Die Dinge entwickelten sich nicht so
, wie ich es erhoffte. Das Geld wurde mir knapp. Ich entschloss mich, irgendeine Arbeit für den Übergang, schwarz“ anzunehmen. Das bedeutete ohne Papiere und Steuer und ohne Meldung ans Arbeitsamt zu arbeiten. Es musste Geld ins Haus kommen! Über den Anzeigenmarkt der Tageszeitung fand ich schnell etwas Passendes, irgendwann Mitte August es war ein Freitag.
Ich hatte sogar die Auswahl unter einigen Zeitungs-Anzeigen. Ich habe sie mir alle ange-hört und angesehen. Das war die Wahl: Entweder Parfümdrücker (Propagandist) in einem Kauf-haus, nach dem Motto „5 Toilettenartikel für den Preis von zwei Teilen…“ oder Interviewer für eine „demographische Untersuchung zum Freizeitverhalten der Bundesbürger…“ Dahinter versteckte sich ein Buchklub, denn die Schlussfrage auf dem Interviewer-Zettel war; „was ich noch fragen wollte, sind sie Mitglied eines Buchklubs?“ Und hier sollte die Akquisi-tion beginnen… Die dritte Möglichkeit war die eines Anlageberaters (in eineinhalb Stunden gelernt). Es sollten nach dem Bauherrenmodell Anteile oder viel lieber gleich komplette Eigentumswohnungen verkauft werden, mit sehr obskuren Zinsrechnungen zur Rentabilität, die es schnell zu lernen galt. Vermietet oder zur Eigennutzung, beides hochprofitabel… Das Gespräch sollte abends nach Terminvereinbarung in den Wohnungen der Privatkunden stattfin-den.
Eine weitere Zeitungsanzeige: Rollläden- & Fensterwerber: „Kontakfreudige Herren mit guten Umgangsformen, für leichte Werbetätigkeit ganztags gesucht, 15 DM + Erfolgsprämie.“ Firma AUROFLEX, Rollläden aus Kunststoff oder Aluminium, Kunststofffenster, Markisen, Türen aus Aluminium. Slogan: Kaufen Sie direkt vom Hersteller, Montage durch unsere werkseigenen Monteure! Die Hersteller-Fabrik befindet sich in Westfalen mit 140 Mitarbeitern, der Jahres-Umsatz beläuft sich auf 1 Mio. D-Mark.
Ich entschied mich für die eher tumbe Rolle als Werber für Rollläden und Fenster. In einem angemieteten, ehemaligen Ladengeschäft, in der Podbielskistraße, mit großen Schaufenstern, befand sich das Büro und auch der Ausstellungsraum.
Hier traf ich auf den Firmeninhaber Mompel,
der als Handelsvertreter Rollläden aus Kunst-stoff oder Aluminium, Kunststofffenster, Markisen und Türen aus Aluminium des Herstellers aus Westfalen verkaufte. Hierzu warb er eine Verkaufskolonne, Bereich Direktmarketing, an, die auch aus Werbern bestand. Näheres sollte ich noch erfahren. Den angebotenen Verdienst, 15 Mark Stunden-lohn zu Anfang, später -bei Eignung- dann Provision (die sehr attraktiv sein soll-te) konnte ich zunächst überhaupt nicht einschätzen. Die spätere Verprovisio-nierung orientierte sich ausschließlich an den von mir geworbenen Verkaufsaufträgen, die aber nur die Verkäufer machen sollten und konnten. Das einzig Wunderbare an dieser Sache war, dass ich überhaupt keine „Papiere“ brauchte. Es wurde zwar ein „Arbeitsvertrag“ schriftlich geschlossen, doch der hatte keine großen Verbindlichkeiten, für keinen der Vertragspartner. Es war Freitag und ich wurde, nach kurzer „Aufklärung“, für Montag um 9 Uhr zum Arbeitsantritt in die Firma Auroflex, Hannover, Podbielkistraße bestellt.
Wie sollte das funktionieren?
Es gab den Inhaber, der als Handelsvertreter in eigenem Namen die Produkte kaufte und verkaufte, besser verkaufen ließ. Der hatte auch auf Zuruf eine Maurerkolonne, genauer zwei, drei Handwerker, an der Hand, die die jeweiligen Einbau-ten vornahmen. Hierzu rekrutierte er Drücker jeden Alters. Sie sollten einen gute Eindruck machen, also mit einigermaßen gepflegtem Äußeren auftreten, seriös wirken und den Direkt-verkauf an den Endverbraucher kennen und beherrschen. Die Verkäufer (Handelsvertreter) nahmen die Werber in ihrem Kfz mit in „das Gebiet“, die Trabantenstädte und umliegenden Dörfer der Großstadt und grasten sie Siedlung für Siedlung ab. Jeder Verkäufer hatte zwei, manchmal auch drei Werber in seinem Wagen, die er, in der betreffenden Siedlung angekom-men, aus dem Wagen wies und sie auf diese und z. B. die nächsten vier Straßen losließ. Der Werber stieg aus und klingelte bei jedem Haus in der jeweiligen Straße an der Tür, um mit einem geschickten Werbespruch Kaufwillige zu ködern. Vielleicht etwa so; „Guten Tag. Ich komme von der Firma Auroflex. Wir führen hier in ihrem Ort gerade eine Aktion zu besonde-ren Werbe-Konditionen durch und ich sehe, sie haben keine Rollläden. Wie Sie wissen, hel-fen Rollläden Heizkosten sparen, im Sommer spenden sie Schatten und bieten auch Schutz gegen Einbrecher. Mein Kollege würde sie gern einmal darüber näher informieren. Der könnte heute Nachmittag oder morgen zu Ihnen kommen. Darf ich hierfür einen Termin mit Ihnen ab-sprechen?“ Und schwupp, schon war der Hauseigentümer verhaftet. Denn der Verkäufer-Kollege war ein mit allen Wassern gewaschener Drücker, der gerade älteren Hauseigentümern ohne Rollläden die Rundumausstattung verkaufen würde. Dass diese Ausstattung nicht gerade bil-lig war („Wer billig kauft, kauft zweimal!"), versteht sich von selbst, denn alle wollten verdienen, der Boss, der Verkäufer (der auch als „Selbständiger“ geführt wurde) und nicht zuletzt auch der Werber, natürlich auch als Selbständiger.
Aber zunächst sollte ich das Geschäft lernen.
Und so zog ich mit dem erfahrensten Werber mit, der sollte mich "anlernen". Ich sollte ihn begleiten, zunächst ohne eine Ton zu sagen und anschließend, vor seinen Augen, eigene Verhandlungen führen, die er bewertete und er sollte mir auch noch gute Tipps geben, wie man sich dabei anstellt und redet. Mein Werber-Ausbilder hieß Pinnekamp, war ledig, Anfang dreißig, arbeitslos wie ich und, wie ich bald erfahren sollte, auch mit einem ordentlichen Batzen Schulden ausgestattet. Er hatte schon die verschiedensten Jobs hinter sich. Zuletzt hatte er Lexika als Periodika gedrückt. Und er sprach davon, wie man dieses Geschäft lernen musste, denn es verlangte auch eine gewis-se Bildung, wie er nicht ohne Stolz verkündete... Man fing immer von oben an. Das heißt, bei einem Haus mit mehreren Etagen beginnt man mit der obersten Etage und arbeitet sich nach unten durch. Das sollte zu frühe Signale der Nachbarn untereinander verhindern. Er erzählte, dass er das mit gutem Erfolg gemacht hatte. Doch so riesig konnte der Verdienst nicht gewesen sein, denn saniert war er nicht. Noch immer drückten ihn gewaltige Schulden, wie er freimütig berichtete und ich gewann den Eindruck, dass er wohl total insolvent war und deshalb keine „normale“ Arbeit annehmen konnte.
Pinnekamp ist Werber mit kreatürlicher Duldsamkeit.
Werber für Fenster, Haustüren, Marki-sen und Rollläden. „Sag um Gottes willen nicht Jalousie (Schalusie) oder Rollos. Das sind Rollläden, die wir verkaufen und das eRRRR rollen! Jalousien sind Plastiklamellenzüge und Rollos sind Papierverdunkeler! Klar? Und nie was andres. Ich bin schon seit eineinhalb Jahren dabei. So lange hat es hier noch nie jemand ausgehalten. Die meisten Typen die hier waren, sind alles Gutwetterwerber. Ich bin Allwetterjäger. Das ist ein Unterschied!“ Denn es macht ihm nichts aus, auch bei stechender Sonne oder bei Regenwetter seiner Arbeit als Werber nachzugehen, so erzählte er weiter. „Aber ich habe ja auch Erfolg. Oder glauben sie (er siezte mich, wohl auch, um mir zu zeigen, dass ich noch längst nicht dazugehörte), dass die mich hier so lange behalten hätten? Ich habe im letzten Jahr fasst für eine Mil-lionen Mark geschrieben.“ Er sprach jetzt mit einer merkwürdig gepressten Stimme, das sollte wohl besondere Überzeugung ausstrahlen. Und er sagte „geschrieben“, obwohl er gar nicht „schreibt“, denn das macht nur Bichlapp, eben der Verkäufer, der „schreibt“ die Auf-träge. Der Werber bringt lediglich die Interessenten an. Er hat die Termine von den Haus-eigentümern zu besorgen und Bichlapp, der Verkäufer machte aus den Terminen nach Möglich-keit Abschlüsse. „Bichlapp ist ein guter Verkäufer, ein sehr guter Verkäufer! Am liebsten sind ihm Leute ab fünfzig, sechzig Jahren. Das ist sein Spezialgebiet. Seine Frau nimmt sich dann die Frau des Hausbesitzers vor und er, er ist ja Ostpreuße, er kann gut mit Ver-triebenen, die ja alle Häuser haben, er nimmt sich den Hausbesitzer vor. Der holt alles raus. Sicher, manchmal auch nicht ganz sauber. Aber er ist nicht der Typ, der die Leute über´n Tisch zieht. Nein, das ist er nicht. Er gibt denen dann schon ´mal ´ne Chance und lässt die frei entscheiden. Ich war ja manchmal dabei. Und wenn es fasst zu spät ist, dann schafft es Bichlapp immer wieder. Die Leute unterschreiben. Der ist wirklich ein guter Verkäufer… Aber das Eine ist ´mal völlig klar, es sind immer die Alten, Kranken und Schwa-chen die unterschreiben. Ein anderer tut so etwas nicht. Die sind gewitzter. Da hat auch Bichlapp keine Chance. Da sieht man, dass das Betrug ist. Das kann ich ihnen sagen, könn` se mir ruhig glauben.“
„Mich wollten die auch ´mal als Verkäufer haben, aber dann ist doch nichts draus gewor-den.“ Pinnekamp sagt das ohne Bedauern oder Hass, vielleicht mit ein wenig Wehmut, beinahe als Beobachter, als Außenstehender, bei diesem Spiel, das er immer verliert. Pinnekamp gibt auch gern ´mal Regeln weiter, wie; „Wenn der Kunde nach einer Telefonnummer fragt oder er will es sich noch einmal über-legen, dann gilt "Raus ist aus, so heißt der Schnack im Direktvertrieb. Den Kunden könn´se also vergessen.“
Manchmal, selten, kommt unverhohlen eine Wut in ihm hoch, wenn er erzählt, dass er zu we-nig Anerkennung erhält. „Die behandeln einen wie Dreck, so als ob man überhaupt nicht da ist! Man kann das hier nicht sein Leben lang machen, das ist mir klar. Ich kucke mich ja auch schon um, ob ich was anderes finde… Ich bin zu dieser Arbeit nicht wie die meisten anderen gekommen: Von oben nach unten, sondern umgekehrt, ich komme von unten und will nach oben“. Er erzählt und erzählt, hört kaum auf, um wieder an einer Haustür zu klingeln und sein Sprüchlein aufzusagen. „Guten Tag, ich komme von der Rollladenfirma Auroflex aus Hannover und wollte ´mal fragen ob Sie Bedarf an Rollläden, Fenstern, Markisen oder einer neuen Haustür haben.“ Eine Stimme bellt aus dem Innern des Hauses: „Wollnwirrnich, ham-wirrschon“. „Nein? Na ja, dann nicht.“ Er redet dabei überlaut, so dass man ihn in den stillen Einfamilienhaussiedlungen weit hören kann. Er braucht das, als Bestätigung und als Quasi-Anerkennung, damit er weiß, dass er da ist, dass er lebt, da es sonst niemanden gibt, der ihm zuhört. Schein-bar froh, dass er wieder einmal nicht zum Zuge gekommen ist, wendet er sich für den Moment resignierend ab.
Die Hausbesitzer hören ihm schon lange nicht mehr richtig zu, wenn er, in etwas abgerisse-ner doch sauberer Kleidung, mit seinem mittellangen, leicht verfilzten Bart und seinen oft ungepflegten Haaren, den hellen Cordhosen, einem farbigen, ausgewaschenen Hemd, darüber dann der ärmellose, dunkelbraun gemusterte Pullover, einem Pullunder, der wiederum teil-weise verdeckt wird von einer eher dunklen Steppjacke, bis weit über die Hüften getragen, vor der fremden Haustür steht. Schon erbarmungswürdig, oder schon Gesocks, wie er einmal selbstkri-tisch sagte? Seine Schuhe, braune Jägerschuhe, die vermitteln, dass man darin wohl vor mehr als zehn Jahren gut gehen konnte (Pinnekamp: „Vor Zehn Jahren habe ich mal die Jägerprüfung gemacht, so mit Jagdgesetzlehre, Jägersprache und so weiter“). Seine Au-gen sind voller Feuer, blitzen, beinahe wild und manch-mal schon etwas irre. Augen, die starke Gefühle ausdrücken können, vielleicht Hass, Leid? Ich kann mir Pinnekamp nicht sanft vorstellen, der ist Fanatiker. Pinnekamps Gestik kommt mir bewusst unterdrückt vor, so, als ob er sich selbst, unsichtbare, schwere Gewichte an die Arme gehängt hätte, die ihn hindern sollten, mit seinen Armen seine Argumente zu unterstreichen, seine Gefühle an-schaulicher zu machen, mit weit ausholenden Bewegungen. Er ist jemand mit geringem bis mittlerem Bildungs- und Intelligenzniveau, mit abgebrochener Schule und ohne Berufsaus-bildung.
Die Art seines verschlossenen Äußeren deutet auf ein „sich selbst minderwertig einschät-zend“ hin. Pinnekamp ist für die jeweilige Jahreszeit immer ein wenig zu warm angezogen - vielleicht auch daher, da man ja nie wissen kann, ob das Wetter nicht plötzlich umschlägt. Man hat eben einen „Beruf an der frischen Luft“. Er ist jemand, der für seine Körpergröße viel zu große Schritte macht, so dass sein Gang etwas wiegend anmutet, Matrosen nachem-pfunden. Und er, der Werber, Berber, Berberwerber wird immer gestoßen, niemand nimmt ihn ernst, weder die Hausbesitzer noch die Verkäufer. Die anderen Werber sieht er als Nichts-würdige an, nicht erwähnenswert. „Denn das hier ist Kampf, jeder gegen jeden.“ Plötzlich duzt er mich. „Und auch gegen dich“, Pinnekamp schaut mich kurz an und schnell wieder weg. Ich wusste nicht was und wie viel ich ihm glauben sollte, aber ich war gewahrschaut und sah der kommenden Aufgabe gefasst entgegen. Und Pinnekamp scheint in seinem Element zu sein. Er redet und redet, von früher, von der Zeit als er hier anfing, wie schwer es war und dann im Winter und im Regen. Ich trabe neben ihm her, durch die langweiligen, sauberen Straßen der Einfamilienhaussiedlung.
Später höre ich, dass Werber oft schnell wieder aussteigen - auch weil die ständigen Be-leidigungen, das Abwimmeln durch die Kunden und das Berufs-Image in der Öffentlichkeit, irgendwann an die Substanz gehen.
Ich muss nur an meinen Erfolg glauben
, dann… Ich müsste eigentlich misstrauisch sein, denn die herbeigebeteten Träume haben noch nie funktioniert. Soviel war mir ja aus eigener, bitterer Erfahrung bekannt. Doch das alles sollte mir jetzt keine Probleme bereiten; reden konnte ich und diese Klingelei an jeder Haustür störte mich auch nicht. Später dann, als ich die ersten zwanzig Hauseigentümer kennen gelernt hatte und auch vor allem deren Reak-tion, schien es mir nicht mehr ganz so leicht. Man wimmelte solche Leute wie mich eben gern schon einmal ab, oft recht unwirsch. Waren das nicht ganz bestimmte Konsorten, Fella-chen eben, irgendein Pack, die da an der Haustür klingelten, Hausierer? Ich blieb ruhig und machte kontinuierlich weiter und kam pro Tages-Einsatz auf gute Ergebnisse. Ich hatte immer ´ne Menge „Zettels“ gemacht. Postkarten, auf de-nen der Haus-Eigentümer, die An-schrift, das Produkt-Interesse (Rollläden, Fenster, Haustür oder Markise) und der Termin vermerkt waren. Und gute Arbeit verhieß auch, dass man vom Stundenlohn in Höhe von 15 Mark wegkam, hin zur Provision – und die war natürlich viel höher. Der Stundenlohn wurde nur für die „tatsächliche Arbeit“ bezahlt, An- und Abfahrt zählten hierfür nicht. Schnell lernte ich auch, dass Fenster am teuersten waren und auch die höchste Provision brachten. Also ging ich immer gleich auf die Fenster los. Gerade bei den Siedlungshäusern gab es zu dieser Zeit noch sehr viele mit Holzfenstern und die mussten weg, denn die waren undicht, marode, es zog und sie konnten niemals eine ordentliche Dichtigkeit gewährleisten. Ich sprach wie ein Weltmeister und hätte mit Leichtigkeit den ganzen Kram auch verkaufen kön-nen. Doch dafür gab es den Verkäufer. Meiner hieß Bichlapp. Und der war ´ne besondere Type.
Bichlapp war in den Fünfzigern
, ein dickbäuchiges, reaktionäres und rassistisches Vertre-terschwein der übelsten Sorte und von ausgesuchter Hässlichkeit. Noch in den ersten Stun-den meiner Tätigkeit bei ihm schrie Bichlapp: „Wenn Du dann vor einem Hausbesitzer stehst, dann heißt das: Mein Kollege wird sie kostenlos - niemals unverbindlich - beraten! Merk dir das!“ Er duzte sofort jeden, ohne Ausnahme. Damit war ich schon mal auf kommende The-men eingestellt. Er war Alkoholiker und aggressiver Choleriker ohne Führerschein. Wie alle hier Beschäftigten gehörte er zweifelsohne auch zum bildungsfernen Prekariat. Und weil er keinen Lappen mehr hatte, musste seine Frau das Fahrzeug, einen neuen Mercedes 280er, steuern. Bichlapp schrie schon vom ersten gefahrenen Meter seine Frau an, die seiner Mei-nung nach alles völlig falsch machte. Gekleidet sind beide eher lotterig, ungepflegt, un-bedingt nicht modisch. Bei ihm Flecken auf der Hose und dem Jacket. Der Gesamteindruck; primitives Proletariat. Hieran schließt sich auch beider Umgangston an. Sein liebstes Wort ist ein laut hinaus-trompetetes und aggressiv klingendes „Scheiße!“. Seine zweitliebste Beschäftigung ist der „psychologisch“ geführte Vernichtungskrieg seiner Frau gegenüber. Grundsätzlich fährt sie falsch, reagiert zu spät, hat überhaupt kein Verkehrsgefühl, hat entweder zu wenig fahrerisches Selbstvertrauen oder fährt zu forsch. Gut, sie fuhr nicht souverän aber so schlecht war sie nun auch wieder nicht. Doch Bichlapp war der Meinung, nur er könne fahren und überhaupt alles beurteilen. Der Fahrstil seiner Frau war ohnehin unter aller Kanone und so schrie er permanent und griff ihr oft genug auch ins Steuer, sie boxte zurück. Es spielten sich unglaubliche Szenen ab. Es war völlig unwichtig ob da wei-tere Personen im Auto saßen oder nicht. Bichlapp schrie. Aber auch seine hagere Frau war ein besonderes Kaliber, sie konnte sich wehren und war im Bereich der Verbalinjurien nicht bange. Sie knallte ihrem Mann gern recht grobe Beleidigungen aus dem Fäkalbereich an den Kopf. Ihre fast freche Gegenwehr; „ach, halt doch die Schnauze“ oder „sei ruhig, du Arsch“ oder in dem sie auf andere ablenkt; „der fährt ja wie verrückt, die Sau“ war gängige Un-terhaltungsschau während der An- und Rückfahrten in oder aus dem Gebiet. Den Mitfahrern war eine Einmischung oder Kommentare strikt untersagt. Bichlapp schrie ohne Unterbrechung und seine rote Birne schwoll regelrecht an. Einmal hielt sie an, stieg aus und sagte; „bitteschön, du kannst ja weiterfahren.“ Da begriff Bichlapp für eine Sekunde seine Situa-tion und zirpte honigsüß, bat und bettelte, bis Frauchen wieder einstieg und weiterfuhr. Es herrschten genau fünf Minuten Ruhe und dann ging es wieder los. Dieses Szenario spielte sich bei jeder Fahrt von neuem ab. Bichlapp schrie. Unterdessen färbte sich seine „gol-dene“ Uhr an seinem schwitzigen Handgelenk grün und entlarvt sich somit als unecht. Bich-lapp schwitzt auch wegen seiner Körperfülle leicht, ihm ist Sonnenschein äußerst unange-nehm. Manchmal furzte er ungeniert im Auto.
Hin und wieder wird ein gnädiges Wort nach hinten, an den Oberwerber Pinnekamp gerichtet, etwa, was für Schweine die Konkurrenten doch sind, die jeden Preis unterbieten, nur um den Markt kaputtzumachen; „die haben dabei nichts übrig und die lügen auch noch, denn zu dem Preis kann der keine einbrennlackierten Rollladen liefern und dazu auch noch mit Motor. Der kostet doch allein schon sechshundert!“ Pinnekamp nickte und gab zu entsprechenden Pausen sein „Ja“ oder „natürlich“ oder „da haben Sie recht, Herr Bichlapp“. Bichlapp rea-gierte auf diese Untertanenbeweise überhaupt nicht, nahm keine Notiz, denn er wusste, dass Pinnekamp immer sein Untertan sein wird, egal was auch kommt.
Dann brüllt er wieder. Fußgängern, die die markierten Überwege nicht benutzen und seine Fahrtrichtung kreuzten, brüllt er wütend entgegen und lässt sich, da er sie nicht errei-chen kann, an seiner Frau aus; „die kannste ruhig anfahren, fahr se platt! Die Bekloppten, dann sind se alle weg, weg vom Fenster…“ Noch zwei, drei Schnauber und seine unnatürlich rote Gesichtsfarbe entwickelt sich zurück zur üblen Säufervisage mit Knollennase, die nun in verschiedenen Rot- und Violett-Tönen schimmerte. Sein blaugeäderter Gesichtsbereich un-terstrich dann seine, um den Mund befindlichen, Marionettenfalten, bis hin zum kruden Volumen seines Doppelkinns und den üblen Strukturen im Halsfettbereich.
Später hörte ich von Pinnekamp, dass Bichlapp eben auch pleite war, genauer, er war in früheren Zeiten selbständig und hatte seine Firma mit Glanz und Gloria, unter Mithilfe seiner Frau, in den Sand gesetzt. Dann, um noch irgendwie einen Schnitt zu machen, hatte er Karten gezockt und war dann richtig auf die Fresse geflogen. Aus dieser Zeit verfolgte ihn bis heute der Gerichtsvollzieher. Bichlapp log, was sein Einkommen betraf, dass sich die Balken bogen. Er war und blieb ein Schweinehund. Das musste ich später auch noch spü-ren. Er konnte nicht anders, er musste jeden betrügen und belügen – um sich so auch nur den kleinsten Vorteil zu verschaffen.
Ein guter Rollladenauftrag kann schon mal zwanzigtausend oder auch mehr bringen, wobei Bichlapp zehn, der Big Boss Mompel fünfzehn und der Werber, so er denn als qualifiziert, anerkannt und eingestuft ist, drei Prozent erhält. Normalwerber erhalten einen Stundenlohn von fünfzehn Mark netto auf die Kralle, An- und Abfahrt wird nicht bezahlt. Bichlapp lässt sich das quittieren, der Werber wird schnell zur Firma, also als Selbständiger erklärt, als Subunternehmer gewissermaßen. Und so legalisiert er seine Unverschämtheiten, weiß er doch, dass er immer Gestrandete, Kranke, Arme, Schwache und auf jeden Fall Arbeitslose, die nicht ganz koscher sind, beschäftigt. Sein Vorteil ist, er fragt nicht was einer ist, was er kann, wie alt er ist, ob verheiratet, geschieden, ob Lohnpfändungen angesagt sind oder sonst irgendetwas mit ihm los ist. Ob er ein Knacki ist, oder eine verkrachte Exis-tenz ist, er nutzt alle schamlos aus. Er diktiert was läuft und was nicht läuft, er ist das Gesetz, die Bank, der Boss, der liebe Gott gegenüber seinen Werbern. Alles kuscht und so gibt es vor ihm nur das sofortige Abtauchen, den Rückzug. Einige Werber gaben noch am ersten Tag, noch in den ersten Stunden Fersengeld, ohne auch nur ihre Entlohnung abzuwar-ten oder einzufordern. „Vielleicht sind die richtig beraten“, dachte ich in Momenten. Der weitaus größere Teil wirft das Handtuch nach ein bis zwei Wochen, wenn die Entscheidung ansteht, ob einer „qualifiziert“ ist oder nicht. Das bedeutet, dass einer weiter auf Stun-denlohn arbeitet. Der ist Bichlapp „sympathisch“, das heißt, er gibt ihm noch eine Galgen-frist, oder ob einer ab sofort nur noch nach Provision arbeitet. Die freilich muss Bich-lapp reinrudern, immer dann, wenn ein Werber, und das ist das erklärte Ziel, einen festen Termin bei einem Kunden vereinbaren konnte.
Bichlapps Betrug.
Ich hatte schon in der ersten Woche viele Zettel gemacht. Schnell hatte ich mich eingearbeitet und nun stand bereits nach einer Woche meine Verprovisionierung an. So etwas wurde immer am Freitagnachmittag im Büro vom Mompel entschieden, in dem sich die Belegschaft, vielleicht zwölf, fünfzehn Mitarbeiter zum Wochenende und -anfang versammel-ten. Ich erhielt einen Vordruck: Auf einer DIN A 4 – Seite stand drei Prozent Provision auf alle von mir vermittelten Geschäfte, von Bichlapp zu zahlen, Ort, Datum, Unterschrift. Das war´s. Ich unterschrieb, mir war´s recht. Von nun an wollte ich und sollte ich „rich-tig“ Geld verdienen. Doch ich hatte die Rechnung ohne Bichlapp gemacht, denn der konnte nicht anders als betrügen. Schon nach der ersten Provisions-Woche freute ich mich riesig darüber, dass ich fünfhundertundzwanzig Mark ausbezahlt bekam. Das war schon ein gewalti-ger Unterschied zu vorherigen Beträgen, die sich höchstens auf dreihundertfünfzig Mark beliefen. Ich war stolz wie ein Spanier. Was ich nicht wusste, war, dass Freitagnachmittag im Büro auch alle Aufträge durchgesehen, angenommen oder abgewiesen und auch die Entloh-nung der Verkäufer an die Werber vom Big Boss Mompel kontrolliert wurden. Da war einiges bei der Abrechnung von Bichlapp mir gegenüber nicht mit rechten Dingen zugegangen. Die je-weilige Auftragssumme bekam ich ja nie zu Gesicht, das war Sache zwischen Mompel und sei-nen Verkäufern. In der Folgewoche stellte sich heraus, dass ich die Sensation geschafft und Bichlapp mich betrogen hatte. Nach Intervention von Mompel musste Bichlapp mir ins-gesamt eintausendeinhundertundfünfzig Mark ausbezahlen. Das hatte noch kein Werber erhal-ten und das in einer Woche. Eine Ungeheuerlichkeit. Was muss da passiert sein, fragten sich die anderen Werber. Es war ganz einfach, ich hatte viel „Zettel“ gemacht und Bich-lapp hatte ordentlich Aufträge „geschrieben“ und das Geld war meine ehrlich verdiente Provision. Mein Ansehen wuchs gewaltig. Ich war ab sofort der Star der Truppe. Ich wurde mit sofortiger Wirkung Bichlapp „weggenommen“ und einem anderen Verkäufer zugeteilt, denn der hatte schon von meiner Arbeit gehört und ein Auge auf mich geworfen, bzw. sein Inter-esse für mich bei Mompel angemeldet. Bichlapp wurde vor versammelter Mannschaft vom Mompel zusammengeschissen. Das war´s.
Ich wurde dann Dürr zugeteilt.
Er sollte auch ein ganz überragender Verkäufer sein - und vor allem ehrlich abrechnen. Na gut, mir blieb ohnehin nichts anderes übrig. Zu Beginn lief alles ganz wunderbar und ich verdiente auch gutes Geld. Dürr wollte mir gegenüber gern der ganz große Meier sein und führte mich, wie er meinte, so richtig in die Branche ein. Und so erzählte er gern von seinen grandiosen Erfolgen, die allerdings im großen Ge-gensatz zu seiner heutigen Welt standen. Er hatte gewaltige Schulden (wie er mir einge-stand), seine Kleidung war sehr schlicht, wenn nicht als ärmlich zu bezeichnen und er war ein Prolet im schlimmsten Sinne der Bedeutung. Er nahm mich gern auch zu seinen finalen Abschlussgesprächen mit, zu den von mir geworbenen Kunden und tönte bereits im Vorfeld, ich sollte ´mal hübsch aufpassen, denn er würde mir nun so einiges zeigen. „Wenn ich sage „Schäfchen“, dann mache ich ´nen Abschluss“ tönte er bei Betreten des Hauses eines Kunden. Und tatsächlich, die Verkaufsgespräche nahmen ihren Lauf, Dürr drehte sich halb zu mir um und sagte „Schäfchen“ und nach weiteren 15 Minuten unterschrieben die Hauseigentümer einen Auftrag für neue Fenster. Dürr war außer sich. Nun kam er ganz groß raus, brüstete sich und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Er war nicht mehr zu bremsen und rief „Schuss oder Schluss“, du weißt was das heißt? Entweder Unterschrift oder nix geht.“ Doch immer öfter zog Dürr es vor, nicht „ins Gebiet“ zu fahren, sondern sich mit anderen Verkäufern an einer verschwiegenen Adresse, in irgendeinem Landgasthof, einer Curry-Bude oder sonstigen „Verstecken“, irgendwo auf dem flachen Land zu treffen und Karten zu spielen.
Zocken, mit fettem Geldeinsatz.
Eher selten Skat, oft Pokern oder 17 und 4. Hiermit woll-ten sie ihre Kohle machen. Und wer nicht mitspielen wollte, wie ich, der saß dann eben dumm rum. Als Spieler und Kollegen versammelten sich Keiper, ein Mittfünfziger und alter Skatbruder, der in seinem Skatverein „Karo As“ als Vorsitzender fungierte, wie er stolz erzählte, war verheiratet. Seine Frau war künstlerisch begabt, sie malte angeblich und war bei Pelikan beschäftigt. Er bekam von ihr Taschengeld und beurteilte sie als extrem geizig aber gutherzig. Keiper ist arbeitslos und erhält vom Arbeitsamt keine Stütze, da das Ein-kommen seiner Frau mit angerechnet wird. Und die vom Arbeitsamt halten das Familienein-kommen für ausreichend.
Babeck: In den Zwanzigern. Die lebendige Geschichte eines Phantasten, der schon als Kind und Schüler am Leben scheiterte und niemals gelernt hat sich selbst zu finden. Berufs- und arbeitslos. Ein schlichter Unsympath und schnell zu durchschauender Aufschneider. Nie-hof: Ehemals Boxer und Supervisor bei UPS, dem amerikanischen Paketdienst. Er erzählt gern von früheren Eskapaden als Frauenschwarm in deutschen Ferienparadiesen, als er ältere, al-leinstehende Damen, so z. B. die Doktorsche beglückt hat. Diese Abenteuer beschrieb er ge-nüsslich in allen Einzelheiten und alle Kollegen hingen an seinen Lippen. Getrieben wur-den alle Figuren von ihren Schulden, ihrem Suff oder sonstigen, ähnlichen Dingen.
Als wir wieder einmal auf die anderen Kollegen warteten erzählte Dürr von seiner früheren Tätigkeit als Propagandist für Kaffeefahrten. „Also, du brauchst mindestens 50 Leute um den Bus bezahlen zu können. Die zahlen 95,00 also 4.750 D-Mark. Dafür hattest du dann den Bus unten in Spanien, so ca. für ´ne Woche oder für zehn Tage. Eine Nacht ging für die Hinfahrt und eine Nacht für die Rück-fahrt drauf. Das waren dann schon zwei Nächte weni-ger, für diese Zeit entfällt schon ´mal die Übernachtung im Hotel. Dann haben wir in Spa-nien noch Sonderfahrten gemacht. Da kostet so ´ne Fahrt nach Barcelona dann pro Kopf für die Leute 25 D-Mark, inklusive Mittagessen. Das Mittagessen haben wir für 6 Mark ausgehan-delt. Kannst dir das ja ´mal vorstellen, wenn wir da mit all den Leutchen ankamen. Da standen die Wirte Kopf, da haben wir aber Preise gekriegt… und schon hatten wir wieder zwei Übernachtungen ´raus, denn die kosteten uns 10 Mark inklusive Frühstück…Ja, so ging das damals. Und wir haben Betten gedrückt. Das Bettenprogramm bestand aus Unterbett, Ober-bett, Kopfkissen und Teddydecke. Kostete für die Kunden 298 D-Mark, wir hatten das für 40 Mark eingekauft. Meine Güte, was haben wir gedrückt. Manchmal haben wir auch ein bisschen nachgeholfen und hervorragend gut verdient. Aber dafür brauchst du erst einmal gute Kohle, um das anzuschieben. Und auch gute Leute, auf die du dich verlassen kannst. Wir müssen ´mal darüber reden, ob wir beide so was nicht ´mal anschieben sollten. Du wärst für so was ´n guter Typ. Ich kenne mich da aus.“ Ich hatte den Eindruck, dass der wirklich glaubte, dass ich mich mit ihm gemein machen würde, oder war es einfach nur das, dass er versuchte an mein Geld zu kommen. Jedenfalls schied diese Option für mich aus.
Mompel, der Inhaber und Big Boss
, Mittvierziger, mit Haus, zwei Mercedes-Wagen (einer da-von ein nagelneues, üppiges Cabriolet) und einer wesentlich jüngeren Frau, Typ Wasser-stoffblondine, die leicht nuttige, liederliche Züge er-kennen ließ und gern mit allen er-reichbaren Männern im Büro schäkerte, was ihn unglaublich in Wallung brachte. Man war gut beraten, wenn man ihr freundlich und zurückhaltend begegnete. Mompel kannte den Markt und die Drücker, also den Direktvertrieb, aus dem Effeff. Er hatte eine Nase dafür, wer arbei-tete und wer nicht. Und wenn seine ganze Kolonne sich irgendwohin verdrückt hatte, spürte er sie auf und schmiss die von ihm ausgesuchten Rädelsführer unbarmherzig raus.
Der Drops ist gelutscht.
Und natürlich kam es so. Wir saßen alle im Kiosk am blauen See, einem Badesee in der Nähe, die Kollegen zockten wie die Wilden und ich machte gute Miene zum bösen Spiel, hielt mich aber ´raus. Da kam Mompel rein und räumte auch sofort auf. Er kannte ja die „geheimen“ Treffs. Die meisten Kandidaten flogen sofort. Nur ein kleiner Rest sollte weiter in Lohn und Brot bleiben. Dazu gehörte auch ich. Ich arbeitete noch ein oder zwei Wochen für ei-nen anderen Verkäufer weiter. Doch das Ganze hatte sich für mich auch totgelaufen, hatte keinen Reiz mehr. Die andauernden Beleidigungen der Hausbesitzer, weggescheucht zu werden, wie ein lästiges Huhn, das alles trug nicht eben dazu bei, diesen Job als ideal zu betrachten.
Ich schränkte mich in meinem Lebenswandel und Anspruch ein und lebte so einige Wochen in der Vorstellung nun endlich bald Schriftsteller zu werden. Zwischenzeitlich lebte ich eben nur als Bohémien. Vielleicht ist das ja eine Option. Aber mein Leben nahm einen anderen Verlauf. Ich vertraute meiner Gipsy-Natur.
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2013
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