er hier zu erreichen war? Ihm war, als würde plötzlich eine alte Wunde wieder aufbrechen, an die er einfach nicht mehr gedacht hatte.
Mit leicht zitternden Fingern aktivierte er die Nachricht. Denn natürlich konnte er nicht warten. Vielleicht gab es ja doch noch eine kleine, irrationale Hoffnung.
Auf dem Bildschirm des Pads erschien Elanes Gesicht. Sie schaute direkt in die Kamera, mit der sie die Nachricht aufgenommen hatte. „Hallo Drake“, begann sie ernst und wirkte bei weitem nicht so fröhlich wie sonst. „Ich habe dir gestern eine Nachricht geschickt und du kannst dir sicherlich meine Überraschung vorstellen, als sie zurückkam, zusammen mit dem Vermerk, du seist nicht mehr auf der Lexington
.“ Sie lächelte humorlos. „Hat du etwa vergessen, mich über deine Versetzung zu informieren? Wolltest du das noch nachholen? Oder spielst du irgendein seltsames Spiel? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“ Sie machte eine kurze Pause und schüttelte den Kopf. „Ich muss sagen, ich bin ziemlich enttäuscht. Wir sind doch Freunde. Da erzählt man sich doch alles. Vor allem solch wichtige Dinge. Wieso hast du das nicht gemacht? Bedeute ich dir denn gar nichts mehr?“ Ihr Blick war kühl und nicht deutbar. „Denk mal drüber nach, was dir unsere Freundschaft bedeutet. Dann kannst du dich ja bei mir melden. Ich bin auf deine Erklärung gespannt. Also, bis dann.“
Während die Nachricht abgespielt worden war, hatte sich Drakes Pulsschlag langsam erhöht. Zuerst aus Betroffenheit. Sie hatte nicht ganz Unrecht. Er hatte ihr nichts von seiner Versetzung erzählt. Was aber daran lag, dass er bis zur Umsetzung nichts davon gewusst hatte. Natürlich hätte er sich gleich danach melden können, aber Elizabeths Worte gingen im noch immer durch den Kopf. „Elane hat seit knapp vier Wochen einen Freund.“ Er wusste nicht, was er davon halten sollte. War es denn wahr? Am leichtesten konnte er es herausfinden, indem er sie direkt fragte. Doch schreckte er davor zurück. Vielleicht weil er die Antwort fürchtete. Denn tief in seinem Inneren war er sich bewusst, dass es die Wahrheit war.
Und das hatte ihn zum Ende von Elanes Nachricht hin wütend werden lassen. Sie warf ihm vor nicht ehrlich zu sein. Aber sie hatte ihm wahrscheinlich auch nicht alles erzählt. Wie konnte sie sich anmaßen, zu glauben, er müsse alles erzählen, während sie ihre Geheimnisse vor ihm hatte? Für wen hielt sie sich? Und wenn sie wirklich einen Freund hatte, was sollte dann die Frage, ob sie ihm nichts mehr bedeuten würde? Wollte sie ihn sich warm halten, für den Fall, dass es mit dem anderen nicht klappte?
Je mehr er darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Am liebsten hätte er das Pad gegen die Wand geschleudert, damit es zersprang. Nur hätte das weder die Nachricht von Elane ungeschehen gemacht, noch sonst irgendetwas bewirkt.
Zornig stand er da. Es gab jetzt nur eines, das er tun konnte. Er musste mit jemandem darüber reden, um seinen Gefühlen freien Lauf lassen zu können. Und dazu kam nur Elizabeth in Frage. Auch wenn sie heute Abend eigentlich ihre Ruhe hatte haben wollen.
Mit dem Pad in der Hand stürmte er aus dem Quartier und den Gang entlang. Es war nicht weit. Elizabeths Quartier lag nur wenige Türen von seinem entfernt. Unterwegs begegnete er niemandem. Und das war auch gut so. Denn mit seinem finster verzerrten Gesichtsausdruck hätte er ohnehin nur für ein Erschrecken gesorgt.
Sein innerer Aufruhr war so groß, dass er es kaum erwarten konnte, bis Elizabeth endlich die Türe öffnete. Ohne ein Wort zu sagen, drängte er sich an ihr vorbei.
„Drake, was soll das?“ fuhr sie ihn ärgerlich an.
Mitten im Raum blieb er stehen und drehte sich um. Sein Gesicht war von Zorn und Frustration verzogen. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Trotzdem registrierte er noch irgendwo in seinem Hinterkopf, dass er sich mit dem Eindringen in ihr Quartier daneben benommen hatte. Sie hatte bereits ihren Pyjama an und ihre Haare sahen aus, als wollte sie sich im Bad gerade bettfertig machen. „Entschuldige bitte, wenn ich hier so rein platze“, brachte er gepresst hervor.
Sie bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmt, und ihr Ärger verflog. „Ich nehme an, du kommst nicht wegen dem Eis“, sagte sie betont ruhig, und versuchte damit, ein wenig von seiner Wut zu nehmen.
„Nein“, schüttelte er den Kopf und wirkte tatsächlich ein klein wenig entspannter. „Ich habe eine Nachricht von Elane erhalten.“
„Ah, Elane. Mal wieder“, seufzte sie. Ihr war heute Abend überhaupt nicht nach diesem Thema. Aber sie wollte Drake damit auch nicht alleine lassen. Ihr ruhiger Abend wäre damit allerdings dahin.
„Sie hat sich bei mir gemeldet. Sie hat erfahren, dass ich an Bord der Republic
bin.“ Er erzählte ihr fast wortwörtlich, was Elane ihm alles vorgeworfen hatte. Dabei schwankte seine Stimmung zwischen Wut und Verzweiflung. Er konnte mit diesem Gefühlschaos nicht umgehen. „Wie kann sie mir nur vorwerfen, sie wäre mir egal? Und dass ich sie absichtlich nicht über alles informiert habe?“ Er ging im Raum auf und ab. „Aber irgendwie hat sie ja auch noch recht damit. Ich habe sie ja über meine Versetzung im Unklaren gelassen. Aus ihrer Sicht muss das ja aussehen, als wollte ich etwas vor ihr verheimlichen.“
„Das ist nicht wahr“, fuhr Williams dazwischen. „Das heißt, natürlich hast du ihr nicht alles gesagt, aber das hat jetzt endlich mal dafür gesorgt, dass sie ihr wahres Gesicht zeigt.“ Als Drake sie daraufhin leidend anschaute fuhr sie fort: „Sie spielt mit dir.“ Sie betonte jedes Wort überdeutlich. Offenbar brauchte Drake diese schonungslose Offenbarung der Dinge.
„Wieso?“ brachte er schlapp hervor.
Williams zuckte mit den Schultern. Diese Frage bestand zwar nur aus einem Wort, doch war sie damit so umfangreich, dass sie keine Antwort geben konnte. Es konnte viele Erklärungen dafür geben, wieso es Menschen gab, die das Bedürfnis hatten Macht und Kontrolle über andere auszuüben. Manchmal bewusst, manchmal auch unbewusst. Die menschliche Geschichte war voll von solchen Beispielen. Von Anführern ganzer Völker über Unternehmer und Vorgesetzte bis hin zu Familien, in denen einer über alle anderen die Macht hatte. Vielleicht gehörte das einfach zu den menschlichen Urinstinkten, die bei manchen Personen eben ausgeprägter waren, als bei anderen.
Da Elizabeth nicht wusste, was sie antworten sollte, hob sie nochmals die Schultern und meinte dann: „Warum fragst du sie nicht selbst? Und zwar ganz direkt. Nicht wieder über eine aufgezeichnete Nachricht, sondern in einem direkten Gespräch.“
„Das geht nicht“, gab er frustriert zurück. „Ihr Schiff ist dazu zu weit entfernt. Eine direkte Übertragung ist nicht möglich.“
„Wer sagt das?“
„Elane.“
Elizabeth schüttelte seufzend den Kopf. So intensive Gefühle wie Drake sie zur Zeit erlebte, machten ganz offensichtlich nicht nur blind, sondern auch dumm. „Und du glaubst ihr das?“
Überrascht und verwirrt sah Drake sie an. „Wieso sollte sie lügen?“
„Wieso hat sie bei so vielem anderem nicht die Wahrheit gesagt?“ stellte Williams eine Gegenfrage. Als Drake keine Anstalten machte, darauf zu antworten, tat sie es selbst. „Weil es bequem war. Und weil es dazu passte, dich an der Kandare zu halten.“
Reed sah sie entgeistert an und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Hatte er sich tatsächlich so an der Nase herumführen lassen?
„Sie ist nicht ganz so weit entfernt, wie sie dich glauben machen wollte. Du kannst direkt mit ihr sprechen. Melde dich einfach bei ihr. Und zwar sofort“, schlug Elizabeth vor. „Solange deine Wut noch vorhanden ist.“
„Selbst wenn das ginge, sie wird anhand der Kommunikationsdaten sehen, dass ich es bin, der sie zu kontaktieren versucht. Das wird sie wohl kaum annehmen.“
Elizabeth nickte. „Da hast du wahrscheinlich recht. Dann mach es von hier aus. Benutz meinen Anschluss. Ich werde mich solange zurückziehen.“ Sie stand auf, um ihn alleine zu lassen.
„Bist du sicher, dass ich das tun sollte?“ hielt er sie unsicher zurück.
Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Manchmal wünsche ich mir den alten Drake Reed zurück. Der, der immer wusste, was er tat“, murmelte sie vor sich hin. Dann wandte sie sich wieder an Drake. „Natürlich sollst du das tun. Sag ihr deine Meinung. Und frag sie, warum sie dir nicht immer alles gesagt hatte. Sie hat dir das als Vorwurf gemacht. Du hast dasselbe Recht dazu.“
Zögernd sah Drake sie an. Natürlich hatte er das Recht dazu, darum ging es ja gar nicht. Doch wenn er sie jetzt mit all dem konfrontierte, dann konnte das bedeuten, dass er sie endgültig verlor. Nicht, dass es einen großen Unterschied zum aktuellen Zustand machen würde. Doch noch konnte er sich an ein kleines Fünkchen Hoffnung klammern, dass dann vielleicht endgültig erlöschen würde. Natürlich wäre es vernünftiger gewesen, klare Verhältnisse zu schaffen. Doch wusste er nicht, ob er dafür bereit war. So wusste er wenigstens, was ihn jeden Tag erwarten würde, auch wenn das nicht gerade angenehm war.
„Tu es“, sagte Elizabeth mit Nachdruck. „Ich warte im Schlafzimmer.“ Damit wandte sie sich um und ließ ihn allein.
Etwas unentschlossen stand Drake da. Am liebsten wäre er sofort wieder in sein Quartier verschwunden. Doch er wusste, dass Elizabeth das nicht akzeptieren würde. Und außerdem, wieso sollte er sich von Elane weiterhin an der Nase herumführen lassen? Wieso sollte er sich weiterhin zum Kasper machen, nur um ihr zu gefallen?
Die Worte ihrer Nachricht hallten noch immer durch seinen Kopf und weckten erneut Zorn in ihm. Was glaubte sie denn, wer sie war? Ein wenig seiner alten Entschlossenheit kehrte zurück. Elizabeth hatte Recht. Er musste das tun. Hier und jetzt und sofort. Daher trat er an den Computerbildschirm heran und gab den Befehl ein, eine Verbindung zum Raumschiff Endeavour
mit Elane Watts herzustellen.
Der Aufbau der Verbindung dauerte einige Minuten. Und während er wartete, geriet seine Entschlossenheit wieder etwas ins Wanken. War es richtig, was er hier tat? Sollte er gleich polternd mit der Tür ins Haus fallen oder lieber doch erst einmal in Ruhe mit ihr reden? Oder sollte er sich gar erst dafür entschuldigen, dass er sich seit seiner Versetzung nicht bei ihr gemeldet hatte und ihr das alles erklären?
Sein Unbehagen wuchs mit jeder Minute und er wurde allmählich etwas nervös. Als der Bildschirm sich endlich erhellte, hätte er das fast nicht gemerkt, so sehr war er in seinen Gedanken versunken.
„Ja, hallo?“ meldete sich Elane. Sie wirkte etwas irritiert und überrascht. Ganz offensichtlich war sie gerade etwas durcheinander. Womöglich hatte er sie aus dem Schlaf gerissen. Er wusste nicht, welche Schicht sie hatte und wann sie demnach schlafen musste.
„Hallo Elane“, sagte Drake und versuchte möglichst neutral zu klingen.
„Drake?“ Die Überraschung in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören. Damit hatte sie nicht gerechnet. Jedoch wirkte sie nicht erfreut. „Hallo. Wieso kannst du dich bei mir melden?“
„Eine interessante Frage, nicht wahr?“ Er war über sich selbst überrascht, wie ruhig er klang. Dabei klopfte ihm sein Herz bis zum Hals. „Offenbar hat sich die Entfernung zwischen uns verringert, deswegen geht das jetzt.“ Er schob ein kurzes, aufgesetztes Lächeln ein. „Wie geht es dir?“
„Danke. Äh… gut“, kam es zögernd zurück und sie schaute sich dabei in ihrem Quartier um. Wonach, konnte Drake nicht sagen, es musste sich außerhalb des Erfassungsfokus der Kamera befinden. „Und dir?“
„Es geht. Ich habe vorher deine Nachricht erhalten.“
„Schön“, sagte sie einfach, als ob sie sich kaum mehr daran erinnern konnte. Legte sie etwa keinen Wert mehr auf das, was sie ihm vorgeworfen hatte?
„Du hast mir einige Dinge vorgeworfen, die ich gerne klar stellen wollte“, begann er, nachdem sie nicht von sich aus darauf eingestiegen war. „Ich muss sagen, ich war etwas überrascht von…“
„Warte“, unterbrach sie ihn. „Es ist im Moment etwas ungünstig. Können wir nicht ein andermal…“
„Du wirfst mir vor, ich erzähle dir nicht alles, aber was machst du?“ brach es zornig aus ihm heraus. „Seit wann hast du einen Freund?“
Mit großen Augen sah Elane ihn an. Sie wirkte, als habe man sie bei etwas verbotenem erwischt. Und sie brauchte einen Moment, ehe sie antworten konnte. „Wer sagt denn so etwas?“
„Das habe ich gehört“, antwortete er ausweichend.
„Spionierst du mir etwa hinterher?“ stellte sie eine Gegenfrage, anstatt seine zu beantworten.
„Das ist lächerlich“, zischte er. „Und jetzt sag mir die Wahrheit.“
„Du bist ja verrückt“, erwiderte sie und wurde ebenfalls langsam wütend. „Wir sind nicht mehr zusammen, ich muss dir nicht jedes Detail aus meinem Privatleben erzählen. Willst du mich etwa kontrollieren?“
Drake wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Sein Zorn war plötzlich wie weggeblasen. Hatte er sie etwas fälschlicherweise beschuldigt? Hatte er falsche Informationen bekommen? Er kam sich ziemlich lächerlich vor.
Bevor er etwas erwidern konnte, hörte er in Elanes Hintergrund eine männliche Stimme: „Alles in Ordnung, Schatz?“
Drake war es, als hätte er einen Faustschlag in den Magen bekommen. Das konnte doch nicht wahr sein. Elane hatte ihn schon wieder soweit gehabt, dass er sich schuldig gefühlt hatte. Dabei hatte sie ihn wieder nur manipuliert.
„Ich komme gleich wieder“, gab sie als Antwort zurück, dann sah sie wieder in die Kamera. „Ja, ich habe einen Freund“, gab sie zu. „Ich wollte dir auch davon erzählen. Aber ich wollte mir erst sicher sein.“
Die Worte drangen wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Als ob sein Kopf in Watte gepackt worden wäre und er nicht mehr viel mitbekäme. Die Bedeutung wurde ihm erst sehr viel später bewusst. „Aber erzählt man sich unter Freunden nicht auch, wenn man jemanden kennenlernt?“ fragte er wie automatisch. „Bevor man sich sicher ist?“
„Drake, lass uns ein andermal darüber reden“, sagte sie sanft und doch auch etwas getrieben. Sie wollte wohl nicht offen reden, solange ihr Freund in der Nähe war.
„Nein“, brachte er wütend hervor und seine Augen funkelten. „Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Lass mich in Zukunft in Ruhe und melde dich nie wieder bei mir.“ Noch bevor sie etwas erwidern konnte unterbrach er die Verbindung. Voller Zorn starrte er den dunklen Bildschirm an. Er wusste, dass er sie nun endgültig verloren hatte. Selbst die angebliche Freundschaft mit ihr war damit beendet. Doch wusste er auch, dass es so besser war.
Hoch konzentriert saß Sanawey in seinem Quartier vor seinem Pad und sah sich die Daten an, die sie von der Oberfläche des Planeten mitgebracht hatten. Er war kein Wissenschaftler so wie Sohral. Doch hatte er sich immer ein wenig dafür interessiert und seine Noten in diesem Fächern auf der Akademie waren auch nicht schlecht gewesen. Auch wenn das schon Jahrzehnte zurücklag. Trotzdem hatte er immer das Gefühl gehabt, das meiste zu verstehen, was Wissenschaftler so von sich gaben. Und auch mit den meisten Daten hatte er etwas anfangen können. Doch mit diesen Daten stieß er an seine Grenzen und er musste sich eingestehen, doch nicht überall mitreden zu können.
Dabei hatte es zu Beginn noch so gut ausgesehen. Eindeutig hatte er die Messungen einordnen können. Die Rückstände an Myonen, die überall noch zu finden waren, wiesen eindeutig auf die Anwesenheit von Antimaterie hin. Doch je tiefer er in die Daten eintauchte, desto verwirrender wurde es. Und desto weniger verstand er auch. Da gab es Muster und Werte, die er nie zuvor gesehen hatte und somit auch nicht einordnen konnte. Es war wie ein riesiges Puzzle, dessen Teile jedoch absolut nicht zusammenpassten, so als stammten sie nicht vom selben Bild.
Ähnliche Erfahrungen hatte auch schon Dr. Williams gemacht. Sie hatte ihm berichtet, dass die Biowerte, die sie aufgezeichnet hatte, tatsächlich noch DNA-Spuren enthielten. Wenige zwar, aber doch genug, um nachweisen zu können, dass an diesem Ort Xindi und Menschen gestorben waren. Allerdings konnte sie nicht sagen, wie viele jeweils und welche Xindi-Spezies Verluste erlitten hatte. Zudem gab es noch einige Daten, mit denen sie nichts anfangen konnte. Denn es gab DNA-Spuren, die weder zu den Menschen noch zu den Xindi passten. Zumindest nicht so richtig. Die Werte waren den Xindi-Werten allerdings nicht ganz unähnlich. Natürlich konnte es auch sein, dass eine einheimische Lebensform von der Explosion ebenfalls getroffen und getötet worden war. Vielleicht hatten die Xindi auch Haustiere, die von der Antimateriewelle mit erfasst worden waren. Es gab viele mögliche Erklärungen, doch ohne die Mitarbeit der Xindi ließ sich davon nichts bestätigen oder widerlegen.
Und das war der Haken an der Sache. Noch wollte Sanawey den Xindi die Daten nicht zur Verfügung stellen. Denn daraus ließ sich die Menge der Antimaterie ableiten, die bei der Explosion freigesetzt worden war. Und das wiederum konnte als Hinweis auf eine Mittäterschaft der Sternenflotte gedeutet werden. Solange er von Cartwright keine Bestätigung hatte, dass die Flotte keine Antimaterie vermisste, solange wollte er die Datenlieferung noch hinauszögern.
Der Türmelder riss ihn aus seinen Gedanken. Etwas verwirrt schaute er auf. Er benötigte einen kleinen Moment zur Orientierung, dann rief er seinen Besucher herein. Es hatte sich niemand bei ihm vorab angemeldet, so konnte er nur hoffen, dass dieser unerwartete Besucher keine neuen schlechten Nachrichten überbrachte.
Doch der Besuch, der nun durch die Türe trat, war alles andere als unangenehm. Und schlechte Nachrichten brachte er wohl auch nicht mit. Er entspannte sich und ein Lächeln entstand auf seinem Gesicht. „Hallo Karja“, begrüßte er seine Tochter.
„Hallo Dad.“ Sie kam zu ihm herüber und sah ihn dann ernst an.
Ihr Gesichtsausdruck beunruhigte ihn etwas und sein Lächeln verschwand. „Was ist passiert?“
„Das wollte ich dich fragen“, entgegnete sie. „Du hast dich seit unserer Ankunft bei diesem Planeten nicht mehr blicken lassen. Du hast dich noch nicht einmal gemeldet. Ich mache mir ein wenig Sorgen um dich. Ist es so viel, dass du einfach keine Zeit hast? Oder ist die Lage so ernst, dass du dir nicht einmal ein wenig Zeit für Freizeit nimmst?“
Ihre Sorge rührte ihn und er musste sich eingestehen, dass sie recht hatte. Er hatte vergessen, sich bei ihr zu melden, so sehr nahm ihn das Thema in Beschlag. Und doch durfte er darüber nicht vergessen, dass er auch ein wenig Zerstreuung brauchte, um voll einsatzfähig zu bleiben. Ein Gespräch mit Karja hätte da sicherlich etwas zur Entspannung beitragen können. Und sie hätte sich ein paar Sorgen ersparen können.
Er lächelte entschuldigend. „Ich bin tatsächlich sehr eingespannt hier“, gab er zu. „Doch darf das kein Vorwand sein, mein einziges Familienmitglied zu vernachlässigen.“
„Darum geht es doch gar nicht“, winkte sie ab. „Es geht um dich. Und darum, dass du in der Lage bleibst, diese Verantwortung auch zu tragen und dich nicht übernimmst. Denn niemand kann ein Problem alleine lösen.“
Sanawey legte den Kopf schief und sah sie von unten herauf an. Dabei schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Ob es wohl allen Eltern so ging, dass sie irgendwann von ihren Kindern mit solchen klugen Ratschlägen konfrontiert wurden?
„Was ist?“ riss sie ihn aus seinen Gedanken.
Er blinzelte kurz, dann winkte er ab. „Ich bin auch nicht alleine mit dieser Angelegenheit beschäftigt“, ging er auf ihre Sorgen um ihn ein. „Captain Jackson hilft mir dabei, so wie jeder andere an Bord auch mehr oder weniger daran mitarbeitet.“
Sie nickte etwas erleichtert. „Das ist gut. Vielleicht…“
Weiter kam sie nicht, denn über die Lautsprecher war Drake Reeds Stimme zu vernehmen. „Captain Sanawey, bitte auf die Brücke.“ Die Dringlichkeit in diesem Worten war nicht zu überhören.
Seufzend sah Sanawey seine Tochter an. „Tut mir leid, wir müssen unser Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen.“
„Mein Vater, der Admiral. Immer gefragt“, verdrehte sie spaßeshalber die Augen. „Aber vielleicht hast du ja trotzdem mal wieder Zeit mit mir zu Abend zu essen.“
„Natürlich“, sagte er schnell und stand auf. Dann nahm er sie für einen Moment in den Arm. Ehe er sie losließ gab er ihr noch einen Kuss auf die Stirn. „Ich hab‘ dich lieb“, murmelte er. „Ich muss los.“ Eiligen Schrittes verließ er sein Quartier und ging durch den Gang zum Lift. Stumm fragte er sich, was denn jetzt schon wieder los war. Es konnte kaum etwas Gutes sein, warum hätte man ihn denn dann so eilig auf die Brücke gerufen? Vielleicht gab es ja neue Erkenntnisse bezüglich den Nachforschungen? Oder hatte sich etwa Cartwright gemeldet und bestätigt, dass der Sternenflotte Antimaterie gestohlen worden war?
Viel Zeit zum Spekulieren hatte er nicht, denn nicht einmal eine Minute, nachdem er sein Quartier verlassen hatte, betrat er auch schon die Brücke. Eilig ging er zum Kommandosessel, in dem Jackson ihn schon erwartete.
„Was ist geschehen?“ wollte er wissen.
„Droga hat sich eben gemeldet. Er wirkte ziemlich verärgert und hat verlangt, dass Sie sich augenblicklich auf seinem Schiff einfinden“, berichtete sie. „Und zwar nur Sie.“
Ein ungutes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Hatte Droga etwas von den Aufzeichnungen der Crew erfahren? Oder war er einfach nur wütend darüber, dass er seit dem Ausflug auf die Oberfläche immer noch keine Daten von der Republic
erhalten hatte, obwohl sie doch vereinbart hatten, dass sämtliche Daten ausgetauscht werden? Nun, er würde es bald erfahren.
„Ist er noch in der Leitung?“ wollte Sanawey wissen.
„Nein“, schüttelte Jackson den Kopf. „Er war recht kurz angebunden gewesen, hat nur verlangt, dass Sie sofort auf sein Schiff kommen und hat die Verbindung dann wieder unterbrochen. Es schien so, als wollte er sich gar nicht in ein längeres Gespräch verwickeln lassen.“
Sanawey sog scharf die Luft ein. „Na schön“, sagte er dann. „Signalisieren Sie den Xindi, dass ich an Bord kommen werde.“
„Halten Sie das für eine gute Idee?“ hielt Jackson ihn noch zurück, bevor er zum Lift gehen konnte. „Mir gefällt die Sache nicht sonderlich.“
„Mir auch nicht“, gestand er ein. „Aber ich habe keine Wahl. Ich habe Droga die Kooperation der Sternenflotte zugesagt und von gegenseitigem Vertrauen gesprochen. Wie könnte ich da nun einen Rückzieher machen? Ich würde nicht nur die Mission in eine schwierige Lage bringen, sondern auch die gesamte Föderation. Nein, ich muss hinüber gehen.“
Jackson nickte verständnisvoll. Die Verantwortung zu tragen, hieß manchmal eben auch, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun wollte. Und die durchaus auch gefährlich werden konnten. Doch dafür hatten sie sich alle entschieden mit der Berufswahl und dem Ziel, eine Führungsrolle bei der Sternenflotte zu erlangen. „Viel Glück“, sagte sie daher schlicht.
„Danke“, nickte Sanawey, dann wandte er sich um und verließ die Brücke in Richtung Transporterraum.
Wenige Momente später stand er vor Droga auf dessen Schiff. Um ihn herum standen fünf humanoide Xindi, die ihre Waffen im Halfter hatten und ihn grimmig anschauten. So war er in Empfang genommen worden. Zwar hatte ihm noch niemand gesagt, dass dies Wachen waren, die auf ihn aufpassen sollten, doch war das auch so offensichtlich.
„Admiral“, grüßte Droga ihn etwas frostig. „Dass Sie hier erscheinen spricht für Sie. Vielleicht ist das aber auch einfach nur dumm. Nun ja, wir werden sehen.“
Sanawey wusste noch immer nicht, was Droga von ihm wollte. Entsprechend verwundert schaute er ihn an. „Was ist geschehen?“ erkundigte er sich daher.
Droga schien eine scharfe Erwiderung auf der Zunge liegen zu haben, doch er schluckte sie hinunter und wandte sich stattdessen um. „Folgen Sie mir“, sagte er im Befehlston.
Sanawey tat wie ihm geheißen und folgte Droga durch den Gang in den Raum, in dem sie auch beim letzten Besuch hier gewesen waren. Die fünf Wachen folgten ihnen dichtauf und ließen Sanawey nicht aus den Augen. Sanawey war sich nicht sicher, ob deren Anwesenheit nicht sogar unangenehmer war als die reptilianischen Wachen auf dem Planeten. Denn bei den aggressiven Reptilianer passte es irgendwie einfach dazu, dass sie als Aufpasser fungierten. Doch zu den Humanoiden schien das nicht zu passen. Es machte das friedliche Bild, das Sanawey von diesem Volk hatte, zunichte.
Droga führte ihn zu einem Computerterminal und rief einige Daten auf. „Sie waren vor einigen Stunden auf dem Planeten und haben uns Ihre ermittelten Daten noch immer nicht zur Verfügung gestellt“, warf Droga ihm dann grimmig vor. „Wir hatten vereinbart, alle Daten zu teilen. Wir haben Ihnen dann auch umfangreiches Material zur Verfügung gestellt. Doch Sie behalten Ihre Daten. Die Reptilianer gehen davon aus, dass Sie etwas gefunden haben, dass Ihre Schuld beweisen würde und Sie deshalb die Daten nicht teilen wollen. Und ich muss sagen, ich fange an, das allmählich auch zu glauben.“ Er sah Sanawey kühl an. Für ihn war die Enttäuschung über die Menschen noch von einem Gefühl des Ärgers überschattet. Ein Ärger über sich selbst, da er den Menschen hatte vertrauen wollen. Er hatte sich einfach zu sehr gewünscht, dass eine Zusammenarbeit mit der Föderation funktionieren könnte. Nun schien ihn die Realität eines besseren belehrt zu haben.
„Mr. Droga“, begann Sanawey in beschwichtigendem Tonfall. „Es ist nicht unsere Absicht…“
„Sparen Sie sich Ihre Worte“, unterbrach ihn Droga eisig. Schon allein der Ansatz von Sanaweys Beteuerungen stieß ihn ab und bestätigte nur seine Befürchtungen. „Es gibt noch mehr, außer den nicht vorgelegten Daten.“ Er wandte sich wieder dem Computer zu und rief einige Daten auf. „Die Aquarianer haben eine verschlüsselte Nachricht Ihres Schiffes abgefangen. Und die Insektoiden haben sie entschlüsselt. Im Knacken von Codes sind sie äußerst effektiv. Und was sie da entdeckt haben war äußerst beunruhigend. Sie haben anhand Ihrer Daten vom Planeten ermitteln können, wie viel Antimaterie bei der Explosion verwendet worden ist. Und diese Zahl entspricht genau den Vorräten auf Ihren Schiffen. Eine Tatsache, die Sie sofort Ihren Vorgesetzten mitgeteilt hatten. Und uns haben Sie diese Erkenntnisse vorenthalten wollen.“
„Wenn Sie das Gespräch mit dem Hauptquartier abgefangen und analysiert haben, dann haben Sie sicherlich auch bemerkt, dass ich angefragt habe, ob auf unserer Seite überhaupt Antimaterie fehlt“, versuchte Sanawey die Sache richtig zu stellen.
„Nur weil Sie vielleicht nichts davon wissen, heißt das noch lange nicht, dass die Föderation nicht in diese Sache verwickelt ist. Vielleicht sind Sie nur das Bauernopfer, das über die Wahrheit im Unklaren gelassen wurde, um hier glaubwürdig die Unschuld zu beteuern.“ In seiner Stimme war fast so etwas wie Mitleid für Sanawey herauszuhören. Doch änderte das nichts an seiner Haltung gegen die Föderation.
„Es ist aber noch kein Beweis, nur weil die Menge zufällig übereinstimmt.“ Sanawey versuchte möglichst selbstbewusst zu wirken. Auf keinen Fall wollte er sich vor den Xindi ducken. Denn er hatte keine Schuld zu verantworten.
„Ein seltsamer Zufall“, entgegnete Droga spöttisch. „Zumal es einen weiteren Zufall gibt. In den Kellerräumen eines Gebäudes in der Nähe haben wir Transportkapseln gefunden, die speziell zum Transport von Antimaterie konstruiert sind. Diese Kapseln stammen von der Sternenflotte. Und sie sind leer.“ Er rief die Daten auf und auf dem Bildschirm erschienen sechs nebeneinanderliegende Transportkapseln. Sechs lange, röhrenförmige Container, jeder einzelne mannsgroß. In ihrem Inneren wurde normalerweise die Antimaterie durch ein energetisches Kraftfeld in Position gehalten, um jeden Kontakt mit Materie zu vermeiden, da dies eine sofortige Kettenreaktion zur Folge hätte. Doch die Energieanzeige dieser Container zeigte an, dass sie abgeschaltet waren. Sie waren leer, die darin aufbewahrte Antimaterie fort. Sanawey erkannte in diesen Behältern sofort die Transportboxen der Sternenflotte. Das Logo war groß und breit auf jeder Seite angebracht und auch das komplette Design entsprach dem der Sternenflotte. Entweder waren diese Container echt oder eine hervorragende Fälschung. Nur ließ sich das mit einer Bildschirmdarstellung nicht erkennen.
„Das sind doch Ihre, nicht wahr?“ stelle Droga mehr eine rhetorische Frage. Für ihn stand die Zuordnung bereits außer Frage.
Sanawey war so überrascht, dass er erst einmal nichts weiter dazu sagen konnte. Was sollte er auch? Ihm war sehr wohl bewusst, dass die vorliegenden Indizien in den Augen der Xindi durchaus eindeutig waren und die Föderation schwer belasteten. Da konnte er reden so viel er wollte, er würde damit niemanden erreichen. Zudem fragte er sich, wo diese Transportkapseln plötzlich herkamen. Die Föderation handelte nicht damit, was bedeutete, erwerblich waren sie nicht zu bekommen. Und wo, hatte Droga gesagt, waren sie gefunden worden? Im Keller eines naheliegenden Gebäudes? Wieso hatte man dort erst jetzt nachgeschaut? Über zwei Wochen nach der Katastrophe. Waren die Xindi etwa so schlampig bei ihren ersten Untersuchungen gewesen, dass sie das übersehen hatten? Für Sanawey war das kaum vorstellbar, daher konfrontierte er Droga mit einer entsprechenden Frage.
„Wir waren bisher selbst kaum auf dem Planeten“, erklärte Droga ihm. Er wollte Sanawey damit zu verstehen geben, dass er sich hier keine Hoffnung auf einen Fehler bei den Xindi machen durfte. „Zuerst haben die Reptilianer den Planeten kontrolliert und uns keinen Zugang gewährt, dann haben die Aquarianer die Kontrolle übernommen. Und sie haben dafür gesprochen, zu warten, bis Sie hier sind. Daher hatten wir bisher kaum Möglichkeiten zur Untersuchung.“ Für Droga schien das eine ausreichende Erklärung zu sein.
Sanawey empfand das dagegen sehr dürftig. Doch er zog es vor, erst einmal zu schweigen. Es schien derzeit keinen Sinn zu machen, zu widersprechen. Droga war viel zu aufgebraucht, als dass er auf vernünftige Argumente hören würde. Zumal Sanawey selbst einen leisen Zweifel in sich spürte. Es sprach bisher einfach zu viel für die Föderation als Mittäter, als es Gegenargumente gab. Auch wenn ihm das noch so schwer fiel zu glauben.
„Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“ wollte Droga dann von ihm wissen. Offenbar waren dies alle Indizien, die er in der Hand hatte.
Sanawey zögerte einen Moment, ehe er antwortete: „Ich würde die Daten gerne selbst analysieren. Erst dann kann ich sagen, was ich hiervon halte.“
Ein humorloses Lächeln erschien kurz auf Drogas Gesicht. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir Ihnen diese Daten zur Verfügung stellen. Warum sollten wir auch? Sie haben uns Ihre Daten ja auch nicht übergeben.“ Seine Miene machte deutlich, dass er Sanawey nicht mehr trauen würde.
Seufzend sah Sanawey seinen Kontrahenten an. „Es ist bedauerlich, dass es so weit gekommen ist“, sagte er dann ehrlich. „Denn was auch immer hier vorgefallen ist, wenn es tatsächlich ein Anschlag gewesen sein sollte, dann haben die Verantwortlichen ihr Ziel erreicht und eine gemeinsame Zukunft zwischen Xindi und Föderation verhindert. Dann hat der Terror gewonnen.“
„Ersparen Sie mir Ihre großen Reden“, zischte Droga zurück. „Ihre Leute sind für das hier verantwortlich. Versuchen Sie nicht, mir Sand in die Augen zu streuen, damit ich das übersehe.“ Seine Wut hatte sein Gesicht leicht rot werden lassen.
Frustriert sah Sanawey an Droga vorbei auf den Bildschirm. Dort waren noch immer die Transportbehälter zu sehen, die die Föderation belasteten. Wenn Droga jetzt nicht bereit war ihm zuzuhören, dann war jedes weitere Wort überflüssig. Und nicht nur das, es konnte sogar seine Ablehnung noch weiter steigern. Am besten war es in dieser Situation, wenn er ihn erst einmal in Ruhe ließe, bis seine Wut sich gelegt hatte. Erst dann machten weitere Gespräche Sinn. Und dann würde er vielleicht auch erkennen, dass die Föderation mit diesem Terrorakt nichts zu tun hatte. Was sollte sie davon auch für einen Nutzen haben? Selbst Droga musste erkennen, dass ein Motiv für die Tat fehlte. Aber dass es ein Terrorakt war, davon war Sanawey allmählich überzeugt. Die ganzen Spuren, die sie entdeckt hatten, ließen keinen anderen Schluss zu. Die Antimaterie war nicht zufällig hierhergekommen. Die Transportkapseln bewiesen das. Und irgendjemand versucht nun die Schuld der Föderation in die Schuhe zu schieben.
„Vielleicht sollten wir das Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen“, schlug Sanawey denn auch versöhnlich fort. „Ich werde solange auf mein Schiff zurückkehren und…“
„Sie werden nirgendwohin zurückkehren“, unterbrach Droga ihn. Dann nickte er den Wachen zu, die augenblicklich ihre Waffen zogen und sie auf Sanawey richteten. „Sie werden unser Gast sein, bis ein offizielles Gerichtsverfahren gegen Sie eingeleitet wird. Falls nicht einer der Verantwortlichen bei der Sternenflotte oder der Föderation Ihren Platz einnehmen möchte.“
Erstaunt sah Sanawey den Xindi an. Damit hatte er nun nicht gerechnet, obwohl es durchaus auf der Hand gelegen hatte. „Ich denke, wir sollten…“ begann er, aber Droga hörte ihm nicht einmal mehr zu. Stattdessen wies er mit einem weiteren Kopfnicken die Wachen an, Sanawey abzuführen. So blieb dem Admiral keine Wahl, als sich widerstandslos in eine Zelle bringen zu lassen.
„Kaffee, schwarz“, befahl Sylvia Jackson dem Replikator in ihrem Bereitschaftsraum. Sie war bereits seit unzähligen Stunden auf den Beinen und der Meinung, sich eine kleine Pause und eine Stärkung in Form eines Kaffees verdient zu haben. Das Gerät summte kurz, dann erschien im Ausgabefach eine Tasse mit der duftenden, dunklen Flüssigkeit. Genüsslich sog sie den wohltuenden Geruch auf, dann griff sie nach der Tasse und nahm sie auf. Gerade als sie sich einen Schluck gönnen wollte, heulten plötzlich die Alarmsirenen auf. Ein rotes Licht pulsierte über der Zugangstüre ihres Raumes.
Erschrocken schaute Jackson auf. Dann stellte sie schnell ihre Tasse auf den Tisch, ohne auch nur einen Schluck genommen zu haben, und eilte zur Tür hinaus. Dabei dankte sie wieder einmal in Gedanken den Konstrukteuren des Schiffes. Deren Idee, den Bereitschaftsraum direkt hinter die Kommandobrücke zu platzieren, noch auf dem gleichen Deck, war einfach Gold wert gewesen. So war sie nach durchschreiten der Türe schon auf der Brücke, während auf den alten Schiffen der Captain erst noch mit dem Lift ein Deck nach oben fahren musste. In einer Krisensituation konnte man damit entscheidende Momente verlieren.
Auch auf der Brücke pulsierten die roten Alarmlichter und ertönte die Sirene, auch wenn diese nach wenigen Sekunden wieder abgeschaltet wurde. Eine Verständigung untereinander wäre sonst nur sehr schwer möglich gewesen. Das rot pulsierende Licht genügte vollauf, um den Alarmzustand zu verdeutlichen.
„Bericht“, rief sie in die Runde, während sie zum Kommandosessel ging und dort Platz nahm.
„Die Xindi-Schiffe, die uns so nett eskortieren, haben soeben ihre Position verändert“, berichtete Reed. „Sie sind näher zu uns herangerückt und haben nun nur noch zehn Meter Abstand zu unserer Hülle.“
Jackson schauderte. Ein Abstand von zehn Metern war bei Schiffen dieser Größe nichts. Das war schon beinahe eine Berührung. Bei einer solchen Annäherung genügte der kleinste Navigationsfehler und die Schiffe kollidierten, was katastrophale Auswirkungen haben konnte, wenn die Außenhülle eines Schiffes brach. Tote waren dann mindestens zu befürchten. Im schlimmsten Fall, wenn die Kollision besonders kritische Bereiche traf, konnte die ganze strukturelle Integrität bedroht sein, was eine komplette Zerstörung des Schiffs zu Folge hätte. Daher vermied man solche Annäherung normalerweise, wenn man nicht gerade andocken wollte. Doch anscheinend wollten die Xindi die Manövrierfähigkeit der Republic
auf null setzen. Denn genau das war geschehen. Sie konnten nun nirgendwo mehr hin, ohne eine Kollision zu riskieren.
„Zudem sind drei weitere Kriegsschiffe der Reptilianer auf Abfangkurs“, fuhr Reed fort. „Ich nehme an, sie werden sich an der Blockade gegen uns beteiligen.“
In Gedanken ging Jackson kurz die Optionen durch, die ihnen verblieben waren. Viele waren das nicht. Sie konnten nicht mehr fliehen, was sie ohne Admiral Sanawey ohnehin nicht vor gehabt hätte. Sie konnten sich den Weg auch nicht freikämpfen. Sie konnten nur bleiben und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.
„Haben die Xindi eine Erklärung für diese Aktion abgegeben?“ wollte Jackson wissen.
„Nein, Captain. Bisher haben sie sich nicht gemeldet“, beantwortete Reed ihre Frage.
Und Sanawey ist noch immer dort. Er wird wissen, was passiert ist, dachte Jackson. „Rufen Sie Drogas Schiff. Ich denke, er ist uns ein paar Antworten schuldig.
„Das sollten aber ziemlich gute sein“, murmelte Reed leise und machte sich an die Arbeit. Seine Finger huschten über die Konsole und wenig später wurde die Nachricht an Drogas Schiff übertragen.
Bis zu einer Antwort blieb der Crew erst einmal nichts anders übrig, als zu warten. Und zu beobachten, wie sich die Xindi-Schiffe näherten, um dann schließlich ihre Positionen in der Blockade der Republic
einzunehmen. Nun war das Sternenflottenschiff völlig eingekreist und zu keinem Manöver mehr fähig. Jackson dachte mit Grauen daran, wie schlecht ihre Position war. Sie saßen wie eine Maus in der Falle. Die Schiffe um sie herum hatten zusammen genug Feuerkraft, um die Republic
mit einem Schlag zu zerstören. Sollten die Xindi sich dafür entscheiden, das Sternenflottenschiff zu vernichten, dann mussten sie nicht einmal mit Gegenwehr rechnen. Die Crew der Republic
hätte in einem solchen Fall nicht einmal mehr die Chance noch zu reagieren. Sie würden sterben, bevor sie wussten, was geschehen war.
„Captain, Mr. Droga für Sie“, meldete Reed schließlich in die Stille der Brücke hinein.
„Na endlich“, entfuhr es Jackson, als die Anspannung sich etwas von ihr löste. „Auf den Schirm.“
Auf dem Hauptbildschirm des Schiffes erschien das Gesicht eines humanoiden Xindi. Seine Gesichtszüge waren inzwischen auch schon vertraut genug, um ihn sofort als den gewünschten Ansprechpartner zu erkennen. Allerdings wirkte seine Miene abweisend und kühl.
„Mr. Droga, es ist schön von Ihnen zu hören“, begann Jackson freundlich. „Es gibt hier ein paar Ereignisse, die uns ein wenig irritieren und wir hoffen, Sie können uns hierzu aufklären.“ Sie lächelte gewinnbringend, doch Droga verzog keine Miene. Er machte noch nicht einmal Anstalten, etwas zu sagen, daher fuhr Jackson fort. „Unsere Eskorte wurde um drei weitere Kriegsschiffe der Reptilianer ergänzt und auch etwas enger gezogen. Können Sie uns sagen, was es damit auf sich hat?“ stellte sie nun eine direkte Frage.
Droga sah sie noch einige Augenblicke unbewegt an. Bei Jackson entstand allmählich der Eindruck, er habe sie nicht verstanden. Sie wollte gerade ihre Frage wiederholen, als er doch zu einer Antwort ansetzte. „Es handelt sich um eine Vorsichtsmaßnahme, alleine zu Ihrem Schutz“, sagte er, doch so wie er die Worte formulierte, entstanden sofort Zweifel in Jackson. „Im Übrigen bin ich beauftragt worden, Sie über die Gefangennahme Admiral Sanaweys zu informieren. Er wird sich wegen den Verbrechen gegen die Xindi verantworten müssen. Sie werden mit Ihrem Schiff die Position halten, bis über Ihr weiteres Schicksal entschieden wurde. Jede anderweitige Aktion Ihrerseits wird die sofortige Zerstörung der Republic
zur Folge haben.“
Erstaunt riss Jackson die Augen auf. Damit hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet. Auch der Rest der Brückencrew war wie vor den Kopf gestoßen. Keiner war zu einer Reaktion imstande, alle starrten wie entgeistert auf den Bildschirm und glaubten sich verhört zu haben.
„Warten Sie weitere Anweisungen ab“, befahl Droga ihnen noch, dann wandte er sich ab.
„Warten Sie“, rief Jackson, ehe er die Verbindung unterbrechen konnte. „Was wird Admiral Sanawey vorgeworfen?“ Ihre Sorge um ihren alten Weggefährten war für den Moment großer als die Sorge um sich und das Schiff.
„Er wird stellvertretend für die Föderation angeklagt. Der Vorwurf lautet: Verschwörung gegen die Xindi und Mord an den Diplomaten der Xindi. Wenn er schuldig gesprochen wird, bedeutet das die Todesstrafe.“ Dann beendete er die Verbindung, ehe Jackson noch etwas sagen konnte.
ACHT
Eilig machte sich Sylvia Jackson noch ein paar Notizen, bevor es dann zum Meeting der Führungskräfte gehen sollte. Auf keinen Fall wollte sie irgendwelche Informationen vergessen, die sie an ihre Kollegen weitergeben sollte. Denn auch Dinge, die ihr selbst nicht sonderlich wichtig erschienen, konnten für andere Bereiche von Bedeutung sein. Und solche Dinge wollte sie auf keinen Fall unterschlagen. Sie hatte daher in den letzten Wochen herausgefunden, dass es hilfreich war, wenn sie sich die Punkte in Stichworten notierte. So konnte sie nichts vergessen. Außerdem machte es ihr das danach leichter, den Bericht für das Schifflogbuch zu fertigen.
Das Meeting der Führungskräfte hatte sie kurzfristig angesetzt nachdem sie von Droga erfahren hatten, dass Sanawey unter Arrest stand und die Xindi ganz offensichtlich die Föderation verdächtigten, bei der Explosion auf dem Planeten die Finger im Spiel gehabt zu haben. Sie mussten sich schnell über das weitere Vorgehen verständigen. Denn nicht nur, dass diese Anschuldigen und eine mögliche Verurteilung von Admiral Sanawey im Raum standen, die Xindi hatten sofort nach Drogas Nachricht damit begonnen, sämtliche Kommunikation der Republic
zu stören. Die Begleitschiffe, die die Republic
bewachten, erzeugten ein starkes Störfeld, das jegliche Kommunikation verhinderte. So waren sie auch nicht in der Lage die Sternenflotte zu kontakten. Sie konnten noch nicht einmal erneut mit den Xindi sprechen, solange diese das nicht wollten.
Und ohne Kommunikationsmöglichkeit konnte sich Jackson zum weiteren Vorgehen auch nicht mit der Sternenflotte abstimmen. Sie musste hier alleine mit dieser Situation zurechtkommen. Nicht, dass sie viel Unterstützung erwartet hätte. Die Admiräle waren weit weg und hatten zum Teil nicht einmal Praxiserfahrungen. Entsprechend sahen ihre Befehle manchmal aus. Aber sie hätten auf ganz anderen diplomatischen Ebenen vielleicht etwas erreichen können, um die Situation hier zu entschärfen. Denn die Optionen der Republic
waren deutlich eingeschränkt.
Jackson hielt für einen Moment inne und atmete tief durch. Sie würden eine Lösung finden. Und sie würden die Situation bereinigen können. Schließlich hatte sie eine fähige Crew, niemand musste das Problem alleine lösen.
Als sie der Meinung war, alles beisammen zu haben, verließ sie den Raum, überquerte kurz die Brücke und betrat dann sofort den Lift. Der Hauptbesprechungsraum lag noch immer ein Deck unter der Brücke. Um diesen Raum auch noch auf Deck Eins unterbringen zu können fehlte einfach der Platz, obwohl Jackson das sehr begrüßt hätte. Aber man konnte ja nicht alles haben.
Ihre Kollegen waren schon anwesend, als sie den Raum betrat. Die Führungscrew bestand aus Drake Reed, ihrer derzeitigen Vertretung, dann aus Wendy Brooks, Sohral, Dr. Williams und der jungen Psychologin Mira Bozman. Zu diesem Meeting waren aber noch Tworek und Karja eingeladen. Karja, da es um das Schicksal ihres Vaters ging und sie irgendwie einfach mehr als ein normales Crewmitglied war. Und Tworek, da er der beste Pilot an Bord war und eventuell etwas beitragen konnte.
Als Captain setzte sich Jackson an das Kopfende des Tisches und sah dann ihre Kollegen der Reihe nach an. „Sie alle haben schon gehört, was passiert ist“, begann sie dann. Denn natürlich hatten sich die Worte Drogas wie ein Lauffeuer im ganzen Schiff verbreitet. Manchmal war es einfach unglaublich, wie gut die Buschtrommeln funktionierten. Wenn sich nur offizielle Nachrichten auch immer so gut verbreiten ließen.
Sie gab den Gesprächsverlauf und Drogas Worte nochmals wieder, um alle auf den gleichen Informationsstand zu bringen. Und um nichts zu vergessen, hatte sie eine Mitschrift des Gespräches vor sich liegen. „Ihre Meinungen dazu?“ Sie blickte zuerst zu Reed.
„Ich glaube kaum, dass wir viele Möglichkeiten haben“, begann Reed zögernd. „Wir werden warten müssen, bis die Xindi sich wieder bei uns melden. Sie haben uns in der Hand. Wenn die Daten, die wir gesammelt haben, keine Anhaltspunkte zu unserer Entlastung bieten, dann sehe ich schwarz.“ Reed war sich der ausweglosen Situation sehr wohl bewusst, wie alle andern auch. Darum hatte er es für unnötig gehalten, um den heißen Brei herumzureden.
Da Reed die Daten erwähnt hatte, die sie am Ort der Explosion gesammelt hatten, wandten sich nun die Blicke Sohral zu. Der Vulkanier war federführend für die Auswertung verantwortlich.
Sohral verstand diese Geste und übernahm völlig ruhig das Wort. „Die Daten lassen keinerlei Rückschlüsse auf die Herkunft der Antimaterie zu“, musste er die anderen jedoch enttäuschen. „Antimaterie besitzt immer die gleichen Eigenschaften, unabhängig davon, welches Volk für die Herstellung verantwortlich ist. Es gibt keine typischen Produktionsmerkmale, die einen Rückschluss zulassen würden, wie etwa bei verarbeiteten Metallen.“
„Das heißt die Antimaterie könnte von jedem stammen“, fasste Jackson seine Aussage nochmals zusammen.
„Das ist richtig.“
„Sie könnte also auch von der Föderation sein?“ brachte Williams die Sache auf den Punkt.
„Diese Möglichkeit besteht durchaus“, bestätigte der Vulkanier auf seine gewohnt sachliche Art. „Allerdings ist das keine Argumentationsbasis, weder für die Annahme noch dagegen. Wie schon gesagt, es könnte von jedem Volk stammen.“
„Dann bringen uns die Daten nicht weiter“, sagte Jackson.
Sohral zögerte einen Moment. „Zumindest nicht in dieser Frage“, sagte er dann.
„Und im Moment gibt es keine anderen Fragen“, betonte sie. „Oberste Priorität hat das Finden des Beweises, dass der Captain unschuldig ist.“
Sohral zog die rechte Augenbraue an. „Wir haben noch keinerlei Anhaltspunkte, die ausschließen, dass die Föderation beteiligt war.“
„Solange dafür kein hieb- und stichfester Beweis vorliegt, wird das ausgeschlossen.“ Ihre energischen Worte ließen keinen Widerspruch zu. „Analysieren Sie die Daten weiter, pressen Sie alles heraus, was an Informationen darin steckt. Lesen Sie zwischen den Zeilen. Egal. Nur bringen Sie ein Ergebnis“, wies sie den Vulkanier an.
„Es wäre schön, wenn wir mehr Daten hätten“, brummte Reed.
„Vergessen Sie es. Die Xindi werden keine weiteren Untersuchungen auf dem Planeten zulassen. Wir müssen mit dem Auskommen, was wir haben.“ Das gefiel Jackson genauso wenig, doch hatten sie keine andere Wahl. Sie waren nun mal nicht in der Lage, Forderungen stellen zu können.
„Das kann doch nicht alles sein, was wir tun können“, meldete sich Karja zur Wort. Ihre Stimme klang rauer, so als ob sie um ihre Fassung bemüht war. „Auf die Art können wir meinem Vater niemals helfen.“
Ein paar mitfühlende Blicke trafen sie. Denn jeder wusste, wie schwierig die Lage war. Unter diesen Umständen musste es für Karja besonders schwer sein. Ihr Vater war nicht weit weg, und doch völlig unerreichbar. Und sie wussten nichts über sein weiteres Schicksal. Es war fast so, als stünden sie daneben, ohne etwas tun zu können.
„Das ist keine besonders gute Ausgangslage“, sagte Jackson sanft, um Karja etwas zu beruhigen. „Doch werden wir nichts unversucht lassen, Ihren Vater zurückzuholen. Niemand wird in seinen Anstrengungen danach nachlassen, bis er wieder hier ist. Denn wir alle sehen in ihm einen Mentor, Freund oder sehr geschätzten Kollegen. Und ich bin sicher, dass auch die Xindi vernünftigen Argumenten gegenüber aufgeschlossen sind. Nur müssen wir diese erst finden.“
Karja nickte nur, sagte aber nichts weiter.
„Mrs. Brooks, suchen Sie nach einem Weg, das Störungsfeld der Xindi zu neutralisieren“, befahl sie der Chefingenieurin. „Wir müssen unsere Kommunikationssysteme wieder nutzen können. Ohne sie sind wir taub und stumm zugleich.“
„Wir arbeiten daran“, erwiderte Wendy nachdrücklich. „Doch ist das nicht so einfach. Die Xindi stören sämtliche Frequenzen auf eine Art, die ich noch nie gesehen habe. Aber natürlich geben wir nicht auf.“
Jackson nickte. „Mr. Zien, die Sicherheit bliebt in Alarmbereitschaft. Vielleicht ergibt sich die Chance auf eine Rettungsmission. Diese dürfen wir dann nicht verstreichen lassen. Es gibt vielleicht nur die eine. Zudem wissen wir nicht, was die Xindi noch vorhaben. Wenn sie die Enterung des Schiffes planen, sollten wir darauf vorbereitet sein.“
Der Andorianer nickte knapp und seine blauen Antennen bewegten sich dabei leicht mit.
„Mr. Reed, Sie scannen mit den Sensoren so gut es geht den Explosionsort. Vielleicht können wir von hier aus noch etwas in Erfahrung bringen.“
„Ja, Ma’am.“ Seine Stimme verriet die Skepsis, die er empfand. Vom Orbit aus etwas zu erreichen war ziemlich unwahrscheinlich. Dazu waren die Schiffssensoren einfach nicht hochauflösend genug. Nicht, um Daten im atomaren Bereich zu empfangen.
Für einen kurzen Moment sah Jackson in die Runde. „Das wäre dann vorerst alles“, sagte sie dann. „An die Arbeit.“
„Ist schon etwas eingegangen?“ wollte Admiral Cartwright von seiner Sekretärin wissen. Er hatte sich etwas über den Schreibtisch gebeugt und sprach laut und deutlich in das Mikrofon der Kommunikationsanlage, die ihn mit dem Zimmer nebenan verband.
„Nein, Admiral, bisher noch nichts“, kam die Antwort, die er befürchtet hatte. Immerhin fragte er nicht zum ersten Mal nach. Er hatte sich bestimmt schon fünf oder sechs Mal in der letzten Stunde erkundigt. Und immer die gleiche Antwort erhalten. Die seine Sekretärin im Übrigen in einer bewundernswerten Ruhe wiederholte. Dabei zeigte sie keinerlei Anzeichen, von seiner Fragerei genervt zu sein. Er musste ihr dafür bei Gelegenheit seine Anerkennung mitteilen.
„In Ordnung. Informieren Sie mich, sobald sie etwas haben.“
„Selbstverständlich, Sir“, bestätigte sie und er konnte sich das Lächeln vorstellen, dass ihre Lippen dabei umspielte. Sie war nicht mehr die jüngste, doch absolut zuverlässig und vertrauenswürdig. Ohne sie hätte er sicherlich schon so manche Unterlagen für eine Besprechung vergessen. Oder gar ganze Termine. Sie war die gute Seele in diesen Räumlichkeiten. Und sie hatte absolut die Ruhe weg. Er hatte noch nie erlebt, dass sie sich aus der Ruhe bringen ließ. Vermutlich hatte sie in dieser Position einfach schon zu viel erlebt. Zu viel dramatisches und endgültiges, und letztlich drehte sich die Erde noch immer. Wie sollte man da nicht ruhig werden?
Nachdem sie die Verbindung unterbrochen hatte, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und atmete tief ein. Vor einigen Stunden hatte er den Auftrag gegeben, sämtliche Bestände an Antimaterie prüfen zu lassen. In allen Lagerräumen und auf allen Schiffen. Zwar war er sich sicher, dass die Sternenflotte nichts vermisste, denn so ein Verlust wäre ihm gemeldet worden, doch wollte er ganz sicher gehen. Denn wenn tatsächlich etwas abhandengekommen und dieses Material in falsche Hände geraten war, dann konnte das fatale Auswirkungen haben. Antimaterie wurde nicht nur zur Energieerzeugung genutzt, sondern kam auch in Waffen zum Einsatz. Photonentorpedos ohne Antimaterie waren nicht mehr als ein wirkungsloses Feuerwerk. Und als Bombe im Rahmen eines Terroranschlages konnte es katastrophale Auswirkungen haben, vor allem wenn die gesamte Menge auf einmal eingesetzt wurde. Und so ein Anschlag würde genauso aussehen, wie das was auf Pelek passiert war.
Schließlich stand er auf und ging zum Fenster hinüber, das einen Ausblick auf die Bucht von San Francisco mit der Golden Gate Bridge zuließ. Im Sonnenlicht brachen sich die Strahlen im Wasser und auf der Brücke und ließ alles hell erleuchten. Heute jedoch war der Himmel wolkenverhangen und trüb. So verlor auch der sonst so grandiose Ausblick seinen Reiz und wirkte etwas trostlos. Als ob er sich die Welt dort draußen der Stimmung innerhalb der Räumlichkeiten der Sternenflotte anpassen wollte.
Cartwright selbst war so angespannt, dass er sich kaum auf etwas anderes konzentrieren konnte. Zwar gab es nicht nur diesen Punkt auf seiner Aufgabenliste, doch beschäftigte ihn das im Moment am meisten. Denn erst wenn er das Ergebnis hatte, dann konnte er der Republic
ein Argument in die Hand geben, mit dem sie die Vorwürfe entkräften konnten. Und je schneller das der Fall war, desto besser war es. Denn mit jeder verstreichenden Sekunde konnten die Xindi dahinter kommen. Und das galt es, laut Admiral Sanawey, zu vermeiden. Und Cartwright konnte dem nur zustimmen. Von den aktuellen Entwicklungen auf Pelek konnte er aufgrund des Störsignales der Xindi noch nichts wissen.
Das Piepen der Kommunikationseinheit ließ ihn herumfahren. Anhand des Tones erkannte er sofort, dass sich seine Sekretärin bei ihm meldete. Gab es vielleicht Neuigkeiten? Waren nun von allen Schiffen und Basen die Meldungen eingegangen, so dass sich nun ein Bild ergab? Voller Erwartung stürzte er sich auf seinen Schreibtisch und hätte ihn dabei beinahe abgeräumt.
„Ja?“ fragte er erwartungsvoll.
„Admiral Noughi ist hier, Sir“, kündigte sie ihm an.
Cartwright runzelte die Stirn. Er hatte den Admiral nicht erwarten. Oder hatte er etwa einen Termin vergessen? Das würde er heute nicht ausschließen. Ein schneller Blick in seinen Kalender verriet ihm jedoch, dass dem nicht so war. Und Noughi würde wohl kaum die so dringend erwarteten Daten bringen. Denn diese Bestandsprüfung lag nicht in seinem Aufgabenbereich.
Nun, was immer es war, was Noughi hierherführte, es gab nur einen Weg, das herauszufinden. „Schicken Sie ihn herein“, wies er sie an.
Nur wenige Augenblicke später stand Noughi in der Tür. Er trat ein, schloss die Tür hinter sich und kam dann zum Schreibtisch. „Admiral“, grüßte er.
Cartwright fiel sofort auf, dass Noughi irgendetwas plagte, denn sein sonst so freundliches Gesicht wies Sorgenfalten auf, die für den Mann mit den asiatisch angehauchten Zügen eher ungewöhnlich waren.
„Mr. Noughi, was kann ich für Sie tun?“ erkundigte sich Cartwright freundlich. Er musste sich bemühen, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Denn er verspürte wenig Interesse daran, mit Noughi über irgendetwas Alltägliches sprechen zu müssen. Aber natürlich mussten alle anderen Bereiche der Flotte trotz der Krise auf Pelek weiterlaufen, und jedes andere Thema hatte das Recht, ernst genommen zu werden. Auf keinen Fall durfte er vermitteln, dass es unwichtige Themenbereiche gab. Denn das wäre nicht gut für die Mitarbeitermotivation.
„Ich habe hier die von Ihnen erwarteten Daten“, sagte Noughi und hob einen Datenträger in die Höhe.
Überrascht langte Cartwright danach. Doch bevor er sich die Daten ansah, blickte er irritiert zu Noughi. Sein Blick musste etwas fragendes haben, denn Noughi beantwortete seine Frage, bevor er sie stellen konnte.
„Ich habe mich in diese Bestandsprüfung eingeschalten“, erklärte er seinem Vorgesetzten. „Denn es betrifft ein Schiff aus meinem Verantwortungsbereich. Ich musste wissen, in welche Lage diese Daten meine Crew bringen würde.“
Cartwright nickte nur und legte den Datenstab dann zur Seite. „Und was hat die Bestandsprüfung ergeben?“ wollte er dann wissen. Sein Gefühl sagte ihm sehr deutlich, dass Noughi das Ergebnis schon wusste.
„Unsere Bestände an Antimaterie sind vollständig“, fasste er den Bericht kurz und knapp zusammen.
Erleichtert atmete Cartwright tief durch. Das hatte er zwar erwartet, doch war die Bestätigung doch eine große Erleichterung. „Das ist gut. Dann können wir Admiral Sanawey etwas in die Hand geben, das seine Position stärkt.“
„Es gibt da noch etwas. Ein Problem. Zwei, genauer gesagt“, stoppte Noughi die entstehende Entspannung. „Denn auf Proxima 3 sind uns sechs leere Transportcontainer für Antimaterie gestohlen worden.“
Cartwrights Stirn zog sich wieder in Falten. „Proxima 3“, wiederholte er langsam, als versuche er sich zu erinnern. „Eine Welt am Rande unseres Territoriums“, wusste er dann.
„Ja, Sir“, nickte Noughi. „Ein Raumgebiet, in dem wir mit erhöhter Piraterie kämpfen. Einige der kleineren Völker dort scheinen die Piraten zu unterstützen beziehungsweise selbst die Piraterie zur Erlangung von Rohstoffen zu betreiben. Beweise dafür haben wir aber nicht. Wir wissen auch nicht, wann genau diese Container gestohlen worden waren. Es muss vor knapp einem halben Jahr geschehen sein. Wir wissen aber sicher, dass sie leer waren.“
Leichter Ärger stieg in Cartwright auf. Ärger über diese unnötige und völlig überflüssige Panne. Natürlich wusste er, dass so etwas passieren konnte. Und es schien auch der einzige Verlust innerhalb der letzten Jahre gewesen zu sein. Aber warum musste das ausgerechnet in einem solchen Zusammenhang passieren? Hätten die Container nicht einfach verschwinden können und von ihrem neuen Besitzer für deren ursprünglichen Zweck verwendet werden? Dann wäre es ein einfacher Diebstahl ohne größere Folgen gewesen. Was es natürlich auch immer noch sein konnte. Denn es gab für nichts einen Beweis oder Hinweis. Es konnte sogar eindeutig belegt werden, dass die Sternenflotte keine Antimaterie vermisste. Aber ob die Xindi das glauben würden? Zumal der mit diesen Kisten maximal zu transportierende Inhalt genau der scheinbar bei der Explosion verwendeten Menge entsprach. Ein verdammt ungeschickter Zufall. Und zu allem Überfluss gab es niemanden, den man für diesen Zufall verantwortlich machen konnte.
„Sie sprachen noch von einem weiteren Problem“, ging Cartwright auf Noughis Bemerkung ein und versuchte damit einen kühlen Kopf zu bewahren.
„Wir haben den Kontakt zur Republic
verloren“, kam die prompte Antwort.
„Was heißt das?“
„Wir erreichen das Schiff nicht“, präzisierte Noughi. „Wir können keinen Kontakt herstellen. Als ob der Subraum gestört wäre.“
In Cartwrights Mundwinkel zuckte es leicht. Ihm kam es fast so vor, als hätte sich das Universum gegen sie verschworen, so viele Steine wie ihnen bei dem Versuch, diplomatische Beziehungen zu den Xindi herzustellen, in den Weg gelegt wurden. „Das heißt, wir können Admiral Sanawey unsere Erkenntnisse noch nicht einmal mitteilen.“
Noughi schüttelte knapp den Kopf. „Nein. Falls die Republic
noch existiert.“
„Wir sollten im Moment davon ausgehen“, sagte Cartwright fest. „Auch die Lexington
war von den Xindi an der Kommunikation gehindert worden. Wir sollten im Moment annehmen, dass die Xindi nun wieder so handeln. Vielleicht sind sie inzwischen zu den gleichen Erkenntnissen gelangt, wie unsere Leute.“
„Sie haben hoffentlich recht“, erwiderte Noughi, entspannte sich aber tatsächlich etwas. „Ich werde trotzdem einmal schauen, ob wir ein Schiff haben, das sich in die Nähe wagen kann, um mit den Langstreckensensoren etwas zu erkennen.“
„Tun Sie das“, nickte Cartwright zustimmend. Einen Blick zu riskieren konnte schließlich nicht schaden.
Langsam senkte die Sonne ihre letzten heißen Strahlen des Tages über die Stadt, um dann allmählich hinter dem Horizont zu verschwinden. Eine Wohltat für all jene, die nicht zu den hitzebedürftigen Wesen gehörten. Denn sobald die Sonne verschwunden war, verschwand auch die brennende Hitze. Und es wurde merklich kühler. Der Planet hatte nur eine dünne Schutzhülle, die die Wärme nicht besonders gut halten konnte. So entwich ein Großteil davon ins All hinaus und ließ die unbeleuchtete Seite des Planeten relativ schnell auskühlen. Alleine die intensive Sonneneinstrahlung am Tage sorgte dafür, dass es warm genug wurde, um auch in der Nacht am Boden noch genügend Wärme zu halten, so dass die Temperaturen nicht zu weit unter den Gefrierpunkt fielen. Eine Grundvoraussetzung für Leben in der bekannten Art und Weise. Denn wenn sich die Temperaturen regelmäßig den frostigen -270 Grad Celsius des Weltalls anpassen würden, hätte sich hier kein Leben entwickeln können. Dazu liegt die Temperatur des Weltalls zu nahe am absoluten Nullpunkt, der organisches Leben unmöglich machte. Und selbst eine Kolonie könnte dann nur mit technischen Hilfsmitteln bestehen.
Droga empfand die ersten Stunden nach Sonnenuntergang als die angenehmsten auf diesem Planeten Die brütende Hitze des Tages ließ endlich nach und die immer weiter fortschreitende Abkühlung war ein Segen. Bis das Empfinden kippte und es auch für ihn zu kalt wurde. Das war spätestens dann der Fall, wenn die Temperaturen den einstelligen Bereich erreichten. Und dann zog er es vor, sich in eines der Gebäude zurück zu ziehen oder auf sein Schiff zurückzukehren. Was ihm ohnehin das liebste war. Dort fühlte er sich wohler und am richtigen Platz. Hier unten war ihm alles fremd.
Heute hatte er diese Möglichkeit jedoch nicht. Aufgrund der letzten Ereignisse war eine kurzfristige Ratssitzung einberufen worden, um die Lage zu erörtern. Und da kein Xindi das Schiff einer anderen Spezies betreten wollte, war ein Gebäude in der Kolonie ausgewählt worden, in dem sie sich nun trafen.
Völlig unerwartet war er der Letzte, der den Raum betrat. Alle anderen Ratsmitglieder waren bereits anwesend. Selbst Ketak, der Reptilianer saß bereits aus einem Platz und sah den Nachzügler mit vor der Brust verschränkten Armen an. Der Vertreter der Aquarianer war nur per Videoschaltung zugeschaltet. Die Kolonie war für die Wasserwesen nicht ausgelegt. Nach der Zerstörung des ursprünglichen Konferenzgebäudes gab es keine ausreichend große Wassertanks mehr, in denen sie sich wohl gefühlt hätten.
Droga setzte sich an den Platz, der offenbar für ihn noch frei war. Die Tische im Raum hatte man zu einem Viereck zusammengeschoben. Auf der einen Seite hing der große Bildschirm, der den Aquarianer zeigte. An der rechten Seite saßen der Reptilianer und das Insektoid. Links saß Droga neben Durat, seinem Kollegen der Aborealen. Die Seite, die dem Bildschirm gegenüberlag, war leer. So entsprach die Sitzordnung den derzeitigen Bündnissen.
Schweigend sah Droga in die Runde. Weder er noch seine Spezies hatten zu diesem Meeting eingeladen. Daher hielt er es auch nicht für notwendig das Wort zu übernehmen. Er ließ seinen Blick stattdessen über seine Kollegen schweifen. Die Facettenaugen des Insektoids waren nicht zu deuten, während der Reptilianer ihn wie immer hasserfüllt anfunkelte. Dieses Volk schien immer voller Hass und voller Arroganz zu stecken, was kaum nachvollziehbar war, wenn man die Ereignisse der letzten Jahre so betrachtete. Doch schien jegliche Schandtat und jeder Nachweis einer solchen Tat an den Reptilianern abzuprallen.
Der Aquarianer sah wie immer so aus, als schwebe er über allem und als gingen ihn die Probleme der anderen nichts an. Dieser Eindruck wurde natürlich dadurch noch unterstützt, dass er im Wasser schwamm und keinerlei Berührung zum Boden hatte. So konnte man den Eindruck gewinnen, als schwebe er tatsächlich.
Seinem Kollegen Durat konnte Droga nicht in die Augen sehen, da er direkt neben ihm saß. Aber er kannte den Arborealen gut genug, um zu wissen, dass er etwas langsam schaute. Zumindest machte das den Eindruck, auch wenn sich hinter der so gemächlichen und manchmal auch etwas lethargische Art ein intelligenter und gewiefter Geist verbarg.
„Mr. Durat“, sagte der Aquarianer schließlich. Ein offenbar vorher abgesprochenes Zeichen, das als Aufforderung diente, denn der Arboreale reagierte sofort.
Durat erhob sich gemächlich und räusperte sich dann kurz. „Aufgrund der neuen Erkenntnisse und der neuen Beweislage ist es nötig geworden, dass wir uns auf ein weiteres gemeinsames Vorgehen einigen.“
„Es gibt nichts, worauf wir uns einigen müssten“, fuhr der Reptilianer grimmig dazwischen. „Die Beweise sind eindeutig. Die Menschen haben diesen feigen Terrorakt begangen. Dafür müssen sie zur Verantwortung gezogen werden. Und als erstes wird ihr Schiff konfisziert, dass sich in der Umlaufbahn befindet.“
„Wir haben bisher nur Indizien für die Schuld der Menschen vorliegen“, hielt Durat entgegen.
„Das ist lächerlich“, rief der Reptilianer aus. „Es handelt sich um eindeutige Beweise. Oder sind die Arborealen zu feige, die notwendigen Konsequenzen aus diesen Beweisen zu ziehen?“
Droga hörte dem Ganzen nur zu. Er hatte nicht vor, sich hier einzumischen. Dazu war die Lage zu unübersichtlich. Mit den gefundenen Indizien konnte man zwar auf die Schuld der Menschen schließen, auch wenn Admiral Sanawey stets die Unschuld seiner Spezies beteuerte. Doch allmählich beschlich Droga ein unbegründetes Gefühl, dass an den Beteuerungen des Admirals womöglich etwas wahr sein könnte. Vielleicht lag dieses Gefühl aber auch nur an einer Grundsympathie, die er den Menschen entgegenbrachte. Eine Sympathie, die darauf beruhen mochte, dass die Menschen den humanoiden Xindi ähnlicher waren, als die anderen Xindi-Spezies. Doch auf diese Sympathie zu bauen war sehr gefährlich, diese bittere Erfahrung hatte er bereits machen müssen. Sein Einsatz für die Konferenz zwischen Xindi und der Föderation, die so tragisch geendet hatte, hatte ihn bereits einigen Einfluss gekostet. Um seine Karriere stand es nicht zum Besten und noch war nicht absehbar, was ihn dieser Einsatz noch kosten würde. Denn eine endgültige Entscheidung um ihn und seine Rolle in dieser Sache würde es erst geben, wenn die Angelegenheiten hier geregelt waren. Vielleicht würde man ihn gar wegen Mittäterschaft oder aber mindestens wegen grober Fahrlässigkeit bei seinen diplomatischen Einsätzen vor Gericht stellen. Da konnte er keine weitere Stellungnahme zugunsten der Menschen mehr riskieren, vor allem nicht, wenn die Lage so unübersichtlich war und schlecht für die Menschen stand. Auf keinen Fall wollte er seine eigene Lage noch verschlimmern. Er musste vor allem sich selbst retten.
„Wir sollten den Menschen dazu befragen“, mischte sich der Aquarianer in die Diskussion ein.
„Dem stimmen wir zu“, wurde das Insekt übersetzt.
Durat nickte. Dann betätigte er sein Kommunikationsgerät. „Bringt den Gefangenen herein“, sprach er hinein.
Der Reptilianer schnaubte verächtlich. „Was hat das für einen Sinn?“ brummte er, hielt sich aber dann erst einmal zurück.
An der Wand neben dem Bildschirm, der den Aquarianer zeigte, wurde eine Türe geöffnet und zwei Arboreale traten ein. Sie eskortierten Admiral Sanawey herein, hielten es aber nicht für notwendig ihn festzuhalten, was vom Reptilianer mit einem grimmigen Blick quittiert wurde. Sie führten Sanawey zur noch freien Tischseite und bedeuteten ihm, dort stehen zu blieben. Dann traten sie zwei Schritte zurück, behielten ihn jedoch im Auge.
Droga betrachtete Sanawey. Er hatte den Menschen seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Denn er hatte ihn kurz nach der Gefangennahme an die Aquarianer ausliefern müssen. Er war dann auf ihrem Schiff gefangen gehalten worden. Dort hatte jede Xindi-Spezies drei Stunden Zeit bekommen, Sanawey zu befragen. Die Schiffe der Aquarianer besaßen eigens für die Zwecke der Zusammenkunft mit den Landlebewesen drei Räume, die nicht geflutet waren. Dort konnten sich Landbewohner aufhalten, was ihnen zumindest kurzfristige Besuche auf diesen Schiffen ermöglichte. Was allerdings nicht sehr häufig genutzt wurde.
Die humanoiden Xindi hatten ihre Fragen bereits an Bord ihres eigenen Schiffes an den Gefangenen gerichtet, kurz nachdem Sanawey inhaftiert worden war. Daher hatte Droga das Schiff der Aquarianer nicht betreten. Und er hatte nicht mitbekommen, wie es um den Menschen stand. Nun war er über sein Aussehen schockiert.
Sanawey hatte ein blaues Auge, das nahezu zugeschwollen war. Dazu waren mehrere Blutergüsse in seinem Gesicht zu sehen. Der Rest getrockneten Blutes klebte unter seiner aufgeplatzten Lippe. Da ihm die Hände auf den Rücken gefesselt waren, konnte er die Blutreste aus seinem Gesicht auch nicht entfernen. Diese Misshandlungen hatten ihm sicher die Reptilianer während ihres Verhörs zugefügt. Und den Insektoiden traute Droga das genauso zu. Die Arboreale waren für solche Taten zu sanftmütig. Und die Aquarianer konnte ihm das aufgrund des getrennten Lebensraumes schon nicht zugefügt haben. Doch trotz seiner Verletzungen stand Sanawey aufrecht da und strahlte eine Präsenz aus, wie Droga sie noch selten gesehen hatte.
„Admiral Sanawey, Sie kennen die Anschuldigungen gegen Ihr Volk“, wandte Durat sich an den Gefangenen. Dieser nickte nur knapp. „Was haben Sie dazu zu sagen?“ wollte der Arboreale wissen.
Sanawey sah zuerst Durat an, dann ließ er seinen Blick über die restlichen Anwesenden schweifen. Ihm war bewusst, dass jedes seiner einzelnen Worte hier sehr genau gehört wurde, daher überlegte er etwas länger und wählte seine Worte mit Bedacht. „Nach allem was mir bekannt ist, ist die Föderation nicht in die Ereignisse verwickelt, die sich während der Konferenz ereignet haben. Eine solche Verwicklung würde gegen jedes Gesetz der Föderation verstoßen sowie gegen alle moralischen Grundsätze und Prinzipien. Ich kann mir eine solche Beteiligung auch absolut nicht vorstellen.“
Er hatte deutlich gesprochen, ohne dabei arrogant zu wirken oder das angemessene Maß der Lautstärke zu überschreiten. Und sein Auftreten zeigte durchaus ein wenig Wirkung bei den Xindi, denn sie schwiegen für einen Moment und schienen über seine Worte nachzudenken.
Nur Ketak, der Reptilianer, war völlig unbeeindruckt. „Es war zu erwarten gewesen, dass er sein eigenes Volk verteidigt, wie er es auch schon in den Verhören getan hatte“, rief er in die Runde. „Und doch hat er zugegeben, dass seine Aussagen nur auf seinem eigenen Wissen beruhen. So etwas kann nicht als Aussage für sein ganzes Volk gewertet werden, denn die Verantwortlichen der Föderation werden ihren Unterhändler bewusst im Unklaren gelassen haben, damit seine Verteidigung noch glaubhafter wirkt.“
„Das ist richtig. Ich habe nur meine eingeschränkten Kenntnisse“, bestätigte Sanawey zur Überraschung aller. „Daher bitte ich Sie, stellen Sie meinem Schiff alle Ihre Daten zur Verfügung, die Sie haben.“ Als der Reptilianer schon wieder aufbegehren wollte, hob Sanawey die Stimme, um ihn zu übertönen und fuhr fort. „Arbeiten Sie mit meiner Crew zusammen. Sie werden unvoreingenommen helfen die Sache aufzuklären und die Schuldigen zu finden, wer immer sie sein mögen.“
„Natürlich werden sie das. Und dabei sämtliche Beweise vernichten und falsche Fährten legen“, höhnte der Reptilianer. „Und ich nehme an, Sie wollen Ihrer Crew die Daten persönlich bringen.“
Sanawey sah dem Reptilianer direkt in die Augen und wich seinem stechenden Blick nicht aus. „Nein. Ich werde hier bleiben. Als Zeichen des Vertrauens. Und als Zeichen, dass ich von der Unschuld der Föderation überzeugt bin.“
Ketak lachte grollend auf. „Sie sind ein größerer Narr als ich gedacht habe. Sie bleiben hier, weil sie unser Gefangener sind. Und das ist ein Zeichen unserer Macht über Sie. Ich freue mich auch schon darauf Ihren Kopf auf einem Pfahl vor dem Gebäude aufspießen zu können.“
Ohne eine Regung sah Sanawey den Reptilianer noch einen Moment an. Falls dessen Worte den Menschen hätten einschüchtern sollen, so war ihm nicht anzumerken, ob das gelungen war. Dann wandte Sanawey sich ab und sah zum Bildschirm. Was hätte er auf eine solch aggressive Aussage auch erwidern sollen, wenn er die ohnehin angespannten Verhältnisse nicht noch weiter verschlimmern wollte?
Der Kopf des Aquarianers auf dem Bildschirm schwankte im Wasser leicht hin und her. Noch immer empfand Sanawey den Anblick dieser Wasserwesen als überwältigend. Wohl auch, weil es so ein seltener Anblick war. Denn auch wenn er an Bord eines ihrer Schiffe festgehalten wurde, gesehen hatte er dort keines dieser Wesen. Denn sie konnten seinen Lebensraum nicht betreten und er ihren nicht. So hatte er nur einmal Audiokontakt zu ihnen gehabt. Ansonsten war er in seiner Zelle von der Außenwelt abgeschnitten.
„Haben Sie Ihren Ausführungen noch etwas hinzuzufügen?“ wollte der Aquarianer von Sanawey wissen.
„Nein“, schüttelte Sanawey den Kopf. „Ich würde mich nur wiederholen.“
„Bringt ihn zurück in seine Zelle“, wies das Wasserwesen die Wachen an.
Diese traten vor und bedeuteten Sanawey ihnen zu folgen. Nach einem letzten kurzen Blick in die Runde ließ sich der Admiral auch widerstandslos abführen. Sich zu widersetzten hätte auch keinen Sinn gemacht und zudem seine Worte von vorher absurdem geführt. Von den Wachen wurde er durch dieselbe Tür wieder hinausgeführt, durch die er auch hereingebracht worden war.
Drogas Respekt vor Sanawey war nach diesem Auftritt wieder gestiegen. Zwar glaubte er nach wie vor, dass die Föderation ihre Finger bei der Explosion mit im Spiel hatte, doch war er nun auch davon überzeugt, dass Sanawey tatsächlich nichts davon wusste. Und nun lief dieser aufgrund seiner Überzeugungen geradezu ins offene Messer. Eigentlich war er zu bedauern, denn die Föderation schien in ihm ein Bauernopfer zu sehen.
Nachdem Sanawey aus dem Raum hinausgeführt worden war, nahm Durat das Wort wieder an sich. „Wir sollten uns überlegen, ob wir den Menschen nicht vielleicht doch unsere neuesten Erkenntnisse zur Verfügung stellen sollten.“
„Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein“, fuhr der Reptilianer auf. „Durch unsere Erkenntnisse haben wir einen eindeutigen Vorteil gegenüber den Menschen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie davon Kenntnis erhalten und eine gefälschte Verteidigung aufbauen.“
„Es sind bisher nur Indizien…“ fing Durat an, kam jedoch nicht weiter.
„Es sind Beweise“, brüllte Ketak. „Und wir werden die Herausgabe der Daten nicht zulassen.“
„Wir sehen das genauso“, zirpte das Insekt und unterstützte damit die Position der Reptilianer.
Dann wandten sich die Blicke Droga zu. Auch er musste nun Stellung beziehen. Doch wusste er noch nicht für welche Seite er sich entscheiden sollte. Er musste noch abwägen, was für ihn und seine weitere Zukunft der günstigere Weg wäre. Und er war bei seinen Überlegungen noch zu keinem Ergebnis gekommen.
Der Aquarianer erlöste ihn von einer Antwort indem er ihm zuvor kam. „Wir werden dem Föderationsschiff die Daten zur Verfügung stellen“, entschied er. „Allerdings werden sie keine Gelegenheit erhalten, mit ihrer Heimatwelt zu sprechen.“
Diese Entscheidung kam überraschend. Und überraschend deutlich. Das war ungewöhnlich für die Aquarianer. Doch sie mochten ihre Gründe dafür haben. Vielleicht hatten sie Sanawey in den letzten Tagen auf ihrem Schiff beobachtet und dabei die Erkenntnis erlangt, dass man ihm trauen konnte. Vielleicht gab es auch einen ganz anderen Grund. Das würde wohl kein Außenstehender je erfahren. Aber die Sache war damit entschieden, da half auch der Einspruch der Reptilianer nichts mehr. Denn die Aquarianer hielten derzeit die Kontrolle über dieses System. Und keine Xindi-Spezies alleine war in der Lage, es mit den Aquarianern aufzunehmen. So mussten sich schließlich alle der Entscheidung beugen.
Droga war erleichtert darüber, keine Stellungnahme abgeben zu müssen. So konnte er die Entwicklung weiterhin erst einmal beobachten. Vielleicht war eine Entscheidung in einigen Tagen einfacher zu treffen.
Auf Deck 3 öffneten sich die Turbolifttüren und gaben Sylvia Jackson den Weg frei. Zügigen Schrittes ging sie den Gang entlang, der sich leer vor ihr erstreckte. Im Moment war hier niemand unterwegs. Was daran lag, dass auf diesem Deck nur Crewquartiere lagen und es bis zum nächsten Schichtwechsel noch ein paar Stunden hin waren. Wer Dienst hatte war auf seinem Posten. Wer dagegen dienstfrei hatte, der war schon bei seiner Freizeitbeschäftigung oder schlief.
Jackson war das nur recht. Sie wollte auf ihrem Weg nicht aufgehalten werden. Ein Ganggespräch war das Letzte, was sie sich jetzt erlauben konnte. Dazu war die Situation, in der sie sich befanden, zu ernst und die Zeit zu knapp.
Seit nun beinahe zwei Tagen verhinderten die Xindi jegliche Kommunikation. Sie waren von jeder Information abgeschnitten und wussten nicht, was die Xindi besprachen, was sie vielleicht noch entdeckt hatten. Und sie wussten nicht, wie es Sanawey ging.
Zum Erstaunen aller hatten die Xindi die Kommunikationssperre vor etwas mehr als einem Tag für wenige Sekunden aufgehoben. Was zuerst wie eine Fehlfunktion ihrer Technik ausgesehen hatte, hatte sich dann als Absicht herausgestellt. Sie hatten in diesen Sekunden neue Daten an die Republic
übermittelt. Daten, die die menschliche Schuld beweisen sollten. Vielleicht wollten die Xindi die Republic
-Crew damit zermürben. Doch boten diese Daten auch die Chance, weitere Untersuchungen anzustellen. Und genau das hatten sie auch getan. Sohral war seit einem Tag dabei, diese neuen Daten zu sichten, bewerten und mit den bereits vorhandenen Daten zusammenzufügen. Es musste doch wohl möglich sein, damit einen Schritt weiter zu kommen.
Leider hatte Sohral bisher kaum etwas zu diesen neuen Daten gesagt. Sein einziger Kommentar war, es sei interessant, dass die Transportbehälter für Antimaterie gefunden worden seien. Und dass er noch nicht genug Daten habe, um eine Theorie aufzustellen. Mehr war aus dem Vulkanier bisher nicht herauszubekommen gewesen.
Doch damit wollte Jackson sich jetzt nicht mehr abspeisen lassen. Sie wollte konkretere Angaben von ihm haben. Alles was er wusste, selbst wenn das noch nicht für eine Theorie ausreichte. Daher war sie auf dem Weg zu seinem Quartier. Dorthin hatte er sich vor über einem Tag zurückgezogen, um in Ruhe arbeiten zu können. Sie würde ihn nun dort herausholen und wenn sie ihn würde tragen müssen.
An seinem Quartier betätigte sie den Türmelder und wartete dann, bis er die Türe öffnete. Es dauerte tatsächlich etwas länger als normalerweise, bis sich die Türe vor ihr öffnete. Vielleicht hatte er ja etwas entdeckt und wollte die Daten erst sichern. Letztlich spielte es auch keine Rolle, denn er stand schließlich vor ihr.
„Mr. Sohral, wie schön, dass Sie wohlauf sind“, sagte sie etwas spitz. „Wir haben Sie schon vermisst, nachdem wir so lange nichts von Ihnen gehört hatten.“
„Es geht mir gut“, erwiderte er sachlich. Mit Ironie konnte man dem Vulkanier nicht bei kommen.
„Schön zu hören. Wie kommen Sie mit der Arbeit voran?“
„Es gibt gewisse Fortschritte…“
„Das ist gut“, unterbrach sie ihn rasch, was Sohral einzig mit dem Anziehen der rechten Augenbraue quittierte, sonst aber keine weitere Regung zeigt. „Dann zeigen Sie mir, was Sie bis jetzt haben.“
„Es sind noch nicht genug Fakten vorhanden, um die Daten plausibel zu erklären“, wies er sie ab.
„Sie werden mir jetzt zeigen, was Sie schon haben“, sagte sie bestimmt. „Ansonsten werde ich es Ihnen befehlen.“
Sohral zögerte noch einen Moment, schien dann aber zu der Erkenntnis zu kommen, dass sie im Recht war und trat zur Seite.
Jackson trat ein. Das Quartier des Vulkaniers war äußerst spartanisch eingerichtet. Es gab keine persönlichen Gegenstände, die das Quartier irgendwie wohnlicher gemacht hätten, nichts, was nicht irgendeinen logischen und effizienten Zweck hatte. Das einzige, was man als persönlich hätte bezeichnen können, war die vulkanische Meditationskerze, die auf einem niedrigen Tisch vor der Couch stand. Und die typisch vulkanische Harfe auf dem Schrank. Jedes vulkanische Kind erlernte dieses Instrument. Und jeder Vulkanier konnte damit Melodien erzeugen, die einem unter die Haut gingen. Diese emotionalen Lieder waren ein krasser Widerspruch zu dem sonst so logischen Volk.
Sohral hatte zudem ein erweitertes Computerterminal in seinem Quartier, das ihm einen vollen Zugriff auf den Hauptcomputer des Schiffes ermöglichte. So konnte er auch von hier aus uneingeschränkt arbeiten. Wie er es zur Zeit auch tat.
„Bitte zeigen Sie mir, was Sie bereits herausgefunden haben“, forderte Jackson ihn höflich auf.
Er wies zum Computer. „Bitte“, sagte er nur und bat sie damit heran. Dann rief er einige Daten auf. „Die Bilder der Transportcontainer geben nicht viel Aufschluss. Sie könnten überall erstellt worden sein. Und möglicherweise sind sie sogar Fälschungen. Allerdings haben wir derzeit keine Möglichkeit, das herauszufinden.
Sollte es aber wahr sein, dass die Behälter in einem Gebäude außerhalb des zerstörten Bereiches gefunden wurden, dann ergeben sich daraus einige Fragen, die mit den vorliegenden Daten nicht beantwortet werden können.
Erstens: Warum wurden diese Container erst zwei Wochen nach der Explosion gefunden?
Zweitens: Wenn der Täter die Container dort deponiert hatte, wie konnte er die Antimaterie dann in das Verhandlungsgebäude bringen? Die Verschmelzungsreaktion hätte in dem Moment begonnen, in dem er die Behälter geöffnet hätte. Die Antimaterie hätte in dem Fall sofort mit der Materie der Luftmoleküle reagiert. Der Täter hätte die Antimaterie in eine andere, geeignete Transportvorrichtung umladen müssen. Ein extrem gefährliches Unterfangen, ohne die entsprechend ausgerüstete Verladeeinrichtung.
Drittens: Wenn die Föderation an dieser Tat beteiligt war, warum sollte sie die Transportbehälter dann derart auffällig zurücklassen? Jeder Attentäter würde wohl seine Spuren verwischen wollen. Dazu wäre es am einfachsten die Transportbehälter so nahe wie möglich an den Tatort heranzubringen. Bei einer Antimateriereaktion würden keinerlei Spuren der Container mehr übrig bleiben.“
Jackson zog die Augenbrauen nach oben und legte dabei ihre Stirn in Falten. Das waren gute Anhaltspunkte, die Sohral herausgearbeitet hatte. Sie sprachen alle gegen eine Beteiligung der Föderation. Zumindest, wenn man das so sehen wollte. Ob die Xindi das auch taten war allerdings fraglich. Und solange sie keine eindeutigen und knallharten Beweise auf diese Fragen hatten, würden die Xindi auch alles als Spekulation abtun. An die eindeutigen Beweise würde die Crew aber nicht kommen, solange die Xindi die Kommunikation blockierten. So wussten sie auch immer noch nicht, ob die Sternenflotte Antimaterie vermisste oder nicht. Es war zum Verzweifeln.
„Gute Arbeit, Mr. Sohral“, sagte sie schließlich. „Aber ich bitte Sie, mit solchen Erkenntnissen schon etwas früher zu mir zu kommen. Auch ohne Theorie.“
Sohral reagierte nur mit einem äußerst knappen Kopfnicken. Für ihn war das als Bestätigung ihrer Anweisung ausreichend. Zwar war er nicht damit einverstanden, denn für ihn war es unlogisch Informationen weiter zu geben, die noch in keinem Zusammenhang standen und bei denen der Kontext zu der Gesamtsituation fehlte. Doch war es ebenso logisch die Befehle des Vorgesetzten zu befolgen, solange dabei niemand zu Schaden kam. Und letztlich ließ der Befehl noch immer etwas Spielraum, was den tatsächlichen Zeitpunkt der Meldung betraf.
„Darf ich fragen, wie Sie nun weiter vorgehen wollen?“ erkundigte sich Sohral.
Ein kurzes, humorloses Lächeln erschien auf Jacksons Lippen. „Das weiß ich selber noch nicht so genau“, gab sie dann ehrlich zu. Die Situation war zu verfahren. „Als erstes müssen wir die Kommunikation wieder in Gang bringen. Sonst können wir gar nichts tun. Wir müssen mit der Sternenflotte sprechen und mit den Xindi. Wir müssen hier irgendwie vorankommen und den Status Quo ändern.“
„Das ist richtig“, bestätigte Sohral, da er aber selbst keine Vorschläge zum Vorgehen hatte, schwieg er.
„Glauben Sie, Sie können aus den vorhandenen Daten noch mehr erkennen und analysieren?“
„Es wäre vielleicht möglich“, antwortete er etwas zögernd. „Allerdings wird die Wahrscheinlichkeit dafür mit jeder Sichtung etwas geringer. Wir sind jetzt schon an einem Punkt, an dem der Aufwand den Nutzen übersteigen wird.“
„In Ordnung“, nickte Jackson nachdenklich. „Dann ruhen Sie sich ein wenig aus und melden sich dann im Maschinenraum. Vielleicht können Sie Brooks ein wenig zur Hand gehen und gemeinsam mit ihr die Kommunikationsblockade überwinden.“ Sie gab ihm absichtlich keine Zeitvorgabe für seine Pause, da sie wusste, dass er sich ohnehin nicht daran halten würde. Außerdem waren die benötigten Ruhezeiten von Vulkaniern deutlich geringer als die von Menschen.
„Das werde ich“, bestätigte er.
Jackson nickte abwesend. Sie war mit ihren Gedanken bereits einige Schritte weiter. „Ich informiere Brooks“, sagte sie dann. Sie hatte ohnehin noch im Maschinenraum vorbei wollen, um sich nach den Fortschritten zu erkundigen. Sie wandte sich um und ging zur Tür. „Bis später“, sagte sie noch, dann verließ sie sein Quartier mit Ziel Maschinenraum. Sie musste unbedingt mit Brooks die Fortschritte besprechen. So es denn welche gab. Die Überwindung der Kommunikationssperre hatte oberste Priorität. Es gab im Moment nichts Wichtigeres. Und, verdammt nochmal, sie verfügten über das modernste Schiff der Flotte. Da sollte es ihnen doch möglich sein, irgendetwas unternehmen zu können.
Längst hatte sich die Dunkelheit wie eine bleierne Schwere über die Stadt gelegt. Sie war wie ein Mantel des Vergessens, denn sie sorgte dafür, dass die Trostlosigkeit der Stadt nicht mehr so deutlich erkennbar war. Die Sicht begrenzte sich auf den Radius der spärlichen Straßenbeleuchtungen. Alles andere darüber hinaus blieb für das Auge unsichtbar, als ob es nicht mehr existieren würde.
Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, Mitternacht schon vorüber. Trotzdem lungerten in diesem heruntergekommenen Teil der Stadt noch immer einige Personen auf den Straßen herum. Die meisten von ihnen waren so sehr betrunken, dass sie kaum noch gehen konnten. Sie schwankten durch die Straßen, stolperten oder fielen. Die Bars und Kneipen in dieser Gegend machten zu dieser Stunde ihr bestes Geschäft. Ihre Kundschaft bestand überwiegend aus zwielichtigen Gestalten aus allen Teilen des Universums, die es in diese Gegend verschlagen hatten. Und niemand von ihnen hatte die Möglichkeit wieder fort zu kommen. Oder auch einfach nur keine Heimat mehr, in der sie willkommen gewesen wäre. So schlugen sie sich mit zumeist illegalen und gefährlichen Jobs herum, die meist nur so viel einbrachten, um es am Ende des Tages hier wieder zu versaufen, verspielen oder auf sonst eine Art zu verlieren. Und jede Nacht gab es ein paar besonders Glücklose, die in einen handfesten Streit gerieten, der sie das Leben kostete.
In einer Bar, direkt an der Hauptstraße dieses heruntergekommenen Stadtteils, fand die lauteste Feier der Nacht statt. Dichter Rauch hing in dicken Wolken im Raum, der einem das Atmen fast unmöglich machte. Die unterschiedlichsten Pflanzen wurden von den Anwesenden geraucht. Pflanzen, die meist eine mehr oder weniger starke berauschende Wirkung hatten und von unzählig vielen verschiedenen Planeten stammten. Dazu kam ein Lärmpegel, der so hoch war, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Aus ein paar Musikboxen dröhnten seltsame Laute, die wohl bei irgendeinem Volk als Musik galten. Die Personen in der übervollen Bar brüllten sich gegenseitig an, um wenigstens ein bisschen was zu verstehen. Das Stimmengewirr war unvorstellbar. Die meisten Anwesenden waren aber ohnehin so betrunken, dass sie sowieso nichts mehr verstanden. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deswegen, war die Stimmung ausgelassen. Es wurde gegrölt und gescherzt und immer wieder lachten ein paar dunkle Stimmen auf, wenn mal wieder ein derber Witz die Runde machte. Es waren fast nur Männer in der übervollen Bar, Frauen wären als Freiwild für Vergnügungen angesehen worden. Und die vereinzelten Frauen, die es doch hierher gewagt hatten, wirkten entweder so männlich, dass keine Gefahr für sie bestand, oder sie waren so stark und überzeugend, dass sie sich die betrunkenen Männer vom Leib halten konnten.
In mitten dieser Menge saßen ein paar Menschen in Begleitung eines Klingonen und eines Andorianers. Sie hoben ihre Gläser, schrien einander einen Trinkspruch zu und kippten den hochprozentigen Inhalt dann in ihre Kehlen. Ein Ritual, das sie an diesem Abend schon so häufig durchgeführt hatten, dass sich keiner mehr an die genaue Zahl erinnern konnte.
„Auf unseren Captain“, rief einer der Männer, ein Blondschopf mit einer schlecht verheilten Narbe auf der Wange. Dabei riss er erneut das Glas nach oben, so dass ein Teil des Inhalts überschwappte. „Und seine genialen Manöver.“
„Auf Captain Craigs“, stimmten die anderen mit ein, ließen erneut ihre Gläser lautstark aneinander krachen und leerten sie dann in einem Zug. Die Bedienung kam kaum noch hinterher damit, die Gläser wieder aufzufüllen.
Nachdem die Gläser wieder voll waren, hob auch Craigs das Glas. „Und auf die verdammt nochmal beste Crew von Halunken, die es jemals gegeben hatte“, rief er laut und übermütig.
Johlend und grölend stimmten seine Männer ihm zu. Denn natürlich waren sie die beste Crew.
Seit Monaten waren sie äußerst erfolgreich in ihrem Gewerbe. Es gab keine anderen Piraten, die so viele Frachter erfolgreich überfallen hatten, wie sie. Seit sie die Waffe der Adrac erbeutet hatten, waren sie ihren Gegnern haushoch überlegen. Niemand konnte ihnen lange Gegenwehr leisten, in den meisten Fällen hatten sie die Schilde der gegnerischen Schiffe nach zwei Treffern geknackt. Und die Tarnvorrichtung ihres Schiffes tat ihr übriges, um die Überraschungsangriffe noch effektiver zu machen. Sie waren zu den unangefochtenen Königen der Piraten geworden. Und ihr letzter Überfall hatte ihnen so viel Material, Gold, Titan und andere wertvolle Edelmetalle gebracht, dass sie nun auch so reich waren, wie keine anderen menschlichen Piraten seit hunderten von Jahren. Es gab nun auch schon Stimmen in der kleinen Crew, die aufhören wollten und sich mit dem erbeuteten Vermögen ein schönes Leben machen wollten. Und andere, wie der Klingone Korak, wollten auf jeden Fall weitermachen. Für sie gab es keinen Grund aufzuhören, solange sie allen anderen so deutlich überlegen waren. Sie sahen die Möglichkeit, ihren Reichtum noch weiter anwachsen zu lassen. In Wahrheit lebten diese Personen aber für den Kampf und den daraus entstehenden Nervenkitzel. Sie würden niemals aufhören können.
Craigs wusste, dass es nur solange funktionieren konnte, wie die Crew zusammenhielt. So wie es jetzt lief, konnte es nicht weitergehen, wenn ein Teil ginge. Neue Crewmitglieder zu integrieren wäre nahezu unmöglich. Sie wären immer die Nachzügler und diejenigen, die sich ins gemachte Nest setzen. Sie hätten nicht die schlechten Zeiten mitgemacht, die die Crew zusammengeschweißt und geformt hatten. Daher musste er die Crew zusammenhalten, denn auch er hatte noch nicht genug von den Erfolgen. Und er wusste, dass er die Aussteiger dieses Mal noch zurückhalten konnte. Denn seit sie so erfolgreich waren, war er auch als Captain unumstritten.
Wie lange das noch so weitergehen konnte, das wusste auch Craigs nicht. Ihre Erfolge hatten auch ihre Schattenseiten. Zum einen gab es die Opfer, die natürlich alles andere als begeistert waren. Zwar sorgte Craigs dafür, dass die Anzahl der Toten und Verletzten möglichst gering blieb, ganz vermeiden konnte er das aber nicht. Und auch der materielle Schaden für die Völker, deren Frachter er überfiel, war enorm. So wurde alles daran gesetzt, ihn und seine Crew unschädlich zu machen. Die Zahl der anwesenden Kriegsschiffe in diesem Sektor stieg allmählich, auch wenn die meisten keine ernsthafte Gefahr für die Dark Devil
darstellten. Allerdings war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die großen Mächte wie die Föderation, die Klingonen oder die Xindi ihre Bemühungen verstärken würden, um das lästige Piratenschiff auszuspüren und unschädlich zu machen. Und spätestens dann konnte es für die Dark Devil
richtig gefährlich werden.
Zum anderen gab es auch noch die Neider. Andere Piraten und Diebe, die Craigs und seiner Crew den Erfolg nicht gönnten, da er auch ihren schmälerte. Solchem Gesindel war es denn auch zuzutrauen, dass sie den Großmächten Tipps gaben, wo sie die Dark Devil
und ihre Crew erwischen konnten. Einen solchen Verrat fürchtete Craigs mehr als ein zufälliges aufspüren durch ein großes Kriegsschiff. Doch konnte er kaum etwas dagegen tun als sich vorsichtig und aufmerksam zu verhalten und möglichst wenig Informationen anderen gegenüber preis zu geben.
Während ihnen die nächste Flasche romulanischen Ales unter lautstarkem Gegröle auf den Tisch gestellt wurde, erhob sich Craigs, musste sich aber kurz am Tisch abstützen, da ihn der Alkohol für einen Moment schwanken ließ. Dann fing er sich wieder und wandte sich um. „Ich muss mal kurz pissen“, ließ er seine Männer wissen, ehe er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Craigs war ungewöhnlich groß für einen Menschen und äußerst kräftig. Er konnte über die meisten Personen hinweg sehen, zumindest soweit es die rauchgeschwängerte Luft hier drin zuließ. Und dank seiner Kraft konnte er sich auch seinen Weg recht leicht bahnen.
Der Weg zu den Toiletten führte ihn am Tresen der Bar vorbei, wo sich besonders viele Wesen aller Arten tummelten, um sich ihren nächsten Drink zu holen. Mühsam kämpfte er sich vorwärts. An der Tür angekommen, die nach nebenan führte, zögerte er einen Moment und holte tief Luft. Den trotz seines Alkoholpegels war der Gedanke an die hygienischen Bedingungen, die ihn dort drin erwarteten, nicht sehr verlockend. Der Unrat von mehr als einem Dutzend verschiedener Wesen, die zum Teil schon aufgrund ihrer Anatomie verschiedene Toilettensysteme gebraucht hätten, und die dann aufgrund ihres Rauschzustandes ohnehin nicht mehr in die richtigen Becken trafen, das konnte einem schon den Magen umdrehen. Aber was blieb ihm anders übrig? Am besten war es, wenn man nicht weiter darüber nachdachte. Also versuchte er den Gedanken auszublenden und trat ein.
An der Bar sah ihm ein schweinegesichtiger Tellarit aus alkoholtrüben Augen nach. Er wirkte so, als versuche er sich an etwas zu erinnern, was ihm aber nicht einfiel. So als ob er Craigs erkannt hätte, aber nicht wusste, woher er den Menschen kannte. Langsam kratzte er sich am Kopf. Doch fiel es ihm immer noch nicht ein.
Als Craigs nach nur kurzer Zeit wieder kam, und etwas bleicher im Gesicht wirkte als vorher, drehte sich der Tellarit auf seinem Barhocker um und versperrte dem Piraten den Weg. „He, Terraner“, sprach er ihn an.
Craigs sah auf den Tellarit hinab. Dieses Volk war von der Schöpfung ohnehin nicht gerade mit Schönheit bedacht worden, aber dieser hier war besonders hässlich, empfand Craigs. Falls das mit dem Schöntrinken tatsächlich zutraf, dann musste er aber noch einiges in sich hineinkippen. „Was willst du?“ brummte Craigs in ihn an. Tellariten waren verschlagene Händler, denen er gerne mal etwas verkaufte, was er ihnen vorher gestohlen hatte, aber sonst wollte Craigs mit diesem Volk nichts zu tun haben. Wer wusste schon, was sie im Schilde führten.
„Ihr seid ziemlich laut“, lallte der Mann. „Ihr habt wohl einen guten Grund zu feiern, nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte Craigs knapp. Wollte der Tellarit ihm etwa in einem Gespräch Informationen entlocken, mit der er die Dark Devil
hinterher verraten konnte? Womöglich zu einem hohen Profit, denn das Kopfgeld auf sie stieg von Überfall zu Überfall. Aber dazu würde er keine Gelegenheit haben. Craigs wollte sich schon abwenden und weitergehen.
„Genießt es, das wird nicht mehr lange so weiter gehen“, sagte der Tellarit undeutlich.
In Craigs schrillten die Alarmglocken. Mit einem Mal war ein Teil seines Rausches verschwunden und der lauernde Luchs in ihm war erwacht. Wollte der Tellarit ihm etwa drohen? Oder wusste er gar etwas? Langsam beugte er sich ein wenig zu dem Mann hinunter, was ziemlich bedrohlich wirkte. „Was willst du damit sagen?“ knurrte er.
„Das weißt du genau.“ Die kleinen Äuglein des Tellariten zuckten unruhig hin und her. Er schien mehr getrunken zu haben, als er vertragen konnte. Craigs war sich nicht sicher, ob das Wesen diesen Rausch heute Nacht überleben würde. Und wahrscheinlich wusste der Mann nicht einmal mehr, was er eigentlich sagte. Sich mit ihm abzugeben war Zeitverschwendung.
„Wenn die Spannungen zwischen den Xindi und der Föderation in einen offenen Krieg umschlagen, dann wird es eng für Piraten wie euch“, fuhr der Tellarit fort und kicherte dabei. Offenbar war er ein Konkurrent oder ein zwielichtiger Händler, der genauso unter Piratenüberfällen litt, und er freute sich über die Aussicht, bald ein paar Widersacher weniger zu haben.
Craigs Augen verengten sich. Er hatte auch schon von dem sich anbahnenden Konflikt zwischen Föderation und Xindi gehört. Vor knapp drei Wochen hatte sich ein Anschlag ereignet, der etlichen Xindi und Föderierten das Leben gekostet hatte. Nur wusste niemand, wer dafür verantwortlich war. Selbst unter dem Abschaum hier gab es niemanden, der etwas wusste. Es war fast so, als habe niemand etwas mit der Sache zu tun, was den Verdacht der Xindi und der Föderation erhärtete, dass es eine der beiden Parteien war. Sollte sich das bestätigen, dann konnte daraus ein handfester Konflikt oder gar ein offener Krieg entstehen. Was alles andere als gut für Craigs war. Zwar gab es in einem Krieg durchaus die Chance, ein paar Überfälle durchzuführen. Doch die Anzahl der Kriegsschiffe in diesem Sektor würde sich deutlich erhöhen. Und wenn Piraten dann ein falsches Schiff überfielen, etwa einen Frachter mit Versorgungsgütern für die Truppen an der Front, dann konnten sie ganz schnell zu Gejagten werden. Denn nichts war für eine Nation im Krieg schlimmer, als unterbrochene Nachschublinien an die Front. So konnte man zum Staatsfeind Nummer Eins werden. Und ganz so viel Aufmerksamkeit wollte Craigs dann doch nicht auf sich ziehen. Aber noch gab es kein Indiz dafür, dass es so schlimm kommen konnte. Zumindest wusste er nichts davon.
„Das bereitet mir keine Sorgen“, gab Craigs überheblich zurück. Er wollte den Tellariten zum Weiterreden animieren.
„Das sollte es aber“, gab der Tellarit selbstzufrieden zurück.
Craigs lächelte. „Es gibt nichts, was mir Sorgen bereitet.“
„Das werden wir sehen, wenn der Krieg beginnt“, kicherte der hässliche Mann.
Mit einem Mal platzte Craigs der Kragen. Er packte den Tellariten an der Gurgel und hob ihn in die Luft. Mit strampelnden Füßen hechelte der Mann nach Luft. „Was willst du mir sagen?“ fauchte Craigs ihn an.
Die Personen um sie herum sahen nur kurz auf, stellten dann den Kräfteunterschied der beiden Kontrahenten fest und sahen, dass es keinen Kampf geben würde. Dann wandten sie sich wieder ab. Streitereien und handgreifliche Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung. Wenn es nicht gerade eine ordentliche Schlägerei gab, interessierte das niemanden.
„Deine Kräfte werden dir nichts mehr nützen, wenn der Krieg ausbricht“, brachte der Tellarit mühsam, aber immer noch amüsiert über die Lippen.
„Die Föderation wird niemals einen Krieg auslösen“, war sich Craigs sicher.
„Aber die Xindi“, hielt der Tellarit entgegen.
„Und die Föderation hat sich ganz sicher nicht an so einem Attentat beteiligt.“
„Aber die Xindi werden das glauben.“
„Was weißt du?“ Craigs hob sich den Tellariten so nahe vors Gesicht, dass er seinen fauligen Atem roch. Dieses Wesen stank erbärmlich, doch musste Craigs sich mit ihm abgeben. Es ging nicht anders.
„Ich habe den Reptilianern sechs Transportcontainer für Antimaterie der Föderation verkauft. Erst vor zwei Wochen“, prahlte der Mann mit seiner Tat. Er schien außerordentlich stolz darauf zu sein. „Ich nehme an, sie werden damit ein paar Beweise fälschen. Anders wäre ihr enormes Interesse und der Preis, den sie zu zahlen bereit waren, gar nicht zu erklären.“
Mit einigem Entsetzen hörte Craigs diese Worte. Er wusste, die Reptilianer waren schon immer davon ausgegangen, dass die Föderation und besonders die Erde eine Gefahr für die Xindi darstellten. Wenn sie die Tragödie nun ausnutzten, um mit gefälschten Beweisen die anderen Xindi-Spezies davon zu überzeugen, dass die Föderation wirklich gefährlich war, dann konnte das den Krieg geben, von dem der Tellarit sprach. Und für die Dark Devil
bedeutete das, dass die goldenen Zeiten vorüber waren.
„Ich sollte dir das Genick brechen“, knurrte Craigs den Tellariten an und warf ihn dann über die Köpfe einiger Anwesenden auf den nächsten Tisch. Mit einem dumpfen Laut schlug er dort auf, schien aber weitgehend unverletzt zu sein. Doch Craigs beachtete ihn nicht einmal mehr. Er wandte sich um und bahnte sich energisch einen Weg zu seiner Crew.
„Captain, wie lange pissen Sie denn?“ wurde er mit höhnischem Gelächter empfangen.
Sofort wurde ihm ein Glas in die Hand gedrückt. Doch Craigs wies es mit ernster Miene zurück. Noch immer war sein Kopf wie benebelt, doch musste er das nun irgendwie ignorieren. „Wir gehen. Und zwar sofort“, rief er seinen Leuten zu.
Verständnislose und irritierte Blicke waren die Antwort. Sie waren doch hier um zu feiern. Und der Morgen brach noch lange nicht an, sie konnten noch nicht gehen. Das musste ein Scherz sein. Doch der Blick des Captains sah nicht amüsiert aus.
„Sofort“, betonte Craigs grimmig und schnappte sich seine Jacke. „Wer nicht in fünf Minuten am Schiff ist, der wird aus der Crew ausgeschlossen und dessen Anteil von mir beschlagnahmt.“ Damit wandte er sich um und ging. Er hatte es nicht weit, der klingonische Bird-of-Prey, ihr Schiff, stand auf dem Flugfeld dieses Stadtteil, das nicht viel mehr als eine lieblos zubetonierte Fläche war. Und nach einem kurzen Moment des Zögerns, in dem sich die Crew verwirrt anschaute, standen alle gleichzeitig auf und folgten ihrem Captain hastig. Auf seinen Anteil wollte niemand verzichten, auch wenn das bedeutete, eine Partynacht vorzeitig zu beenden, noch bevor man sich mit irgendwelchen Frauen vergnügt hatte.
Zurück am Schiff wurde Craigs etwas überrascht von Kate Dolan, der Technikerin des Schiffes, empfangen. Sie war zusammen mit der einzigen weiteren Frau der Crew an Bord geblieben. Dolan machte sich nicht sonderlich viel daraus, den Erfolg eines Überfalles mit Alkohol zu begießen. Sie war mehr an technischen Dingen und der einwandfreien Funktion des Schiffes interessiert. Alles andere schien sie wenig zu interessieren. Nicht einmal Männer konnten sie aus der Reserve locken. Zumindest hatte Craigs das nie erlebt. Obwohl es da durchaus Interessenten gegeben hätte. Selbst in der eigenen Crew. Denn Kate sah ganz ordentlich aus und sie wirkte auch äußerst zierlich, was den Beschützerinstinkt bei einigen in der Crew geweckt hatte, selbst bei den sonst so ruppigen Kerlen. Doch Kate war nicht ganz so zierlich, wie sie wirkte. Sie wusste sich durchaus zu wehren. Vermutlich hatte sie ihre Erfahrungen in dieser rauen Welt gemacht. Denn als Lee Casey sie bei einem seiner Anbaggerversuche mal unsittlich berührt hatte, da hatte sie ihm kurzerhand das Handgelenk gebrochen. Casey hatte aufgeschrien wie ein kleines Kind. Zwar hatte die Verletzung letztlich folgenlos verheilen können, doch Casey hatte seitdem jeden Eroberungsversuch bei Kate aufgegeben.
Mit nachdenklich finsterem Gesicht ging Craigs an ihr vorbei. Der Rest der Männer folgte ihm mit einigen Metern Abstand. Sie wirkten weitaus weniger finster wie der Captain, dafür aber irritiert. Und weitaus betrunkener. Nicht jeder konnte ohne Hilfe gehen. Tanar, der Andorianer, schien nicht nur aufgrund seiner Hautfarbe blau zu sein. Er war so betrunken, dass er sich auf Lee Casey aufstützte, der unter dem Gewicht des Andrianers selber beinahe in die Knie ging. Nur Korak wirkte wie immer. Klingonen setzte ein hoher Alkoholkonsum weit weniger zu als anderen Spezies. Zwar war auch er nicht mehr nüchtern, doch noch weit davon entfernt, sich nicht mehr auf den Beinen halten zu können. Dolan zweifelte auch nicht daran, dass er noch immer imstande war zu kämpfen.
„Was ist passiert?“ fragte sie in die Gruppe hinein. Es war ungewöhnlich, dass eine Feier so früh endete. Das hatte es erst einmal gegeben, aber da hatten sie auch eine Schlägerei angefangen, die in einem handfesten Feuergefecht geendet hatte. Damals waren sie zur Flucht gedrängt worden, sonst wären sie alle erschossen worden. Der damalige Steuermann des Schiffes, hatte die ganze Sache auch nicht überlebt. Dolan wusste bis heute nicht, was damals genau geschehen war, aber offenbar hatten die völlig betrunkenen Männer eine unflätige Bemerkung über die Frau des Barbesitzers gemacht, was dieser nicht auf sich hatte sitzen lassen wollen.
„Keine Ahnung“, kam die lallende Antwort. „Der Captain war auf einmal ganz komisch und hat uns die ganze Party versaut. Ich hoffe, dass es was Wichtiges war, sonst…“ Der Rest ging in undeutlichem Lallen unter.
Kate war nun erst recht neugierig geworden, drängte sich an den Betrunkenen vorbei und folgte schnell dem Captain. Er war gerade auf dem Weg zur Brücke, als sie ihn einholte. „Was ist geschehen?“ fragte sie nochmals mit Nachdruck.
„Wir müssen aufbrechen. Und zwar sofort“, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. Auch er war betrunken, nur hatte er mehr Disziplin als die anderen und konnte es besser verbergen. Trotzdem war es ihm anzumerken an der Art wie er ging und wie er sprach.
„Warum?“ hackte Dolan nach. „Sind wir in Gefahr?“ Sie sah ihn an. „Ihr habt doch wohl nicht wieder jemanden zu Tode beleidigt?“
„Es ist viel ernster“, sagte er und wirkte mit einem Mal ziemlich betrunken. Dann aber fing er sich rasch wieder und ging weiter.
„Und wer soll das Schiff starten?“ fragte sie sarkastisch, als sie die Brücke betraten. Alle außer ihr waren viel zu betrunken, um das Schiff unbeschädigt an ein Ziel zu bringen.
„Ich“, gab er zurück.
„Na klar. Und ich bin ab heute die Chefärztin an Bord.“
Er sah auf sie hinab, da er sie um mehr als einen Kopf überragte. „Die Situation ist alles andere als lustig.“ Seine Stimme klang schwer, was er auch mit noch so viel Disziplin nicht verhindern konnte.
„Wenn Sie in Ihrem Zustand das Schiff wirklich steuern wollen, dann ist das wirklich alles andere als lustig“, gab sie ernst zurück.
Zögernd sah er sie an. Irgendwo in seinem Hinterkopf schien eine leise Stimme ihr recht zu geben, denn er schwieg und schien nachzudenken. Was in seinem Zustand nicht ganz so schnell ging. „Richtig“, sagte er dann. „Sie fliegen.“ Dann ließ er sich in den Kommandosessel fallen.
„Erst wenn Sie mir sagen, was geschehen ist.“ Sie nahm zwar an der Steuerkonsole Platz, verschränkte aber demonstrativ die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an.
Craigs sah ein, dass er kaum eine Wahl hatte und erzählte ihr von seinem Gespräch mit dem Tellariten. Dann ergänzte er das noch mit seinen eigenen Schlussfolgerungen um ihre eigene Zukunft, die unter dem beschriebenen Szenario nicht mehr allzu rosig wäre. „Und darum müssen wir handeln. Und zwar sofort. Wir müssen etwas dagegen unternehmen.“
Sie zog die Augenbrauen nach oben. „Und das wäre was?“
Stirnrunzelnd sah er sie an. Er kniff die Lippen zusammen und verzog dann das Gesicht. „Das weiß ich noch nicht genau“, gab er schließlich zu. „Aber wir müssen los. Bevor der Tellarit noch die Aufmerksamkeit der Xindi, der Föderation oder sonst wem auf uns lenkt.“
Das empfand Dolan dann doch als einleuchtend. Spätestens morgen, wenn der Tellarit wieder nüchtern war und er sich dann noch an die Unterhaltung erinnern konnte, würde er versuchen seinen Profit daraus zu schlagen. Und wenn er den Reptilianern dann einen Hinweis zukommen ließ, dass der Captain der Dark Devil
von den gestohlenen Föderationstransportconatinern wusste, dann würden die Reptilianer alles daran setzen, den Mitwisser aus dem Weg zu räumen. Bis dahin mussten sie also weit weg sein.
Sie aktvierte die Triebwerke des Schiffes und führte Energie in alle zum Start notwendigen Systeme. Nach wenigen Schaltungen fuhr sie die Triebwerke auf volle Leistung und unter dem Aufheulen der Systeme hob das Schiff langsam vom Boden ab. Je weiter sie sich von der Planetenoberfläche entfernten, desto weniger wirkte sich die Schwerkraft aus. Langsam konnte sie die Energiezufuhr zurücknehmen, bis sie schließlich das normale Niveau erreichte und das Schiff sich langsam vom Planeten entfernte.
„Welchen Kurs soll ich einschlagen?“ wollte sie wissen und wandte sich zum Captain um. Dann sah sie, dass er in seinem Kommandosessel zurückgefallen war und tief und fest schlief. Nur ein leichtes Rasseln ertönte aus seinem geöffneten Mund. Sein Rausch hatte ihn schließlich doch überwältigt.
Kopfschüttelnd sah sie wieder die Instrumente an. Sie würde wohl die Nachtwache übernehmen müssen. Und selbst über einen Kurs entscheiden müssen. Letztlich spielte es auch kaum eine Rolle. Hauptsache sie entfernten sich ein gutes Stück vom Planeten, so dass sie erst einmal nicht zu finden waren. Sie aktivierte die Tarnung des Schiffes und ging dann auf Warpgeschwindigkeit.
Aufgeregt kam Wendy Brooks auf die Brücke gestürmt. Ihre Wangen waren vor Erregung leicht gerötet und ihr Atem ging etwas schwerer. Es war fast so, als wäre sie vom Maschinenraum bis zur Brücke gerannt. Was aufgrund des Schiffsaufbaus gar nicht möglich gewesen wäre.
„Captain, die Kommunikation. Sie geht wieder“, berichtete sie erfreut. Was auch kein Wunder war, wenn man bedachte, wie viele Stunden sie in die Lösung dieses Problems gesteckt hatte. Es waren unzählige gewesen, in denen sie sich auch kaum eine Pause und überhaupt keinen Schlaf gegönnt hatte. Literweise Kaffee hatten sie auf den Beinen gehalten, da ihr auch Dr. Williams jegliches Aufputschmittel verweigert hatte. Doch nun war es geschafft.
Auch Jackson wurde von ihrer Freude bei diesen Worten angesteckt. „Das sind ja endlich einmal gute Nachrichten“, gab sie anerkennend zurück.
„Nun ja, es funktioniert aber nur eingeschränkt“, dämpfte Brooks allzu große Erwartungen. Denn sie hatte es nur zum Teil geschafft. „Wir konnten das Dämpfungsfeld der Xindi nur zum Teil überwinden. Das heißt, dass nur die Kurzstreckenkommunikation funktioniert. Die Föderation können wir damit nicht erreichen.“ Verlegen zuckte sie mit den Schultern. Sie war mit sich selbst unzufrieden, ob dieses unvollständigen Erfolges.
„Das ist doch immerhin ein Anfang.“ Jackson bemühte sich, ihre plötzliche Enttäuschung zu verbergen. Für einen Moment war sie so euphorisch gewesen, dass sich dieser Teilerfolg nun wie eine Niederlage anfühlte. Und das wollte sie Wendy gegenüber auf keinen Fall zugeben. Denn sie hatte phantastische Arbeit geleistet. Ein Dämpfungsfeld zu überwinden war keine Kleinigkeit und nur selten von Erfolg gekrönt. Vor diesem Hintergrund war ihre Leistung beachtlich, auch wenn es sie nicht sehr viel weiter brachte. Denn nun konnten sie zwar die Xindi erreichen, aber das machte im Moment keinen Sinn, solange sie keine Auskunft der Sternenflotte erhalten hatten. Erst wenn sie sicher wussten, dass die Sternenflotte keine Antimaterie vermisste und dazu am besten noch den Inventurnachweis vorlegen konnten, erst dann konnten sie mit den Xindi reden.
Sohral schien in eine ähnliche Richtung zu denken, denn er fühlte sich verpflichtet, seine Vorgesetzte auf die Gefahren hinzuweisen, die sich daraus ergeben konnten. „Captain. Ein Gespräch mit den Xindi macht mit unserem derzeitigen Wissensstand keinen Sinn. Im Gegenteil. Wir würden die Xindi nur darauf hinweisen, dass wir ihre Kommunikationsblockade überwunden haben. Sie würden aller Wahrscheinlichkeit nach alles daran setzen, die Blockade wieder vollständig herzustellen. Wir würden unseren Vorteil dadurch verlieren.“
Jackson nickte knapp in seine Richtung, als Zeichen, dass sie verstanden hatte. Aber sie war bereits zum gleichen Schluss gekommen. Und natürlich hatte Sohral recht, dass sie ihren Vorteil nicht leichtfertig aufs Spiel setzen durften. Doch derzeit konnten sie ihren Vorteil auch nicht ausspielen. Es gab niemanden in der Nähe, mit dem sie hätten reden können. Und das hieß wieder einmal warten. Warten, ob sich eine bessere Gelegenheit ergeben würde. Doch ging ihr allmählich die Geduld aus.
„Danke, Mrs. Brooks“, nickte sie der Chefingenieurin freundlich zu. „Trotzdem muss ich Sie bitten, weiter an dem Thema dran zu bleiben. Wir müssen die Langstreckenkommunikation unbedingt wieder in Gang bringen.“ Sie sah Brooks an und fügte dann etwas sanfter hinzu: „Aber erst, nachdem Sie ein wenig geschlafen haben.“
„Das geht schon“, winkte Wendy leichthin ab. Dass ihre Arbeit nicht ganz so euphorisch angenommen worden war, enttäuschte sie ein wenig. Natürlich war ihr bewusst, dass nur die volle Kommunikation eine echte Hilfe wäre. Aber ihr vom Schlafentzug ermüdetes Gehirn hatte sich trotzdem mehr eingeredet. Nun, dann musste sie eben weitermachen. Es musste ja sein.
„Nein, das geht nicht“, erwiderte Jackson zwar weiterhin freundlich, aber deutlich. „Sie werden eine Pause von mindestens acht Stunden machen. Und Sie werden schlafen gehen. Das ist ein Befehl.“
Brooks nickte willenlos. Sie war hin und her gerissen. Auf der einen Seite von der Vorfreude, wenigstens etwas Schlaf zu finden. Auf der anderen von dem Verantwortungsgefühl, das sie dazu zwang, weiterhin alles dafür zu tun, dass sie diese Situation lösen konnten.
„Gehen Sie“, sagte Jackson und ein leichtes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. „Bevor ich Sie von der Sicherheit abführen lassen und Dr. Williams befehle, Ihnen ein Schlafmittel zu geben.“
Wendy nickte langsam. Natürlich hatte Jackson recht. So müde wie sie war, konnte sie ohnehin keine Leistung mehr bringen. Sie wandte sich um und verließ die Brücke, um sich ins Bett zu begeben. Ob sie Ruhe finden würde, musste sich allerdings erst noch herausstellen.
Jackson sah ihr nach, bis sich die Lifttüren hinter ihr schlossen. Dann stand sie auf und ging zur Sohral an die Wissenschaftsstation hinüber. „Können wir die Nahbereichskommunikation irgendwie zu unserem Vorteil nutzen?“ Ihr ging einfach nicht hinunter, dass sie nun etwas in der Hand hatten, das sie aber nicht weiter brachte.
Sohral sah zu ihr auf und dachte einen Moment nach. „Ich sehe derzeit keine Verwendungsmöglichkeit dafür, wenn wir die Xindi auf diese Fähigkeit nicht aufmerksam machen wollen.“
Sie sog scharf die Luft ein. Natürlich war ihr das auch bewusst, aber sie hatte einfach darauf gehofft, dass der disziplinierte Verstand des Vulkaniers etwas mehr sah als sie. Doch das schien nicht der Fall zu sein. Es war zum Verzweifeln.
„Captain, wir empfangen eine Nachricht.“ Reeds Stimme verriet allergrößtes Erstaunen, was kaum verwunderlich war. Denn dass sie nur im Nahbereich kommunizieren konnten, betraf nicht nur die ausgehenden Nachrichten sondern auch sämtlichen Eingang. Es musste also jemand in der Nähe sein, der gemerkt hatte, dass sie wieder senden und empfangen konnten.
„Auf den Schirm“, befahl Jackson und in ihr Erstaunen mischte sich die Befürchtung, dass nun ein Xindi auf dem Bildschirm erschien und ihr sagte, dass sie sich zu früh gefreut hatte.
Doch stattdessen erschien das verzerrte Bild eines Menschen, der eine rote Sternenflottenuniform trug. Rauschen und statisches Knistern begleiteten seine Worte. „… rufen die Republic
. Bitte melden Sie sich.“ Dann gab es einen ganz offensichtlichen Schnitt und der Mann auf dem Bildschirm war plötzlich einen Zentimeter weiter links. „Hier ist die USS Orion
. Mein Name ist Allister McLane, Captain der Orion
. Wir rufen die Republic
. Bitte melden Sie sich.“ Dann kam wieder der Schnitt und der Mann legte erneut los. „Hier ist die USS Orion
…“
„Eine automatische Nachricht“, sprach Reed das Offensichtliche laut aus.
„Schalten Sie sie ab“, befahl Jackson. Nachdem das Bild verschwunden war, sah sie zu Sohral. „Lässt sich sagen, woher die Nachricht stammt?“
Der Vulkanier betätigte einige Tasten, dann sah er auf. „Von einem Punkt im Raum, der sich gerade noch in unserer beschränkten Kommunikationsreichweite befindet. Allerdings können die Sensoren diesen Bereich nicht erfassen.“
Das hieße, sie wussten nicht einmal, ob sich dort wirklich ein Föderationsschiff befand oder ob es eine gefälschte Nachricht war, um ihre Kommunikationsfähigkeit zu testen. Seufzend sah Jackson wieder zum Bildschirm. Warum konnte nicht einmal etwas ganz einfach sein? Aber was hatten sie schon für eine Wahl. Sie mussten es riskieren. „Öffnen Sie einen Kanal und fokussieren Sie die Transmitter direkt auf diese Koordinaten“, wies sie Reed an. „So können wir der Aufmerksamkeit der Xindi vielleicht entgehen.“ Sie konnte nur hoffen, dass dem so war, denn die Ankündigung der Xindi war eindeutig. Ein Versuch, ihre Blockade zu umgehen würde mit der Zerstörung des Schiffes enden. Nur konnten sie kaum hier sitzen und einfach abwarten.
„Kanal ist offen“, bestätigte Reed nach einigen Eingaben.
„Hier ist Captain Sylvia Jackson, vom Föderationsraumschiff Republic
“, hob sie ihre Stimme. „Wir rufen das unbekannte Schiff.“
Die darauffolgende Stille war geradezu unheimlich. Jeder wartete angespannt auf eine Antwort, doch die Lautsprecher blieben ruhig.
„Ist die Nachricht durchgekommen?“ wollte Jackson schließlich wissen.
„Den Angaben zufolge, ja“, erwiderte Reed nach einem Blick auf seine Daten.
Jackson presste die Lippen aufeinander und starrte noch einen Moment auf den Bildschirm. Ihre Hoffnung erhielt mal wieder einen Dämpfer. „Vielleicht sind sie nicht mehr da“, murmelte sie.
Plötzlich knackte es in den Lautsprechern. Dann ertönte eine rauschende Stimme. „Captain Jackson, wie schön von Ihnen zu hören. Wir haben uns schon ernsthafte Sorgen um Sie gemacht.“
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Jackson freundlich, aber kurz. Es gab wichtigeres als Small Talk. „Schickt die Sternenflotte Sie? Haben Sie Neuigkeiten?“
Für einen Moment war Stille, so als ob die Nachricht kurze Zeit benötigen würde, um bei der Orion
anzukommen. „Ja, das trifft beides zu. Wir sollen Ihnen einen Gruß der Admiräle Cartwright und Noughi bestellen. Sie lassen Ihnen ausrichten, die Sternenflotte vermisst keine Antimaterie. Allerdings sind sechs leere Transportcontainer für Antimaterie gestohlen worden. Über deren weiteren Verbleib gibt es keine Angaben.“
Triumphierend sah Jackson auf. Das war genau das, was sie hören wollte. Und das mit den gestohlenen Containern machte die Sache noch besser. Es passte absolut ins Bild. „Können Sie uns irgendwelche schriftlichen Beweise dazu liefern?“ wollte sie noch wissen. Das würde die Sache noch untermauern.
„Nein, tut mir leid, wir…“ Er brach ab und für einen Moment war es still. Dann knackte und krachte es aus den Lautsprechern. „Wir werden angegriffen“, hörte sie McLanes Stimme wieder. „Zwei Xindi-Schiffe nähern sich uns. Wir müssen uns zurückziehen.“
„Viel Glück“, rief Jackson noch schnell, dann bedeutete sie Reed mit einer knappen Geste, die Verbindung zu unterbrechen. Auf keinen Fall wollte sie von den Xindi bei der Kommunikation erwischt werden. Sie mussten ihr Geheimnis noch ein wenig wahren.
„Ich hoffe, sie schaffen es“, murmelte Sylvia. Sie hatten nur leider keine Möglichkeit das zu überprüfen. Schließlich drehte sie sich zu Sohral um. In ihren Augen zeigte sich wieder Zuversicht, auch wenn ihr Mienenspiel sonst keinen Rückschluss darauf zuließ. „Das ist genau das, was wir hören wollten“, sagte sie.
„Wir haben allerdings keinen Beweis dafür“, dämpfte Sohral ihre Zuversicht. Das war typisch für ihn, dass er immer ein Haar in der Suppe fand. Nur war das nicht aus grundsätzlicher Nörgelei, sondern aufgrund einer sachlichen Analyse. Das machte es aber nur noch schlimmer, weil er damit stets recht hatte.
„Das ist richtig“, gab Jackson zu. „Aber für uns formt sich allmählich ein Bild. Ein Bild das mir gar nicht gefällt.“ Ihre Augen zogen sich ein wenig zusammen. „Offenbar spielen die Xindi hier ein Spielchen mit uns und wollen uns aufs Kreuz legen.“ Und das mochte Jackson gar nicht.
Rumpelnd und ächzend öffnete sich die große Tür, die zum Lagerraum der Dark Devil
führte. Ursprünglich hatte sie einmal einen grünen Anstricht gehabt, so wie der Rest des Schiffes. Doch die Farbe war fast vollständig abgeblättert und das rotbraune Metall war zum Vorschein gekommen. Ein erdiger Ton, der einem das Gefühl vermittelte, sich in einem Erdbauwerk zu befinden. Die Klingonen mischten ihrem Metall einen Farbton bei, der diese Verfärbung entstehen ließ. Captain Craigs hatte sich immer gefragt wozu die Klingonen einen solchen Aufwand betrieben. Aber wahrscheinlich war es einfach nur so, dass es den Klingonen gefiel. Ein Volk von Kriegern, das den Kampf auf offenen, weiten Ebenen ebenso liebte, wie die Jagd durch dichte Wälder. Vielleicht war hier deswegen alles grün und braun. Vielleicht wollten sich die Klingonen auf diese Weise an die Grundtöne der Natur erinnern. Aber das war nur eine Spekulation. Vielleicht waren diese gedeckten Farben auch einfach nur besser für ihre Augen im Gegensatz zu hellem Licht und schimmernden Oberflächen.
Zu Beginn, als Craigs mit seinen Leuten dieses Schiff erbeutet hatte, da hatte er noch vor gehabt, die Inneneinrichtung etwas zu verbessern. Mit einem entsprechenden Diebesgut sollte alles etwas heller und freundlicher gestaltet werden. Aber irgendwie waren sie nie dazu gekommen. Und inzwischen hatten sich alle an das Schiff gewöhnt. So wie es war. Es passte so auch besser zu ihnen als Diebe und Plünderer. Denn Leute wie sie hielten sich nie gerne im Scheinwerferlicht auf.
Der Lagerraum dieses klingonischen Bird-of-Prey war nicht sonderlich groß. Hier wurden lediglich die technischen Geräte sowie die Waffen aufbewahrt. Es gab noch einen Frachtraum, der allerdings nicht sehr viel größer war. Denn bei den Klingonen war dies ein Aufklärungsschiff gewesen, ein Erkunder, mit dem nicht viel transportiert wurde. Es diente in erster Linie dazu, unauffällig in feindliches Gebiet vorzudringen und Informationen zu sammeln. Oder um einen kurzen Überraschungsangriff durchzuführen. Mehr konnte man mit diesen Schiffen nicht tun. Um wirkliche große Schlachten zu schlagen oder um auch mal Fracht transportieren zu können hatten die Klingonen andere Schiffe. Unter anderem einen weiteren Bird-of-Prey Typ, der optisch nahezu identisch war, nur doppelt so groß wie dieses Schiff.
Normalerweise reichte der Frachtraum aber aus, um das Diebesgut unter zu bringen. Und wenn es doch einmal nicht reichte, dann wurde auch ein Teil hier im Lager untergebracht. Und wenn auch das nicht reichen sollte, dann lagerten sie es eben in den leer stehenden Mannschaftsquartieren. Davon gab es auch noch zwei an Bord. Denn das Schiff war für eine Besatzung von zwölf Mann ausgelegt. Die Crew bestand jedoch nur aus zehn Personen, so dass sie etwas mehr Platz zur Verfügung hatten.
Zur Zeit waren hier im Lagerraum aber nur die Zünder für die Photonentorpedos und die Antimaterievorräte des Schiffes untergebracht. Die Beute des letzten Überfalls hatten sie unter sich aufgeteilt und den Rest auf Turga, ihrer letzten Anlaufstation, in Gold und andere, handlichere Wertgegenstände umgesetzt. So gab es Platz für neue Schätze aus Überfällen.
Als Craigs den Lagerraum betrat, bemerkte er nichts Ungewöhnliches. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, konnte aber nicht erkennen, warum seine Crew ihn hierher geführt hatte. Für einen Moment befürchtete er schon, dass sie ihn hier kalt machen wollten. Im Lagerraum war die dabei entstehende Sauerei besser wieder aufzuwischen. Doch er schob den Gedanken beiseite. Für ein solches Handeln gab es derzeit keinen Grund. Es lief seit Monaten gut für die Crew. Niemand konnte sich beklagen.
Langsam machte Craigs ein paar Schritte in den Raum hinein. Er sah sich aufmerksam um, zum einen um den Grund seines Hierseins zu erfahren, zum anderen um eine eventuelle Falle doch noch rechtzeitig zu erkennen. Korak, der Klingone, Kate Dolan, die Technikerin des Schiffes sowie Lee Casey standen hinter Craigs. Als er weiterhin nichts erkennen konnte, wandte er sich ihnen mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu.
„Gehen Sie noch ein paar Schritte weiter hinein“, forderte Dolan ihn auf.
Craigs wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Das Ganze kam ihm etwas merkwürdig vor. Doch Kates Blick wies nichts von einem Hintergedanken auf. Zudem war sie die letzte Person, die Ambitionen hätte, sich in einer völlig ruhigen Situation an einer Meuterei zu beteiligen. Sie hatte mehr ihre Technik und die Maschinen des Schiffes im Kopf. Nur daran schien sie ein Interesse zu haben. Und daran, dass alles so blieb wie es war. Veränderungen mochte sie gar nicht.
„Nur zu“, munterte sie ihn auf, als er weiter zögerte. „Aber passen Sie auf, dass Sie nicht stolpern.“
Craigs sah sie an, als ob sie nicht ganz zurechnungsfähig wäre. Worüber sollte er denn stolpern? Der Boden war eben, alle Kisten und Fracht an den Wänden gestapelt, nichts lag herum. Einzig über seine eigenen Füße konnte er noch stolpern.
Ohne mit der Wimper zu zucken wandte er sich wieder der Raummitte zu und ging weiter. Er hoffte, dass es eine gute Begründung für das hier gab, denn…
Mit einem Mal stieß sein Fuß dumpf gegen einen harten Widerstand und er wäre tatsächlich beinahe gestolpert. Irritiert fing er sich wieder und sah dann vor sich auf den Boden. Dort war nichts. Nichts, außer dem glatten Boden. Es gab kein Hindernis. Nichts, worüber er hätte stolpern können. Und doch war da was. Vorsichtig stieß er mit dem Fuß noch einmal dagegen. Tatsächlich, irgendetwas, das er nicht sehen konnte, musste dort sein.
„Kann mir das mal einer erklären?“ bat er.
„Das klingt jetzt etwas seltsam“, fing Dolan an. „Aber wir sind hier drin einer optischen Täuschung aufgesessen.“ Sein verwirrter Blick ließ sie für einen Moment schmunzeln, auch wenn das Ganze alles andere als komisch war. „Alles, was Sie hier drin sehen, ist eine holographische Projektion. Die meisten der Kisten sind in Wirklichkeit gar nicht hier“, fuhr sie fort. „Und eine der beiden verbliebenen Kisten steht mitten im Raum. Da sind Sie eben dagegen gelaufen.“
Mit großen Augen sah Craigs sie an. Normalerweise brachte ihn nichts so schnell aus der Fassung, aber das erstaunte ihn nun doch. „Warum sollte uns jemand einen holographisch heilen Raum vorgaukeln wollen? Und wo ist das Zeug, wenn es nicht mehr hier ist?“
„Wir sind bestohlen worden“, brach es aus Lee Casey heraus.
Skepsis kehrte in Craigs Blick zurück. Das war nahezu unmöglich. Wie sollten jemand etwas mitten aus ihrem Schiff heraus stehlen? Ohne dass sie es bemerkten. Daher machte er auch eine entsprechende Bemerkung.
„Es ist wahr“, bestätigte Dolan Caseys Worte. „Einen Moment.“ Sie hantierte mit einem großen Gerät in ihrer Hand, dann verzerrte sich die Umgebung und plötzlich waren die säuberlich aufgestapelten Kisten an der Wand verschwunden. Stattdessen standen direkt vor ihm zwei Kisten quer im Raum. Die Deckel waren offen und die Schlösser zerborsten. Sie waren ganz eindeutig aufgebrochen worden.
„Was ist passiert?“ entfuhr es Craigs entsetzt.
„Ich habe ein Störfeld aktiviert, dass die Energiestruktur des holographischen Feldes zerstört und…“ begann Dolan mit der Erklärung.
Doch Craigs winkte energisch ab. „Ich meinte nicht Ihre technischen Spielereien“, sagte er unwirsch. „Ich meine das hier.“ Er deutete im Raum umher. „Was ist hier passiert? Wie konnte das passieren? Und wann?“ Er spürte einen Zorn in sich aufsteigen, der sich gegen niemanden bestimmtes richtete. Er war nur wütend darüber, wie so etwas überhaupt passieren konnte. Wie konnten die derzeit gefürchtetsten Piraten sich nur bestehlen lassen? Wie konnte es jemand wagen, ihnen einen solchen Streich zu spielen? Wer war dazu in der Lage und unverschämt genug? Und wieso zum Teufel hatte niemand auf dem Schiff etwas davon bemerkt?
„Wie das passiert ist wissen wir noch nicht“, gab Dolan mit leicht eingezogenem Kopf zurück, nachdem keiner ihrer beiden Begleiter etwas sagte. „Wir haben es erst vor wenigen Minuten entdeckt und Sie dann gleich geholt. Wann das passiert ist wissen wir noch genauso wenig. Die letzten Zünder für die Photonentorpedos haben wir vor sechs Wochen aus dem Lager geholt. Da war alles noch in Ordnung.“
„Also muss es irgendwann in den letzten sechs Wochen geschehen sein“, schlussfolgerte Craigs und die Hoffnung den Täter zu finden schwand. Wenn sie nicht wussten wer das war und wann, dann hatten sie kaum eine Chance, dem Täter nachzusetzen. Aber sollten sie ihn durch Zufall doch noch in die Finger bekommen, dann würde er ihn eigenhändig töten, das schwor sich Craigs.
„Und was war in den Kisten hier?“ deutete er auf die beiden verbliebenen vor ihm.
„Die Zünder für die Torpedos“, erwiderte Dolan betrübt.
Craigs starrte an die Wand hinüber, um seinen Zorn nicht an Dolan auszulassen. Sie konnte wohl am wenigsten dafür. Und wenigstens brachte sie den Mut auf, es ihm zu sagen, während die beiden anderen nur wie die Ölgötzen dastanden. Die leere Wand erinnerte ihn an die anderen Kisten. „Dann sind die Antimaterievorräte ebenso weg?“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Ja“, kam die knappe Antwort.
„Wie viel wurde gestohlen?“ Craigs konnte seine Wut nur mühsam im Zaum halten.
Verlegen sah Dolan ihn an, ehe sie antwortete „Siebzig Zünder und zehn Kilogramm Antimaterie.“
Unruhig wälzte sich Drake Reed in seinem Bett hin und her. Sein Bettlaken war zerwühlt und sein Kopfkissen aus dem Bett gefallen. Er selbst lag verdreht und quer im Bett und fand einfach keine Ruhe. Zwar schlief er, doch Ruhe fand er dabei nicht. Unter den geschlossenen Lidern zuckten seine Augen wild hin und her. Ein Traum beschäftigte ihn, der scheinbar nicht enden wollte. Er hätte allerdings nach dem Aufwachen nicht mehr sagen können, was er geträumt hatte. Dass ihn wilde Träume beschäftigten, war jedoch nicht verwunderlich. Die Situation, in der sich die Republic
befand hatte sich nicht verbessert. Noch immer hielten die Xindi das Schiff in Schach. Und ihre angekündigte Meldung, wonach sie die Republic
-Crew noch über die weiteren Konsequenzen unterrichten wollten, war auch noch nicht erfolgt. Daher wusste auch noch niemand, wie das hier weitergehen würde. Dies erzeugte eine Anspannung und einen Druck bei der Crew, der sich in solchen Träumen auswirkte. Reed war nicht der Einzige, der in diesen Nächten schlecht schlief.
Schließlich schreckte er schwer atmend auf. Leichte Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, die ihn die Kühle des Raumes noch deutlicher spüren ließen. Sie wirkte beruhigend, was seinen Atem auch wieder langsamer werden ließ. In der Dunkelheit erkannte er die Umrisse seines Quartiers. Natürlich, was auch sonst? Und außer ihm war sonst niemand hier. Und bestimmt kein Xindi.
Er atmete tief durch und beschloss dann, einen Schluck zu trinken. Vielleicht beruhigte ihn das soweit, dass er wieder schlafen konnte. Er schlug das Bettlacken zurück und ein Schwall kalte Luft streifte über seine Beine, was ihm eine kurze Gänsehaut bescherte. Dann schwang er seine Füße über den Bettrand und stand auf. Er musste zum Replikator im Raum nebenan. Das Licht ließ er jedoch aus. Der Schimmer, der von der Atmosphäre des Planeten Pelek ausging, reichte ihm an Helligkeit aus, um sich orientieren zu können. Wenn er nun noch das Licht anmachte, dann würde ihn das nur noch wacher machen. Und das wollte er nicht riskieren, denn er hatte vor, noch ein wenig zu schlafen.
Als er durch sein Wohnzimmer zum Replikator schlurfte, fiel ihm ein kleines, blinkendes Licht auf, das in der Dunkelheit wie ein Leuchtfeuer wirkte. Er erkannte darin sein Pad, das ihm anzeigte, eine Nachricht erhalten zu haben. Verwundert nahm Reed es auf. Wer hatte ihm in dieser Nacht eine Nachricht geschickt? Am Abend war sie noch nicht da gewesen. Vielleicht war es ja etwas Wichtiges. Sein Vorhaben, etwas zu trinken zu holen, hatte er vergessen.
Neugierig rief er die Nachricht ab. Im Absender erkannte er Elane. Sofort verfinsterte sich sein Blick. Damit hatte er nicht gerechnet, doch im Gegensatz zu den letzten Wochen, freute er sich auch nicht darüber. Für einige Sekunden überlegte er sich, die Nachricht einfach ungesehen zu löschen. Doch dann interessierte es ihn doch, was sie zu sagen hatte. Also rief er sie auf.
Wie üblich erschien Elane auf dem Bildschirm. Sie grüßte ihn freundlich und fragte, wie es ihm ginge. Dann plapperte sie munter drauf, so wie sie es immer getan hatte.
Reed konnte es kaum glauben. Zum einen, dass sie so dreist war, ihm eine Nachricht zu schicken, wo er ihr das letzte Mal doch deutlich gesagt hatte, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte. Sie hielt sich nicht nur nicht daran, sie überging es auch einfach. Sie entschuldigte sich nicht dafür, dass sie sich trotzdem meldete oder erklärte ihm, warum sie es trotzdem tat. Sie ging einfach gar nicht darauf ein und tat so, als hätte es die Unterhaltung neulich nie gegeben. Um zum anderen schickte sie ihm wieder eine Nachricht, anstatt sich direkt bei ihm zu melden. Er hatte doch herausgefunden, dass ein direkter Kontakt möglich war. Trotzdem verschickte sie lieber eine aufgezeichnete Botschaft. Vermutlich, weil diese den Vorteil hatte, dass er ihr nicht widersprechen konnte.
Dieses Maß an Unverfrorenheit überstieg Reeds Verständnis. Und seine Toleranzgrenze. Er konnte kaum glauben, wie jemand so dreist sein konnte. Oder konnte Elane ihr letztes Gespräch vielleicht tatsächlich soweit ausblenden, dass sie einfach so zur alten Handlungsweise zurückgehen konnte, ohne sich dabei etwas zu denken? Für Reed war das kaum vorstellbar, denn eigentlich war Elane eine intelligente Frau.
Noch während sie mitten im Erzählen war, stoppte Reed die Nachricht und löschte sie dann augenblicklich. Auf keinen Fall wollte er sich selbst in Versuchung führen, den Rest ebenfalls noch anzuschauen. Zumal es ihn nicht im Mindesten interessierte, was sie zu sagen hatte. Dann stand er da und starrte finster in die Dunkelheit hinein. Für einige Minuten war er nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Und so gab er sich einfach seiner inneren Wut hin. Der Wut auf Elane, weil sie scheinbar einfach nicht aus seinem Leben verschwinden konnte. Das hätte die Sache jedoch so viel einfacher gemacht. Es war fast, als würde sie ihn wie einen Fluch verfolgen. Und dann spürte er noch eine viel größere Wut auf sich selbst und seine Gefühle. Darauf, dass sie noch immer solche Reaktionen in ihm hervorrief. Wieso musste sein innerstes Ich auch ständig auf sie reagieren? Warum konnte er es nicht einfach mit einem Achselzucken abtun? Gefühle waren eine ziemlich lästige Angelegenheit. Und eine aufreibende dazu.
Schließlich beschloss er, ihr augenblicklich zu antworten. Er wollte das tun, solange er noch emotional aufgewühlt war. Denn dann würden diese Gefühle in die Nachricht mit eingehen, was umso deutlicher machen würde, was er von ihr hielt.
Er setzte sich vor die Linse der Kamera und prüfte dann sein Erscheinungsbild auf dem Bildschirm. Kritisch sah er sich an. Ihm war deutlich anzusehen, dass er nicht gut geschlafen hatte und es auf der Republic
mitten in der Nacht war. Sein Haar war verstrubbelt und seine Augen sahen müde aus. Schlechte Vorrausetzungen für eine deutliche Ansage. Entweder musste er es doch auf morgen verschieben, oder er musste sich noch zurecht machen. Einen Aufwand, den er ihr gegenüber als nicht gerechtfertigt ansah. Doch warten wollte er auf keinen Fall. Zögernd sah er sich auf dem Monitor an. Aber so konnte er die Nachricht auf keinen Fall aufzeichnen.
Dann kam ihm eine weitere Möglichkeit in den Sinn. Er konnte ihr auch einfach nur eine schriftliche Nachricht schicken. Auf diese Weise war es egal, wie er aussah. Zwar war es hier schwieriger, Emotionen hinein zu packen, doch letztlich spielte das keine Rolle. Er hatte ihr ohnehin nicht viel zu sagen.
Er änderte das Programm und tippte dann mit flinken Fingern einen kurzen Text ein. Es war nicht viel, sollte jedoch ausreichen, um ihr klar zu machen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte. Als er fertig war lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und lass nochmals, was er geschrieben hatte.
Hallo Elane.
Für den Fall, dass du mich das letzte Mal nicht richtig verstanden hast, nochmal ganz deutlich: Ich will mit dir nie wieder etwas zu tun haben. Lass mich in Ruhe und melde dich niemals wieder bei mir.
Drake Reed.
Kritisch legte er den Kopf schief. Es war nicht der perfekteste Text, aber für die Uhrzeit ganz passabel. Und mehr Zeit und Denkaufwand wollte er in diese Sache auch nicht investieren. Das war es nicht wert. Schließlich kam in dem Text deutlich herüber, was er sagen wollte. Er konnte nur hoffen, dass sie es dieses Mal verstand.
Daher drückte er auf den Absendeknopf und schaltete dann den Bildschirm ab. So saß er in der Dunkelheit und starrte vor sich hin. Wenn es klappen sollte, dann hätte er sie endgültig aus seinem Leben vertrieben. So wie es sein sollte. Eine vernünftige Entscheidung. Er war auch nicht traurig darüber und würde ihr, nach allem was in den letzten sechs Monaten passiert war, keine Träne nachweinen. Doch glücklich fühlte sich auch irgendwie anders an.
Mit zurückgelehntem Kopf saß Sanawey in seiner Zelle. Dass er sich auf einem aquarianischen Schiff befand, ließ sich hier drin kaum erkennen. Der Raum bestand nur aus glatten Metallwänden. Auch der Boden und die Decke waren aus Metall. Selbst seine Pritsche war aus Metall und hatte eine weiche Auflage erhalten. Ein wenig zu weich für seinen Geschmack.
Er hatte inzwischen auch erfahren, dass dieser Raum speziell für die Landlebewesen eingerichtet worden war, um den anderen Xindi-Spezies den Aufenthalt auf diesen Schiffen zu ermöglichen. Ob der Raum manchmal auch geflutet wurde, um ihn für die Aquarianer nutzbar zu machen, das wusste er nicht. Die glatten Metallflächen könnten ein Indiz dafür sein. Auch wenn er sich nicht ganz vorstellen konnte, was so ein Wasserwesen in diesem Raum machen sollte. Wobei er sich ohnehin nicht vorstellen konnte, wie die Aquarianer lebten. Hatten sie individuelle Quartiere? Und wenn ja, wie waren diese eingerichtet? Es konnte da wohl kaum Schränke und andere Einrichtungsgegenstände wie bei Landlebewesen geben. Auch ein Bild an der Wand wäre unter Wasser wohl eher schwer vorzustellen.
Von den Wasserwesen selbst hatte er hier bisher noch keines gesehen. Sie lebten im mit Wasser gefüllten Teil des Schiffes. Und es gab keine Fenster dort hinein. Zumindest hatte er noch keine gesehen. Was ja durchaus auch Sinn machte. Wieso sollten die Wände hier Fenster haben? Auf Schiffen der Sternenflotte war das ja auch nicht der Fall. So war das einzige Mal, dass er die Aquarianer gesehen hatte, der Moment gewesen, in dem er vor den Rat geschafft wurde, um sich gegen die Vorwürfe gegen ihn zu verteidigen. Die Wesen hatten ihn absolut fasziniert. Es war bedauerlich, dass er ihnen hier nie begegnete. Selbst während der Befragung hatte er sie nicht gesehen. Es war alles über das interne Kommunikationsnetz gegangen. Schließlich konnten die Wasserwesen hier ja nicht einfach hereinspazieren.
Die Befragung vor einigen Tagen war bisher das Schlimmste an seiner Gefangenschaft gewesen. Noch auf Drogas Schiff war er von den humanoiden Xindi verhört worden. Sie hatten geschimpft und gedroht, damit er ihre Fragen beantwortete. Doch hatten sie keine Gewalt angewendet. Und natürlich hatte er ihnen alles gesagt was er wusste. Denn noch immer versuchte er einen Konsens zwischen der Föderation und den Xindi herzustellen. Auch wenn er den Eindruck hatte, nicht alle seine Antworten hatten den Xindi gepasst.
Dann war er hierher überstellt worden. Und noch am selben Tag war er von den Arborealen befragt worden. Ein absolut sympathisches Volk, für sein Empfinden. Sie stellten ihm sachlich die Fragen, hörten ihn an und behielten die ganze Zeit ihre typische Ruhe. Ob sie ihm glaubten oder nicht, ließen sie allerdings nicht erkennen.
Am nächsten Tag waren die Insektoiden und die Reptilianer da gewesen. Und für Sanawey war es nicht so gut gelaufen. Zwar hatte er auch ihnen alles gesagt, was er wusste. Doch die Insektoiden schienen ihm nicht zu glauben. Sie hatten kleine Elektroschocker dabei gehabt und ihn damit immer wieder drangsaliert. Am Ende hatte er das Gefühl gehabt innerlich zu verbrennen. Am schlimmsten aber waren die Reptilianer gewesen. Sie hatten ihm die Füße gefesselt und die Hände hinter dem Rücken. Dann hatten sie ihn mit Faustschlägen und ihren schweren Stiefeln bearbeitet. Und am Ende hatten sie ihn so zurückgelassen. Sanawey war am Boden gelegen und hatte sich aufgrund der Fesseln kaum bewegen können. Zwar hatte er sich lauthals darüber beschwert, doch die Reptilianer hatte das nicht interessiert. Und die Aquarianer konnten ihm nicht zu Hilfe kommen. Also musste er etliche Stunden in dieser Lage verbringen, bis er von Arborealen-Wachen abgeholt wurde, um in den Ratssaal geschleppt zu werden. Die Blutkrusten in seinem Gesicht hatte er daher vorher nicht entfernen können.
Wie lange das jetzt schon her war konnte er nicht genau sagen. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Bedingungen in dieser Zelle unterstützten diesen Zeitverlust auch noch. Denn die Aquarianer ließen das Licht hier drin ständig brennen. Es gab keinen Tag-und-Nacht-Rhythmus. Auch die Essenszeiten schienen keinem festen Rhythmus zu folgen. So schlief er unregelmäßig und aß unregelmäßig. Nicht gerade förderlich für das Zeitgefühl.
Und er wusste überhaupt nicht, was sich außerhalb seiner Zelle tat. Wie der Stand der Ermittlungen war, was auf der Republic
geschah. Er war vollständig von der Außenwelt abgeschnitten und völlig isoliert. Die Aquarianer schienen es nicht für nötig zu halten, ihn zu informieren. So hatte er viel Zeit, sich alle möglichen Szenarien bis in die tiefsten Details auszumalen. Und so ganz allmählich hatte er das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Der Wahnsinn schien vom ihm Besitz ergreifen zu wollen und er konnte nichts dagegen tun. Denn in diesem Raum gab es nichts, das ihn ablenken konnte. Noch nicht einmal einen Kratzer in der Wand. Nur die matt schimmernden Metallwände und das ständig leuchtende Licht. Ideale Bedingungen, um langsam verrückt zu werden.
Angespannt saß Craigs im Kommandosessel der Dark Devil
. Seinen linken Ellenbogen hatte er auf der Lehne aufgestützt und er rieb sich ununterbrochen mit der Hand langsam über das Kinn. Vor ihm auf dem Bildschirm war ein reptilianisches Kriegsschiff zu sehen, das sich ihnen langsam näherte. Es verließ gerade das Sonnensystem, in das die Dark Devil
hineinflog. Die Reptilianer schienen nichts von der Anwesenheit des Piratenschiffes zu merken und Craigs dankte wieder einmal der Tarnvorrichtung, die sie vor ungebetenen Blicken schützte. Trotzdem war er etwas angespannt. Zwar hatten sie auch das ein oder andere Mal die Xindi überfallen, doch waren das ausschließlich Frachter gewesen, deren technisches Potential nicht mit dem eines Kriegsschiffes vergleichbar war. Vielleicht konnten die Reptilianer die Tarnvorrichtung der Dark Devil
ja durchdringen. Er hatte hierzu keine Erfahrungswerte. Und die Reptilianer flogen so langsam. War das ein schlechtes Zeichen? Hatten sie das Piratenschiff gar schon entdeckt? Oder war das nur Zufall und die Xindi weiterhin ahnungslos? Craigs hatte beschlossen genau das herauszufinden. Denn er musste in dem vor ihnen liegenden System auch wieder dicht an Xindi-Kriegsschiffe heranfliegen. Da war ein Test gar nicht so schlecht, um zu sehen, was sie erwarten würde. Und besser er testete es gegen ein Schiff, als gegen eine ganze Flotte. Er war sich nur nicht so ganz sicher, ob er es wirklich so genau wissen wollte, ob die Xindi sie trotz Tarnung entdecken konnten. Denn sie mussten auf jeden Fall in das System hineinfliegen, egal wie gefährlich es werden konnte. Dazu fühlte sich Craigs aufgrund seiner Entdeckungen einfach verpflichtet, auch wenn sein persönlicher Nutzen dabei äußerst gering war.
Nach den letzten Entdeckungen, die sie an Bord gemacht hatten, war die Crew zusammengekommen, um über die Sachlage zu beraten. Denn auch wenn Craigs der Captain an Bord war und in Krisensituationen den Oberbefehl inne hatte, so wurde über grundlegende Dinge doch gemeinsam entschieden. Und dazu gehörte auch ihre derzeitige Mission. Auch wenn er mit seinem Vorschlag nicht gerade auf Gegenliebe gestoßen war, so hatten es doch beinahe alle eingesehen und ebenso als sinnvoll erachtet. Die Schlussfolgerungen, die sie aus ihren Entdeckungen gezogen hatten, trugen einfach so weitreichende Konsequenzen, dass sie handeln mussten, auch wenn sie direkt keinen Profit daraus zogen. Doch einen Krieg konnte keiner von ihnen wollen. Denn langfristig würden sie damit deutlich schlechter wegkommen.
Das Kriegsschiff der Xindi war nun nahezu gleichauf mit ihnen. Das war der entscheidende Moment. Wenn die Xindi etwas merken sollten, dann würde das jetzt passieren. Unwillkürlich hielt Craigs den Atem an.
Dann glitt das Kriegsschiff der Reptilianer langsam an ihnen vorbei. Erleichtert atmete Craigs auf. Nun war er sich fast sicher, dass die Xindi sie nicht entdecken konnten. Gewissheit gab es dafür aber nicht. Es konnte durchaus auch sein, dass die Reptilianer keine Bedrohung in ihnen sahen und die Erledigung der Angelegenheit der Flotte in diesem System überließen. Aber daran wollte Craigs nicht glauben.
„Setzen wir unseren Flug fort“, befahl er dann dem Navigator.
Lee Casey nickte und tippte auf seiner Konsole den entsprechenden Befehl ein.
Der Bildschirm zeigte nun das vor ihnen liegende System. Es war eine große, heiße Sonne mit nur drei Planeten, von denen auch nur auf einem Leben möglich war. Dort lag eine Kolonie der Arborealen, das wusste Craigs aus zuverlässiger Quelle. Und dort lag auch ihr Ziel. Allerdings nicht direkt auf dem Planeten, sondern in dessen Umlaufbahn.
Langsam wurden die Einzelheiten deutlicher sichtbar. Ihr Zielplanet wurde immer größer und schließlich war auch ihr Ziel in der Umlaufbahn auszumachen. Dort umrundete die USS Republic
den Planeten, umzingelt von fünf Kriegsschiffen der Reptilianer und der Insektoiden. Und nicht weit entfernt hielt sich eine weitere Gruppe von Schiffen auf, von jeder Xindi-Rasse eines. Und im gesamten System verteilt gab es noch vier riesige Schiffe der Aquarianer. Sollten die Xindi die Dark Devil
nun entdecken, dann war es um die Piraten geschehen. Gegen eine solche Übermacht würden sie nicht einmal eine Minute bestehen können.
„Willkommen in der Höhle des Löwen“, kommentierte Casey den Anblick.
Craigs lächelte. „Das ist nur eine abgelegene Kolonie. Die echte Höhle des Löwen befindet sich viel tiefer im Raum der Xindi. Ich nehme an, dort wird es noch mehr Schiffe geben. Im Vergleich dazu ist das hier doch ein Spaziergang.“
„Ja. Wahnsinn“, gab Casey trocken zurück. Ihm reichte auch das Aufgebot schon vollkommen aus.
Craigs wandte sich zu Kate Dolan um. „Können wir die Republic
erreichen?“ wollte er wissen. Schließlich war das der einzige Grund ihrer Anwesenheit hier.
Dolan gab rasch den Code ein, der das Testsignal sendete, dann nickte sie ihm zu. „Die Kontaktaufnahme ist möglich.“
„Dann bringen wir es hinter uns“, murmelte Craigs. „Stellen Sie eine Verbindung her.“ Der Befehl galt Casey.
„Verbindung steht.“
Craigs stand auf und straffte seine Gestalt. Er wollte als besonders willensstark wirken. „Hier ist Captain Craigs von der Dark Devil
“, sagte er schließlich in befehlsgewohntem Ton. „Ich rufe die USS Republic
.“
Es dauerte etwas, bis Casey schließlich erfreut nickte und ein Bild auf den Hauptbildschirm schaltete. Eine dunkelhaarige Frau mit den Rangabzeichen eines Captains erschien dort, was Craigs etwas irritierte. Er hatte Sanawey erwartet.
„Ich bin Captain Sylvia Jackson“, stellte sie sich vor. Ihre dunklen Haare, die sich um ihr Gesicht schmiegten, betonten besonders gut ihre grünen Augen, fand Craigs. Wenn sie nicht gerade eine Sternenflottenuniform getragen hätte, dann hätte sei eine recht attraktive Frau sein können.
„Captain“, grüßte Craigs freundlich. „Wo ist mein alter Freund, Captain Sanawey“, ließ er seiner Neugier Vortritt.
„Admiral Sanawey ist nicht an Bord“, gab sie etwas zurückhaltend Antwort. Die Bezeichnung alter Freund für Sanawey war im Zusammenhang mit diesem Piraten etwas fehl am Platz.
„Ah“, sagte Craigs gedehnt. Das erklärte auch ihren Rang. Er bedauerte es zwar, Sanawey nicht sprechen zu können, denn obwohl er den Mann kaum kannte, war er ihm auf Anhieb sympathisch gewesen. Doch mit Jackson würde es auch gehen. „Captain, ich habe Ihnen ein paar Dinge zu sagen, die für Ihre Mission hier äußerst wertvoll sein könnten. Sie sollten mir gut zuhören. Und wenn wir Glück haben, tun das die Xindi in diesem Moment auch.“ Er lächelte verschmitzt und fing dann an, von ihren Entdeckungen zu berichten. Er erzählte ihr von den gestohlenen Antimaterievorräten und den Zündern für die Photonentorpedos. Allerdings fasste er sich recht kurz dabei. Die genauen Umstände der Tat ließ er außen vor, ebenso wie den Hinweis, dass das ihre gesamten Vorräte gewesen waren. Das ging die Sternenflotte nun wirklich nichts an. Außerdem war es ihm peinlich. Eigentlich war er doch der Jäger und der Dieb. Dass er nun selbst Opfer eines Diebstahles wurde, das konnte er nicht zugeben. Niemals. Zu groß war die Gefahr, dass über ihn gelacht wurde.
Jackson hörte ihm aufmerksam zu, ließ aber durch kein Mienenspiel erkennen, was sie davon hielt, ob sie ihm überhaupt glaubte. Sie verhielt sich beinahe so ruhig wie ein Vulkanier.
„Insgesamt sind uns zehn Kilo Antimaterie abhandengekommen“, schloss Craigs seinen Bericht. Und ihm war aufgefallen, dass Jackson bei der Mengenangabe doch etwas gezuckt hatte. Sie schien die Zahl schon einmal gehört zu haben. Das war auf jeden Fall wichtig.
Sie sah ihn noch einige Sekunden an, nachdem er geendet hatte. Offenbar versuchte sie das Gehörte einzuordnen. Und abzuwägen, was sie davon halten sollte. „Vielen Dank für diese Informationen, Mr. Craigs“, sagte sie förmlich. „Allerdings glaube ich kaum, dass die Xindi uns diese Geschichte abkaufen werden. Nicht, wenn wir ihnen das berichten.“
Craigs Blick wurde etwas härter. Er hatte schon befürchtet, dass er mit einem solchen Argument konfrontiert werden würde. Und es passte ihm nicht sonderlich. Konnte das doch nur eins bedeuten, wenn er konsequent bleiben wollte. „Dann werde ich das den Xindi selbst sagen müssen. Zusammen mit Ihnen.“
„Ich weiß nicht, ob die Xindi den Worten eines Diebes und Mörder glauben werden“, gab sie ungerührt zurück. Craigs glaubte fast, dass sie ihn provozieren wollte. Dieses Weib war raffinierter als er gedachte hatte. „Und zudem sind Sie ein Mensch. Die Xindi werden an ein vorbereitetes Lügenkonstrukt glauben“, fuhr sie mit einem schlagkräftigerem Argument fort.
„Das werden wir abwarten müssen.“ Er musste sich Mühe geben, neutral zu klingen, denn wenn sie den Trotz aus seiner Stimme gehört hätte, wäre es mit seiner Glaubhaftigkeit wohl vorbei. „Wir werden in der Nähe bleiben.“ Bei diesen Worten spürte er die Blicke seiner Crew in seinem Rücken. Doch hatten sie keine echte Wahl, wenn sie einen Krieg vermeiden wollten. „Sie können uns dazu holen, wenn Sie mit den Xindi reden.“
Jackson gab vor, darüber nachdenken zu müssen. Dann nickte sie widerstrebend. „Wir werden das Angebot in Erwägung ziehen.“
„Tun Sie das.“ Er war etwas schroffer als er beabsichtigt hatte, aber Jackson brachte ihn wirklich etwas in Rage. Sie war knallhart. Insgeheim musste er sich eingestehen, sie wäre eine prima Ergänzung für seine Crew. Und vielleicht sogar noch mehr.
Er ermahnte sich innerlich zur Ordnung. Bevor die Verbindung getrennt wurde, musste er unbedingt noch etwas loswerden. „Ach, und Captain, ehe ich es vergesse. Wir nehmen an, dass das Verschwinden der Antimaterie in die Zeit fällt, als unser neuestes Crewmitglied wieder von Bord gegangen war. Das war vor knapp drei Wochen.“
Jackson sah ihn an und verstand nicht auf was er hinaus wollte. Was ging sie die Crew eines Piratenschiffes an und woher sollte sie über die Wechsel an dessen Bord informiert sein? Doch dann dämmerte es ihr und jetzt zeigte sich die Reaktion die Craigs erwartet hatte. Ihre Augen wurden größer und man sah förmlich, wie der Groschen fiel.
„Sie meinen doch nicht etwa…“, entfuhr es ihr. Sie sah sich kurz auf ihrer Brücke um, ehe sie fortfahren konnte. „Das lässt die ganze Sache in einem völlig neuem Licht erscheinen.“
NEUN
Nachdem Captain Craigs vom Bildschirm verschwunden war, starrte Jackson noch einige Sekunden nachdenklich vor sich hin. Die Informationen, die sie eben erhalten hatte änderten einfach alles. Doch wie konnte sie damit die Xindi überzeugen? Würden sie ihr überhaupt zuhören? Und wenn ja, würden sie ihr glauben? Sie hatte keinen Beweis in der Hand, nur ihre Worte, um die Xindi zu überzeugen. Verdammt wenig, auch wenn alles plausibel und wahr war.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr schwand ihre plötzlich erschienene Zuversicht wieder. Es gab zu viele Voraussetzungen, die sich erfüllen mussten, um aus dieser Lage herauszukommen, als dass sich ihre Situation gravierend verändert hätte.
Sie wandte sich zu Sohral um. Wenn jemand die neuen Erkenntnisse sofort richtig einordnen und die Veränderung ihrer Lage herausarbeiten konnte, dann war es der Vulkanier. Daher war ihr seine Meinung wichtig. „Was halten Sie davon?“
„Wenn dem so ist, wie es Captain Craigs geschildert hatte, dann würden sich daraus Fakten ergeben, die die meisten Fragen beantworten könnten.“
„Sie meinen, er hat uns angelogen?“ vergewisserte sich Jackson. Den Gedanken hatte sie bisher noch nicht gehabt. Die mögliche Erklärung hatte sie so erfreut, dass sie jeglichen Vorbehalt ignoriert hatte. Zum Glück war der Vulkanier auch weiterhin aufmerksam.
„Diese Möglichkeit dürfen wir auf keinen Fall unbeachtet lassen. Captain Craigs ist nicht die vertrauenswürdigste Person. Er ist ein Verbrecher, der höchst wahrscheinlich nur seine eigenen Interessen verfolgt.“
„Was könnte er für Interessen verfolgen, wenn er uns solche Informationen überlässt?“ blieb Jackson skeptisch. Sie wollte diese Informationen einfach glauben.
Sohral zog die rechte Augenbraue hoch. „Darüber kann ich nur spekulieren. Die Handlungsweise solcher Individuen ist oft von Emotionen wie etwa Gier und einem eingebildeten Ehrgefühl heraus gesteuert. Eine abgeleitetes Interesse ist daher meist kaum zu erkennen.“
„Unser Vulkanier will sagen, dass er keine Ahnung hat“, übersetzte Reed amüsiert. „Wenigstens in Sachen Emotionen sind wir den Vulkaniern überlegen.“
„Wenn Sie das Manko, von Gefühlen beeinflusste Entscheidungen zu treffen, die meist im nächsten Gemütszustand schon wieder bereut werden, als überlegen bezeichnen, dann zeigt das, dass Sie emotionaler sind, als es in Ihrer Position angebracht ist“, erwiderte Sohral völlig ruhig in Reeds Richtung.
„Meine Herren, bitte“, hob Jackson die rechte Hand, um das unangebrachte Streitgespräch zu beenden. „Konzentrieren wir uns auf die Situation. Können wir Craigs Bericht irgendwie mit Fakten untermauern?“ wollte Jackson vom Vulkanier wissen. „Geben die Daten vom Tatort vielleicht eine Bestätigung her?“
„Nein“, kam die prompte Antwort. Was niemanden überraschte. Sohral hatte die wichtigsten Eckdaten im Kopf. „Da sich die Herkunft der Antimaterie aufgrund der vorhandenen Rückstände nicht bestimmen lässt und da die Explosion jegliche weitere Spuren ausgelöscht hat, gibt es auch keine Hinweise auf die Zünder.“
Jackson biss sich auf die Unterlippe. Es war zum Verzweifeln. Da hatten sie endlich eine brauchbare Theorie, konnten diese aber durch nichts unterstützen.
Dann aber fiel ihr doch noch etwas ein. Es enthielt zwar ein Risiko, aber das mussten sie eingehen.
„Mr. Reed, rufen Sie die Orion
“, befahl sie. Neue Hoffnung durchströmte sie, wenigstens etwas bestätigt zu bekommen. Und vielleicht hatten sie ja erneut Glück und die Xindi würden ihre Übertragung nicht entdecken.
Reed runzelte die Stirn, da er nicht wusste was Jackson vor hatte und nicht gerade begeistert von diesem Risiko war, doch er führte den Befehl sofort aus. „Verbindung steht“, meldete er schließlich.
Auf dem Bildschirm erschien erneut Captain McLane. Die Orion
hatte offenbar den Kampf mit den Xindi überstanden und war auf ihre alte Position am Rande des Kommunikationsbereiches zurückgekehrt, um die weitere Entwicklung zu beobachten. Ein Glück für Jackson.
„Captain“, grüßte er freundlich und ließ sich nicht anmerken, ob der erneute Kontakt ihn überraschte. „Was kann ich für Sie tun?“
„Es gibt da etwas, das Sie für uns überprüfen könnten“, begann Jackson ihre Bitte vorzutragen. „Wir wissen, dass die USS Lexington
beauftragt war, die Lage bei den Adrac zu erkunden, da es seltsame Sensorenwerte von dort gegeben hatte. Können Sie bei der Sternenflotte nachfragen, wie der aktuelle Kenntnisstand hierzu aussieht?“
McLane wirkte überrascht. Mit dieser Frage hatte er absolut nicht gerechnet. Schließlich hatte die Republic
seiner Meinung nach ganz andere Probleme. Was interessierte sich Jackson da plötzlich für die Adrac? Doch vertraute er ihr einfach, dass es dafür Gründe gab. „Das kann ich Ihnen direkt sagen. Erst vor zwei Tagen haben wir eine Information hierzu aus dem Hauptquartier bekommen. Irgendetwas hat die Adrac vernichtet. Unsere Experten rätseln noch darüber, aber es hat den Anschein, dass sämtliche Außenposten zerstört wurden, ebenso wie der Heimatplanet. Ob es irgendwo Überlebende gibt und wenn ja, wie viele, das wissen wir derzeit noch nicht.“
Jackson spürte eine Erleichterung, was ihr angesichts der Millionen Toten, von denen sie gerade gehört hatte, unangebracht schien. Trotzdem konnte sie nichts dagegen tun. Die nüchterne Information an sich half ihnen, den Bericht von Craigs richtig einzuschätzen.
„Vielen Dank, Captain. Sie haben uns damit schon weiter geholfen. Sie hören wieder von uns“, verabschiedete sie sich knapp.
„Darf ich fragen, was das für einen Zusammenhang hat?“ wollte er irritiert wissen.
„Das erkläre ich Ihnen später. Jetzt habe ich leider keine Zeit dafür“, wies sie ihn ab. Dann bedeutete sie Reed, die Verbindung zu unterbrechen.
Als McLane vom Bildschirm verschwunden war, wandte Jackson sich wieder an Sohral. Ihrer Miene war eindeutig die neu entfachte Hoffnung anzusehen. „Das bestätigt die Aussage von Craigs.“
„Zumindest diesen Punkt seiner Angaben“, schränkte Sohral sofort ein.
Zögernd nickte Jackson. „Das ist richtig. Aber mehr Fakten werden wir dazu kaum zusammentragen können.“
Dazu sagte Sohral nichts, nickte aber bestätigend, was Jackson ausreichte.
„Na schön“, seufzte sie. „Dann lassen Sie uns sehen, was die Xindi dazu sagen. Mr. Reed. Rufen Sie die Xindi.“
Mit einem etwas mulmigen Gefühl im Magen betrat Jackson die provisorische Ratshalle auf Pelek. Die Xindi hatten diesen Raum in Sichtweite zum Ort der Explosion ausgewählt und mit einigen Tischen ausgestattet. Es wirkte bei weitem nicht so elegant und würdevoll wie der eigentliche Ratssaal. Doch darum ging es schließlich auch nicht.
Jackson hatte die Xindi kontaktiert um ihnen die Situation zu schildern. Doch das war schwieriger gewesen als sie gedacht hatte. Der humanoide Xindi, den sie am anderen Ende der Leitung erwischt hatten, war zuerst einmal aufgebracht gewesen. Er war nahezu außer sich gewesen. Dass es der Crew der Republic
gelungen war, die Blockade zu überwinden, war für ihn schon fast ein Akt des Verbrechens. Ein Affront gegen die Xindi. Jackson hatte all ihre Überzeugungskraft einsetzen müssen, um den Mann zu beruhigen und ihn davon zu überzeugen, dass er keinen Alarm schlagen musste. Es war eine heikle Situation gewesen, doch sie hatten sie gut überstanden. Sie waren dann an die Aquarianer durchgestellt worden, da Droga sich geweigert hatte, mit ihnen zu sprechen. Und da die Wasserwesen hier die Kontrolle innehatten, war diese Weiterleitung nur konsequent gewesen.
Sie hatten dem Aquarianer deutlich machen können, dass sie keine feindlichen Absichten hatten, und sie ihren Erfolg über die Kommunikationsblockade nicht für Machenschaften gegen die Xindi verwenden würden. Nachdem diese Überzeugungsarbeit geleistet war, hatte Jackson ihre Argumente gegen eine Teilnahme der Föderation an dem Attentat vorbringen und auch den wahren Täter entlarven wollen. Doch der Aquarianer wollte davon nichts wissen. Er hatte sie aufgefordert, das vor allen Xindi zu tun. Und dann hatte er dieses Treffen arrangiert. Und die kurze Zeit, die für sie die Vorbereitungen gebraucht hatten, bewies, dass die Xindi wohl durchaus an dem interessiert waren, was die Menschen zu sagen hatten.
Nachdem der Termin für ihr Erscheinen vor dem Rat feststand, hatte sie Craigs kontaktiert. Sie war der Meinung, dass es am besten war, wenn er mit ihr zusammen vor dem Rat erschien. Er war vielleicht nicht die vertrauenswürdigste Person, doch er konnte direkt erzählen, was er wusste. Von ihr wäre es ohnehin nur aus zweiter Hand gewesen.
So standen sie nun hier, vor den Xindi. Es war derselbe Raum, in dem auch Sanawey nach seiner Gefangennahme vor den Rat gebracht worden war. Und auch die Sitzordnung war wieder dieselbe.
Ein Ratsdiener führte sie zu ihren Plätzen auf der freien Seite des Tisches. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Bildschirm angebracht, der die Aquarianer zeigte.
„Vielen Dank für die Einladung“, sagte Jackson in die Runde gewandt, bevor sie sich setzte.
Der Arboreale nickte leicht, während der Rest keine Reaktion zeigte.
Auch Jackson wusste nicht, ob sie einfach anfangen sollte, oder ob es bei den Xindi irgendwelche Regeln zu einem Gesprächsbeginn gab. Daher wartete sie noch etwas.
Ehe sie dann beginnen konnte, übersetzte der Computer den Gesang des Aquarianers. „Beginnen Sie.“
Dankbar, endlich aus dem Schweigen ausbrechen zu können, erhob sich Jackson. Sie sah jeden Anwesenden kurz an, dann kam ihr noch ein Gedanke. Etwas, das sie klären musste, bevor sie anfangen konnte.
„Zuerst möchte ich wissen, ob es Admiral Sanawey gut geht und würde ihn gerne sehen“, sagte sie mit fester Stimme. Zwar spielte es keine Rolle für ihr weiteres Vorgehen, denn sie würde das hier kaum abbrechen können, selbst wenn er nicht mehr leben sollte, doch wollte sie einfach Gewissheit haben. Und das war die Gelegenheit dazu.
„Das ist doch wohl…“ fuhr der Reptilianer auf, kam aber nicht weit, denn der Aquarianer unterbrach ihn.
„Selbstverständlich. Der Gefangene wird umgehend in den Ratssaal gebracht. Bitte fangen Sie schon einmal an.“
Jackson schluckte, ob ihres einfachen Sieges, dann nickte sie. Sie hatte keine Ahnung, ob das Wasserwesen das wirklich tun würde, doch aus irgendeinem nicht erklärbaren Grund glaubte sie ihm. Vielleicht war es einfach nur seine Erscheinung, die ihr dieses Gefühl gab.
„Ich möchte Sie über einige neue Erkenntnisse informieren, die wir bei der von uns weitergeführten Untersuchung des Vorfalles gemacht haben. Dabei haben wir auch den Schuldigen und dessen Motiv gefunden“, begann sie.
„Natürlich haben Sie das. Mit gefälschten Unterlagen“, höhnte der Reptilianer.
Jackson widmete ihm nur einen kurzen, ausdruckslosen Blick, dann fuhr sie fort. „Als erstes möchte ich Sie auf einige Ungereimtheiten in Ihren Vorwürfen gegen uns hinweisen. Da wäre zum einen der Fundort der Transportcontainer. Laut Ihren Angaben lag er vierhundert Meter vom Zentrum der Explosion entfernt. Da stellt sich die Frage, wie ist Ihrer Meinung nach die Antimaterie von einem Ort zum anderen gekommen? Hat sich etwa jemand die Mühe gemacht dieses instabile Element umzuladen? Vorstellbar wäre das. Aber aus welchem Grund? Welchen Nutzen hätte das dem Täter gebracht? Es müsste ein enormer Nutzen gewesen sein, wenn so ein gewaltiges Risiko eingegangen wurde. Eigentlich wäre der Nutzen aber viel größer, wenn man die Container in die Explosion mit einbeziehen würde. So würden die Beweise vernichtet werden.“
„Es sei denn, man möchte, dass der Beweis erhalten bleibt“, hielt der Arboreale ruhig entgegen. „Um seinem Gegner zu zeigen, wer ihn getroffen hat.“
„Das wäre möglich“, gab Jackson offen zu. „Aber wäre ein Bekennerschreiben in dem Fall nicht einfacher? Das Umladen von Antimaterie unter den Bedingungen, wie sie in diesem Kellerraum geherrscht haben, ist nahezu unmöglich. Das Element ist zu instabil. Bereits ein entweichendes Atom würde mit der Materie der Umgebung reagieren und eine Kettenreaktion auslösen, die nicht zu stoppen wäre. Folglich bleibt im Umkehrschluss nur die Möglichkeit, dass leere Container dort platziert wurden, mit dem Hintergedanken, dass sie gefunden werden. Möglicherweise um eine falsche Fährte zu legen.“ Noch bevor ein Einspruch erfolgen konnte, fuhr sie fort. „Ich gebe zu, dass es dafür keinen Beweis gibt. Es ist eine Möglichkeit, genau wie Ihre Theorie. Unserer Ansicht ist es aber die Wahrscheinlichste.“
Die anwesenden Vertreter der jeweiligen Spezies schwiegen und schienen die Worte einfach zur Kenntnis zu nehmen. Nur der Reptilianer brummte ablehnend. „Wenn alle Ihre Punkte solch vage Vermutungen und Spekulationen sind, dann ist das hier Zeitverschwendung.“
„Es wird noch spannender“, versprach sie ihm kühl. Dann wandte sie sich wieder an die gesamte Runde. „Wir hatten noch vor ihrer Kommunikationsblockade die Möglichkeit mit der Sternenflotte zu sprechen. Dort hat man die Angelegenheit sofort untersucht und festgestellt, dass der Flotte tatsächlich sechs Transportcontainer gestohlen worden sind.“ Ein deutlich hörbares Einatmen kam von der Seite, auf der Durat und Droga saßen. Jackson fuhr unbeirrt fort. „Allerdings gibt es bei der Sternenflotte auch den Nachweis, dass diese Container leer waren. Auch wenn ich zugeben muss, ein solcher Nachweis könnte natürlich auch gefälscht werden“, sprach sie den Reptilianer direkt an. „Captain Craigs hier“ – sie nickte in Richtung des Piraten – „hat erfahren, dass diese sechs gestohlenen Container vor zwei Wochen an die Reptilianer verkauft worden waren.“
„Das ist eine Lüge“, sprang Ketak sofort auf. „Ich werde mir das nicht länger anhören.“
Er wandte sich schon zum Gehen, als sich der Aquarianer wieder vernehmen ließ. „Wir werden unsere Gäste anhören. Und zwar alles. Eine Beurteilung ihrer Worte erfolgt später.“ Die Worte, die der Computer übersetzte enthielten eine Deutlichkeit, die das Reptil zu einer widerwilligen Rückkehr bewegte. Er knurrte noch etwas undeutliches, dann setzte er sich betont langsam auf seinen Platz.
Jackson wartete noch einen Moment, bis wieder Ruhe herrschte, ehe sie fortfuhr. „Was das für ein Bild ergibt, dass die gestohlenen und verkauften Transportcontainer nun an einem Tatort als Beweismittel gegen die Föderation wieder auftauchen, das überlasse ich Ihnen.“ Ein geradezu vernichtender Blick wurde ihr vom Reptilianer zugeworfen, doch Jackson ignorierte ihn einfach. Bei diesem Wesen galt es Stärke zu zeigen.
„Kommen wir nun zu einem Motiv für diese Tat. Welches Motiv könnte die Föderation für einen solchen Anschlag haben? Die Beendigung der Gespräche? Dann hätten unsere Diplomaten doch einfach wieder gehen können.“
„Vielleicht wollten Sie einen offensichtlichen und grundlosen Abbruch nicht riskieren?“ spekulierte das Insekt. „Nicht, wenn alle anderen Großmächte des Quadranten zuschauen. Das hätte uns in die Hände einer anderen Macht treiben können.“
Jackson deutete ein kurzes, humorloses Lächeln an. „Wir wissen nicht einmal, ob Sie das nicht ohnehin getan hätten. Oder vielleicht schon getan haben. Vielleicht haben Sie allen Großmächten ein Gesprächsangebot unterbreitet und vielleicht auch schon Gespräche geführt. Ein Attentat auf unsere eigenen Leute hätte wohl kaum zu irgendeinem sinnvollen Ziel geführt. Mir fällt leider kein Motiv sonst ein. Ein Motiv, das groß genug wäre, um unsere eigenen Diplomaten zu töten. Hochrangige Diplomaten, darunter den Vizepräsidenten der Föderation. Personen, die wir nicht so einfach ersetzen können.“ Sie machte eine kurze Pause. „Wir glauben, dass jedes einzelne Leben wertvoll ist. So wertvoll, dass wir alles dafür tun um es zu schützen. Niemand bei uns würde Leben gegeneinander abwägen. So eine Rechnung kann nie aufgehen. Und dabei ist es völlig unerheblich, welcher Spezies dieses Leben angehört. Ein solches Attentat ist daher für uns unvorstellbar.“
Sie sah noch einmal in die Runde, doch fiel es ihr äußerst schwer, die Blicke der einzelnen Xindi zu deuten. Sie waren so unterschiedlich, dass sie nicht einmal die gleiche Mimik für gleiche Gefühle hatten.
Jackson wollte gerade weiter sprechen, als sich eine Türe neben dem Bildschirm öffnete und Sanawey von zwei Wachen der Arborealen hereingeführt wurde. Als sie sah, dass er alleine ging und im Großen und Ganzen unverletzt war, spürte sie, wie sich Erleichterung in ihr ausbreitete. Zwar hatte sie versucht, nicht über sein Schicksal nachzudenken, doch so ganz war ihr das nicht gelungen. Sie hatte schon befürchtet, dass er in jedem Fall bleibende Schäden davon tragen würde, wenn er die Sache nicht gar schon mit dem Leben bezahlt hatte.
Doch bis auf einige sichtbare Blessuren im Gesicht schien es ihm gut zu gehen. Er nickte ihr leicht zu, als Zeichen, dass alles in Ordnung war und dass sie fortfahren solle, ohne auf ihn einzugehen.
„Ich habe eingangs erwähnt, dass wir wüssten, wer der wahre Täter ist“, kam Jackson zu dem Punkt, weshalb sie hier war. „Nun, dazu muss ich etwas weiter ausholen. Vor mehr als einem Jahr sind wir einem Volk namens Adrac begegnet.“ Sie sah in die Runde, um die Reaktionen einzuschätzen, doch blieben sie auch weiterhin nicht deutbar. „Von einem der Adrac haben wir erfahren, dass dieses Volk die Xindi-Insektoiden als Götter und Schöpfer verehrten. Allem Anschein nach haben die Xindi in die Evolution der Adrac eingegriffen und sie zu dem gemacht, was sie sind. Oder besser, was sie waren. Denn wie es aussieht existieren die Adrac nicht mehr. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, dass ein ganzes Volk so plötzlich verschwindet. Zumal wir die Meldung erhalten haben, dass nicht nur die Heimatwelt der Adrac zerstört wurde, sondern auch alle Außenposten. Es gehört einiges an Logistik und technischem Aufwand dazu, das so schnell und unbemerkt geschehen zu lassen. Wie dem auch sei, hier liegt das Motiv für das Attentat auf die Konferenz. Denn nicht alle Adrac sind dem Völkermord zum Opfer gefallen. Mindestens einer hat überlebt.“
„Das ist unmöglich“, gab das Insekt zurück und nährte damit Jacksons Verdacht, dass die Xindi bei der Auslöschung der Adrac ihre Finger im Spiel hatten.
„Es ist aber so. Als die Crew meines Schiffes Gefangene der Adrac waren, konnten wir nur mit der Hilfe eines Adracs namens Terac fliehen. Er war es auch, der uns mit den wenigen Informationen, die wir über dieses Volk haben, versorgt hatte. Allerdings hatte er sein Volk nicht an die Föderation verraten wollen. Daher hatte er sich den Piraten um Captain Craigs angeschlossen.“ Sie sah zu dem bulligen Mann hinüber und übergab damit das Wort an ihn.
„Terac war ein guter Kämpfer“, begann Craigs mit tiefer Stimme. „Er hatte einen hervorragenden Sinn für Taktik und war für ein Jahr eine wichtige Ergänzung für mein Team. Dann, als wir die ersten Berichte von der Vernichtung der Adrac gehört hatten, war er außer sich vor Wut gewesen. Er hatte den gesamten Frachtraum verwüstet, ehe wir ihn beruhigen konnten. Und immer wieder hatte er dabei gerufen, dass die Xindi dafür bezahlen müssten. Wir haben dann vor drei Wochen eine Raumbasis angelaufen, um weitere Informationen zu erhalten. Terac hatte nur knapp erklärt, dass er das Schiff verlassen würde, um einen Rachefeldzug gegen die Xindi zu starten. Wir haben ihn auch nicht zurückhalten können, obwohl wir alle der Meinung waren, dass ein einzelner Mann gegen ein ganzes Volk keine Chance hätte. Doch er wollte nicht auf uns hören und wir ließen ihn ziehen.
Vor wenigen Tagen haben wir feststellen müssen, dass unser gesamter Antimaterievorrat gestohlen worden war. Insgesamt zehn Kilo.“ Er fühlte sich nicht gut dabei, einen solchen Verlust zuzugeben, doch schien es ihm hier angebracht zu sein.
„Wieso sollte Ihre gestohlene Antimaterie mit Ihrem Adrac in Zusammenhang stehen?“ wollte Durat wissen. „Wenn der Adrac schon so viel länger weg ist als die Antimaterie, hört sich eine Verbindung der beiden Ereignisse ziemlich konstruiert an.“
Nur widerwillig erzählte Craigs von dem holografischen Feld, das eine frühzeitige Entdeckung des Diebstahles verhindert hatte. Dabei betonte er, wie hochwertig diese Holografie war, so dass es ihnen unmöglich gewesen war, das früher zu erkennen. „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Diese Technologie muss Terac irgendwie von den Adrac mitgebracht haben, denn ich kenne kein Volk, das auf diesem Gebiet schon so weit ist.“
„Trotzdem ist es nur eine Spekulation, dass dieser Adrac die Antimaterie entwendet hat. Es könne auch jemand anders gewesen sein“, blieb der Arboreale bei seiner Meinung. Er fuhr sich mit den Fingern durch den weißen Bart und strahlte eine absolute Ruhe aus. Doch seine Meinung vertrat er unbeirrt.
„Nein“, erwiderte Craigs fest. „Es gibt noch einen weiteren Beweis dafür.“ Langsam zog er aus seiner Tasche einen Datenchip hervor. Er wollte keine hektischen Bewegungen machen, um niemanden aufzuschrecken. Die Wachen traten trotzdem einen Schritt näher und beäugten ihn skeptisch. Craigs zeigte ihnen kurz den Datenträger, dann hob er ihn hoch, so dass jeder ihn sehen konnte. „Hierauf befindet sich eine Aussage von Terac zu der Tat. Vielleicht haben wir hier die Gelegenheit, die Aufzeichnung anzusehen, die er gemacht hatte, bevor er das Schiff verließ.“ Auffordernd sah er sich um, doch niemand machte Anstalten, den Datenchip entgegenzunehmen. Was Craigs grimmig zur Kenntnis nahm. „Haben Sie etwa Angst davor, die Wahrheit zu erfahren?“ provozierte er ihre Gastgeber.
„Wer werden uns die Nachricht ansehen“, entschied der Aquarianer, da sich immer noch niemand rührte.
Eine der Wachen kam näher, nahm den Datenträger entgegen und ging damit zur Wand, an der der Bildschirm hing. Dort verband er den Datenchip mit dem System der Xindi. Während er das tat, sah Jackson zu Droga hinüber. Der Humanoid hatte bisher noch kein Wort gesagt. Was sie so nicht erwartete hatte. Sie hatte bisher die Hoffnung gehegt, dass er sich auf ihre Seite stellen würde. Oder wenigstens etwas Unterstützung brachte. Stattdessen saß er mit vor der Brust verschränkten Armen da und sah einfach nur zu. Als ob er nur als Beobachter hier wäre. Denn aufmerksam war er, sehr sogar.
„Wir können die Aufzeichnung nun abspielen“, sagte die Wache und wartete eine Bestätigung ab.
Durat nickte seinem Landsmann zu, worauf das Bild wechselte. Der Aquarianer war vom Bildschirm verschwunden, stattdessen war das Gesicht eines grauen Reptils erschienen, der, völlig unpassend, über zwei große Facettenaugen verfügte, die sich weiß vom Leder seiner Haut abhoben. Er hatte keine Nase, aber stattdessen einen Mund, in dem jede Menge scharfer Zähne blitzten. Dass er ein Raubtier war, war ihm anzusehen.
Jackson wusste, dass dies Terac war, der Adrac, der der Crew der Republic
damals zur Flucht aus der Sklavenmine verholfen hatte. Sie wusste es, da Craigs es ihr gesagt hatte. Sie hätte ihn nicht erkannt. Aber sie hatte ihn ohnehin nur einmal in einer Videobotschaft gesehen. Wie in den Gesichtern der Adrac verschiedene Individuen erkannt werden konnten, war ihr ohnehin schleierhaft. Für sie hatten alle Adrac gleich ausgesehen.
„Die Nachricht ist für Captain Craigs bestimmt“, begann Terac mit tiefer, rauer Stimme. „Wenn Sie das sehen, dann dürfte ich vermutlich schon tot sein. Denn ich werde mein Volk rächen. Mein Volk, das von den Göttern verraten und vernichtet wurde.
Wie Sie wissen, werden die Xindi-Insektoiden von meinem Volk als Götter verehrt. Sie haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Wir verdanken ihnen unsere Existenz, auch wenn sie uns nur für ihre eigenen Zwecke erschaffen haben. Doch ohne sie wären wir noch immer wilde Tiere ohne Verstand. Und nun haben sie, ohne jeglichen Grund, alle Angehörigen meines Volkes getötet. Ich weiß es. Auch wenn Sie sagen, es gibt noch keinen Beweis dafür. Ich weiß es. Zu so einer Tat sind nur Götter fähig. Ich weiß nicht wie, aber sie waren es. Und sie werden dafür bezahlen. Mit der Antimaterie werde ich sie töten. Und ihnen einen empfindlichen Schlag versetzen, von dem sie sich sehr lange nicht erholen werden. Das wird mein Vermächtnis für die Xindi werden. Sie werden für ihren Völkermord bezahlen müssen.“
Dann endete plötzlich die Nachricht. Keine Verabschiedung, keine Angaben, wie genau er die Xindi treffen wollte. Nur eine vom Hass erfüllte Nachricht, in der es nur um Rache ging. Und so starrte Terac mit dem letzten Bild der Nachricht, das zum Standbild wurde, anklagend vom Bildschirm herunter. Sofern man das aufgrund seiner so fremden Physiologie überhaupt sagen konnte.
„Aus der Nachricht ging nicht hervor, dass die Konferenz zwischen den Xindi und der Föderation sein Ziel war. Genauso gut könnte es sein, dass er sein Vorhaben noch gar nicht umgesetzt hat und noch immer dort draußen ist“, sagte Durat halbherzig, vermutlich um die Xindi wenigstens etwas zu verteidigen. „Die Föderation könnte noch immer hinter dem Anschlag stehen.“
Jackson sah ihm in die Augen. „Sie wissen, wie unwahrscheinlich das ist. Terac hatte genau die Menge Antimaterie zur Verfügung, die hier eingesetzt worden war. Er hatte die Mittel, er hatte ein Motiv. Und die Konferenz war ein gut gewähltes Ziel. Ein Attentat wie dieses hätte die entstehenden diplomatischen Beziehungen zwischen Xindi und Föderation für weitere hundert Jahre verhindern können. Und mit dem Wegfall der Adrac werden die Klingonen an die Grenzen der Xindi heranrücken. Keine guten Aussichten für die Xindi. Wer Rache an Ihrem Volk ausüben will, würde genauso vorgehen. Das hätte einen langfristig höheren Schaden in Aussicht, als auf einer Ihrer Zentralwelten ein paar zehntausend Leben zu vernichten“, verdeutlichte sie ihm die Lage. Durat schwieg daraufhin.
„Das ist lächerlich“, rief der Reptlilianer wieder. Er schien überhaupt nicht an irgendwelchen Tatsachen interessiert zu sein. Er wollte um jeden Preis der Föderation die Schuld in die Schuhe schieben.
Craigs fuhr herum und sah ihn mit blitzenden Augen an. „Terac war ein zuverlässiges Mitglieder meiner Crew“, zischte er das Reptil wütend an. „Er handelte stets nach seinen ehrbaren Grundsätzen. Dass ihn dieser Massenmord an seinem Volk zu so einer Tat trieb kann ich nur zu gut nachvollziehen. Ich hätte an seiner Stelle genauso gehandelt.“
„Dann sind Sie genauso ein Feigling wie dieser Terac es anscheinend war. Denn mit einer heimlichen Bombe zu töten anstatt im offenen Zweikampf, ist die Tat eines Feiglings.“
„Dann sind die Reptilianer die größten Feiglinge“, mischte sich Droga völlig unerwartet ein. Er war aufgestanden und sah bedrohlich zu Ketak hinüber. „Denn die Reptilianer haben erst neulich versucht in Sektor 859J mit einer Waffe aus einer Lichtjahre weiten Entfernung die Erde zu vernichten. Was war daran ein offener Zweikampf? Sie verfolgen Ihre Ziele auf zweifelhafte und äußerst feige Weise.“ Droga war zu dem Schluss gelangt, dass vielleicht doch noch nicht alles zu spät für ihn war. Die Argumente, die die Menschen vorgebracht hatten waren schlüssig und passten weit besser, als alles was die Xindi bisher in der Hand hatten. Die Menschen mussten einfach recht haben. Wenn er sich nun deutlich auf ihre Seite schlug und den Rat überzeugen konnte, dass sie recht hatten und das Vertrauen in sie gerechtfertigt war, dann war er mit seiner ursprünglichen Offensive, diplomatische Beziehungen herzustellen, doch nicht gescheitert. Plötzlich war es wieder möglich, dass er einen Erfolg feiern konnte. Es war manchmal schon erstaunlich, wie sich die Dinge wendeten.
„Schweigen Sie“, erwiderte der Reptilianer gefährlich. „Ihre Rolle in dieser Angelegenheit muss auch noch untersucht werden. Sie sollten daher aufpassen, was Sie sagen.“
„Ihre sehr zweifelhafte Rolle in dieser Angelegenheit muss untersucht werden. Sie haben alles getan, um diese Ermittlungen zu verhindern.“ Und plötzlich dämmerte es Droga. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich, wieso hatte er das nicht schon früher gesehen. „Sie haben falsche Beweise platziert“, brach es aus ihm heraus. „Die von Ihnen erworbenen Transportcontainer, Ihre anfängliche Kontrolle über den Tatort. Dies diente nur dazu falsche Beweise zu legen. Sie haben alles dafür getan, um die Schuld auf die Föderation zu lenken. Das war praktisch für Sie. Zum einen waren Sie schon immer gegen diese Gespräche. Wenn die Beweise für eine Schuld der Föderation gesprochen hätten, dann wären diese Gespräche vorüber gewesen. Genau das, was Sie wollten. Zudem…“ Er hielt für einen Moment inne, um seinen Gedanken die Gelegenheit zu geben, seinen übersprudelnden Worten zu folgen. Er sah Ketak ungläubig an, als ihm ein weiterer Gedanke kam. „Sie wussten, dass ein Adrac diesen Anschlag verübt hatte. Und indem sie ein anderes Volk für schuldig erklärten, wollten Sie von dem Völkermord an den Adrac ablenken, der an unseren Händen klebt. Ist es nicht so?“ Die letzten Worte schrie Droga fast schon. Dann herrsche plötzlich eine Stille im Raum, die fast schon unheimlich wirkte.
Die kleinen Augen des Reptils funkelten böse. Er schien nach Worten zu suchen, fand aber keine. Dann zog er einen kleinen Föderationsphaser aus seinem Gürtel und zielte in die Runde. „Das spielt keine Rolle. Die Gespräche werden auf jeden Fall beendet. Denn wenn sich herausstellt, dass der Xindi-Rat von der Föderation getötet wurde, dann werden alle anderen Xindi einen offenen Krieg fordern. Und den werden sie dann auch bekommen.“
Jackson hielt die Luft an. Sie wusste, was Ketak vorhatte. Er würde mit der Föderationswaffe in der Hand seine Kollegen töten. Und dann würde sie, zusammen mit Sanawey und Craigs, ebenfalls sterben, aber durch eine Waffe der Reptilianer. Die Strahlungsrückstände in den Leichen würden das Bild einer Schießerei ergeben. Und Ketaks Annahmen würden so aufgehen, wie er es beschrieben hatte. Und sie konnte nichts dagegen tun. Sie war unbewaffnet, wie alle andern Ratsmitglieder auch. Und die beiden Wachen der Arborealen, die Sanawey hereingeführt hatten, besaßen nur große Klingen.
„Und Sie Droga, werden als erster sterben. Ich werde die Ruhe genießen, wenn Sie nicht mehr da sind.“ Mit diesen Worten zielte Ketak auf Droga und drückte ab. Der Schuss tödlicher Energie bewegte sich im Bruchteil weniger Sekunden auf Droga zu. Doch traf er ihn nicht. In dem vorangegangenen Wortgefecht hatte niemand auf Sanawey geachtet. Der Admiral war unauffällig an Drogas Seite getreten und hatte sich im letzten Moment vor ihn gestellt. Nun brach er, getroffen von der Energie des Phasers, zusammen.
Fassungslos und schockiert starrte Jackson ihren Freund und Mentor an. Ihr kam es vor, als würde die Zeit langsamer vergehen. Sie meinte zu sehen, wie Sanawey langsam in die Knie ging. Dann brach sich sein Blick und das Leuchten aus seinen Augen verschwand, bevor er hart auf dem Boden aufschlug. Jackson hörte jemanden schreien. Erst später war ihr bewusst geworden, dass sie es gewesen war, die geschrien hatte. Ohne Rücksicht auf die Geschehnisse um sie herum stürzte sie zu Sanawey, um ihm beizustehen.
Craigs hatte in diesen wenigen Sekunden den Reptilianer nicht aus den Augen gelassen. Und während Jackson zu Sanawey stürzte, machte er einen Satz und sprang auf das Reptil. Craigs war groß und stark, doch Ketak war ihm ebenbürtig. Craigs hatte ihn zwar zu Boden geworfen, doch nun rangen sie miteinander. Der Phaser war dem Reptilianer aus der Hand gefallen und lag nur wenige Meter neben den beiden Kontrahenten. Wer als erstes die Oberhand gewann, der würde sich die Waffe schnappen können und seinen Gegner damit außer Gefecht setzen. So taten beide alles dafür, den anderen am Boden zu halten.
Plötzlich bekam Craigs einen kräftigen Tritt in den Magen. Ketak war es gelungen, sein Knie anzuheben und zuzutreten. Craigs ging für einen Moment die Luft aus. Und genau darauf hatte das Reptil spekuliert. Nun konnte er Craigs mit einem kräftigen Faustschlag zur Seite schleudern und sich den Phaser krallen. Doch lag er nicht mehr da, wo er ihn erwartet hatte. Irritiert sah sich Ketak um. Und blickte in die Mündung der Waffe, die auf ihn gerichtet war. Einer der beiden Arborealen-Wachen hatte ihn an sich genommen und zielte nun auf den Reptilianer.
„Dafür werde ich dich töten“, knurrte Ketak die Wache an.
Craigs sah unter den Tischen hindurch hinüber zu Jackson, die neben Sanawey kniete und seinen Kopf hielt. Der Admiral rührte sich nicht mehr. Doch hatte er für die Szenerie am anderen Ende des Tisches kaum mehr als einen kurzen Blick übrig. Schnell rappelte er sich wieder auf und behielt das Insekt im Auge, das noch immer am Tisch stand und offenbar erkannte, dass es zu spät war, um sich auf Ketaks Seite zu schlagen.
Plötzlich sprang auch der Reptilianer wieder auf und wollte der Wache den Phaser aus der Hand reißen. Doch dieser war geistesgegenwärtig und drückt noch rechtzeitig ab. Tödliche Energie leckte nach Ketak und warf ihn zurück zu Boden, wo er tot liegen blieb.
Craigs atmete tief durch, blieb aber angespannt. Seine Erfahrungen als Pirat hatten ihn gelehrt immer wachsam zu sein. Die Situation konnte sich jederzeit wieder ändern. Wenn die Xindi etwa beschlossen, die beiden Menschen doch noch gefangen zu nehmen. Aber so leicht würde er ihnen das nicht machen.
Unterdessen tastete Jackson nach dem Puls Sanaweys. Sie fand jedoch keinen. Da war nichts mehr. Es gab auch keinen Hinweis darauf, dass er noch atmen würde. Er lag entspannt und ohne jede Regung vor ihr. Sein Gesicht war so unbeweglich wie bei einer Puppe.
„Sanawey“, brachte Jackson hervor und hielt sein Gesicht mit beiden Händen fest. Dann griff sie nach ihrem Kommunikator, der an ihrem Gürtel hing. Sie klappte ihn auf und rief auf der Notruffrequenz ihr Schiff. „Republic
. Medizinischer Notfall. Beamen Sie Sanawey sofort auf die Krankenstation. Er atmet nicht mehr.“
Fast augenblicklich wurde Sanawey vom Transporterstrahl erfasst und löste sich in seine einzelnen Atome auf.
Jackson starrte noch immer auf die Stelle, an der er bis eben gelegen hatte. Sie konnte es nicht glaube. Es durfte doch nicht so enden. Das konnte doch nicht sein. Nicht nachdem, was sie alles schon zusammen durchgestanden hatten. Da konnte ihm doch ein einfacher Phaserschuss nichts anhaben. Das war doch unmöglich.
Eine Hand berührte sie kurz an der Schulter und ließ sie aufschauen. Droga stand neben ihr. Er sah aus, als hätte er noch immer nicht ganz begriffen, was eben geschehen war. Die Ereignisse hatten sich in den letzten Sekunden geradezu überschlagen. Da war es kein Wunder, wenn er nicht alles mitgebekommen hatte.
„Gehen Sie zurück auf Ihr Schiff und schauen Sie nach dem Admiral“, sagte Droga sanft. Eines schien er bei den Ereignissen aber doch begriffen zu haben. Dass Sanawey ihm das Leben gerettet hatte. „Wir werden die Lage hier klären und uns dann bei Ihnen melden.“
Langsam stand Jackson auf und sah ihm in die Augen. Sie wusste nicht recht was sie denken sollte. Ein Teil von ihr hätte Droga am liebsten den Hals umgedreht. Ohne diesen Mann würde Sanawey vielleicht noch hier stehen. Vielleicht wäre es auch anders gekommen, wenn Droga sich früher für eine Seite entschieden hätte. Doch letztlich konnte sie Droga nicht für diese Entwicklung verantwortlich machen. Daher nickte sie ihm nur zu und befahl der Republic
dann, sie und Craigs zurückzubeamen.
Sobald sie sich im Transporterraum wieder fand, sprang sie von der Transporterplattform und lief so schnell es ging die paar Meter durch den Gang zur Krankenstation. Kurz hinter der Türe blieb sie stehen. Sie sah wie Williams mit drei Assistenten an einer Liege standen und sich gegenseitig kurze Anweisungen zuriefen. Dabei wirkten sie äußerst konzentriert.
„Hundert Milliliter Cortrazin“, wies Williams eine Assistentin an, die daraufhin ein vorbereitetes Hypospray ergriff und es Sanawey zischend an den Hals hielt. Das Medikament breitete sich sofort in seinem Körper aus, da es über eigene Katalysatoren verfügte. Sanaweys Körper war im Moment nicht in der Lage etwas zu transportieren.
„Kortikalstimulator“, forderte Williams als nächstes. Ein kleines, handliches Gerät wurde ihr gereicht, das sie mit einem kurzen Handgriff an seiner Stirn befestigte. Dann nickte sie ihrem Assistenten zu, der hinter einer Computerkonsole stand. Ein kurzer Stromstoß fuhr durch Sanaweys Körper. Er sollte die Gehirnaktivität wieder in Gang bringen und den Herzschlag aktivieren. Doch es tat sich nichts.
„Nochmal“, befahl Williams mit versteinertem Gesicht.
Wieder zuckte Sanaweys Körper kurz, doch die erwartete Reaktion blieb aus.
Die Türe zur Krankenstation öffnete sich und Karja kam hereingestürmt. Fassungslos starrte sie auf die sich ihr bietende Szenerie. Unglauben spiegelte sich in ihrem Gesicht, so als sei sie der Meinung, in einem falschen Raum zu sein oder einfach nur zu träumen.
„Nochmal“, befahl die Ärztin mit schärferem Tonfall.
Und wieder durchfuhr die Energie Sanaweys Körper, doch dieses Mal zuckte sein Körper weit weniger als zuvor. Die Restenergie seines Körpers war verbraucht und die Zufuhr von außerhalb brachte nur noch wenig Reaktion.
„Nochmal“, rief Williams etwas lauter als zuvor, doch der Mann hinter der Konsole schüttelte nur noch langsam den Kopf. Es machte einfach keinen Sinn mehr. Er gab ihr zu verstehen, dass ihre persönlichen Gefühle in diesem Fall ihre Objektivität überlagert hatten und dass es an der Zeit war einzusehen, dass sie nichts mehr tun konnten. Die Assistentin neben Williams berührte sie kurz mitfühlend am Arm und wandte sich dann ab.
Der gleichmäßige Signalton des Überwachungsgeräts schien unendlich laut durch den Raum zu dröhnen. Als wolle es noch untermauern, dass soeben ein Leben geendet hatte. Schließlich schaltete eine von Williams‘ Assistentinnen die Geräte ab.
Mit erstarrtem Gesichtsausdruck sah Williams zu Sanawey hinunter. Für sie als Ärztin war es immer schrecklich einen Patienten zu verlieren. Doch in diesem Fall war es fast so, als wäre ein Familienmitglied unter ihren Händen weggestorben. Sie konnte nicht einfach weitermachen.
Langsam trat auch Karja näher. Jeder Schritt fiel ihr schwer. Ihr Blick war auf ihren Vater gerichtet, der leblos auf der Liege lag, das Gesicht unnatürlich entspannt. Er hatte keine äußerlichen Verletzungen, denn der Phaserstrahl, der ihn getroffen hatte, hatte seine inneren Nervenbahnen überlastet und zerstört. Doch ohne sichtbare, schwere Verletzungen wirkte es noch unechter. Für das Gehirn des Betrachters fehlte einfach ein sichtbares, deutliches Zeichen. So machte es den Eindruck, als würde er einfach nur schlafen und jederzeit wieder erwachen.
Jackson folgte Karja langsam, hielt sich jedoch zurück. Auch wenn er ihr ein guter Vorgesetzter und ein Freund gewesen war, Karja war seine Tochter und hatte damit das Vorrecht bei ihm zu stehen.
Als sie direkt neben der Liege standen, sah Williams auf. Sie blickte die junge Indianerin an, deren Gesicht noch immer Ungläubigkeit zeigte, in das sich aber ganz allmählich auch Trauer mischte, da der erste Schock dieser Nachricht ganz langsam zurückwich.
„Es tut mir leid“, sagte Williams aufrichtig. Sie hätte gerne mehr getan, um ihn noch zu retten, doch war das nicht mehr in ihrer Macht gelegen. Sie hatte getan was sie konnte.
Karja nickte wortlos und schluckte den Klos in ihrem Hals hinunter. Sie wollte nicht weinen. Nicht hier und jetzt. Sie hatte das Gefühl, stark sein zu müssen. So wie damals in ihrer Jugend, als sie das Gefühl hatte, ganz alleine zu sein. Ein Gefühl, dass nun plötzlich wieder über sie herein brach. Sie war wieder alleine.
Eine einzelne Träne konnte sie dann doch nicht zurückhalten, als sie so auf ihren Vater hinunter sah. „Wach bitte wieder auf“, sagte sie leise. Doch natürlich war das ein völlig abwegiger Gedanke. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er nie wieder aufstehen würde, doch wollte sie das immer noch nicht wahr haben.
Karja spürte, wie Jackson ganz sanft eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie wollte ihr zeigen, dass sie bei ihr stand. Eine Geste, die Karja viel bedeutete. Sie wandte sich langsam Jackson zu und ihre Blicke begegneten sich. Tiefes Mitgefühl stand in Jacksons Augen. Mehr als Karja ihr je zugetraut hätte. Und dann nahm Jackson sie in den Arm und mit einem Mal wusste Karja, dass sie dieses Mal nicht alleine war. Sie hatte die Crew und ihre Freunde. Sie hatte hier eine Familie. Eine Familie, in die sie ihr Vater geholt hatte. Es war wie sein Vermächtnis an sie. Und mit dieser Erkenntnis konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie lag in Jacksons Armen und ließ ihrer Trauer freien Lauf.
ZEHN
Noch immer zutiefst erschüttert saß Droga auf dem Bett in seinem Quartier. Gedankenverloren starrte er die Wand an. Sein Blick jedoch erreichte die Wand gar nicht, sondern verlor sich in seinen Erinnerungen. Noch immer dachte er über den gestrigen Tag und die Ereignisse nach, die sich im Ratssaal ereignet hatten. Eigentlich müsste er tot sein, durchfuhr es ihn immer wieder. Er dürfte eigentlich nicht mehr am Leben sein. Die tödlichen Strahlen hatten nach ihm gegriffen und seinem Leben ein Ende setzen müssen. Und doch war er hier, weil sich Sanawey, der Mensch, den sie gefangen genommen hatten, sich schützend vor ihn gestellt hatte. Obwohl er hatte wissen müssen, was ihn dabei erwartet. Und er hatte das völlig grundlos getan. Niemand hatte ihn dazu gezwungen oder das von ihm verlangt. Und trotzdem hatte er das getan. Obwohl er in seiner Gefangenschaft bei den Xindi auch noch misshandelt worden war. Droga war sich sicher, dass er an Sanaweys Stelle so nicht gehandelt hätte. Und das machte seinen Respekt für Sanawey nur umso größer.
Dass Sanawey diesen selbstlosen Akt nicht überlebt hatte, das war den Xindi inzwischen auch mitgeteilt worden. Für Droga war das ein Schock gewesen, obwohl er damit hatte rechnen müssen. Trotzdem hatte es ihn härter getroffen, als er gedacht hatte. Denn nun hatte er es bestätigt bekommen. Jemand anderes war an seiner Stelle gestorben. Er kam sich vor wie ein Dieb, der sich das Leben eines anderen gestohlen hatte.
Nachdem die Menschen gestern den Ratssaal verlassen hatten, hatte Droga auch erst mitbekommen, dass Ketak ebenfalls tot war. Den Kampf des Reptilianers mit den Piratencaptain hatte er gar nicht wahrgenommen. So mussten sie erst einmal die Führung der Reptilianer informieren und dann beratschlagen, wie es weitergehen sollte. Dabei hatte Droga sich dafür eingesetzt, dass sich die Schiffe zurückzogen, die die Republic
bewacht hatten. Die Menschen hatten einen Vertrauensbeweis erbracht und nun lag es an den Xindi, das zu erwidern. Dass er sich damit auf die Seite der Menschen schlug und seine heikle Lage vielleicht noch verschlimmerte war ihm egal. Er hatte von Sanawey ein zweites Leben geschenkt bekommen, das musste er irgendwie zurückgeben. Und sei es nur, indem er den eingeschlagenen Weg des Dialoges konsequent vorantrieb. Denn er wusste, das wäre im Sinne des Admirals gewesen, auch wenn er ihn sonst kaum gekannt hatte.
Die anderen Vertreter hatten ihm dann schließlich zugestimmt und die Schiffe abgezogen. Die Republic
befand sich nun wieder ohne Eskorte in einer Umlaufbahn um den Planeten. Wenn die Menschen es darauf anlegen würden, ohne ein weiteres Wort abzufliegen, dann würden sie das tun können. Doch sie hielten ihre Position, was Droga für ein gutes Zeichen hielt.
Zudem war der Datenträger, der die Nachricht des Adrac Terac enthielt, zu weiteren Untersuchungen herangezogen worden. Es galt, die Echtheit dieser Nachricht zu untersuchen. Nur so konnten sie feststellen, ob er tatsächlich für das Attentat auf die Gespräche verantwortlich war. Für Droga gab es daran keine Zweifel mehr. Nicht, nachdem was gestern passiert war. Sanaweys uneigennütziges Opfer ließen ihn an die Unschuld der Föderation glauben. Und Ketaks Tat, die zu Sanaweys Tod geführt hatte, bewies in seinen Augen, dass die Reptilianer tatsächlich den Verdacht auf die Föderation hatten lenken wollen. Eine ungeheuerliche Tat, wollten sie doch ein so tragisches Ereignis für ihre Zwecke nutzen.
Nicht nur er war dieser Ansicht gewesen. Durat, der Arboreale, hatte ihm zugestimmt. Auch er war der Meinung, dass alles dafür spräche, den Dialog mit der Föderation fortzusetzen. Vorbehaltlich der Analyse des Datenträgers, den es noch zu untersuchen galt.
Die Aquarianer stimmten dem zu, waren aber noch nicht davon überzeugt, dass eine Fortsetzung der Gespräche sinnvoll wäre. Sie wollten sich dazu erst noch beraten. Offenbar hatten sie in letzter Zeit zu viele kurzfristige Entscheidungen getroffen. Das wollten sie nicht zur Gewohnheit werden lassen.
Und der Insektoid schließlich verhielt sich auffallend ruhig. Natürlich wusste jeder, dass auch seine Spezies keine glückliche Rolle gespielt hatte bei den zurückliegenden Ereignissen. Immerhin hatten die Reptilianer versucht, die Tat der Insektoiden zu vertuschen. Wobei sich Droga eingestehen musste, dass es kein Alleingang der Insektoiden war. Die Vernichtung der Adrac war immerhin eine Ratsentscheidung gewesen. Zwar hatte er dem nicht zugestimmt, trotzdem war er dabei gewesen. Das machte ihn mitschuldig. So gesehen hatten die Reptilianer versucht, eine Schandtat aller Xindi zu vertuschen. Das machte die Sache allerdings nicht besser. Denn ein solcher Völkermord, wie der an den Adrac, durfte nicht verheimlicht werden. Es musste öffentlich bekannt gemacht werden, so dass alle Völker im Universum davon lernen konnten. Nur so ließe sich die Wiederholung einer solch schrecklichen Tat in der Zukunft vielleicht vermeiden. Durch die Vertuschung aber ganz bestimmt nicht. Daher war es gut, dass die Reptilianer keinen Erfolg gehabt hatten.
Aber der Gedanke an die nächsten Schritte in Richtung Zukunft konnte Droga nicht über die Leere in ihm hinwegtäuschen. Es war, als wäre ein Teil von ihm doch gestorben, daran hatte auch Sanaweys Einsatz nichts ändern können. Er fühlte sich schuldig, dass er noch am Leben war. Wie er gehört hatte, hatte Sanawey eine Tochter. Sie würde nun ohne ihren Vater auskommen müssen, auch wenn das vom Alter her kein Problem sein sollte. Sie war kein kleines Kind mehr. Trotzdem musste es hart für sie sein und er fühlte dafür verantwortlich.
Das Piepsen des internen Kommunikationssystems ließ ihn zusammenfahren, obwohl er auf diesen Anruf gewartet hatte. Sofort schnellte er hoch und nahm den Anruf entgegen. „Droga hier“, meldete er sich hastig.
Auf dem kleinen Bildschirm seines Kom-Anschlusses erschien das Gesicht eines Arborealen. Ob er alt oder jung war ließ sich nicht sagen, die Baumwesen sahen in jedem Lebensalter scheinbar gleich aus. „Mr. Droga, wir haben die Untersuchung des Datenchips der Föderation abgeschlossen“, erklärte der Arboreale seinen Anruf.
„Ja. Und?“ drängte Droga den Mann, da er in seiner Ungeduld die Gemächlichkeit dieses Volkes im Moment nicht ertragen konnte.
„Es gib keinen ernsthaften Zweifel daran, dass die Aufzeichnung echt ist“, kam die Antwort, ohne dass der Mann auf die Ungeduld des Humanoiden einging.
„Keine ernsthaften Zweifel?“ wiederholte Droga irritiert. „Das heißt, es gibt aber Zweifel an der Echtheit?“
Der Arboreale sah ihn kurz an. Offenbar überlegte er, wie er das einer Person erklären sollte, die nicht im Bereich der Wissenschaften arbeitete. „Es gibt bei solchen Untersuchungen immer einen Rest des Zweifels. Ob eine Aufzeichnung echt ist oder nicht lässt sich nie zu hundert Prozent beweisen. Allerdings gibt es Hinweise, die sich untersuchen lassen. Wenn diese Zutreffen, dann kann es keinen ernsthaften Zweifel mehr geben.“
Droga verdrehte die Augen. Wissenschaftler der Arboreale. Sie waren furchtbar kleinlich, was äußerst anstrengend sein konnte. Allerdings kannte Droga keine vulkanischen Wissenschaftler.
„In Ordnung“, nickte Droga dann. „Bitte verschicken Sie Ihr Ergebnis noch in offizieller Form und an alle Ratsmitglieder sowie eine Kopie an die jeweiligen Regierungen. Wir wollen hier so viel Transparenz wie nur möglich.“
„Das werde ich“, sagte der Mann zu, dann verabschiedete er sich.
Droga lehnte sich entspannt zurück und gönnte sich einen Moment, um über das Schicksal und dessen Wendungen nachzudenken. Manchmal waren die Wege des Universums etwas verworren. Noch vor einem Tag hatte er die Föderation für die Tragödie verantwortlich machen wollen. Er hatte sich über sich selbst geärgert, dass er sich für sie und die Gespräche eingesetzt hatte und damit seine politische Zukunft und seine Karriere aufs Spiel setzte. Er hatte ihnen nie wieder trauen wollen. Und nun war erwiesen, dass sie tatsächlich unschuldig gewesen waren. So, wie sie es immer betont hatten.
Nach dieser Erkenntnis würde der Rat einer Fortsetzung der Gespräche zustimmen, das war jetzt schon abzusehen. Und so wie er die Föderation kennengelernt hatte, würden sie das nicht ablehnen. Das hieße, seine ursprüngliche Idee konnte er weiterverfolgen. Vielleicht würden sich die Xindi-Völker ja jetzt endlich zu einer engeren Zusammenarbeit durchringen können, auch vor dem Hintergrund des erneuten Alleinganges der Reptilianer. Das war einfach nicht länger zu akzeptieren. Und dem konnte nur gemeinsam ein Riegel vorgeschoben werden. Zudem konnten sie auch nur gemeinsam zu einer Übereinkunft mit der Föderation kommen. Die verantwortlichen Regierungen mussten endlich zu der Einsicht kommen, dass sie ein Volk waren.
Im Prinzip war es so einfach. In der Realität jedoch nicht. Denn es ging um weit mehr, als der Gedanke an eine Einheit vielleicht glauben machen wollte. Für die betroffenen Regierungen ging es um mehr. Vor allem um Macht. Momentan gab es fünf Regierungen, fünf verschiedene Regierungsformen. Und in jeder gab es ein paar Wenige, in deren Händen die Macht lag und die daraus Vorteile genossen. Das war etwas, das niemand freiwillig aufgab. So war es noch ein langer und steiniger Weg hin zu einer echten Einheit der Xindi-Völker. Das war Droga inzwischen auch bewusst geworden. Und er musste sich insgeheim eingestehen, dass er diese Einigung wohl auch selbst nicht mehr erleben würde. Doch war für ihn das kein Grund, deswegen jetzt aufzugeben. Irgendwann, da war er sich sicher, würde dieses Ziel doch noch erreicht werden. Und dann würden alle Xindi davon profitieren. Und damit dies nicht in allzu ferner Zukunft lag, galt es jetzt schon dafür zu kämpfen. Und das würde er sein Leben lang weiter tun.
Drake Reed stand im Turbolift auf dem Weg zur Brücke. Zwar hatte er bereits dienstfrei, aber Captain Jackson hatte ihn in ihren Bereitschaftsraum gerufen. Was sie von ihm wollte, wusste er nicht. Aber es konnte nichts Gutes sein. Es schien fast so, als gäbe es in diesen Tagen keine guten Nachrichten. Der Tod Admiral Sanaweys überschattete alles. An Bord herrschte eine eigentümliche Stimmung, trotz ihres Rückflugs in Richtung Heimat. Alles war ruhig, das Freizeitdeck leer. Überall sprach man nur mit gedämpften Stimmen miteinander und die Trauer, die das Schiff und die Besatzung befallen hatte, war schon beinahe greifbar. Fast alle an Bord hatten bereits unter Sanawey gedient als er noch Captain gewesen war. So wie auch Drake Reed. Und die meisten noch viel länger als er. Es gab Crewmitglieder, die viele Jahre unter ihm gedient hatten und noch nie einen anderen Kommandanten in ihrer bisherigen Laufbahn erlebt hatten. Er war bei seiner Crew immer äußerst beliebt gewesen und doch ein respektierter Captain. Er hatte es verstanden, immer die Balance zwischen seiner Führungsrolle und seiner Person als Mensch zu finden. Das konnte man nicht von vielen Kommandooffizieren behaupten.
Auch Reed fühlte sich von der Trauer überwältigt. Auch wenn er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Er hatte etwas weniger als zwei Jahre mit Sanawey als Captain verbracht und das in Extremsituationen. Und doch wusste er genau, was er Sanawey zu verdanken hatte. Immerhin war er es gewesen, der ihn, nach all seinen Vergehen, noch auf seinem Schiff aufgenommen und ihm eine Chance gegeben hatte. Eine Chance, sich zu rehabilitieren und wieder auf den richtigen Weg zurückzufinden. Das war nicht selbstverständlich gewesen und doch hatte Sanawey es immer so gesehen.
Es war seltsam zu wissen, dass er nun nicht mehr da war. Ein merkwürdiges Gefühl, das er nicht fassen und nicht erklären konnte.
Die Türen des Turboliftes öffneten sich und er betrat die Brücke. Niemand beachtete ihn, jeder ging still seinen Aufgaben nach. Auch auf der Brücke herrschte diese traurige Stille.
Er ging im hinteren Teil der Brücke in Richtung des Bereitschaftsraumes des Captains. Der Andorianer Zien schaute kurz auf und nickte ihm knapp zu. Derzeit hatte er das Kommando über das Schiff und daher im Kommandosessel Platz genommen.
Dann betrat Reed den Bereitschaftsraum. Jackson saß hinter ihrem Schreibtisch und erwartete ihn bereits. Sie stand kurz auf, und deutete auf den Platz vor ihrem Schreibtisch. Dann setzte sie sich zusammen mit Reed wieder.
„Mr. Reed, ich habe Sie herkommen lassen, um Sie darüber zu informieren, dass ich eine Entscheidung über meine Stellvertretung getroffen habe“, fing Jackson an.
Reed nickte. Derzeit war er ihre Vertretung, aber der Rang des ersten Offiziers war noch immer unbesetzt. Und ihm war bewusst, dass er nicht ewig ihre provisorische Vertretung bleiben konnte. Auch wenn er gefallen an dieser Aufgabe gefunden hatte.
„Nach langem Überlegen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Sie für diese Aufgabe am besten geeignet sind“, eröffnete sie ihm dann. „Ich befördere Sie hiermit in den Rang eines Commanders.“ Sie lächelte ein wenig. „Herzlichen Glückwunsch.“
Völlig überrascht sah Reed sie an. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte geglaubt, sie wolle ihn nur über einen neuen Offizier an Bord informieren und darüber, dass er wieder nur seine Aufgaben an der Ops haben würde. Dass sie ihn befördern würde kam etwas unerwartet. Wie automatisch schüttelte er ihre dargereichte Hand. „Vielen Dank“, brachte er hervor. „Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber ich hatte immer gedacht, Sie mögen mich nichts besonders“, sprudelte es aus ihm heraus und er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Doch nun hatte er es schon gesagt.
Sie sah ihn mit einem Blick an, den er nicht einordnen konnte. „Ich hatte meine Vorbehalte gegen Sie“, sagte sie dann langsam. „Aber Ihre Arbeit hat mich überzeugt.“ Sie machte ein Pause und überlegte, ob es richtig wäre noch mehr zu sagen, entschied sich dann aber dafür. „Im Übrigen hat Admiral Sanawey Sie für diesen Posten vorgeschlagen, bevor er…“ Sie verstummte und sah für einen Moment zur Seite. Als sie ihre Fassung wieder gewonnen hatte sah sie Reed wieder an. „Er war der Meinung, Sie sind der Richtige für diesen Posten.“
Reed wurde ernst und sah sie an. „Befördern Sie mich nur, weil Admiral Sanawey nun tot ist?“ Seine Überraschung war der Skepsis gewichen. „Denn in dem Fall…“
„Nein“, unterbrach sie ihn fest. „Die letztliche Entscheidung lag bei mir. Und ich werde niemanden aufgrund des Willens eines anderen befördern. Das läge nicht in meinem Sinn. Und Sanawey hätte das auch nicht gewollt. Nein, ich habe darüber nachgedacht und entschieden, dass Sie für diesen Posten geeignet sind. Und ob ich damit richtig liege wird sich zeigen müssen. Wie bei jeder anderen Beförderung auch.“
„Ich werde alles tun, um Ihr Vertrauen nicht zu enttäuschen“, erwiderte Reed und meinte es auch absolut ehrlich. Nachdem er vor zwei Jahren beinahe unehrenhaft aus der Flotte entlassen worden war, hatte er nicht damit gerechnet, jemals wieder befördert zu werden. Und nun hatten sowohl Sanawey wie auch Jackson ihm diese Chance gegeben. Auf keinen Fall wollte er einen dieser beiden enttäuschen. Und ihm fiel auch sofort etwas anderes ein. „Nun ist der Posten an der Ops unbesetzt“, sprach er diese Tatsache aus.
Jackson sah ihn schief an und fragte sich, was er vorhatte. Es würde auf einen Vorschlag hinauslaufen, dessen war sie sich sicher. Und er hatte in seinem neuen Rang durchaus das Recht, ernsthafte Personalvorschläge zu machen.
„Ich hätte da eine Idee für meine Nachfolge. Ein gewisser Josh Barrow von der USS Lexington.“
Jackson runzelte die Stirn. „Tut mir leid, der Name sagt mir nichts“, schüttelte sie dann den Kopf.
„Er ist noch ein relativ neuer Akademieabgänger. Aber ich denke, er würde gut in die Crew passen“, erklärte er. „Und er erinnert mich an meine Jugendzeit. Ich würde ihn gern ein wenig unter meine Fittiche nehmen, damit er nicht die gleichen Fehler macht, wie ich.“
Jackson schien davon nicht sonderlich überzeugt zu sein, doch sie beschloss, es nicht gleich rundheraus abzulehnen. „Das muss nicht heute entschieden werden“, sagte sie daher. „Wir werden darüber sprechen, sobald wir die Erde erreicht haben.“
Reed nickte diplomatisch. „Natürlich.“ Das hatte nun wirklich keine Eile. Es gab im Moment wichtigeres. Wie das bevorstehende Ereignis. Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, hatte Jackson ihn deswegen jetzt schon zum ersten Offizier befördert, damit sie dort nicht alleine erscheinen musste. Denn in wenigen Minuten begann die Trauerveranstaltung für Admiral Sanawey.
Und tatsächlich stand Jackson nun auch auf und bat ihn, sie zu begleiten. Zusammen gingen sie über die Brücke, die nur von einer Notbesatzung bemannt war. Und es waren auch ausschließlich Personen, die nie unter Sanawey gedient hatten. Alle anderen würden sich die Chance nicht nehmen lassen, zu der Trauerveranstaltung zu erscheinen.
Sie fand auf dem großen Aussichtsdeck des Schiffes statt. Von dort aus hatte man einen hervorragenden Blick ins All hinaus. Die Republic
war unter Warp gegangen und verharrte nun an Ort und Stelle im All, weit entfernt von einen Sternensystem.
Vor dem Fenster war eine Torpedohülle aufgebaut, in der Sanawey lag. Die Hüllen für die Photonentorpedos waren genauso lang wie ein Mensch und eigneten sich hervorragend als letzte Ruhestätten. So war es Tradition in der Sternenflotte, die sterblichen Überreste eines gefallenen Kameraden darin zu bestatten. Auf dem Sarkophag lag die Flagge der Föderation, eine weiße, stilisierte Darstellung der Milchstraße, umrahmt von einem Lorbeerkranz auf blauem Grund. Als Symbol dafür, dass Sanawey immer das Wohl der Föderation, ihre friedliche Koexistenz mit anderen Völkern und ihr stetiger Wissensdrang wichtiger waren als sein eigenes Leben. Dass er den Völkerbund aus so vielen verschiedenartigen Wesen immer als Segen und erhaltenswert erachtet hatte.
Als Jackson und Reed eintraten, war der Raum bereits berstend voll. Einige Crewmitglieder mussten vor der offenen Türe stehen bleiben. Es war einfach nicht genug Platz für so viele Leute. Das Schiff hatte immerhin eine Besatzung von über vierhundert Personen. Wenn man die Notbesetzungen im ganzen Schiff berücksichtigte, dann waren es gerade einmal etwa fünfzig Personen, die nicht hier waren.
Für den Captain und Reed wurde eine Gasse gebildet, durch die sie nach vorne gelangten. Dort standen auch schon die anderen Führungsoffiziere. Nach einem kurzen Blickkontakt mit Jackson stellte sich Reed zu Elizabeth Williams und nahm sie in den Arm. Sie hatte bereits jetzt rote Augen und war dankbar ihn als Stütze zu haben.
Jackson trat vor die Crew und blickte erst einmal stumm in die Runde. In allen Gesichtern konnte sie die Trauer sehen, die sie erfasst hatten, über diesen Verlust. Die Anzahl der vergossenen Tränen war kaum mehr zu zählen. Und auch hier weinten viele Anwesende oder hatten Tränen in den Augen. Ganz besonders schlimm sah Karja aus. Sie war schwer gezeichnet von dem Verlust ihres Vaters, auch wenn sie sich tapfer hielt. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, dass sie bereits sehr viel geweint hatte. Besonders dann, wenn sie alleine oder von engen Freunden umgeben war. Jetzt stand sie zwischen der Psychologin Mira Bozman und Wendy Brooks. Tworek stand hinter ihr und machte den Eindruck, sie jederzeit auffangen zu können, falls ihre Beine nachgaben. Auch er wirkte mitgenommen, trotz seiner vulkanischen Seite, die ihm half, besser damit umgehen zu können, als es den meisten anderen möglich war. Einzig Sohral wirkte so ruhig wie immer. Er stand nehmen Zien, dessen blaue Haut blasser als sonst wirkte und dessen Antennen sich traurig nach unten bogen.
„Wir sind heute hier zusammengekommen, um uns von einem Mann zu verabschieden, den jeder von uns auf irgendeine Art und Weise kannte“, begann Jackson mit belegter Stimme. „Manche von euch kannten ihn schon länger, hatten lange unter ihm gedient und ihn viele Jahre auf seinem Weg begleitet. So manches mit ihm erlebt und erreicht, so manches mit ihm durchlitten.“ Im Raum war es vollkommen still, bis auf ein paar kleine Seufzer, die sich zu den Tränen dazu schlichen. „Ich selbst diente fünf Jahre unter ihm. Und ich habe viel von ihm gelernt. Genauso wie ich ihm viel zu verdanken habe. Er war es, der mich damals in den Rang des ersten Offiziers brachte. Und der mich schließlich zur Beförderung in den Rang eines Captains vorgeschlagen hatte. Und so wie mir ging es etlichen hier unter uns. Er hat sich immer für seine Crew eingesetzt. Für jeden einzelnen. Und wenn ihm das mal nicht gelungen war, dann hatte niemand mehr darunter gelitten als er selbst. Er wollte, dass es gerecht für alle zuging. Ein hoher Anspruch, der zwangsläufig hin und wieder scheitern musste. Doch er hatte es versucht. Er war nicht nur eine Führungskraft gewesen. Er war ein Vorgesetzter wie man ihn sich nur wünschen konnte. Er hatte Verständnis gezeigt, wenn es angebracht war, aber die Crew auch gefordert und an ihre Grenzen gebracht. Und darüber hinaus. Wir sind daran gewachsen. Zusammen mit ihm. Und doch hatte er dabei nie jemanden überfordert. Er hatte ein Gespür für seine Crew und man hatte das Gefühl, er habe immer die richtigen Worte parat. Er war ein Ausnahmecaptain gewesen. Er war ein Ausnahmemensch gewesen. Personen wie ihn gibt es nicht oft. Das Universum ist nun ein großes Stück ärmer geworden. Doch wir werden ihn nie vergessen.“ Jackson spürte wie ihre Stimme immer stärker zitterte und zu versagen drohte. Aber sie hatte ohnehin gesagt, was sie sagen wollte. Daher nahm sie nun eine militärisch gerade Haltung an. Der Rest des Raumes folgte ihrem Beispiel. Dann gab Jackson das Zeichen und Zien trat vor. Der Andorianer nahm die Flagge vom Sarg und faltete sie ordentlich zusammen. Dann trat er zwei Schritte zurück.
„Achtung!“ rief er und alle Anwesenden salutierten. Im nächsten Augenblick wurde der Sarg vom Transporterstrahl erfasst und ins All gebeamt. Dort würde er bis ans Ende aller Tage seine Ruhe finden. Dort, wo sich Sanawey laut eigener Aussage immer am wohlsten gefühlt hatte.
Durch das große Aussichtsfenster konnte man den Sarg langsam vom Schiff wegtreiben sehen, auch wenn man unmöglich sagen konnte, ob sich der Sarg vom Schiff entfernte oder umgekehrt.
„Aus Sternenstaub entstehen wir, und zu den Sternen kehren wir wieder zurück“, sagte Jackson leise, doch in dem ruhigen Raum konnte es fast jeder hören. Bei einigen ließen diese Worte die letzten Dämme brechen. Deutlich war zu hören wie so manch einer seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
Jackson selbst konnte an diesem Tag nicht weinen. Sie hatte ihre Tränen bereits alle vergossen. Doch sie spürte dieselbe tiefe Trauer wie alle anderen. Und sie war froh darüber, dass andere ihre Gefühle freier äußern konnten. So würde sich bei der Crew nichts anstauen, was ihre Diensttauglichkeit beeinflussen könnte. Oder sich irgendwann schlagartig äußern konnte. Genauso hatte es auch Mira Bozman, die Bordcounselor, gesehen. Ein offener Umgang mit der Trauer würde dabei helfen, mit den Gefühlen fertig zu werden.
Je weiter sich der Sarg vom Schiff entfernte, desto mehr zerstreute sich die Crew allmählich. Denn je weiter hinten sie standen, desto schlechter hatten sie ohnehin nach vorne durch das Fenster gesehen. So leerte sich der Raum nach und nach, bis am Ende nur noch die Führungscrew zurückblieb. Sie blieben, bis von Sanaweys Sarg nichts mehr zu sehen war. Und selbst dann blieben sie noch schweigend beieinander stehen. Niemand sprach dabei, jeder hing seinen eigenen Gedanken an den Verstorbenen nach. Einzig Karjas Schluchzen unterbrach die Stille hin und wieder. Wendy hatte sie in den Arm genommen und gemeinsam gaben sie sich in ihrer Trauer halt.
Schließlich war es Sohral, der als erstes das Schweigen brach. „Ich werde zur Brücke zurückkehren“, informierte er Jackson. Für ihn gab es hier nichts mehr zu tun. Denn Trauer war eine emotionale Sache, die Sohral so nicht nachvollziehen konnte. Sie war nicht logisch. Selbstverständlich spürte er den Verlust auch, aber im Gegensatz zu den Menschen, nahm er ihn einfach nur zur Kenntnis und registrierte ihn als Teil des Lebens. Dann ging es weiter. Für die logischen Vulkanier war Trauer sinnlos. Sie machte eine tote Person nicht wieder lebendig noch nutzte sie zu sonst etwas. Also war sie – logischerweise – ohne jeden Sinn.
Zien schloss sich dem Vulkanier an und Jackson ließ sie ziehen. Es gab ohnehin keinen Befehl, wie lange sie hier zu verweilen hatten. Das stand jedem frei. Karja und Wendy Brooks hatten ohnehin dienstfrei. Sie würden bis zur Rückkehr zur Erde ihren Dienst auch nicht mehr antreten.
Auch Jackson verabschiedete sich nach einigen Minuten. Sie war niemand, der seine Gefühle in aller Öffentlichkeit freien Lauf ließ. Sie zog es vor in Stille und für sich zu trauern. Sie wusste, dass das wohl nicht der letzte Verlust sein würde, den sie in ihrem Leben würde hinnehmen müssen. Das Leben im All konnte gefährlich sein und fordert hin und wieder seinen Tribut. Doch konnte das niemanden davon abhalten, die Reise anzutreten. Auch Sanawey hatte das Risiko gekannt und sich trotzdem dafür entschieden. Und sie wusste, dass er seine Entscheidung auch jetzt nicht bereuen würde, könnte sie ihn fragen.
Zuletzt gingen auch Williams, Reed und Tworek. Die Ärztin berührte Karja noch liebevoll am Arm und musste dabei erneut gegen ihre eigenen Tränen ankämpfen. Sie empfand so viel Mitgefühl für die junge Frau, dass sie ihr am liebsten einen Teil der Last abgenommen hätte. Doch war das nicht möglich. Sie konnte nur für sie da sein, wenn Karja das wollte.
Reed empfand es als seltsam, sich wieder dem Alltag zuzuwenden. Sie hatten einen Verlust hinnehmen müssen und nun sollten sie einfach zur Tagesordnung übergehen? Im Moment war das nur schwer vorstellbar für ihn, doch hatte er auch keine Idee, was sonst kommen sollte. Außerdem musste es ja irgendwie weitergehen. Das ging es nach jedem Todesfall. Auch wenn es jetzt gefühlsmäßig nur schwer vorstellbar war.
So blieb Karja mit Wendy und Mira alleine in dem großen Raum zurück. Sie sahen weiterhin nach draußen zu den Sternen. Sie schwiegen und genossen die Ruhe und Gelassenheit, die die unendlichen Weiten vor ihnen mit ihren unzähligen Sternen und Lichtpunkten ausstrahlten. Sie schienen die Ewigkeit überdauern zu wollen. Scheinbar unverrückbare Leuchtfeuer in der ständig der Veränderung unterworfenen Welt der Lebenden.
„Ob er gewusst hat, wie viel er mir bedeutet hatte und wie sehr ich ihn geliebt habe?“ fragte Karja plötzlich unsicher in die Stille hinein.
Wendy nahm sie fester in den Arm. „Natürlich hat er das gewusst“, erwiderte sie. „Und er hatte dasselbe für dich empfunden.“
Karja sah sie an, als wollte sie sagen, dass man eine solche Antwort wohl immer bekommen würde. Sie wirkte etwas skeptisch. „Wieso bist du dir da so sicher?“
Nachsichtig lächelnd sah Wendy sie an. „Weil er es mir gesagt hatte“, antwortete sie. „Mehr als einmal. Er hat viel über dich gesprochen. Denn er wollte alles richtig machen mit dir. Er hatte ein zu schlechtes Gewissen, nicht schon früher für dich dagewesen zu sein. Das hat er sich nie verziehen.“
„Aber er hat es doch nicht gewusst“, brachte Karja tränenerstickt hervor. „Er hatte doch gar nichts von mir gewusst.“
„Das heißt aber nicht, dass er sich deswegen keine Vorwürfe machen konnte. So war er eben.“
Karja kämpfte gegen die emporkommenden Tränen an. „Es war meine Schuld“, brachte sie dann mühsam hervor. „Ich habe ihm fälschlicherweise so viele Vorwürfe gemacht. Ich hatte ihn am Anfang mit meinen Hass und meiner Ablehnung konfrontiert, die er so verständnisvoll hingenommen hatte. Und doch habe ich ihm damit Unrecht getan.“ Ihr Schluchzen verstärkte sich so sehr, dass die letzten Worte kaum noch zu verstehen waren.
Liebevoll strich Wendy Karja übers Haar. Sie selbst hatte sich durch ihre Freundschaft so eng mit Sanawey verbunden gefühlt, dass sie sich nun für die junge Frau verantwortlich fühlte. In Gedanken schwor sie sich und ihrem Freund und Mentor für Karja da zu sein, wann immer sie sie brauchte. „Er hat es nie als Unrecht gesehen“, antwortete Wendy. „Er hat dich geliebt und er war froh, dich gefunden zu haben. Du hättest alles tun können, seine Gefühle hätten sich nie geändert. Und du hättest alles verlangen können, er hätte es möglich gemacht. Du warst sein ein und alles.“
Karja konnte sich nicht länger zurückhalten. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Wendy hielt sie fest im Arm um ihr zu zeigen, dass sie nicht alleine in ihrer Trauer war. So standen sie da, Mira Bozman noch in der Nähe, und sahen zu den Sternen hinaus, die nun in Sanawey einen neuen Begleiter hatten.
Epilog
Mit einem leichten Kribbeln im Bauch fuhr Sylvia Jackson im Turbolift zu Kommandobrücke hinauf. Eine Vorfreude hatte sie erfasst, die sie zwar für etwas unangebracht hielt, der sie aber auch nichts entgegenzusetzen hatte. Es ging endlich wieder los. Das Leben würde sich weiter normalisieren. Und das war auch gut so. Zwar spürte sie noch immer den Verlust, den der Tod Sanaweys in ihr hervorrief, doch konnte sie inzwischen besser damit umgehen. Sie konnte es besser einordnen und akzeptieren. Das Leben musste weitergehen und sie war sich sicher, dass er das auch gewollt hätte. Sie würde ihn niemals vergessen. Er hatte für immer einen Platz in ihrem Herzen. Und doch hatte sie es geschafft, den permanenten Gedanken an ihn und die Ereignisse auszublenden. Es war fast so, als hätte sie es in eine kleine Schatzkiste gesteckt und im hintersten Winkel ihres Bewusstseins versteckt. Dort, wo es ihr alleine gehörte und niemand es wegnehmen konnte. Dort, wo sie alle wichtigen Erinnerungen wie Schätze aufbewahrte.
Seit den Ereignissen auf Pelek waren fünf Wochen vergangen. Zeit, um ein wenig mit sich selbst und den Ereignissen ins Reine zu kommen. Und diese Zeit hatten sie auch alle gebraucht. Doch nun war es wieder soweit. Die neuen Befehle waren gekommen. Sie sollten einen Konvoi entlang der romulanischen Grenze eskortieren. Es war zwar nicht zu erwarten, dass die Romulaner ihn überfielen, aber man konnte schließlich nie wissen. Und mit einem Schiff der Sternenflotte an der Seite hielten sich die Romulaner auf jeden Fall zurück.
Die Vorbereitungen waren nicht groß gewesen. Das Schiff war nach wie vor in einem Top-Zustand. Einzig noch einige Tests an dem neuen Schiff waren nachgeholt worden. Auch die Crew war vollständig. Hier hatte Sanawey recht behalten. Die Crew war nach der Mission auf Pelek nicht wieder auseinandergerissen worden, so dass sie ihr eingespieltes Team zur Verfügung hatte, das gut harmonierte. Damit waren keine Komplikationen zu erwarten.
Reed hatte bei den Vorbereitungen und den Tests hervorragend mit ihr zusammengearbeitet und eine Energie an den Tag gelegt, wie sie sie bei ihm noch nie erlebt hatte. Die Beförderung schien ihn geradezu beflügelt zu haben. Wenn das so anhielt, dann hatte sie die richtige Wahl für ihre Stellvertretung getroffen, dessen war sie sich sicher.
Als sich die Türen des Turboliftes vor ihr öffneten sah sie, dass die Führungscrew bereits vollständig anwesend war. Und auch in ihren Gesichtern war die freudige Anspannung über den Aufbruch zu sehen. Sie alle zog es wieder ins All hinaus, um die Wunder dort zu sehen und zu erforschen.
„Captain an Deck“, rief Reed, als sie langsam die Brücke betrat. Die Anwesenden nahmen Haltung an und sahen ihrer Kommandantin entgegen.
Jackson nickte den Anwesenden zu. „Rühren“, befahl sie, da ihr die stramme Haltung wenig zusagte.
Sofort lockerten sich die Muskeln und jeder nahm eine bequemere Position ein. Erwartungsvoll blickten sie ihren Captain an.
Bevor sich Jackson in den Kommandosessel setzte, sah sie sich auf der Brücke um. Sohral stand vor seiner Station, ruhig und würdevoll wie immer. Trotzdem meinte Jackson, auch bei ihm einen besonderen Glanz in den Augen sehen zu können, auch wenn er das sicher bestritten hätte.
Links vom Kommandosessel stand Wendy Brooks und lächelte. Bei ihr stand auch Dr. Williams, die sich zum Start ebenfalls auf der Brücke eingefunden hatte. Das Ereignis wollte niemand verpassen. Auch Karja und Mira Bozmann waren anwesend. Karja wirkte noch immer etwas mitgenommen, auch wenn sie sich allmählich mit dem Tod ihres Vaters arrangierte, so gut das eben ging. Sie fand in der Crew jedoch Unterstützung und Halt, was ihr die Sache etwas erleichterte.
Der Andorianer Zien stand vor seiner Konsole und nickte dem Captain leicht zu. Und vorne standen Tworek und der neue Mann an der Ops, Josh Barrow. Er wirkte noch sehr jung. Reed würde einiges zu tun haben, wenn er den jungen Mann ein wenig lenken wollte.
Reed selbst stand neben dem Kommandosessel. „Crew und Schiff sind bereit“, wusste er zu berichten. „Wir haben die Starterlaubnis bekommen und können aufbrechen.“
Jackson nickte und setzte sich. „Dann wollen wir. Mr. Tworek, bringen Sie uns hier raus.“
„Aye, Captain“, nickte der Halbklingone und setzte sich. Auch alle anderen nahmen ihre Positionen ein. Dann legte die Republic
ab und sie verließen die Raumstation. Als das Schiff durch die großen Tore hinaus ins All flog und die ersten Sterne zu sehen waren, glitt ein Lächeln über Jacksons Lippen.
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2012
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