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Game Over

Es war elf Uhr morgens als Art Karas erwachte. Er drehte sich schwerfällig auf die Seite und taste auf der anderen Bettseite herum. „Pat?“ murmelte er schlaftrunken. „Oh man, Pat“ stöhnte er, als er merkte dass da niemand war. „Konntest du nicht noch etwas bleiben, Patricia?“

Er hatte die dunkelhäutige Schönheit mit den großen Augen gestern Abend in einer Bar kennengelernt und nach wenigen lustvollen Blicken und ein paar flotten Sprüchen war sie nur zu gern bereit gewesen, mit zu ihm zu kommen.

Die Nacht war schöner geworden, als er vorher gehofft hatte. Und im Stillen hatte er darauf vertraut, heute Morgen nach dem Aufwachen noch etwas verwöhnt zu werden.

Wenigstens sagten ihm ein paar lange schwarze Haare auf dem Kopfkissen, dass er nicht geträumt hatte.

Er schwang die Beine aus dem Bett und erhob sich langsam. Auf dem Bettrand sitzend sah er sich um. Das Zimmer sah aus wie immer und wie jedes, das er kannte. Ein riesiges Panoramafenster an der einen Wand, das aber tagsüber meist abgedunkelt blieb, denn das grelle Sonnenlicht hätte die Atmosphäre des Zimmers zerstört. Eine bequeme Sitzecke mit Multifunktionskonsole füllte den größten Teil des Zimmers aus. An der anderen Wand, genau gegenüber seinem Bett, befand sich sein Arbeitsplatz. Ein sehr bequemer Sessel vor einem großen Pult, in dessen Oberfläche verschiedene Computer und Tastaturen eingelassen war. An der Wand darüber ein riesiger Bildschirm. Der Bildschirmschoner lief und zeigte eine fremde Planetenoberfläche, auf der Menschen herumliefen und mit altertümlichen Werkzeugen kleine Häuser bauten.

Art stand langsam auf und begab sich zur Waschzelle. Nachdem die Tür hinter ihm sich leise surrend geschlossen hatte, gab er auf einem Display neben der Tür einige Angaben ein. Daraufhin erklang angenehme leise Musik, in die sich seltsame Tierstimmen mischten. Die Beleuchtung schaltete sich ein und nahm eine warme, gelbliche Farbe an. Auch die Temperatur wurde angenehm warm. An den Wänden wandelten sich die bisher weißen Fliesen in sattes Grün und zeigten allmählich eine detailgetreue Landschaft. Hohe Bäume, von denen Lianen bis zum Boden hingen, dichte Farne und tropische Büsche am Boden. Die Fußbodenfliesen hatten die Farbe und die Temperatur warmen Lehms angenommen. „Im Wald der Mayas“. Das war Art‘s Lieblingsdekoration für das morgendliche Bad.

Inzwischen hatte sich auch das Badebecken in der Ecke des kleinen Raumes gefüllt. Art ließ sich langsam hinein sinken und genoss die Wärme, den Duft und die Stimmung. Ab und zu richtete er sich in dem Becken etwas auf und betätigte einen kaum sichtbaren Knopf an der Wand, worauf ein sanfter Schauer kühlen Wassers aus der Decke über seinen Körper rann.

Als er dem Becken entstieg, setzte er sich in die Nische daneben und sofort begann ihn ein sanfter, warmer Luftstrom von allen Seiten zu umfließen.

Nachdem er sich so hatte trocknen lassen, öffnete er eine kaum sichtbare Tür seitlich an der Wand und entnahm aus dem dahinter befindlichen Schrank neue Unterwäsche und einen leichten, weißen Anzug.

Mit einem Druck auf das Display neben der Tür löschte er alle Lichter, Töne und Illusionen und verließ den Raum.

Jetzt würde er ins Café hinunter fahren und erst einmal ein ausgiebiges Frühstück einnehmen.

Doch gerade als er das Zimmer verlassen wollte erklang eine leise Melodie und eine Taste an der Multifunktionskonsole blinkte. In der Hoffnung es sei Patricia, die sich für ihren so zeitigen Aufbruch entschuldigen und sich noch einmal mit ihm verabreden wolle, ging er hinüber und betätigte die leuchtende Taste.

Die Luft über der Konsole schien für einen Moment zu flimmern, dann erschien das dreidimensionale Bild einer jungen Frau mit langen roten Haaren und wunderschönen braunen Augen. Verdutzt und etwas verärgert starrte Art auf die Frau an. „Jessie? Was willst du?“ Jessica Karas sah auch nicht gerade begeistert aus, als sie ihrem Ex-Ehemann ins Gesicht sah. „Entschuldige, Art, dass ich dich so früh störe. Wie ich dich kenne, hast du noch nicht mal gefrühstückt.“ Art nickte instinktiv. „Aber ich muss unbedingt mit dir reden. Ich würde heute Nachmittag gerne bei dir vorbeikommen.“

„Ich weiß nicht, Jessie“, Art schüttelte den Kopf. „Eigentlich bin ich heute mit Paul und Jerome zum Spielen verabredet. Du weißt schon: Fight on – der große Showdown!“

„Ihr und eure dämlichen Computerspiele!“ Jessies Unmut war ihr anzusehen. „Könnt ihr das nicht auf etwas später verschieben? Ich muss unbedingt mit dir reden. Es ist wichtig, sehr wichtig. Und: Es ist unaufschiebbar. Es muss heute sein, Art. Bitte, gib mir eine Chance!“

Sie sah ihn mit ihren großen braunen Rehaugen an und Art wusste sofort, dass er das Spiel absagen würde. Er hasste diese Frau. Ein solcher Blick von ihr und er war ihr verfallen. Schon immer und immer, immer wieder. Es hatte nichts genutzt, dass sie mit diesem Bio-Freak abgehauen war, dass sie die beiden Kinder mitgenommen hatte, dass sie die Kinder kaum zweimal im Jahr zu ihm ließ. Nichts von ihren Gemeinheiten änderte etwas daran, dass er verfallen war.

„Okay, Jessie“, meinte er dann, „komm gegen drei zu mir. Bringst du wenigstens die Kinder mit? Ich würde sie so gern mal wieder sehen.“ Jessica sah auf einmal selbst etwas traurig aus. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Ihre roten Haare wehten leicht um ihren Kopf. „Nein, Art. Das geht nicht. Ich muss etwas mit dir besprechen, das sie zwar betrifft, von dem sie aber noch nichts wissen sollen. Aber Caspar wird mitkommen.“

Jetzt wurde es Art zu viel. „Nichts da, Jessie! Diesen Freak möchte ich hier nicht sehen, dass weißt du!“ Jessica war anzumerken, wie sie sich zur Ruhe zwang. „Dieser Freak, Art, ist mein Lebenspartner! Und er wird mich begleiten. Überall hin, wenn es sein muss. Nicht wie du, der ständig nur zu Hause hockt, vor seinen Rechnern und Konsolen! Der seit Jahren keinen Schritt mehr vor das Haus gesetzt hat! Der nur in seiner Illusion lebt!“ Sie hatte sich nun doch in Rage geredet. „Ach vergiss es“, sagte sie dann. „Caspar wartet eben unten im Wagen auf mich, wenn du ihn partout nicht sehen willst. Ich muss jedenfalls mit die reden.“ Nach diesen Worten trennte sie die Verbindung und das Bild erlosch.

Art Karas kochte innerlich. Dieses Biest hatte seinen ganzen Tagesablauf durcheinander gebracht. Das war etwas, das er überhaupt nicht leiden konnte. Unruhe, Unordnung und Unvorhergesehenes. Nur beim Spielen, da war das was Anderes. Sonst wäre es ja langweilig.

 

Ein paar Minuten später erreichte Art den Frühstücksraum im Café des Wohnkomplexes. Es war inzwischen kurz nach zwölf Uhr. Um diese Zeit war schon fast kein anderer Bewohner mehr hier. Nur an einem Tisch in der Ecke saßen zwei ältere Frauen, die sich die Zeit bis zum Mittagessen mit einem großen Eisbecher vertrieben.

Art suchte sich einen kleinen Tisch am Fenster und gab auf der elektronischen Speisekarte seine Wünsche für das Frühstück ein. Während er auf den Servierrobot wartete, sah er aus dem Fenster. Aber der Ausblick war nicht besonders. Das Café lag in der 30. Etage des Wohnkomplexes und damit zu hoch, um von den Vorgängen unten auf der Straße etwas mitzubekommen. Winzig kleine Wagen drängten sich aneinander vorbei und die wenigen Leute, die sich zu Fuß von den am Straßenrad geparkten Wagen zu den Eingängen der Häuser begaben, war kaum etwas zu erkennen. Vom Restaurant, in dem man mittags oder abends speisen konnte, hatte man wenigstens einen Blick über die Dächer der Stadt. Das lag aber auch in der 135. Etage! An einem klaren Abend konnte man sogar die Bergketten am Horizont erkennen. Art hatte schon gewusst, warum er seine Wohnung im höchsten Gebäude seines Stadtviertels genommen hatte.

Der Robot kam heran gerollt und stellte das Tablett mit dem Frühstück auf dem Tisch ab. Dann zog er sich ins Lager zurück.

Art Karas begann zu frühstücken. Doch statt sich wie gewohnt, zurückzulehnen und den Begin des Tages zu genießen, kam ihm wieder und wieder Jessica in den Sinn. Was hatte sie bloß dazu bewogen, aus diesem Wohnkomplex auszuziehen? Gut, es war etwas teuer hier. Aber dafür hatte man jeden nur erdenklichen Luxus. Die Wohnräume waren mit der neuesten Technologie ausgestattet, der Service schnell und diskret. In diesem Gebäude gab es alles, was man brauchte. Gaststätten und Bars, Spielhallen, Shoppingmeilen, Friseurgeschäfte, Kinderbetreuung, Innen- und Außenbadeanlagen und so weiter und so fort. Man brauchte den Wohnkomplex tatsächlich sein Leben lang nicht verlassen.

Und sie war mit diesem Bio-Freak abgehauen. Irgendwohin aufs Land gezogen. Hatte sich einer dieser blöden Freakshows angeschlossen, die ihre Nahrung selbst anbauten und ihre Kinder den ganzen Tag im Freien spielen ließen, wo sie allen möglichen Gefahren ausgesetzt waren! Ihre Kinder? Unsere Kinder, dachte er. Wie er den zwölfjährigen Jamie und die achtjährige Janine vermisste! Und wie sehr er bedauerte, dass sie unter solchen Bedingungen aufwachsen mussten! Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren sie kaum wiederzuerkennen gewesen, so schmal waren sie geworden. Er hatte noch nie in seinem Leben so dünne Kinder gesehen. In seinem Innersten war er überzeugt davon, dass sie in weniger als einem Jahr verhungert sein würden. Es sei denn, Jessie würde endlich zur Vernunft kommen und zu ihm zurückkehren. Oder sie gab die Kinder zu ihm. Das wäre bestimmt besser für sie. Vielleicht könnte er heute ja mit ihr darüber reden. Kurz nachdem sie ausgezogen war, hatte er mal versuchen wollen, mit einer richterlichen Anordnung die Kids zu sich zu holen. Er hatte es dann aber gelassen, da die Gerichte für solche innerfamiliären Fälle ja sowieso ewig brauchen und es nicht gesagt war, ob sich überhaupt jemand damit beschäftigen würde. Vielleicht hätte er aber auf die Gefahren für die Kinder in dieser Umgebung hinweisen sollen. Naja, jetzt war es wahrscheinlich eh zu spät. Und mit Behörden rumzustreiten würde nur wieder Unruhe in sein Leben bringen.

Sein Blick fiel auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Zwölf Uhr dreiunddreißig. Wenn Jessie gegen drei bei ihm sein wollte, musste er langsam mal an seine Arbeit gehen. Viel Zeit blieb dafür heute nicht, denn vor dem Treffen mit ihr musste er ja wenigstens noch Mittag essen und noch mal ins Bad.

 

Kurz darauf saß er an seinem Arbeitsplatz in seiner Wohnung und fuhr die Rechner hoch. Wie gewohnt, meldete sich zuerst der Nachrichtenkanal. Auf dem Bildschirm war das weite Areal des Raumflughafens Porto Solaris zu sehen. Im Hintergrund ein gigantisches Raumschiff. Die hübsche Frau im Vordergrund kannte er von anderen Sendungen. „…steht der Start der AURORA 4 kurz bevor.“ Sagte sie gerade. „Wieder werden…“ „… etwa 2.500 Menschen die Erde verlassen und einer neuen Heimat entgegenfliegen, bla, bla, bla“, ergänzte Art den Satz, den er in den letzten Tagen schon mehrere dutzend Mal gehört hatte, und schaltete den Nachrichtenkanal weg.

Dann loggte er sich auf seiner Arbeitsebene ein. Auf dem Monitor an der Wand war jetzt ein ähnliches Bild wie vorhin zu sehen. Ein riesiges Raumschiff auf der Startrampe, dahinter ein weiter Sternenhimmel. Untermalt von sphärischen Klängen erschien jetzt die Aufschrift „Besiedlung des Universums 5“ auf dem Bildschirm. Art begann zu spielen.

Er hatte es geschafft! Als Einem von ganz Wenigen war es dem gelernten Programmierer gelungen, eine Anstellung als professioneller Spiele-Tester bei einer der größten Softwarefirmen zu bekommen. Dadurch hatte er sein Hobby zu Beruf gemacht. Jessie hat das überhaupt nicht gepasst. Schon wieder spukte ihm diese Frau im Kopf herum! Dabei musste er sich auf seine Arbeit konzentrieren.

Bei „Besiedlung des Universums 5“ handelte es sich um eine Aufbausimulation mit aktuellem Hintergrund. Seit vielen Jahrhunderten war die Erdbevölkerung ständig gewachsen und obwohl fast alle Städte der Welt nur noch aus gigantischen Wohnanlagen, die sich weit in den Himmel reckten, bestanden, war nicht genügend Platz mehr für alle Menschen auf dem Planeten. Die Raumfahrt war bereits weit fortgeschritten und auch der Kontakt zu einigen wenigen interstellaren Lebensformen war bereits hergestellt. So hatten die Menschen damit begonnen, im gesamten Universum nach Planeten zu suchen, die sie besiedeln konnten. Fast jedes Jahr startete jetzt ein sogenanntes Kolonieschiff ins All. Bis an die Grenzen des schon besiedelten Raumes ging es mit Hilfe der durch die befreundeten Aldebaraner installierten Sprungtore relativ schnell. Doch dann kam die Weite, die Unendlichkeit. Hier wurden dann die Menschen an Bord in speziellen Tiefschlafkammern über Jahrzehnte oder länger am Leben erhalten, ohne das sie erwähnenswert alterten. Erst kurz vor dem Eintauchen in die Atmosphäre des einprogrammierten Planeten wurden sie durch die Automatik des Schiffes geweckt. Von da an waren sie auf sich selbst gestellt.

Und hier setzte das Spiel an. Man hatte immer 2.500 Personen zur Verfügung. Männer, Frauen und Kinder aller Altersstufen und mit unterschiedlichen Voraussetzungen konnten eingesetzt und ausgebildet werden. Das Schwierige war, dass man am Anfang nur wenige Spezialisten hatte und jede einzelne Figur auch noch einen ganz persönlichen Charakter verpasst bekommen hatte. Es konnte also passieren, dass zum Beispiel der einzige Holzfäller an Bord ein total faules Stück war und den halben Tag lieber in der Sonne lag, als seine Arbeit zu verrichten. Wie soll man da schnell genug Hütten bauen können? Man musste sich eben was einfallen lassen, um den Holzfäller motivieren, richtig!

Aber selbst wenn man die Arbeitsabläufe und den Aufbau der ersten Siedlung schnell genug in den Griff bekam, gab es fast immer Probleme mit dem Zusammenleben der Siedler. Man musste seine Augen überall haben, sonst hatte sich irgendwann die ganze Mannschaft ausgerottet oder war verhungert. Auch die Gefahr, von wilden Tieren oder feindlichen Raumfahrern angegriffen zu werden, oder durch Naturkatastrophen vernichtet zu werden, bestand permanent. Und dann hieß es einfach: „GAME OVER!“

Was Art in der Wirklichkeit für völlig hirnrissig hielt (Wie konnte man sich freiwillig für zig Jahre konservieren lassen, nur um dann mit primitivsten Mitteln Unterkünfte zu bauen und Nahrung zu erzeugen um irgendwie dahin zu vegetieren?) machte ihm im Spiel richtig Spaß. Es war einfacher als zu programmieren, aber wenigstens musste man dabei noch etwas nachdenken.

Fast zwei Stunden hatte er weder an Pat noch an Jessie oder die Kinder gedacht. Dann war Zeit zum Mittagessen.

 Er loggte sich aus. Seinen Testbericht würde er heute Abend schreiben. Aber zuerst musste er mal das virtuelle Treffen mit Paul und Jerome absagen! Die würden nicht gerade begeistert sein. Aber sicher fanden sie für heute mal einen anderen Partner im Netz.

 

Er schaffte es gerade so, sein Essen hinunterzuschlingen, zu baden und sich umzuziehen, bis Jessie sich über die Sprechanlage am Eingang meldete.

Er empfing sie in einem strahlend blauen, samtweichen Hausanzug, dessen Aufschläge und Säume mit einer schmalen goldenen Borte verziert waren.

Jessica sah, obwohl sie ungeschminkt war, einfach umwerfend aus! Die langen roten Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten und über die Schulter gelegt. Sie trug eine dunkelrote Tunika mit silbernem Besatz und einer ebenfalls silberfarbenen Spange auf der Brust. An den Füßen trug sie – nichts?! Sie war barfuß. Wie konnte sich ein Mensch so aus dem Haus trauen? Hatte sie jetzt völlig den Verstand verloren?

„Hallo, Jessie“, sagte er und wies mit der Hand einladend auf die Sitzecke. „Hi“, sagte sie, „schön dich zu sehen.“ Dann nahmen beide Platz und Art entnahm einem in die Wand eingelassenen Kühlschrankfach zwei Getränke. „Bitte“, sagte er und stellte ein Glas vor ihr ab. Sie lächelte ihn an und nahm das Glas. Sie roch an dem Getränk, verzog ein wenig angewidert das Gesicht, hob es ihm aber entgegen und sagte: „Na dann: Prost, Art! Auf deine Gesundheit!“ Irgendwie klang es spöttisch, dachte er.

„Was siehst du mich so an?“ fragte Jessica nach einer Weile, in der sie sich über Belangloses unterhalten hatten.

„Du siehst wunderschön aus. Aber irgendwie“, er suchte nach Worten, „irgendwie ungesund.“ Jessie lachte. „Ungesund? Ich hab‘ zwanzig Kilo abgenommen, seit ich das letzte Mal hier war!“ Er erschrak. „Du bist krank, Jessie, stimmt’s? Darüber willst du mit mir reden. Was dann mit den Kindern sein wird, wenn du …“ Er brach plötzlich ab. Jessica schüttelte den Kopf und lacht immer noch. „Krank? So ein Unsinn! Ich hab’ mich noch nie in meinem Leben besser gefühlt, Art. Ihr seid krank, Art. Ihr alle hier in eurem Wohnkomplex, in eurer Stadt, auf eurem Planeten!“ Sie machte eine kurze Pause und wurde dann auf einmal ernst. „Aber du hast Recht, genau das ist es, worüber ich mit dir reden wollte.“

Er sah sie verständnislos an, stellte sein Glas auf den Tisch. „Was ist los, Jessie? Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein, du kannst mir nicht helfen, Art. Oder besser gesagt: Doch, denn mit deinem Einverständnis geht das Ganze unproblematischer und ich könnte es viel ruhiger angehen.“

„Was, Jessie, was?“

Sie holte tief Luft und stellte hier halb gelehrtes Glas ebenfalls auf dem Tisch ab. Ihr Blick wurde unruhig und ihre Stimme zitterte leicht. Das kannte Art überhaupt nicht von ihr. Aber viel schlimmer war, was sie sagte.

„Du hast die Nachrichten gehört, Art?“ fragte sie. „Die von der AURORA 4?“

„Klar“, Art wies mit dem Kopf auf den Monitor. „Diese Verrückten, die sich freiwillig einfrieren und an den Rand des Universums fliegen lassen, wo sie dann …“

Jessie unterbrach ihn. „Ich gehöre dazu, Art. Zu diesen Verrückten.“

Er konnte es nicht fassen. „Was sagst du da? Du willst weg von hier? Irgendwohin, wo du alles mit primitiven Werkzeugen bauen musst, wo du dein Essen selber …“ hier brach er wieder ab. Seine Ex-Ehefrau baute ja bereits seit sechs Jahren ihr Essen selbst an und der Bio-Freak an ihrer Seite hatte bestimmt auch schon mal Holz gefällt oder so.

Jessie nickte. „Ganz genau. Du hast verstanden, Art. Für uns wird es nichts Besonderes sein. Wir bereiten uns seit Jahren darauf vor. Jetzt endlich haben wir die Bordkarten für ein Kolonieschiff bekommen.“

Auf einmal wurde Art bewusst, was sie da gesagt hatte. „Du hast das von Anfang an so gewollt? Du bist zu diesen Bio-Idioten gegangen, weil du wegfliegen wolltest? Du hast mich im Stich gelassen, weil es dich langweilt, hier einer normalen Arbeit nachzugehen?“

„Normale Arbeit?“ fragte Jessica. „Wann gab’s hier zuletzt richtige Arbeit? Irgendwelche Maschinen zu programmieren, Spiele zu testen oder Speisepläne für die Automatenküche zu erstellen, kann einen doch nicht befriedigen, Art.“ Sie sah ihn an. „Seht euch doch nur an. Alle so dick, dass ihr euch kaum ins Bad oder ins Café schleppen könnt. Monströse Betten und Schreibtischstühle. Sitzecken, in denen man eher liegt, als sitzt“ Sie klopfte mit der Hand auf das Polster neben sich. „Ihr ernährt euch von irgendwelchen Chemikalien, die nur annähernd an Essen erinnern. Ihr wisst nicht, wie frische Luft riecht, weil ihr nie rauskommt, aus euren Wohnkomplexen. Die Sonne seht ihr nur durch eure Glasfenster.“ Sie nickte. „Das ist vielleicht das einzige Gute an eurem Leben. Denn draußen ist die Sonne gefährlich geworden. Irgendwann wird sich niemand mehr ungeschützt draußen aufhalten können.“ Während Art sie immer noch völlig fassungslos anstarrte, sprach sie weiter. „Dort, wo wir jetzt hinfliegen, wird alles ganz anders sein. Man kann Tag und Nacht unter freiem Himmel verbringen, man kann essen, was wirklich noch schmeckt. Man kann in Waldseen baden und richtige Tiere sehen.“

„Man kann furchtbar krank werden!“ das war der einzige Einwand der Art einfiel. Jetzt musste Jessie ein wenig lächeln. „Ja Art, man kann schrecklich krank werden. Und da ist es gut wenn man eine Ärztin dabei hat.“ Er sah sie an. „Ich habe damals Medizin studiert, als wir uns kennengelernt haben, weißt du noch? Doch eigentlich habe ich nur gelernt, Maschinen zu programmieren, die uns am Leben erhalten.“ Sie lehnte sich in die Polster zurück und sah ihn weiter unverwandt an. „Inzwischen habe ich gelernt, wieder Medizin aus Pflanzen herzustellen. Sicher, alles kann man damit nicht heilen. Aber eine Menge moderne Geräte und Medikamente werden wir ja auch mitnehmen. Wir fliegen ja nicht los wie diese tumben Gestalten in deinen blöden Spielen!“

„Na gut, ich hab’s verstanden.“ Art langte sich ein neues Glas aus dem Fach in der Wand. Er bot Jessie kein neues an, da es ja noch halb voll vor ihr stand. „Wann bringst du mir die Kinder her. Wenn ich richtig gehört habe, startet die AURORA 4 morgen Abend. Du hättest sie doch gleich mitbringen können.“ Jetzt war es Jessica, die völlig verblüfft drein sah. „Es wird nicht ganz einfach sein für mich“, sagte Art, „aber ich krieg sie schon irgendwie kurzfristig unter in der Kinderbetreuung. Enttäuscht werden sie aber schon sein, wenn du sie jetzt im Stich lässt, wie du es vorher mit mir getan hast.“

Jessica stand auf und sah Art von oben herab an. „Du hast nichts verstanden, Art Karas“, sagte sie leise, „gar nichts.“ Und nach einer kurzen Pause: „Die Kinder kommen mit uns mit. Ich lasse sie auf gar keinen Fall hier auf diesem Planeten. Und schon gar nicht bei dir!“

Jetzt erst begriff er. Er wurde kreidebleich. Dann wutrot. Als er das Glas auf den Tisch stellen wollte, zitterte er so, dass es umfiel. Die kalte, gelbe Flüssigkeit lief über den in die Polster und den Fußboden. Aber dafür hatte er keinen Blick.

So schnell es sein massiger Körper zuließ, sprang er auf. „Das tust du mir nicht an, Jessica Karas“, schrie er sie an, „das nicht auch noch! Es war schon schlimm genug, dass du mich hast sitzen lassen, damals. Aber wenn du jetzt gehst und …“ Er verschluckte sich fast vor Hass und Wut. „Und auch noch die Kinder mitnimmst auf dieses … Schiff, dann, dann …“ Wieder brach er ab, diesmal den Tränen nahe. „Dann siehst du deine Kinder niemals wieder!“ vollendete Jessie den Satz.

Sein gewaltiger Körper bebte vor Wut, vor Entsetzen und vor Schmerz. „Ich hasse dich, Jessie!“ stieß er, mühsam beherrscht, hervor. Er ging ein paar Schritte auf und ab, während Jessica, die Ruhe selbst scheinbar, am Tisch stehenblieb.

„Das geht ja gar nicht.“ Sagte er dann. „Du kannst die Kinder gar nicht so einfach mitnehmen. Schließlich sind es ja auch meine Kinder. Ich habe ein Mitspracherecht!“

„Siehst du Art“, sagte sie, „genau deswegen bin ich hier.“ Sie entnahm einer kleinen Handtasche, die er bisher gar nicht bewusst wahrgenommen hatte, ein zusammengefaltetes Schriftstück und reichte es ihm.

„Was soll das sein, Jessie?“ fragte er, während er es entgegennahm.

„Lies es doch einfach, Art“, sagte sie, „und unterschreib‘ es bitte.“

Er überflog das Geschriebene und seine Hände fingen wieder an zu zittern. „Das kann nicht dein Ernst sein“, sagte er leise. Und dann schrie er sie an: „Niemals, hörst du? Niemals werde ich das unterschreiben! Das ist, das ist…“. Ihm fehlten die Worte. „Damit überträgst du das Erziehungsrecht für die Kinder alleine mir.“ Jessie nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du setzt nur das in Recht und Gesetz um, was du sowieso schon sechs Jahre, sechs lange Jahre getan hast, Art Karas!“

„Ich habe es nie freiwillig getan, Jessica!“ schrie er und sein Gesicht verzerrte sich. „Du hast mir die Kinder weggenommen damals und mir nie mehr die Möglichkeit gegeben, mich um sie zu kümmern!“ Wutentbrannt warf er den Zettel auf den Tisch. „Das stimmt so nicht ganz, mein lieber Art“, sagte sie. „Du hast es nicht einmal versucht, das Sorgerecht zu bekommen. Du hast zwar mal davon gesprochen, die Gerichte anrufen zu wollen, aber getan hast du’s nicht! Ob du eine Chance gehabt hättest, weiß ich nicht. Vielleicht sogar ganz gute, denn du lebst ja perfekt nach den Normen dieser Gesellschaft, während ich nur die Sonderbare, die Aussteigerin war, mit der man nichts zu tun haben wollte. Vielleicht hätte das deiner Klage sogar einen Sonderstatus eingeräumt – aber du warst ja viel zu faul und viel zu träge dazu. Außerdem hätten dich die Kinder doch eh‘ nur gestört!“

Während der letzten Worte war sie immer lauter geworden und jetzt standen sich die beiden ganz dicht gegenüber.

Art tobte innerlich. Die Adern an seinen Schläfen schwollen an und Schweiß perlte ihm von der Stirn in die Augen. „Ich bring‘ dich um, du Miststück!“ schnaufte er und wollte sich mit ausgestreckten Armen auf sie stürzen.

„Das würde ich an ihrer Stelle nicht tun, Mister Karas!“ erklang eine Stimme von der Tür her. Art wandte sich blitzschnell um. Das konnte nur der Bio-Mann Caspar sein, der ja angeblich im Wagen warten sollte. Wie war der hier hineingekommen? Dann erkannte Art, dass neben Caspar ein Wachmann des Wohnkomplexes stand, den Elektroschocker in seine Richtung haltend.

In diesem Moment wich alle Energie aus Art. Mit einem Plumps landete er auf dem Polster der Sitzecke, das noch nass von dem vorhin verschütteten Getränk war. „Ich versteh das nicht“, schluchzte er laut vor sich hin. „Ich versteh das nicht. Das darf sie doch gar nicht von mir verlangen! Oder?“ wandte er sich an den Mann vom Sicherheitsdienst.

Statt dessen antworte Caspar, der zu Jessica getreten war und den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. „Doch, Art, das darf sie! Du hast dich über fünf Jahre nicht um die Kinder bemüht, du hast über fünf Jahre kein Interesse an ihnen gezeigt. Sie haben in all den Jahren nicht eine Einladung zu dir erhalten, keinen Anruf von dir bekommen, kein einziges Geschenk zum Geburtstag oder anderen Anlässen erhalten und“ er machte ein kurze Pause, „und du hast länger als fünf Jahre keinen Unterhalt für die Kinder bezahlt!“ Er zog aus einer altertümlichen Aktentasche, die unter seinem Arm klemmte, ein Schreiben hervor. „Das ist eine Urkunde des hiesigen Gerichts, die uns ebendies bescheinigt und dir nahelegt, das Sorgerecht für beide Kinder alleine Jessica zu übertragen, da es sonst zu einer Verhandlung kommen muss, bei der das Urteil ziemlich eindeutig ausfallen wird!“

Er reichte Art das Papier. Mit fliegenden Händen nahm der es entgegen und starrte aus tränennassen Augen verständnislos darauf. „Und wenn ich nicht unterschreibe?“ fragte er und sah hilflos zu dem anderen Stück Papier, das noch immer auf dem Tisch lag.

„Ich habe mir die Urkunde vorhin angesehen“, sagte der Wachmann da. „Es hat keine aufschiebende Wirkung. Die beiden können morgen ohne Weiteres mit den Kindern in das Raumschiff steigen und abfliegen. Dagegen können sie nichts tun, Art. Die Verhandlung findet dann später statt.“

„Und wenn dann doch für mich entschieden wird, weil ich der bessere Vater wäre?“ fragte Art kleinlaut. „Nun“, sagte der Wachmann, „diese Frage können sie sich selbst beantworten! Sie könnten mit einer winzigen Chance vielleicht Recht bekommen, aber am Ergebnis würde das nichts ändern!“

„Ich sehe meine Kinder also niemals wieder?“ Art schluckte schwer und ließ den Kopf auf die feuchte Tischplatte sinken. Stumm weinend sah er nicht, wie die drei anderen Person nickten.

 

Sie ließen ihm Zeit.

Nach minutenlangen Schweigen, dass nur hin und wieder durch tiefe Schluchzer Arts unterbrochen wurde, stand dieser auf und taumelte zum Arbeitspult hinüber. Mit einem Stift in der Hand kam er zurück, ließ sich wieder in die Polster fallen und setzte mit zittrigen Fingern seine Unterschrift unter das Blatt Papier. Dann schob er es Jessica zu warf sich stumm mit dem Gesicht voran in die Sitzecke.

Als er sich wieder beruhigt hatte, waren die Anderen gegangen.

Er verspürte nicht die geringste Lust, zum Abendessen zu gehen. Um die trüben Gedanken zu vertreiben, setzte er sich an sein Arbeitspult und loggte sich ins System ein. Er rief „Besiedlung des Universums 5“ auf und begann ein neues Spiel. Die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag spielte er.

Ohne Pause.

Ohne zu Essen.

Ohne zu Trinken.

Ohne ein Bad zu nehmen.

Das Spiel lief diesmal einzigartig. Die Punktezahlen stiegen auf Rekordwerte. So hatte er noch nie gespielt! Dann, gegen Abend geschah die Katastrophe. Unter seinen Siedlern brach eine schwere Epidemie aus, die immer mehr Kolonisten dahinraffte. Fieberhaft überlegte er, was zu tun sei. Und schließlich bemerkte er seinen Fehler: Unter all seinen Spezialisten war kein einziger Arzt, keine einzige Ärztin! Es war keine an Bord gewesen und er hatte einfach vergessen, eine auszubilden!

Nur wenige Spielminuten blieben ihm noch, bis die gehasste Schrift auf dem Bildschirm erschien: GAME OVER!“

Patricia

Der Pilot des Wega-Kampfschiffes der Delta-Klasse starrte gebannt auf den Monitor vor sich. Friedlich sah der Raumsektor vor ihm aus. Verdammt friedlich. Viel zu friedlich für seinen Geschmack. Zwar waren jede Menge Schiffe hier unterwegs, immerhin handelte es sich um einen dicht besiedelten Sektor, aber von seinen Verfolgern weit und breit keine Spur!

Auch das Radar zeigte nichts Verdächtiges. Dabei hatte er sie vor wenigen Minuten noch gesehen! Einen kleinen, wendigen aber schwer bewaffneten Kreuzer der ersianischen Flotte und ein gigantisches Schlachtschiff der Polygonier, blutrünstigen, nur auf Kampf und Vernichtung orientierten Raumpiraten!

Er hatte das Gefühl, für einen Moment nicht aufgepasst zu haben, bevor die beiden fremden Schiffe vom Radarschirm verschwanden. Wo können sie sich in diesem Sektor verstecken? Der Polygonier konnte vielleicht eine Tarnmöglichkeit haben, um nicht von einem normalen Radar erkannt zu werden. So genau kannte er die technischen Möglichkeiten dieser Klasse nicht. Aber der Ersianer musste zu finden sein!

Vorsichtig steuerte der Pilot sein Schiff durch den Raumsektor. Er gab Befehl, alle Geschütze feuerbereit zu machen. Sollte einer der Gegner auftauchen, musste er sofort reagieren können.

Dann tippte er auf seiner Konsole einen kurzen Befehl ein und rief sich damit die Karte des Raumsektors auf den Bildschirm. Sorgfältig verglich er sie mit der Anzeige des Radars. An der Stelle, wo er die beiden Verfolger letztmalig gesehen zu haben glaubte, gab es nur wenige Flugbewegungen im Raum. Ein großer rotglänzender, aber unbewohnbarer Planet, in dessen Orbit eine Raumwerft und eine andere Werkanlage kreisten. Von denen ging wohl keine Gefahr aus.

Einen Moment hatte er den Gedanken, dass die Verfolger auf dem Planeten gelandet sein könnten. Aber das wäre sinnlos gewesen, hätte es ihm doch die Chance gegeben zu fliehen. Und das würden sie bestimmt nicht zulassen. Nicht dieses Mal!

Obwohl er das Gefühl nicht los wurde, dass ihm Gefahr drohte, beschloss er, sich diese Gegend des Sektors näher anzusehen. Da hier nur wenige Raumschiffe unterwegs waren, würde er seine Gegner rechtzeitig ausmachen und zur Not rechtzeitig fliehen können, denn in unmittelbarer Nähe der Raumwerft befand sich auch das Aldebaraner Sprungtor dieses Systems. Vorsichtshalber gab er schon mal die Daten für einen Notsprung in ein anderes System in die Konsole ein.

Während er auf den Planten zuflog, nahm er aus den Augenwinkeln ein blinkendes Aufleuchten an der Raumwerft wahr. Das zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Langsam öffnete sich das Gate des Hangars. Es war nichts zu sehen. Die Schleuse war dunkel. Wahrscheinlich war das Schiff noch im Hangar.

Aber dann schoss es urplötzlich aus der Schwärze der Schleuse. Aus allen Rohren feuernd, donnerte der ersianische Kreuzer auf ihn zu. Verfluchter Mist! Eher der Pilot den Feuerbefehl geben konnte, wurde sein Schiff mehrfach getroffen. Wütend drehte er dem Feind die andere Seite zu und feuerte alle Waffen auf ihn ab. Die Geschosse schlugen ein und machten das gegnerische Schiff sofort manövrierunfähig. Bloß gut, dass sein Schiff eine gute Panzerung und stärke Waffen als dieser Gegner hatte, frohlockte er.

Doch dann sah er ein riesiges Loch in der Bordwand der Ersianer aufklaffen. Eine mächtige Laserkanone musste ihn getroffen haben. Das war das Ende des Schiffes. Über die Interkom-Anlage vernahm er den wütenden und entsetzten Aufschrei von dessen Piloten, dann brach das kleine Schiff in der Mitte auseinander. Zwei weitere Laserstrahlen zerfetzten es gänzlich.

Dann erst wurde dem Piloten des Wega-Kampfschiffes klar, was das bedeute. Entsetzt blickte er auf den Radarschirm. Direkt hinter sich nahm er jetzt die riesigen Umrisse des polygonischen Kampfschiffes wahr. Ihm wurde klar, dass auch er keine Chance mehr hatte. Die diesem Gegner zugewandte Bordseite war durch den Treffer des ersianischen Gegners beschädigt und die Bewaffnung kaum noch zu gebrauchen. Die Waffen der anderen Bordseite mussten erst neu geladen werden. Und ehe er sein Schiff in eine günstige Angriffsposition gebracht hätte… Er startete die Triebwerke und versuchte in Richtung Sprungtor zu fliehen. Gerade wollte er die Sprungtaste mit den eingespeicherten Koordinaten drücken, als er die Stimme des Piloten des polygonischen Schiffes in seinem Interkom vernahm. „Lass es sein, Art, du weißt dass das zwecklos ist. Du bist hinüber!“ In diesem Augenblick trafen die Strahlen der drei riesigen Laserkanonen sein Kampfschiff und verwandelten es in einen kleinen Haufen glühenden Raumschrott.

Sekunden später war das Bild auf dem Monitor der normalen Kommunikationsoberfläche gewichen und die Bilder von Paul und Jerome erschienen darauf. Der erstere blickte auffällig wütend und sein Gesicht hatte eine leichte Zornesröte angenommen. Der andere grinste selbstgefällig. „Na, hab‘ ich euch mal wieder plattgemacht? Ihr werdet es wohl nie lernen!“ „Du Verräter“, knurrte Paul ihn an. „Du hast gesagt, wir arbeiten zusammen und stellen ihm eine Falle! Und der Erste, den du abknallst bin ich!“ Jerome zuckte grinsend die Schultern. „Ergab sich halt so. Du hast ihm die eine Seite kampfunfähig gemacht und er dreht dir auch noch die andere hin und feuert sie ab! Art, wie blöd kann man sein? Das war einfach perfekt. Du konntest mir nicht mehr gefährlich werden, also hab‘ ich erst mal Paul ausgeschaltet – leichtes Spiel übrigens bei diesem ersianischen Billigkreuzer – Tja, und du warst ja kein Problem mehr!“

„Ich kenne mich mit ersianischen Schiffen nun mal am besten aus“ maulte Paul.

„Naja, theoretisch vielleicht“ entgegnete Jerome. „Und du Art bist nicht so ganz bei der Sache gewesen, was?“ fragte er dann. „Hast ganz schön geträumt. Aber du wärst gar nicht mehr rausgekommen, weißt du? Es war mir klar, dass du wieder abhauen würdest. Deswegen habe ich einen unaufmerksamen Moment von dir genutzt und habe erst zwischen diesem schönen großen Planeten und dem Sprungtor auf dich gewartet. Aber als du deine geschätzte Aufmerksamkeit dann auf Pauls Versteck gerichtet hast, war alles noch viel einfacher, mein Freund.“

„Naja“, gab Art unwillig zu, „ich kann eben nur noch an meine Frau und die beiden Kinder denken. Seit sie weg sind, kann ich mich nicht mehr aufs Spielen konzentrieren.“

„Ich habe immer gedacht, dass dich deine Familie gar nicht so sehr interessiert“, meinte Paul. Art zuckte die Schultern. „Das hab‘ ich mir auch immer eingeredet. Aber manchmal merkt man erst, was Etwas einem Wert war, wenn man es nicht mehr hat.“

Jerome grinste. „Oh, jetzt wird er philosophisch, Paul. Wer weiß, ob das gut für ihn ist.“

Art schüttelte ärgerlich den Kopf. „Ich hab‘ halt in den letzten Tagen viel nachgedacht. Und wenn ich die Chance hätte, würde ich vielleicht auch Einiges anders machen.“

„Nun, nicht jeder, der eine zweite Chance verdient, hat auch eine“, meinte Jerome lakonisch. Paul, der seinen beiden Freunden bisher schweigend zugehört hatte, sah auf einmal sehr nachdenklich aus. „Vielleicht doch“, sagte er dann. Als er auf seinem Bildschirm allerdings die fragenden Gesichter seiner Freunde sah, winkte er ab. „Nichts für ungut, aber ich muss noch arbeiten. Bis demnächst!“ Dann verschwand sein Bild von den Monitoren der anderen Beiden.

 

Zwei Stunden später, es war inzwischen kurz nach neun Uhr abends, saß Art im Restaurant in der 135. Etage des Wohnkomplexes. Er hatte einen Tisch für zwei Personen an einem der riesigen Panoramafenster genommen und sein Blick schweifte über das Lichtermeer der Großstadt. Das ständige Funkeln und Glitzern in allen Farben der aufwendig gestalteten Reklameelemente an und auf den Wohnkomplexen faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Dann fiel sein Blick auf den Sternenhimmel über der Stadt. Die kleinen weißen Lichtpunkte waren bei Weitem nicht so aufregend wie die Lichter der Stadt fand er. Aber irgendwo da draußen, wischen diesen winzigen Lichtern, waren jetzt auch seine beiden Kinder und Jessie. Sie war jetzt über eine Woche unterwegs in eine unbekannte, gefahrvolle Zukunft. Art hasste sie dafür, dass sie ihren, seinen, Kindern das antat. Nach dem Abklingen der ersten Wutanfälle und tagelangem Grübeln war er zu der Erkenntnis gekommen, dass er nichts dagegen machen konnte und sich irgendwann mit der Situation würde abfinden müssen. Aber eigentlich wollte und konnte er das nicht.

Mechanisch gab er einen Befehl in die in den Tisch eingelassene elektronische Speisekarte ein und kurz darauf stellte ein Servierrobot ein Glas mit einem dunklen, nach starkem Alkohol riechenden Getränk vor ihm ab und entfernte sich wieder.

Art hatte das Glas gerade in die Hand genommen und zu den Lippen geführt, als eine verführerische und belustigt klingende Frauenstimme ihn aus seinen Grübeleien riss. „Das ist typisch Art Karas: Sich betrinken ohne auf seinen Gast zu warten!“ Fast hätte Art sein Getränk verschüttet, so erschrocken war er.

„Mensch Pat“, rief er und stellte mit zittriger Hand sein Glas auf den Tisch. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“

„Das kommt davon, wenn man auf eine Frau wartet und an eine Andere denkt“, meinte Patricia nun offen lächelnd.

„Woher weißt du…?“ fragte Art.

„Ist ja nicht schwer zu erraten, Art.“ Ohne auf seine Aufforderung zu warten, nahm sie am Tisch Platz. „Und außerdem: Man sieht euch Männern einfach immer an, was ihr gerade denkt!“ Sie legte den Kopf etwas auf die Seite und sah Art lächelnd an.

Sie sieht einfach umwerfend aus, dachte Art, während er zusah, wie sie ebenfalls eine Bestellung eingab. Sie trug eine gelbe Tunika mit roten Rändern und einen breiten roten Gürtel. Die Kleidung bildete einen perfekten Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Und die silberne Spange, die ihr langes schwarzes Haar zusammenhielt, machte ihr Äußeres perfekt. Patricia war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt und schlanker als die meisten Frauen die er kannte, aber längst nicht so dünn wie Jessica. Über seine Gefühle für sie war er sich jedoch noch nicht im Klaren. Seit jener ersten Nacht vor über einer Woche, nach der sie in der Frühe, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verschwunden war, hatte er sie nur einmal angerufen. Das war gestern gewesen, nachdem er etwas zur Ruhe gekommen war. Er wollte, er musste mit jemandem, musste mit ihr, über das Erlebte sprechen. Bei Paul und Jerome hatte er nicht das Gefühl gehabt, verstanden zu werden. Nach der Nacht mit Patricia hatte er irgendwie gespürt, dass sie ihn ohne viele Worte verstand und er mit ihr über einfach Alles reden konnte. Darum hatte er sie um dieses Treffen gebeten. Sie hatte, ohne ihn etwas zu Fragen, ohne eine Erklärung zu verlangen, sofort zugesagt.

Jetzt, als sie ihm gegenübersaß, hatte er aber nicht das Gefühl, mit ihr reden zu wollen. Es war etwas Anderes, das er jetzt dringend wollte und unbedingt brauchte. Für was noch reden? Ändern würde das sowieso nichts mehr. Pat war das beste Beispiel dafür, dass es noch andere Frauen als Jessie gab und die Zukunft nicht nur Schlechtes für ihn bereit hielt. Und was die Kinder betraf… Irgendwann würde er vielleicht auch das vergessen können.

 

Patricia hatte sich, nun ebenfalls mit einem Glas in der Hand, zurückgelehnt und betrachtete Art, der völlig in seine Gedanken versunkenen war. Bereits bei ihrem ersten Treffen hatte sie das Gefühl gehabt, diesen Mann schon ewig zu kennen. Er war nicht viel älter als sie, vielleicht Anfang vierzig und schwergewichtig wie fast alle Menschen. Aber irgendwie hielt er sich gut und war ein angenehmer Gesprächspartner. Im Gegensatz zu vielen Menschen, die Pat kannte, merkte man ihm an, dass er nachdachte, bevor er etwas sagte. Und er hatte etwas ganz Besonderes, das sie aber noch nicht genau definieren konnte. Irgendwie strahlte er Wärme und Zärtlichkeit aus. Etwas, das sie dringend brauchte. Deshalb hatte sie auch auf seinen Anruf hin sofort zugesagt. Aber als sie vorhin das Restaurant betreten hatte und ihn so sitzen sah, verbreitete er aber auch eine tiefe Traurigkeit und das Gefühl einer verlorenen Liebe. Sie hätte auf ihr Gefühl hören sollen, dachte sie, und nicht gleich wieder so flapsig sein müssen. Aber dagegen konnte sie nichts tun. So war sie nun mal.

„Was möchtest du essen, Pat?“ Hörte sie Art dann fragen und an seiner Betonung erkannte sie, dass er vorher schon etwas gesagt haben musste, das sie gar nicht wahrgenommen hatte. „Oh, ich … äh, ich weiß nicht. Vielleicht dasselbe wie du“, sagte sie leicht irritiert.

„Okay.“ Art lächelte sie jetzt an und tippte auf der Bestellkarte herum.

Als der Servierrobot herangefahren kam und die Platten mit dem Abendessen vor ihnen ablud, hätte sie sich ohrfeigen können. Zwei Wochen würde sie wieder Tag für Tag Stunden ihrer knapp bemessenen Freizeit auf dem Laufband verbringen müssen, um einigermaßen ihre Figur zu halten!

Während des Essens plauderte Art freundlich und teilweise ziemlich anzüglich mit ihr, so dass sie schon jetzt wusste, wie der Abend wieder enden würde. Und irgendwie hatte sie auch nichts dagegen. Andererseits spürte sie immer noch, dass ihn etwas bedrückte.

Als sie ihn darauf ansprach, ging er mit einem leichten Scherz darüber hinweg und bestellte noch einen Drink. Nun gut, dachte Pat, wenn er nicht darüber reden will! Als er sie später wie erwartet zu sich einlud, schüttelte Patricia den Kopf und sagte sanft: „Nein, Art, diesmal gehen wir zu mir.“

 

 

Als Art am nächsten Mittag in seine Wohnung zurückkam, zeigte ein blinkendes Licht an der Multimediakonsole einen während seiner Abwesenheit eingegangenen Anruf an. Gut gelaunt ließ er sich in das Sitzpolster sinken, lehnte sich zurück und zog die Beine an. Die vergangene Nacht war einfach fantastisch gewesen. Pat wohnte nur dreiundzwanzig Stockwerke unter ihm. Ihre Wohnung war viel gemütlicher eingerichtet als seine. Die Illusionsfliesen, die er sich nur im Sanitärbereich hatte anbringen lassen, fanden sich bei ihr an allen Wänden. Damit konnte sie auch ihren Wohnbereich in alle erdenklichen Landschaften und Räume verwandeln. Hatte bestimmt eine Menge Geld gekostet!

Als er heute Morgen in ihrem weichen, kuschligen Bett wach wurde, stand Pat an einem seltsam anmutenden Gerät in einer Ecke ihrer Wohnung, hantierte und klapperte dort mit irgendwelchem Geschirr herum und ein verführerischer Duft durchzog den ganzen Raum. Als er sie gefragt hatte, was sie dort mache, hatte sie ihm geantwortet: „Frühstück für uns natürlich!“ Er hatte sie völlig verwirrt angesehen und glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Du bereitest selbst Essen zu?“ Hatte er sie ungläubig gefragt. Sie hatte sich umgedreht und ihn strahlend angelacht. „Klar, das ist das schönste Hobby, das ich mir vorstellen kann! Mit den eigenen Händen etwas Schönes und Gesundes erschaffen!“

Art hatte den Kopf geschüttelt und sich einmal mehr über diese Frau gewundert. Den aufkommenden Gedanken, dass Pat und Jessie doch nicht so verschieden waren, wie er gedacht hatte, schob er schnell beiseite, als Pat ihm einen Teller mit dem lecker duftenden Essen servierte.

Während er diesen Gedanken noch nachhing, nahm er die Fernbedienung vom Tisch und schaltete die Konsole ein. Mit einem heftigen Knistern und Flackern baute sich das dreidimensionale Bild Paul Hartmanns auf. Ich muss diese verdammte Konsole überholen lassen, dachte Paul, oder besser gleich eine Neue kaufen. „Hallo Art“, meldete sich Paul, „ich wollte dir sagen, dass es vielleicht doch eine Möglichkeit gibt, dein Problem zu lösen. Aber ehe wir darüber reden, solltest du mal wieder nach Angel-City fahren. Die Gary-Wineman-Bar hat die besten Drinks, die du dir vorstellen kannst! Ich bin auch oft dort.“ Was war das? Hatte das verzerrte Bild Pauls ihm gerade zugezwinkert? „So, das wollte ich dir nur noch sagen. Also bis morgen!“ Damit erlosch das Bild.

Art fühlte sich von Paul auf den Arm genommen. Was sollte das bedeuten? Er kannte weder Angel-City, noch besagte Bar. Und was wollte Paul dort? Wo der lebte, wusste Art zwar nicht mehr so genau, aber es war auf alle Fälle nicht in Angel-City! Und wieso ‚Bis morgen‘? Sie waren erst für Übermorgen zum nächsten Spiel verabredet. Bei dem angesprochenen Problem konnte es sich nur die jene zweite Chance handeln. Warum aber hatte Paul nicht gesagt, was er wollte?

Er hörte sich die Nachricht noch einmal an. Rätselspiele waren gar nicht sein Ding. Bei ihm musste alles klar geregelt und strukturiert sein. Dann erkannte er meist auch die Logik hinter einem Problem. Aber das hier?

Art überlegte, ob er Pat um Hilfe bitten sollte. Aber das würde bedeuten, dass er nun doch mit ihr über die ganze Geschichte reden müsste. Nach der letzten Nacht wollte er das aber auf keinen Fall mehr. Er brauchte sie so wie sie war, unbeschwert und liebevoll. Er wollte sie nicht in die Sache mit Jessica hineinziehen, da er Pat inzwischen soweit zu kennen glaubte, dass sie seine Probleme zu den ihren machen würde, wenn er ihr davon erzählte. Aber dann wäre sie nicht mehr in der Lage, sich ihm sorglos und unbefangen hinzugeben wenn er sie brauchte. Außerdem müsste er ihr dann von seinen zwiespältigen Gefühlen Jessica gegenüber berichten. Das würde ihr wahrscheinlich gar nicht gefallen und vielleicht würde sie daraufhin sogar diese Affäre beenden. Er würde zwar in diesem Fall sicher schnell eine andere Frau finden, die ihn auf andere Gedanken bringen würde, aber irgendwie fühlte er sich in Patricias Gegenwart so wohl wie schon lange nicht mehr.

Als er nach stundenlangem Grübeln immer noch nicht weiter gekommen war, wählte er schließlich doch ihre Nummer. Nur wenige Minuten später saß Pat ihm gegenüber und hörte sich Pauls Nachricht mit geschlossenen Augen an.

„Klar ist, dass du nach Angel-City fahren sollst“, sagte Pat dann nachdenklich.

Art nickte. „Aber warum? Warum Angel-City, Pat?“

Sie sah ihn an. „Das weiß ich nicht. Aber da er diese Bar erwähnt, sollst du wahrscheinlich genau dorthin fahren.“

Art stand auf und lief im Zimmer hin und her. „Was hat ein Barbesuch mit der Lösung eines Problems zu tun? Naja, ich meine, dass ich auch hier eine Bar finde, in der ich meine Probleme im Alkohol ertränken kann.“

Patricia musste lachen. „So ist das sicher nicht gemeint, Art.“ Sie dachte einen Moment lang nach. Dann fragte sie: „Du hast doch gesagt, dass Paul ebenfalls nicht in Angel-City wohnt, stimmt‘s?“ Als Art nickte, stellte sie fest: „Dann ist er also bestimmt nicht so oft dort wie er behauptet.“ Dann fiel ihr etwas ein. Nachdenklich sagte sie: „Im übertragenen Sinn könnte sein Satz allerdings bedeuten, dass du ihn dort treffen kannst!“

Sie schwiegen eine Weile. Dann sprang Pat von ihrem Sitz auf, lief auf Art zu und nahm seine Hände. „Art, ich glaube, ich weiß, was Paul dir sagen wollte: Du sollst nach Angel-City in die Gary-Wineman-Bar fahren und dich dort mit ihm treffen. Und zwar morgen! Vermutlich zu der Uhrzeit, zu der ihr euch immer zum Spielen verabredet.“

„Und warum sagt er das dann nicht so Pat? Warum tut er so geheimnisvoll?“

Sie überlegte. „Das weiß ich auch nicht. Ich befürchte aber, dass es nicht ganz legal ist, was er da vorhat.“

„Soll ich mich darauf einlassen? Illegale Geschäfte sind nicht mein Fall, weißt du?“ Er sah Patricia an und sie erkannte eine nicht geringe Spur Angst in seinem Blick.

„Ich kann es dir nicht sagen, Art. Das musst du selbst entscheiden.“ Sie sah das Flackern in seinen Augen jetzt deutlicher. „Es kommt vielleicht auf das Problem an, um das es geht“, setzte sie dann hinzu.

Das hatte er befürchtet! Wenn er ihren Rat wollt, musste er sie einweihen. Art seufzte tief, ging zu Sitzecke hinüber und ließ sich wieder in die Polster sinken. Leicht schlug er mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. „Setz dich zu mir, Pat“, sagte er leise. „Ich muss dir was erzählen!“

 

Am nächsten Morgen wurde Art von einer lauten Stimme aufgeschreckt. „Es ist sechs Uhr dreißig morgens. Sie wollten geweckt werden, Herr Karas! Es ist sechs Uhr …“ Art fuchtelte wild mit einer Hand in der Luft herum. „Wie spielen jetzt fünf Minuten Musik und melden uns erneut Herr Karas.“ Sagte die Stimme und ging in sanfte, aber rhythmische Musik über.

Art grollte innerlich. Es war schon ewig her, dass er sich das letzte Mal hatte wecken lassen. Patricia hatte ihm angeboten, ihn nach Angel-City zu begleiten. Für sie sei es nichts Neues, den Wohnkomplex zu verlassen, hatte sie gesagt. Aber sie hatte es abgelehnt, bei ihm zu schlafen. Sie wollten sich um acht Uhr in der Eingangshalle des Gebäudes treffen.

Nach dem dritten Weckruf schleppte Art sich in das Bad.

 

Patricia stand in der Eingangshalle und schien interessiert die Auslagen des dortigen Schmuckgeschäftes zu betrachten. Sie sieht verdammt gut aus, ging es Art durch den Kopf. Diesmal trug sie einen hellen beigefarbenen Rock, die entsprechende Jacke dazu und gleichfarbige, flache Schuhe. Ihr langes Haar hatte sie mit einem roten, golddurchwirkten Band zu einem Pferdeschwanz gebändigt. Eine altmodische Frisur, aber bei ihr sah es einfach nur toll aus.

Bevor er ihr einen Kuss geben konnte, reichte sie ihm die Hand. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen!“ begrüßte sie ihn.

Art verzog das Gesicht. „So gut wie gar nicht. Und dann das zeitige Aufstehen – das bin ich gar nicht gewöhnt.“ Er seufzte tief. „Na, ich hoffe, dass ich auf der Fahrt noch etwas Schlafen kann.“

Patricia nickte ihm, wie stets freundlich lächelnd, zu. „Ich denke schon. Wir werden ja über acht Stunden unterwegs sein.“

Art schüttelte den Kopf. „Ich frage mich immer noch, was das soll!“

Er wollte sich zum Gleiter-Terminal des Wohnkomplexes begeben, aber Pat hielt ihn am Arm zurück. „Nein. Mein Gleiter steht vor der Tür. Ich fliege selbst!“ Art sah sie völlig erstaunt an, folgte ihr aber nach draußen. Obwohl es noch früh am Morgen war, blendete die Sonne und spiegelte sich in den Glasfassaden der riesigen Gebäude.

Direkt vor dem Wohnkomplex stand Patricia silberblauer Alpha-Gleiter. Ein hypermoderner Viersitzer mit allem nur erdenklichen Komfort. Wieder staunte Art nicht schlecht. Schon in ihrer Wohnung war ihm aufgefallen, dass sie noch wesentlich luxuriöser lebte als er. Er fragte sich, womit sie so viel Geld verdiente.

Er hatte sich kaum in den weichgepolsterten Ledersitz sinken lassen, als sich der Gleiter schon mit einem sanften, kaum hörbaren Brummen in die Luft erhob. Pat ließ das Fluggerät bis zu Dachkante des Gebäudes aufsteigen und gab die Geschwindigkeitsbegrenzung in das Terminal vor ihr ein. Höher als die höchsten Gebäude durfte sie innerhalb der Stadt nicht fliegen, dafür in dieser Höhe aber am festgesetzten Limit. „Wenn du Musik hören oder was ansehen willst, das Mediaterminal ist zwischen den beiden Sitzen!“ Sagte Patricia gut gelaunt und lehnte sich zurück, eine Hand am Steuer des Gleiters lassend.

Art schüttelte den Kopf. „Jetzt noch nicht“, meinte er. „Sag mal, warum wolltest du keinen öffentlichen Gleiter nehmen?“ Pat sah kurz zu ihm hinüber. „Zum Einen weil die lahmen Dinger ja gut zwei Stunden mehr brauchen als meiner“, sagte sie, „und zum Anderen weil jeder Flug genauestens aufgezeichnet wird.“ „Wie, jeder Flug wird aufgezeichnet?“ wollte Art wissen. „Na, wenn du einen öffentlichen Gleiter benutzt, aktivierst du ihn doch mit deiner Kennkarte, stimmt‘s?“ Art nickte. „Siehst du, deine Daten werden auf einem Chip im Gleiter gespeichert. Ebenso alle Daten zur Flugstrecke, Geschwindigkeiten, Personenanzahl im Cockpit, Aufenthalte und so weiter.“

„Und für was soll das gut sein?“ unterbrach Art sie.

„Ach Art, ich weiß ja nicht, wann du das letzte Mal geflogen bist, aber Unfälle passieren auch heute noch und nicht Jeder verhält sich danach so wie es sein sollte. Außerdem gibt es viele Menschen, die öffentliche Gleiter für krumme Geschäfte benutzen. Und vielleicht will irgendjemand auch nur wissen, wann du wo gewesen bist.“

Art sah aus dem Fenster. „Das habe ich nicht gewusst.“ sagte er leise.

Patricia lachte laut auf. „Das weiß auch fast kein Mensch Art, und es kümmert auch keinen!“ „Manchmal hilft es, dass die Menschen so sorglos geworden sind.“ Setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

Während er an die glänzenden Fassaden entlang auf die schon deutlich näher gerückten Berge sah, grübelte er über diese Worte nach.

 

Stunden später, sie hatten die Stadt und auch die Bergkette längst hinter sich gelassen, Pat hatte den Gleiter für den höheren Luftraum angemeldet und war mit Höchstgeschwindigkeit gen Westen über Wälder und ein riesiges Gewässer geflogen, landeten sie auf einer mit Gras bewachsenen Ebene, auf der nur wenige, dafür aber gigantische Bäume Schatten spendeten. „Ich brauch‘ mal ´ne Pause.“ Sagte sie. „Lass uns auch was essen.“ Sie entnahm einem Fach hinter Arts Sitz einen mittelgroßen Kunststoffbehälter. Dann stieg sie aus und ging zu einem in der Nähe stehenden Baum hinüber. Art folgte ihr. Einen so gewaltigen Baum hatte Art noch nie zuvor gesehen. Es hätte vielleicht zehn oder mehr Männer gebraucht um ihn zu umfassen.

Sie setzten sich, an den Stamm des Baumes gelehnt, im Schatten seiner breiten Krone, ins Gras. Pat breitete ein weißes Tuch vor ihnen aus und entnahm dem Behälter verschiedene Speisen, die Art noch nie gesehen hatte. „Hast du das alles selbst gemacht?“ Fragte er sie und Pat nickte.

„Hab‘ die halbe Nacht an Herd und Tisch zugebracht, mein Lieber!“ gestand sie.

Er kaute genüsslich an einem mit einer dicken Scheibe Fleisch und verschiedenen Früchten belegtem Brot. „Wo kriegt man sowas her?“ wollte er wissen.

Patricia lachte. „Ach, es gibt schon noch Läden in der Stadt, die frische Waren verkaufen! Man muss sie nur kennen. Und übrigens“, setzte sie kurz darauf hinzu, „ist ja auch nicht alles, was in unseren Restaurants angeboten wird, künstlich. Nur ist es meist nicht so aufwendig zubereitet, als wenn man es selbst macht!“

Jetzt nickte Art und ließ seinen Blick über die weite Ebene schweifen. Am Horizont zeichnete sich wieder eine gewaltige Bergkette ab, noch viel höher und ausgedehnter, als die, die sie vorhin überflogen hatten. „Wo sind wir hier überhaupt?“ Wollte er wissen. „Es ist wunderschön hier!“

„Die Gegend nennt sich Lost-Trees-Internationalpark. Eine der wenigen Gegenden die nicht bebaut werden dürfen.“ erklärte Pat. „Die wenigen noch stehenden Bäume sollen erhalten und wenn möglich wieder vermehrt werden.“ Sie blickte sich um und dann zu Art. „Kannst du dir vorstellen, dass hier diese Ebene noch vor wenigen Jahrhunderten ein riesiger Wald war? Ein Wald ausschließlich aus solchen Bäumen wie dieser, an dem wir hier sitzen?“ Art sah sie erstaunt an. „Was ist passiert?“ fragte er.

„Nun, ein Stück weiter westlich hat man begonnen, eine große Stadt zu bauen. Als man anfing, den Wald zu roden, merkte man bald, dass den Bäumen trotz modernster Technik nur schwer beizukommen war. Die meisten von ihnen waren zwei bis dreitausend Jahre alt und hatten schon Einiges überstanden. Also hat man sich irgendwann auf das älteste, aber effektivste Mittel gegen Holz besonnen: Feuer. Doch die Brandrodung war so effektiv, dass sie schon bald nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen war. Wochenlang hat die Ebene in Flammen gestanden. Nur diese wenigen Bäume haben den Brand überstanden. Die bereits im Entstehen begriffene Stadt wurde ebenfalls ein Opfer der Flammen. Mehrere Hundert Bauarbeiter sind von der Flammenwand eingeschlossen wurden und konnten nicht gerettet werden.“

Art sah sich noch einmal um und ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Wenn man das weiß, ist es hier längst nicht mehr so schön.“ meinte er nachdenklich. „Dann ist es eher … bedrückend!“

Patricia ließ ihren Blick über die weite Ebene schweifen. „Genau deswegen darf diese Gegend nicht bebaut werden, Art. Wer hierher kommt, soll sich klar darüber werden, was der Mensch angerichtet hat auf diesem Planeten und auch heute noch anrichtet.“ Sie schwieg einen Moment und sagte dann: „Es gibt viel zu wenig Menschen, die sich dagegen wehren und diese wenigen flüchten dann auch meistens noch.“

Es dauerte eine Weile, bis Art begriff, was sie damit meinte. „Du bist auch eine von diesen, diesen …“ Er wagte nicht es auszusprechen. Nicht gegenüber Pat. „Freaks, sag‘ es ruhig.“ meinte Pat sanft lächelnd, den Blick in die Ferne gerichtet. „Nein, dazu habe ich mich viel zu sehr an das bequeme, luxuriöse Leben in den Städten gewöhnt. Aber ich bin in einer solchen Kommune geboren und aufgewachsen. Und ich achte diese Leute eben immer noch.“

Sie drehte sich wieder zu Art um. „Komm, lass uns zusammenpacken und weiterfliegen. Wir haben noch ein paar Stunden vor uns!“

 

Eine neue Chance

 

Während der nächsten zwei, drei Stunden Flug war Pat noch schweigsamer als sonst. Art hatte irgendwie das Gefühl, sie ärgere sich, etwas über sich preisgegeben zu haben.

Schon längst war die Landschaft wieder großen Städten gewichen und sie flogen meist an der Oberkante riesiger Wohn- oder Bürobauten entlang. Schier endlos reihten sich Glas- und Stahlkolosse aneinander. Zwischen den einzelnen Städten lagen meist nur die gigantischen Gebirgszüge oder große Seen.

Als sie Angel-City erreichten, war es Nachmittag. Nach den Anweisungen des Auto-Navigators lenkte Pat den Gleiter durch die engen Häuserschluchten. Sie flog jetzt langsam und in Höhe der 10. Etage der Wohn- und Bürokomplexe. Art hatte den Eindruck, die Stadt nie verlassen zu haben, obwohl er noch nie in seinem Leben so weit weg von zu Hause gewesen war.

Kurz vor sechzehn Uhr musste Pat den Gleiter nach unten auf die Fahrbahn für bodengebundene Fortbewegungsmittel ziehen. Hier unten erweckten die Gebäude den Eindruck als seien sie tausende Jahre alt. Dunkler Stein und Türen die aussahen, als wären sie aus Holz. Kleine, verstaubte Fenster durch die man kaum in Innere der Bar sehen konnte. Dann glitt plötzlich ein Teil der Fassade zu Seite und gab eine schmale, dunkle Öffnung frei. Durch diese lenkte Patricia den Gleiter in das Gebäude hinein und sofort schloss sich die Wand wieder hinter ihnen. Jetzt flammten helle Lichter auf und Art sah, dass sie sich in einem nicht sehr großen, doppelstöckigen Hangar befanden. Etwa fünfzehn Gleiter unterschiedlichen Typs parkten bereits hier und noch zehn hätten bestimmt Platz gehabt.

Nachdem sie ausgestiegen waren, begaben sie sich zu einer extra angestrahlten Tür und betraten die Gary-Wineman-Bar.

 

Die Bar war die älteste und teuerste ihrer Art in ganz Angel-City. Decken- und Wandtäfelungen, die Theke und sämtliche Möbel waren aus tiefschwarzem Holz. Echtem Holz! Hinter der Theke befand sich ein riesiges Regal voller Flaschen in verschiedensten Formen und Farben, manche mit bunten Etiketten, andere ohne irgendeine Kennzeichnung. Wahrscheinlich kannte nur der Barkeeper, der so alt wie die Bar selbst zu sein schien, deren Inhalt. Das hoffte Paul Hartmann wenigstens. Tiefhängende, breite Lampenschirme über den Tischen verteilten grünlichgelbes Licht sanft im Raum, sorgten für eine angenehme, entspannte Atmosphäre.

Er hatte sich an einen Tisch für vier Personen in einer kleine Nische im Hintergrund des Raumes gesetzt und musterte die anderen Gäste. Geschäftsleute aus der Stadt oder der Umgebung, Banker und Firmenbosse, dachte er. Die Bar galt als Geheimtipp für Liebhaber alten Weins und echten Rums. Beides konnte und wollte sich kaum noch ein Mensch leisten.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen die er kannte verabscheute Paul Hartmann die bequeme, aber sterile Atmosphäre in den Wohnkomplexen und hatte sich deshalb auch eine Wohnung in San Franzisco, einer der kleinen, romantischen Sattelitenstädte von Angel-City, etwa eine Flugstunde von hier, gemietet. Er hatte keine Familie, gönnte sich nicht viel Freizeit und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens er auf Arbeit. Einen Großteil seines Verdienstes gab er in den Bars und Clubs von Angel-City oder San Franzisco aus. Die Gary Wineman konnte er sich allerdings nur zwei, drei Mal im Jahr leisten.

Gerade stellte brachte der Barmann ein großes langstieliges Glas mit rubinrotem Wein vor ihn auf den Tisch, als Art Karas mit seiner Begleiterin den Raum betrat. Er erkannte ihn sofort, obwohl er sein Gesicht bisher ja nur auf dem Computermonitor gesehen hatte. Dass er nicht allein gekommen war, ärgerte Paul. Dieser Umstand konnte die ganze Unterhaltung gegenstandslos machen. Was er Art vorzuschlagen hatte, war nicht für fremde Ohren bestimmt und konnte ihn mehr als nur seinen Job kosten! Doch noch während er überlegte, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte, hatte Art ihn erkannt und kam auf ihn zu.

Paul stemmte seinen schweren Körper hoch und streckte Art die Hand entgegen. „Schön dich auch in der realistischen Welt kennenzulernen!“ Scherzte er. Dann sah er zu Patricia und gab auch ihr die Hand. „Hat sich dein Problem damit erledigt?“ fragte er Art und ließ sich wieder auf die hölzerne Bank sinken. Dann musste er sich ein Grinsen verkneifen, als Arts Minenspiel zwischen Verwirrung und Verlegenheit wechselte.

Nachdem auch Pat und Art sich gesetzt hatten, winkte Paul dem alten Barkeeper und der brachte kurz darauf zwei Gläser mit dem gleichen Inhalt, wie auch ihm zuvor. Art machte einen unbeholfenen Versuch, Patricia vorzustellen und Paul musste nun wirklich lachen. „Lass es gut sein, Art. Ist mir auch egal, was ihr miteinander habt oder nicht. Für mich ist nur wichtig, ob ich ihr absolut vertrauen kann!“ Art nickte. „Ich denke schon“, meinte er dann. Patrica stand auf. „Ich kann auch draußen warten, meine Herren!“ sagte sie, leicht genervt. Paul schüttelte den Kopf und griff nach ihrer Hand. „So war das nicht gemeint!“ Beschwichtigte er. „Setz‘ dich wieder hin, Patricia. Es ist nur so: Was ich Art vorzuschlagen habe ist …“ Er überlegte einen Moment und setzte dann hinzu: „nicht legal. Überhaupt nicht legal. Es kann uns alle viele Jahre unseres Lebens kosten. Vielleicht auch alle, die wir noch haben!“

Patricia setzte sich. „Du meinst …“ begann sie. „Die Regierung von Ers hat es nicht gern, wenn man ihre geheimsten Daten und Programme an Unbeteiligte weitergibt!“ beendete Paul den Satz.

Hat der auch schon den neuen Begriff Ers für unsere Erde in seinen Sprachgebrauch übernommen, dachte Pat. Seit etwa zehn Jahren war das der amtliche, aus dem Wortschatz der Aldebaraner übernommene, Begriff für den Planeten. Aus den Menschen waren damit Ersianer geworden. Aber kaum einer gebrauchte diese Begriffe. Außer vielleicht … Mitarbeiter von Ämtern und Behörden!

Sie sah zu Art hinüber und überlegte, ob der sich mit dem Gesetz anlegen würde. In diesem Moment hob Paul sein Glas. „Lasst uns erst mal darauf anstoßen, dass wir uns kennengelernt haben und alle unsere Wünsche stets in Erfüllung gehen!“ sagte er. Glockenhell klangen die Gläser und Paul stellte mit Erstaunen fest, wie langsam und kennerhaft Patrica den Wein genoss. Noch mehr staunte er als die hübsche Frau nach dem ersten Schluck meinte: „Gute Wahl, Paul. Tiefroter Burgund, Jahrgang 62!“ Es war ihm irgendwie peinlich als Patricia laut auflachte und alle Gäste zu ihnen hinübersahen. Sein Erstaunen musste ihm deutlich anzusehen gewesen sein. „Ich bin auf dem Land aufgewachsen.“ Sagte sie, immer noch lachend. „Wir haben dort selbst Wein angebaut. Nicht so gute Sorten allerdings.“ Nachdem Paul seine Fassung wiedergewonnen hatte meinte er kopfschüttelnd: „Ich hätte nie erwartet, mal einen anderen Menschen zu treffen, der außerhalb der großen Städte aufgewachsen ist.“

Während die beiden in ein längeres Gespräch verfielen, nippte Art ab und zu an seinem Wein. Er konnte nichts Angenehmes daran finden. Das Getränk brannte auf der Zunge und hatte einen bitteren Nachgeschmack. Auch die Umgebung gefiel ihm überhaupt nicht. Außerdem hatte er die ganze Zeit Bedenken, dass der Stuhl unter seinem Gewicht zusammenbrechen könnte.

Er war so in Gedanken, dass er aufschreckte, als ihm bewusst wurde, dass Pat und Paul ihr Gespräch beendet oder unterbrochen hatten und ihn beide anstarrten. „Ob du es wirklich für notwendig hältst, noch einmal mit deiner Frau zu sprechen beziehungsweise sie zur Umkehr zu bewegen, wollte ich wissen.“ sagte Paul. Art sah ihn und Pat nicht an, sondern starrte auf die Tischplatte, als ob er in der Maserung des Tisches nach einer Antwort suche.

„Darüber habe ich fast die ganze Nacht nachgedacht.“ meinte er schließlich leise. „Ich denke nicht, dass Jessie umkehren wird. Wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, setzt sie das auch durch. Wenn ihr es Spaß macht, auf einem fremden Planeten Siedler zu spielen und eine Welt neu aufzubauen, so ist das ihre Sache. Aber die Kinder soll sie mir geben! Ich habe mich total überfahren lassen, als ich den Wisch mit der Abtretung des Sorgerechts unterschrieben habe. Ich sehe nicht ein, wieso sie im Recht sein soll! Ja, ich hätte mich eher um das Sorgerecht kümmern sollen, das ist wahr. Und ich hätte mich auch mehr um die Kinder kümmern müssen. Aber das kann ihr doch nicht das Recht geben, meine Kinder auf eine andere Welt zu entführen! Ich liebe sie doch!“ Er schluckte heftig, den Tränen nahe.

„Die Kinder haben mit der Zustimmung der obersten Jugendbehörde die Genehmigung für die Kolonisierung erhalten.“ meinte Paul, „Und mit deiner Unterschrift hast du nur freiwillig bestätigt, was die Familienrichter sowieso entschieden hätten!“

„Wenn ich doch nur noch einmal mit ihr reden könnte! Wenigstens könnte ich ihr sagen, wie schlecht ich mich fühle und wie leid es mir tut!“

„Und du siehst eine Möglichkeit?“ unterbrach Pat Arts Gejammer und sah zu Paul hinüber. Der nickte und fragte leise: „Wie viel würdest du dafür riskieren, Art? Deinen Job und vielleicht sogar dein Leben aufs Spiel setzen?“

Art sah auf. In seinen Augen glitzerte es feucht. „Ich würde alles tun, um noch mal mit ihr und den Kindern sprechen zu können!“

Paul blickte von ihm zu Patricia und zurück. „Überleg dir gut, was du dir wünschst“, meinte er, „es könnte in Erfüllung gehen!“ Dann lehnte er sich vor und flüsterte beinahe als er sagte: „Du nimmst dir ein schnelles Raumschiff und fliegst ihnen hinterher!“

Art sah in verständnislos an und Pat meinte kopfschüttelnd: „He Jungs, ihr seid hier nicht in einem eurer Spiele! Was soll das also Paul? Niemand weiß, wohin die AURORA 4 unterwegs ist und welchen Weg sie durch das Universum nimmt, wie soll er ihr da folgen können?“

Paul stützte den Kopf in beide Hände und sah ihr tief in die Augen. „Niemand weiß das, Patricia. Außer den Leuten, die das Unternehmen bis ins Detail geplant haben, denke ich.“

Pat kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und beugte sich ebenfalls vor. „Du willst damit sagen …“, begann sie. Paul nickte bedächtig. „Ich arbeite bei der Ersianischen Kolonisierungsbehörde“ Er deutete mit dem Kopf zum Fenster. „Vier Blocks weiter liegt die Zentrale der EKB. Ich bin für die Planung bestimmter Abläufe an Bord der Kolonieschiffe zuständig.“

Pat und Art blickten sich kurz an. Dann fragte Art: „Und du weißt, welchen Weg die AURORA 4 nimmt und wohin sie fliegt? Welchen Planeten sie besiedeln soll?“

„Zumindest könnte ich diese Angaben, wenn auch nicht ohne Risiko, besorgen.“ sagte Paul leise.

„Und was nutzt das?“ fragte Pat. „Die AURORA 4 hat bereits einige Tage Vorsprung und ehe er sich ein Schiff besorgt und sich entsprechend vorbereitet hat ist sie längst verschwunden!“ Art nickte. „Stimmt. So ohne Weiteres kann man ja nicht zum Raumhafen gehen und ein Schiff mieten. Und völlig untrainiert“, er sah an sich hinunter, „übersteht man so eine Reise vielleicht auch gar nicht.“

Paul lächelte. „Ihr habt völlig Recht“, meinte er, „aber ihr habt genügend Zeit. Mindestens einen Monat, denke ich.“

Die beiden sahen ihn verständnislos an. Paul blickte zu Art. „Was weißt du über Aldebaraner Sprungtore?“ fragte er ihn. Art zuckte mit den Schultern. „Sie verbinden verschiedene Universen miteinander“, begann er stockend. „Beim Anflug auf das Tor gibt man die Koordinaten des nächsten Systems ein und taucht dann kurze Zeit später dort auf.“ Richtig überzeugt klang er aber nicht und Paul Hartmann schüttelte auch gleich den Kopf. „Das ist vielleicht in unseren Spielen so. Aber die Realität ist etwas anders.“ Er zog die drei Weingläser etwas weiter in die Mitte des Tisches. „Das ist System A“ sagte er und deute auf sein Glas, dann auf die anderen Beiden. „Das ist System B und dieses stellt System C dar. Noch kann man nicht wie im Spiel bestimmen, zu welchem Tor man gelangen will. Die Alebaraner arbeiten daran, aber das ist noch Zukunftsmusik.“ Dann erklärte er, während er abwechselnd auf die Gläser wies: „System A hat ein Sprungtor. Dieses verbindet es mit System B. Das wiederum hat zwei Sprungtore. Das eine, das es mit A verbindet und ein anderes, das es mit System C verbindet. Fragt mich aber nicht, wie der Sprung selbst funktioniert! Soweit reicht mein technisches Verständnis dann doch nicht. Der Flug der AURORA 4 geht also folgendermaßen vonstatten: Sie fliegt relativ langsam, also mehrere Wochen, durch unser Sonnensystem zum Tor nach B, springt dann hinüber, fliegt langsam zum Tor nach C. Das dauert wieder Wochen. Dann der Sprung nach C und so weiter bis sie an den Rand des bisher verbundenen Universums kommt. Dort werden alle Besatzungsmitglieder und Siedler in Tiefschlaf versetzt und das Schiff fliegt automatisch Jahrzehnte oder länger weiter, bis es den Bestimmungsplaneten erreicht hat. Soweit klar?“

Art und Pat nickten. „Mal angenommen“, setzte Paul fort, „es gäbe eine Möglichkeit, durch ein weiteres Tor, direkt von A nach C zu gelangen?“ Er sah die beiden erwartungsvoll an.

„Man würde die AURORA 4 überholen!“ sagten Beide wie aus einem Mund und Paul nickte lächelnd.

„Aber warum fliegt die AURORA 4 dann nicht diese Strecke?“ Wollte Art wissen. Paul hob beide Hände und sah ihn ernst an. „Weil dieses Tor ist streng geheim ist. Es darf nur in absoluten Ausnahmefällen genutzt werden.“

„Und es gibt so ein Tor auf dem Weg zur Wega?“ wollte Patricia wissen.

„Zwei, genaugenommen!“ antwortete Paul. „Art könnte, wenn er in vier Wochen mit einem schnellen Schiff starten würde, gut und gerne sechs Wochen vor der AURORA 4 dort sein, Sie wird dort noch einmal an der Raumwerft andocken, Treibstoff aufnehmen und ein letztes Mal Kontakt mit der EKB herstellen ehe sie in die Schlafphase eintritt.“

„Die Raumwerft im Wega-System wäre also der einzig mögliche Treffpunkt?“ fragte Art und Paul nickte.

„Und du könntest uns die vorgesehene Reiseroute der AURORA 4 geben beziehungsweise uns sagen, welchen Weg wir nehmen müssten?“ fragte Pat und Art sah sie erstaunt an. Paul lehnte sich zurück und sagte: „Ja. Aber nicht hier und nicht heute!“

 

Auf Pauls Vorschlag hin waren sie nicht am selben Abend zurück geflogen. Er hatte ihnen seine eigene Wohnung in San Franzisco überlassen und würde selbst in einer Gästewohnung im Bürogebäude seiner Firma übernachten.

Bis sie die alte Stadt am Meer erreichten, war es bereits die Nacht geworden. Und wären nicht die helle erleuchteten Fassaden und Dächer der Gebäude gewesen, wären sie beinahe darüber weg geflogen. Diese Stadt war tatsächlich unbeschreiblich klein, stellte Art fest und auch Patricia schüttelte mehrmals fassungslos den Kopf. Zwar dehnte sich die Stadt in alle Richtungen kilometerweit aus, aber die Häuser waren um ein Vielfaches niedriger als in Angel-City oder bei ihnen zu Hause.

„Hast du so etwas schon mal gesehen?“ fragte Art fassungslos. Pat blickte starr geradeaus, während sie den Gleiter nach unten dirigierte. „Eine Stadt wie diese habe ich noch nicht gesehen. Auf dem Land, damals … naja … Aber das hier … ist einfach … ungewöhnlich.“ Sie suchte die ganze Zeit nach Worten und Art fand, dass ihre Verwirrung und Sprachlosigkeit sie noch viel attraktiver machte.

 

Kaum dass sie die Wohnung betreten hatte, ließ Art sich in die Sitzecke sinken. Er wusste nicht, ob die heftigen Kopfschmerzen von dem ungewohnten Wein, von der angespannten Gesprächsatmosphäre oder von den wirren Gedanken kamen, die ihn seit Stunden nicht mehr losließen.

Mit einem vielversprechenden Blick war Patricia kurz darauf in der Waschzelle verschwunden. Art war ihr nicht gefolgt. Er konnte es nicht definieren, aber irgendetwas hielt ihn davon ab und verdarb ihm die Lust.

Schließlich stand er auf und trat an die Fensterfront. Die Wohnung lag nur in der 25. Etage, gewährte aber einen Blick über die gegenüberliegenden Häuser hinweg. Der ganze Straßenzug war dem altehrwürdigen viktorianischen Baustil mit seinen vorspringenden Fassaden nachempfunden. Originale Bauwerke dieser Art gab es nur noch eine Handvoll in der gesamten Stadt, die sich, nur wenige Flugminuten entfernt, auf einem Hügel von hier befanden und von einer gläsernen Kuppel umschlossen waren, um sie vor zerstörenden Umwelteinflüssen zu schützen. Ein einzigartiges, historisches und architektonisches Ensemble, hatte Paul gesagt. Was auch immer er damit meinte.

Faszinierend war, dass sich die Fassaden der Gebäude in einem ständigen Farbenspiel befanden. Langsam wechselten sie von Gelb über Grün und Blau zu Rot. So etwas hatte Art noch nicht gesehen. Während er hinüber starrte, bemerkte er, dass sich in einem Abstand von vielleicht zwei Metern eine weitere, kaum erkennbare, Glasfront befand. Er suchte und fand dann einen Mechanismus mit dem sich eine Scheibe des Fensters öffnen und beiseite schieben ließ. Vor dem Fenster lag ein breiter, etwa mannshoch verglaster, Sims.

Er trat hinaus und atmete die frische Nachtluft ein. Soweit Art sehen konnte, verlief der Sims an der gesamten Gebäudefassade entlang. Als er ganz nach vorn an die Glasscheiben trat, konnte er kilometerweit die Straße in beide Richtungen entlang sehen. Ein sinnbetörendes Spiel von Farben und Formen kompletter Fassaden und sowie der Werbestreifen unterhalb der Dachkanten und an den Begrenzungen der Gleiterlandeflächen auf den Dächern der Häuser, soweit das Auge reichte. Diese Stadt war so anders und beeindruckender als alles was er kannte!

„Einfach bezaubernd, oder?“ vernahm er in diesem Moment Patricias Stimme hinter sich. Er drehte sich zu ihr um und was er sah, verschlug ihm den Atem. Vor dem schwach gelblichen Licht, das aus dem Wohnbereich drang, getaucht in den grünlichen Schimmer der Außenwand neben sich, stand sie in der Tür, nur bekleidet mit einem hauchzarten aber nicht ganz durchsichtigem, knöchellangem Gewand. Die dunkle Haut ihres Gesichts und ihrer nackten Arme schimmerte im grün-goldenen Licht wie reine Bronze. Ihr langes Haar fiel ihr locker auf die Schultern und ihre Augen blitzten so schelmisch, dass er sich der Doppeldeutigkeit ihrer Worte bewusst wurde.

Während Art sie immer noch sprachlos anstarrte, trat sie neben ihn und lehnte ihre Stirn an die Scheibe. Sie richtete den Blick nach unten, wo er sich mit den nach und nach schwächer werdenden Farben in der Dunkelheit verlor. Schweigend standen sie eine Weile nebeneinander ohne sich zu berühren. Dann fragte Art: „Hast du das wirklich so gemeint vorhin, dass du mitfliegen würdest?“

Patricia rührte sich nicht und es dauerte einen Augenblick bis sie leise und stockend sagte: „Ich würde dich begleiten, wo immer du hingehst, Art.“ Als er nichts darauf antwortete, setzte sie hinzu: „Aber sag mir: Warum willst du diese Reise wirklich auf dich nehmen? Warum willst du wirklich dein bequemes, gutes Leben aufs Spiel setzen, Art? Nur um ein paar Worte mit einer Frau zu wechseln, die du nie zurückbekommen wirst? Daran, dass sie dir eure Kinder überlässt, wirst du doch selbst nicht glauben, oder?“

Fast unmerklich schüttelte Art den Kopf. Im Gegensatz zu ihr blickte er nach hinten, wo sich das Grün jetzt fast vollständig in ein helles, leuchtendes Blau verwandelt hatte. „Ich weiß es selbst nicht, Pat.“ Meinte er nachdenklich. „Ich weiß nur, dass ich es tun muss. Irgendwie habe ich das Gefühl, mein Leben zerbricht gerade in tausend Stücke und ich habe keine andere Wahl, als die Scherben aufsammeln zu müssen. Ich könnte es mir nie verzeihen, es nicht versucht zu haben.“

Patricia löste sich von der Scheibe und trat wieder einen Schritt zurück. Sie strich ihr Haar aus dem Gesicht und sagte leise: „Komm, lass uns ein Stück gehen.“ Art blickte sie an. „Wohin gehen, Pat?“ Sie wies mit dem Kopf die Fassade entlang. „Einfach immer gerade aus.“

Schweigend gingen sie im Spiel der Farben nebeneinander her. Die meisten Wohnungen an denen sie vorbeikamen waren unbeleuchtet oder die Fenster verdunkelt. Am Ende des Wohnkomplexes angekommen stellten sie fest, dass der Sims um das gesamte Gebäude herumlief. Sie sahen sich stumm an und setzte ihren Weg fort. An dieser Seite grenzte das Gebäude an einen großen Park und die gegenüberliegenden Häuser wichen in weite Ferne zurück. Unter ihnen erstreckte sich die dunkle, nur von wenigen Lichtern unterbrochene Fläche der Parkanlage.

Dahinter wurden die Häuser noch älter, noch niedriger und weniger farbenprächtig. Auf manchen Dächern waren kunstvolle Gärten angelegt, die von Laternen oder Leuchtbändern erhellt wurden. Außerdem schien das Gelände steil abzufallen. Hinter den letzten Häusern erblickten sie die riesige, schwarze Wasserfläche der Bay. Genau vor ihnen streckte sich die große, rote und hell erleuchtete Stahlbrücke, das Wahrzeichen der Stadt seit mehr als zweitausend Jahren, den Hügeln auf der anderen Seite der Bucht entgegen, wo sich einzelne große Villen, in verschiedenen Farben angestrahlt, an die steilen Berghänge schmiegten.

Der Blick über die alte Stadt war einfach phantastisch und der Geruch des Meeres wehte bis zu ihnen herüber.

Stumm nahm Patricia Arts Hand. Als der sich ihr zuwandte bemerkte er, dass der Sims sich hier nach hinten zu einer breiten Terrasse erweiterte. Zwischen einzelnen Büschen, die von unten her schwach beleuchtet wurden, standen Bänke und ein kleiner Pavillon.

Art zog sie sanft zu einer der Bänke. Als sie sich setzten und er einen Arm um ihre Schulter legte, spürte er die Kühle ihrer Haut. Erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, wie dünn sie bekleidet war. Deutlich zeichneten sich die Konturen ihres Körpers unter dem dünnen Stoff ab. Dennoch wandte er, sie etwas fester an sich ziehend, den Blick von ihr ab und starrte in die dunkle Nacht hinaus.

Pat nahm seine Nähe und Wärme dankbar an, schmiegte sich eng an ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter.

Dann sagte sie, als ob sie ihr Gespräch gerade eben und nicht schon vor einer halben Stunde unterbrochen hatten: „Vielleicht solltest du die Scherben lieber beseitigen lassen und völlig neu anfangen.“

Sein Blick hing wie gebannt am Sternenhimmel, als er leise sagte: „Hinter mir soll niemand aufräumen müssen, Pat. Ich habe mein Leben selbst zerstört und muss nun auch allein wieder Ordnung machen. Das bin ich den Kindern und vor allem Jessie schuldig.“ Pat bemerkte wie er mit den Tränen kämpfte, als er weitersprach. „Zehn Jahre lang ist sie für mich dagewesen, hat fast alles aufgegeben, was ihr wichtig war nur um immer für mich da zu sein. Wenn wir zusammen waren, war alles einfach wunderbar. Ich habe mich um nichts kümmern müssen, hab nur an meine Arbeit und mein Vergnügen gedacht. Irgendwann war ihr das einfach zu wenig. Als sie vor sechs Jahren mit diesem, diesem …“ Ihm fehlten die Worte. Dann sagte er: „… Caspar aufs Land gezogen ist, war ich völlig am Boden zerstört. Und ich glaube, ich habe mich bis heute nicht davon erholt. Am Anfang ist sie ja noch mit den Kindern vorbeigekommen. Auch mal ein paar Tage geblieben. Aber wir sind uns immer fremder geworden. Sie sprach von Dingen, von denen ich keine Ahnung hatte, machte sich über alles lustig, was mir gefiel und kam dann immer seltener mit. Irgendwann kam sie dann gar nicht mehr mit rauf, setzte die Kinder einfach unten ab und verschwand.“

„Und die Kinder?“ fragte Pat ohne sich zu rühren. Art zuckte die Schultern. „Was sollte ich ihnen geben? Sie redeten genauso merkwürdig wie ihre Mutter. Wenn sie bei mir waren, ein oder zweimal im Jahr, waren sie die meiste Zeit in der Kinderbetreuung des Wohnkomplexes. Da hatten sie wenigstens andere Kinder zum Spielen! Ich war nie ein guter Vater für sie, da hat Jessie vollkommen Recht!“

Patricia löste sich aus seinem Arm und wandte sich ihm zu. „Und das willst du ihnen nun sagen, Art Karas? Dass du alles falsch gemacht hast und sie trotzdem zu dir zurückkommen sollen?“

Er schüttelte heftig den Kopf und barg sein Gesicht in den Händen. Jetzt weinte er wirklich. „Ich habe lange … nachgedacht über … das Alles.“ Er schluckte mehrmals heftig. Dann wurde seine Stimme wieder fester. „Und ich weiß jetzt, dass sie Recht hatte. Als sie damals ausgezogen ist lag ein Zettel neben der Mediakonsole. ‚Dieses Leben ist keins‘ stand darauf. Nichts weiter. Ich hab‘s nicht verstanden, Pat. Bis letzte Nacht. Jetzt weiß ich, was sie meint: Leben ist - Etwas verändern, nie zur Ruhe kommen. Nicht, keine Probleme zu haben, sondern welche zu lösen. Oder es wenigstens versuchen!“

Pat schwieg eine Weile und sagte dann: „Du willst die Scherben deines Lebens also nicht etwa aufheben ums es wieder zu reparieren, sondern …“ Er sah sie jetzt an und nickte. „Um sie neu zusammenzusetzen, Pat. Um mit den gleichen Teilen etwas Neues gestalten!“

Patricia stand auf und ging bis an die gläserne Brüstung heran. Lange stand sie dort und sah in die Tiefe.

Erst wagte Art es nicht, zu ihr hinüber zu gehen. Er betrachte ihre kaum verhüllte Gestalt und glaubte einen Augenblick lang, ihren warmen, weichen Körper neben sich zu spüren. Dann sah er einen Moment lang das weiche, breite Bett in der Wohnung auf der anderen Seite des Hauses vor sich. Aber er hatte auch das Gefühl, dass diese Bilder nicht zueinander passten.

Schließlich trat er dann doch hinter sie und nahm sie in die Arme. Patricia hob den Kopf und lehnte sich zurück. Ihr Haar roch verführerisch und er vergrub sein Gesicht darin. Dann löste er die Umarmung, fasste Pat an den Schultern und drehte sie vorsichtig zu sich um. Sie blickte ihm ins Gesicht und trotz des schwachen Lichtes erkannte er die Tränenspuren auf ihren Wangen. „Du liebst sie. Immer noch“, sagte sie leise.

Art sah an ihr vorbei in das Dunkel der Nacht. „Erst jetzt, glaube ich.“

Freunde

 

Zwei Wochen später hätte Art sich dafür ohrfeigen können, auf Pauls Vorschlag eingegangen zu sein.

Er schnaufte und fluchte vor sich hin, während der Schweiß ihm in Strömen den Körper herab lief. Das Laufband schien immer schneller zu werden und mehr als einmal hatte er das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dazu kam diese unmögliche Umgebung! Das Trainingsprogramm der letzten drei Tage hatte ihn an einem Meer entlang, durch einen herbstlichen Wald und über schmale Pfade im Hochgebirge geführt. Aber wer rannte schon quer durch eine Wüste? In der Trainingskabine herrschte eine unmenschliche Hitze und das tückische Band führte ihn die Sanddünen herauf, auf deren Kamm entlang, wieder hinab und wieder hinauf.

Sein Herz raste und seine Lungen brannten. Mehr als einmal geriet er in die Versuchung, den Notausknopf zur sofortigen Beendigung des Programms zu betätigen. Aber dann dachte er jedesmal daran, was Pat zu Beginn des Trainings gesagt hatte: „Wenn du das Trainingsprogramm einmal abbrichst, ist das verständlich. Zumindest am Anfang. Wenn du es aber ein zweites Mal abbrichst, kannst du dein Vorhaben vergessen!“

Pat. Sie war reservierter geworden seit der Nacht in San Franzisco. Stiller. Nicht unnahbar oder abweisend, wie er befürchtet hatte. Aber doch irgendwie anders. Jedenfalls half sie ihm, wo sie konnte. Zwar sei es generell auch mit seinem bisherigen Körpergewicht möglich, einen Raumflug anzutreten, hatte sie gesagt, aber je mehr Pfunde er bis zum Start abnehmen könne, desto geringer sei die Gefahr eines gesundheitlichen Problems im All. Und schließlich wolle er ja nicht den ganzen Flug über mit einem Medirobot verbunden sein.

Also hatte er sich darauf eingelassen, dass sie seine Ernährung und sein Trainingsprogramm bestimmte. Seit diesem Abend war er nicht ein einziges Mal mehr zum Essen im Restaurant gewesen. Stattdessen schwitzte er auf dem Laufband und im Dampfbad, stemmte Gewichte und quälte sich bei jeder Menge anderer Übungen und Simulationen. Nach drei Tagen hatte er das Programm zum ersten Mal abgebrochen.

Endlich tauchten zwischen den Dünen die Silhouetten mehrerer Palmen auf. Einige Schritte später erkannte er die Wasserstelle und daneben, irgendwie deplatziert fand er, ein golden leuchtendes Tor – das Trainingsziel!

Kaum hatte er das Tor passiert, als das Laufband stetig langsamer wurde. Beinahe hätte Art sich erschöpft fallen lassen. Seine Sachen klebten am Körper und auch sein Haar war triefend nass, als sei er schwimmen und nicht laufen gewesen. Bloß gut, dass Pat mich so nicht sehen kann, dachte er. Dann öffnete sich die Tür der Trainingskabine und Art trat in den Aufenthaltsraum des Fitnessbereiches. Drei Schritte bis zur Duschzelle! Er konnte sie kaum noch gehen.

Pat saß in einem Korbstuhl neben der Eingangstür und beobachtete ihn. Art hatte sie nicht bemerkt. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie hatte ihm vor zwei Wochen nicht zugetraut, dass er ihr Programm durchhielt. Er war unglaublich eisern bei der Sache.

Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie eingestehen, dass sie ihm mehr zum Selbstzweck denn seiner Gesundheit zuliebe Angst vor medizinischen Problemen im All gemacht hatte. Art sah bereits jetzt, nach zwei Wochen, wesentlich besser aus als früher. Und wenn er so weitermachte, konnte er es zum Abflugtermin zu einem richtig gutaussehenden, durchtrainierten Körper gebracht haben.

Ein leises Summen ertönte in ihrem rechten Ohr. Pat drückte einen Knopf an ihrem Gürtel.

„Gut dass du dich meldet, Jayden. Ich brauche deine Hilfe! … Wie? … Ein paar Monate denke ich. ... Das erkläre ich dir lieber persönlich! … Was? Ja doch. … Ich hab‘ einem Freund versprochen ihm zu helfen. … Hör auf, Jay. Du weißt, dass du mir … Nein, ich will dir nicht drohen. … Komm schon, du bist der beste Pilot, den ich kenne! … Du kommst vorbei? … Okay, wir sehen uns dann morgen! Ich verlass mich auf dich. … Bis dahin!“

Sie deaktivierte den Minikom und lehnte sich zurück. Damit war so gut wie Alles vorbereitet. Die Anspannung der letzten Tage schien von ihr abzufallen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Jayden ihnen helfen würde.

„Hey, Pat!“ Begrüßte Art sie freundlich. Sie hatte sein Kommen gar nicht bemerkt. „Was machst du denn hier?“

In der himmelblauen Tunika mit dem goldfarbenen Gürtel sah er richtig gut aus, fand Patricia. Eigentlich schade, dass er sich für seine Familie entschieden hatte.

„Ich wollte dich abholen“, sagte sie dann. „Wir müssen etwas zu besprechen. Gehen wir am besten in den Park hinüber.“

 

Kurz darauf verließen sie den Gebäudekomplex und gingen auf die andere Straßenseite. Nachdem sie zwei große Wohnblöcke hinter sich gelassen hatten, betraten sie durch ein altmodisches eisernes Tor eine kleine Parkanlage. Art erinnerte sich daran ganz früher, als Jamie und Janine noch winzig klein gewesen waren, ein paar Mal mit ihnen hier gewesen zu sein.

Um diese Zeit war die Anlage so gut wie menschenleer. Eine Weile gingen Art und Patricia im Schatten der Bäume schweigend nebeneinander her.

Dann fragte Pat unvermittelt, ob er seinen Plan noch immer in die Tat umsetzen wolle. Er sah sie nur fragend an und sie winkte ab. „Ja, natürlich! Wie kann ich nur fragen? Du quälst dich ja jeden Tag dafür.“ Sie sah an ihm vorbei und setzte leise hinzu: „Ich bin nur gespannt, ob sich das am Ende tatsächlich lohnt.“

Nach ein paar Schritten blieb sie dann stehen und stellte sich ihm in den Weg. Sie sah ihm ins Gesicht und sagte: „Ich habe vorhin gerade mit einem … nun ja, einem Freund telefoniert. Wir treffen uns morgen Nachmittag und wenn er auf meinen Vorschlag eingeht, haben wir ein schnelles Schiff und können vielleicht schon nächste Woche aufbrechen.“

„Du willst wirklich noch mitkommen?“ Fragte Art und versuchte, ihrem Blick auszuweichen. Patricia zuckte die Schultern und meinte leise: „Ich hab’s dir nun mal versprochen, Art.“

„Willst du uns selbst fliegen?“ fragte Art und Pat nickte. „Ja klar. Ich hab in meiner Jugend als Jägerpilotin bei der erisanischen Flotte gedient und hab‘ unter anderem ein Praktikum auf einem aldebaranischen Schlachtschiff gemacht!“ Art starrte sie ungläubig an. „Wirklich?“ Pat nickte, musste dann aber laut lachen. „Natürlich nicht! Das war ‘n Scherz, Art. Nein. Jayden ist ein erstklassiger Pilot und ich will ihn überzeugen, dass er uns mit seinem Schiff mitnimmt. Ich hoffe nur, die NIGHTOWL ist für Reisen ans Ende des bekannten Universums tauglich. Soweit ich weiß, hat Jayden zwar schon Reisen durch Sprungtore mit dem Schiff gemacht, aber so lange und so weit war er noch nicht unterwegs, glaube ich zumindest.“

Sie gingen langsam weiter und setzten sich am Ufer eines kleinen, künstlich angelegten, Teiches auf eine Bank. Gerne hätte Art seinen Arm um Pats Schultern gelegt, wagte es aber nicht. Stattdessen blickte er unverwandt auf die kleine Wasserfläche vor ihnen und fragte dann: „Wie erklärt Jayden seiner Besatzung diese Reise? Er kann doch nicht sagen, dass es einen, naja einen privaten Grund hat? Und wer finanziert überhaupt das Ganze? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Eigentlich müsste ich ja … aber das kann ich ja gar nicht. Ich hab‘ hier was ins Rollen gebracht, was eigentlich gar nicht durchführbar ist, oder?“

Pat wandte ihm ihr Gesicht zu. Da Art immer noch nach vorn starrte, bemerkte er ihr leicht spöttisches Lächeln nicht. Ernst sagte sie: „Noch kannst du zurück, Art. Wir können hierbleiben und die ganze Geschichte vergessen. Noch ist nichts passiert. Deshalb hat Paul die Unterlagen auch noch nicht weitergegeben. Und Eines ist auch klar“, sie stand auf, trat an das Ufer des Teichs, nahm einen großen, flachen Stein vom Boden auf und warf ihn mit einer geschickten Bewegung über das Wasser. Art sah wie der Stein auf der Wasseroberfläche aufschlug, aber nicht versank sondern weitersprang. Nach sechs Sprüngen landete er am andern Ufer. „Wenn wir die Erde mit der NIGHTOWL verlassen, dann ist es für lange Zeit. Vielleicht sogar für immer.“ Sie drehte sich um und sah Art an. „Dir ist ja bewusst, was wir aufs Spiel setzen. Aber nicht nur das. Du und ich müssen auch unser gesamtes Vermögen einbringen und Jayden seinen gesamten Besitz: sein Raumschiff!“ Sie lächelte sanft und sagte dann: „Falls wir je hierher zurückkehren, Art, werden wir höchstwahrscheinlich völlig mittellos sein und am Rand der Gesellschaft stehen. Aber auch da lässt sich leben.“

Art stand auf und trat auf sie zu. „In einer der Kommunen auf dem Land, ja. Aber dann, dann..“

„Können wir uns auch gleich auf einem der neu besiedelten Planeten niederlassen.“ Ergänzte Patricia. „Aber es gibt auch eine andere Lösung.“

Als Art sie fragend ansah, sagte sie: „Egal wie es ausgeht, ob du Jessie und die Kinder mit zurück bringst oder nicht: Die Story lässt sich mehr als nur gut verkaufen.“

Art sah sie fassungslos an und griff dann nach ihren Schultern. Er drückte fester zu, als ihm bewusst war und fragte: „Was hast du vor Pat?“

Sie befreite sich nicht aus seinem Griff und sah zu ihm auf. Mit fester Stimme sagte sie: „Ich habe mir alle Medienrechte an der Geschichte gesichert, ohne den Hintergrund zu verraten.“ Sie schloss für einen Moment die Augen und sah ihn dann wieder an. Leiser und mit nicht mehr ganz so fester Stimme setzte sie hinzu: „Ich bin Journalistin, Art. Mit menschlichen Schicksalen verdiene ich mein Geld.“

Er ließ sie los und die Hände sinken. Dann drehte er sich um, ging einen Schritt von ihr weg und fragte: „Und Jayden?“

Wie durch einen dichten Nebel vernahm er ihre Worte: „Wird wegen Schmuggel und Piraterie von den Behörden gesucht. Eine ständige Besatzung hat er nicht. Nur wenige Menschen außer mir kennen seine wahre Identität. Er ist meine Kontaktperson zur Unterwelt und kann gar nicht anders, als uns zu helfen.“

Sie einfach stehenlassend ging Art auf den Ausgang des Parks zu. Er hörte noch wie sie ihm nachrief: „Wenn du dabei bleibst, sei morgen Nachmittag gegen drei wieder hier, Art!“ Dann wurde die Stille des Parks durch den alltäglichen Lärm der Straße abgelöst.

 

Als Art sich am folgenden Nachmittag auf den Weg zum Park machte, waren sein Ärger und seine Enttäuschung schon fast verflogen. Er hatte noch am gleichen Abend Paul Hartmann angerufen und ihm alles erzählt. Dabei hatte er mehrmals fast die Nerven verloren. Nur mit Mühe hatte er sich beherrschen können. Paul hatte sich alles mit sehr ernster Miene angehört und dann ruhig gesagt: „Ich weiß nicht was du hast, Art. Diese Frau versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, dir zu helfen. Du solltest ihr entweder vertrauen oder dein Vorhaben gleich aufgeben!“

Trotzdem fühlte Art sich verraten und missbraucht. Und dass Pat um seinetwillen einen anderen Menschen erpressen wollte, fand er mindestens genauso schlimm. Darum zögerte er auch einen Moment, ehe er das alte Eisentor durchquerte.

Langsam näherte er sich dann dem kleinen Teich. An dessen Ufer standen, völlig in ihr Gespräch vertieft, Patricia und Paul.

„… sollte um drei bei mir sein, ist aber nicht gekommen!“ Sagte Pat gerade, als Art hinter sie trat. „Die Daten gebe ich aber nur ihm, dass musst du verstehen. Art und du könnt ohne ihn sowieso nichts damit anfangen.“ meinte Paul schulterzuckend. Dann bemerkte er Art und reichte ihm die Hand. „Hallo, Art! Du hast dich also entschieden?“ Art schwieg einen Moment und sah Pat an, die sich ihm ebenfalls zugewandt hatte. Er glaubte, in ihren großen, dunklen Augen ein kurzes Aufblitzten zu erkennen.

„Ich weiß, was ihr für mich riskieren wollt und ich bin euch sehr dankbar dafür. Aber ich kann auch nicht zurück. Es wird meine einzige Chance sein, noch mal von vorn anzufangen. Und wie auch immer dieses Abenteuer ausgeht: Es wird einen neuen Anfang geben müssen!“

Patricia steckte ihm lächelnd ihre Hand entgegen. „Ich bin dabei. Vielleicht ist es auch für mich eine Chance, neu zu beginnen.“ Art nahm ihre Hand und drückte sie. Dann sah er Paul fragend an. Der schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich bleibe hier. Es könnte sein, dass ihr meine Hilfe braucht wenn ihr unterwegs seid. Und nur hier kann ich euch wirklich helfen. Vorausgesetzt“, er unterbrach sich kurz, “vorausgesetzt in der Behörde bekommt niemand etwas mit.“

„Unser Verschwinden wird niemanden beunruhigen, Paul. Und falls alles wie geplant läuft, egal ob wir zurückkehren oder nicht, wird es die Behörde auch nicht interessieren.“ Pat legte ihm eine Hand auf die Schulter und nickte zuversichtlich.

Paul legte den Kopf leicht schrägt und meinte: „Es sei denn, ihr bringt Jessica und die Kinder wieder mit hier her und du veröffentlichst die Story!“

„Wir bringen sie nicht mit zurück, Paul!“ sagte Art sehr leise. Der Angesprochene und Pat sahen ihn erstaunt an. „Ich kehre nicht mehr hierher zurück. Entweder gelingt es mir irgendwie, bei meiner Familie zu bleiben oder … ich weiß es nicht. Du kannst ja jederzeit zurück fliegen.“ sagte er, an Patricia gewandt. „Aber ich bitte dich, die Geschichte nicht zu verkaufen, damit Paul nicht in Verdacht gerät.“

Pat nickte. „Geht in Ordnung, Art.“ Dann sah sie Paul an. „Zumindest ziehe ich dich nicht mit hinein. Versprochen!“ Sagte sie und gab ihm die Hand.

„Dann wünsche ich euch viel Glück!“ meinte dieser lächelnd. „Jetzt fehlt nur noch euer Pilot. Ich hoffe, er hat euch nicht sitzenlassen.“

 

Jayden Romanescu flog in geringer Höhe über der Fahrbahn für straßengebundene Beförderungsmittel auf den Wohnkomplex zu in welchem Patricia wohnte. Immer wieder blickte er auf den Heckmonitor. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass er verfolgt wurde. Deswegen war er auch schon einige Umwege geflogen und etwas in Zeitverzug geraten.

Mit einer schnellen Handbewegung riss er den kleinen schwarzen Alpha-Gleiter in eine Seitenstraße, zwei Blocks bevor er sein Ziel erreicht hatte. Als sich kurz vor ihm das Hangartor eines Freizeit- und Erholungskomplexes einladend öffnete, zog er blitzschnell hinein ohne auf den erschreckend lauten Alarmsignal des Gleiters zu achten, der gerade den Hangar verließ.

Er parkte seinen Gleiter auf einem dunklen Stellplatz an der hinteren Wand, sprang aus der Kabine und öffnete eine Stahltür in der Wand. Durch das Treppenhaus, das aussah, als hätte es jahrelang keines Menschen Fuß mehr betreten, stieg er in die zweite Etage hinauf. Dann lief er mehrere Gänge und an unzähligen Türen entlang, bis er wieder zur Vorderseite des Gebäudes kam.

Er blickte durch die Scheiben auf die Fahrbahn, hielt sich aber von diesen fern, obwohl ihm bewusst war, dass man ihn von der Straße aus gar nicht sehen konnte.

Nachdem er eine ganze Weile aufmerksam die Umgebung beobachtet hatte, aber nichts Verdächtiges feststellen konnte, begab er sich ins Foyer des Gebäudes und verließ es zu Fuß.

Langsam näherte er sich dem Wohnkomplex. Da fiel ihm ein schnittiger hellgüner Gleiter auf, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Der Pilot lehnte scheinbar gelangweilt an der Seite und beobachtete den Eingang des Gebäudes.

„Verfluchter Mist“, knurrte Jayden, „haben sie mich doch am Arsch!“ Irgendwer musste ihn verraten haben. Und sie mussten gewusst haben, zu wem er wollte! Hatte ihn ein Mitglied seiner letzten Crew verraten oder hatten sie Patricias Kom angezapft? Wie auch immer, der hellgrüne Gleiter gehörte definitiv der Staatspolizei.

Dann bog er zwischen den Wohnblöcken ab und ging langsam weiter. Er strich sich über seinen dunkelblonden Oberlippenbart und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Patricia über Minikom anzurufen erschien ihm zu gefährlich. Was hatte die gewiefte Journalistin ihm gestern gesagt? Er solle um drei bei ihr sein. Ein Freund brauche Hilfe. Sein Können als Pilot wäre gefragt. Im Laufe der letzten Jahre hatte er schon einige Aufträge für Patricia ausgeführt. Nicht ganz freiwillig, aber auch nicht gerade ungern. Er mochte diese gutaussehende, sympathische Frau. Und er wusste, dass sie klug genug war, solche Aufträge nicht in ihrer eigenen Wohnung zu besprechen. Dann lächelte er. Er ahnte, wo er sie finden würde!

 

Auf weiteren Umwegen und seine Umgebung aufmerksam beobachtet, betrat er den Park durch einen Nebeneingang. Jetzt lief er etwas schneller. Er konnte sich jetzt sicher sein, dass er nicht mehr verfolgt wurde.

Patricia stand, in ein Gespräch mit zwei Männern, die ihm den Rücken zukehrten, vertieft am Ufer des kleinen Teiches.

Er war fast bei der kleinen Gruppe angelangt, als Patricia ihn erkannte und fröhlich auflachte. „Aha, spät kommt er, aber er kommt. Hallo, Jay!“

Die beiden Männer drehten sich ebenfalls zu ihm um und Pat sah, wie sich in den Gesichtern aller drei Männer Verblüffung und grenzenloses Erstaunen abzeichneten. Art war der erste, der seine Sprache wiederfand. „Hallo, Jerome“, sagte er fassungslos.

Gefahr am Tor

 

Art stürmte in seine Kabine und schlug heftig mit der Faust auf den Sensor am Rahmen der Kabinentür. Normalerweise hätte er die Tür hinter sich zuknallen lassen, doch sie schloss sich mit einem sanften, fast höhnischem, Zischen.

Hätte er sich doch bloß nicht auf diesen Flug eingelassen! Wie konnte man auch auf die Idee kommen, sich über Monate gemeinsam mit drei anderen Menschen in eine Blechbüchse einsperren zu lassen! So schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt. Er warf sich auf die Liege und starrte an die Decke.

Als er damals im Park erfahren musste, dass sein Freund Jerome im realen Leben Jayden hieß und als Schmuggler und was sonst noch gesucht wurde, war er einfach nur geschockt gewesen. Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass Jerome, nein Jayden, auch herrschsüchtig und arrogant war. Alle mussten nach seiner Pfeife tanzen! Sein ganzes Wesen war von und Gewalt geprägt. Überall sah er Feinde und befürchtete Kämpfe! Und nicht nur das. Er hatte Art auch den Platz am Waffenpult zugewiesen und ihn dazu verdonnert, jede Einzelheit von Panzerung und Bewaffnung aller im bekannten Universum vorkommenden Raumschiffe zu studieren. Den ersten Protest dagegen hatte er mit einer Handbewegung und der dummen Bemerkung „Wer sonst?“ im Keim erstickt. Aber wenn es nur das wäre! Irgendwie würde er damit klarkommen, zumal Art davon überzeugt war, dass er dieses Wissen niemals brauchen würde.

Aber auch Patricia, in der er schon fast mal seine neue Partnerin gesehen hatte, die er mit Jessie verglichen und irgendwie sogar für perfekter gehalten hatte, war ihm in den Rücken gefallen! Journalistin war sie und würde alles daran setzen, mit seinem Schicksal und dem seiner Familie einen Haufen Geld zu verdienen. Davon war er nun überzeugt. Sie konnte das Gegenteil behaupten, so oft sie wollte. Art hatte sie durchschaut! Außerdem hatte sie sich, kaum dass sie die NIGHTOWL betreten hatte, auf die Seite ihres Freundes Jayden gestellt und stärkte ihm den Rücken, wo es nur ging. Gerade eben, als dieser arrogante Kerl wieder jede Menge Kontrollfragen zur Bewaffnung und Ausrüstung aldebaranischer Kampfschiffe gestellt und Art ihn nur grimmig angestarrt hatte, war sie ihm beigesprungen und hatte so einen blöden Spruch wie „Komm schon, Art, Wissen ist Macht!“ losgelassen. Pat hatte gut reden, sie musste sich diesen ganzen Quatsch ja nicht merken! Ihr hatte dieser Jayden ja nur aufgetragen, sich mit Kultur und Sprache verschiedener Völker zu beschäftigen, die ihnen im Laufe des Fluges begegnen könnten.

Und dann war da noch diese merkwürdige Kopilotin von Jayden. Eine Frau wie er noch keine gesehen hatte. Als sie damals die Kanzel der NIGHTOWL betreten hatte, waren Art die Gesichtszüge dermaßen entgleist, dass Pat, die das bemerkt hatte, sich auf die Lippen beißen musste um nicht laut loszulachen. Diese Ter’sa Ra war für eine Frau außergewöhnlich hoch gewachsen, fast so groß wie dieser Jayden und dabei so dünn, wie es auf der ganzen Erde bestimmt keine zweite gab. Aber Ter’sa stammte ja auch nicht von der Erde. Sie war im Wega-System geboren und aufgewachsen, wo angeblich alle Menschen so dünn und lang wurden. Sie hatte langes, weißblaues Haar, das ihr bis auf die Hüften fiel und deutlich schrägstehende dunkelrote Augen. Und außerdem hatte sie die längsten Beine, die er je gesehen hatte und es ärgerte Art immer wieder, wenn er sich dabei ertappte, dass er von diesen Beinen nicht wegsehen konnte. Dazu kam, dass diese seltsame Frau in den Wochen an Bord bisher kaum ein Wort gesprochen hatte. Sie konnte den ganzen Tag stumm an ihrem Pult sitzen und vor sich hin starren. Jayden hatte gesagt, sie sei ein technisches Genie – warum übernahm sie dann nicht den Part der Bewaffnung? Als Art Jayden danach gefragt hatte, schüttelte dieser nur verständnislos den Kopf und winkte ab. Immer wieder hatte Art sich gefragt, was diese Frau denn nun wirklich für eine Aufgabe an Bord hatte.

Art dreht sich auf die Seite. Zum wer weiß wievielten Male fragte er sich, ob es richtig gewesen war, nach Angel-City zu fahren und sich Pauls Vorschlag anzuhören, wie er Jessie und die Kinder noch einmal sehen und sprechen könnte. Wäre er an diesem Tag zu Hause geblieben und hätte sich in seinem Bett oder hinter seine Multimediakonsole vergraben, wäre ihm vieles erspart geblieben! Die Schufterei unter Pats Anleitung um sein Gewicht zu reduzieren beispielsweise. Ganz zu schweigen von jeder Menge Albträume und verworrenen Gedanken und Gefühlen. Manchmal rissen sich sein Körper und sein Verstand danach, Jessie und die Kinder wiederzusehen, dann wollte er sie einfach nur vergessen.

Art schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. Alles Grübeln war umsonst – eine Rückkehr kam nicht mehr in Frage. Die NIGHTOWL war auf dem Weg zur Wega um an der dortigen Raumstation auf die AURORA 4 zu warten, egal was danach passieren würde.

Er schüttelte den Kopf. Noch mindestens drei, nein, fast vier Monate in dieser elenden Blechbüchse – er durfte nicht daran denken. Nie hätte er geglaubt, dass er so unter der Enge und dem Fehlen jeglichen Komforts in einer Umgebung leiden würde!

Unter einem Raumschiff hatte er sich immer etwas Anderes vorgestellt. Die NIGHTOWL war nicht viel mehr als ein größerer Gleiter, wie sie auch als Fortbewegungsmittel auf der Erde, oder Ers wie sie ja jetzt offiziell hieß, üblich waren. Als er sie das erste Mal auf dem Raumhafen gesehen hatte, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Mit diesem winzigen Gefährt wollten sie sich dem grenzenlosen Raum ausliefern?

Die NIGHTOWL war ein Transportschiff der Katamaran-Klasse. Zwei zigarrenförmige Lagerräume, dazwischen eine diskusähnliche Scheibe, in der sich vier Kabinen für die Besatzungsmitglieder, ein Technik-, ein Fitness- sowie ein Gemeinschaftsraum befanden und darauf die Kanzel mit den vier Arbeitskonsolen. Unter der Scheibe befand sich noch das Treibstoff- und Antriebssystem und das war schon alles. Abgesehen von der Bewaffnung, die er auf den ersten Blick aber gar nicht wahrgenommen hatte. Dank des ihm durch Jayden verordneten Studiums wusste er inzwischen auch, dass die Waffen der NIGHTOWL zwar kaum zu sehen, dafür aber äußerst effektiv waren.

Auf so gut wie jeden von zu Hause gewohnten Luxus mussten sie an Bord verzichten. Die Kabinen waren sechs Meter lang und drei Meter breit. Einen großen Teil der Fläche nahm die Sanitärzelle ein. Eine harte Liegefläche, mehrere in die Wand eingelassene verschließbare Fächer und eine Multimediakonsole waren die einzigen Einrichtungsgegenstände. So etwas wie Fenster gab es nicht. Dafür an der Wand gegenüber der Liege eine große Fläche, auf die man sich je nach Lust und Laune eine Ansicht seiner Wahl projizieren lassen konnte.

Art hatte sie in den letzten Wochen kaum einmal in Betrieb genommen. Er hasste es, sich etwas vorzumachen. Lieber verlor er langsam aber sicher die Nerven in dieser sterilen Umgebung. Früher hatte er sich nie vorstellen können, was im Altertum der Begriff Gefängnis bedeutete, nun hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung davon!

In zwei Tagen, so hatte Jayden ihnen heute eröffnet, würden sie das erste Sprungtor erreichen. Die Erde war zwar schon längst nicht mehr zu sehen, aber irgendwie hatte Art sich immer noch in ihrer Nähe gewähnt. Übermorgen würde auch das vorbei sein. Arktor-System. Art hatte nicht die geringste Ahnung, wo zum Teufel sich das befand und er wollte es auch nicht wissen.

Soviel hatte er über die Sprungtore von Paul ja schon erfahren, dass sie nicht zwei angrenzende Galaxien verbanden, sondern jeweils zwei Punkte des Universums, die unendlich weit auseinander oder unmittelbar nebeneinander liegen konnten. Die Verbindungen zwischen den Galaxien hatte es im Universum schon immer gegeben und auch die Stellen an denen sie sich befanden, waren den Menschen seit Jahrhunderten bekannt. Doch erst die Technik der Aldebaraner hatte es möglich gemacht, diese Verbindungen zu nutzen. Dadurch erst waren die Menschen in der Lage gewesen, die Erde zu verlassen und andere Planeten zu kolonisieren.

Ein leiser, sanfter Gong schreckte Art aus seinen Gedanken. Missmutig blickte er zur Medienkonsole hinüber. Fast hätte er ihr eine abwehrende, beleidigende Geste gezeigt, doch dann fiel ihm ein, dass die Zimmerkamera kurz nach dem Anrufgong automatisch aktiviert wurde, wenn der Kommandant anrief. Und da erschien auch schon Jaydens dreidimensionales Abbild über der Mediakonsole. „Hör’ auf zu Schmollen, Art“, meinte Jayden grinsend. Dann wurde sein Gesicht schlagartig ernst. „Komm schnell hoch, es ist wichtig!“ Mit einem schnellen Flackern erlosch das Bild sofort wieder.

Typisch, dachte Art, weniger hätte er gar nicht sagen können, aber eine Spitze gegen ihn musste wieder dabei sein. Schmollen! So ein Quatsch, nur weil er sich nicht immer von diesem arroganten Kerl herumkommandieren lassen wollte!

Dann richtete er sich aber auf und machte sich auf den Weg nach oben in die Kanzel. Art konnte sich nicht erinnern, Jaydens Gesicht jemals so ernst gesehen zu haben wie eben.

Die drei Anderen standen vor dem gewaltigen Hauptmonitor der NIGHTOWL als Art eintrat. Keiner drehte sich zu ihm um. Erst als er direkt neben ihnen stand sagte Jayden leise: „Hier gibt es Arbeit für dich, Art. Ich habe zwar eine leise Ahnung, aber sicher bin ich mir nicht.“ Als Art ihn verständnislos ansah, tippte er mit einem Finger auf einen, dann auf einen weiteren winzigen Lichtpunkt auf dem ansonsten dunklen Schirm.

„Ter’sa hat sie vor ein paar Augenblicken entdeckt und sie scheinen uns zu folgen“, sagte Pat und sah ihn an.

Art zuckte mit den Schultern. „Zwei Raumschiffe im All, na und?“ fragte er. Jayden verdrehte die Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie – folgen – uns“ sagte er und betonte dabei jedes einzelne Wort.

„Sie wollen eben auch zum Sprungtor.“ Art wusste immer noch nicht, was Jayden wollte. Der seufzte resigniert.

„Ob du so freundlich wärst, die beiden Schiffe zu scannen, Art Karas?“ fragte Ter’sa in die folgende angespannte Stille hinein. Ihre Stimme klang hell und sanft. Fast wie der Anrufgong der Medienkonsole, dachte Art. Dann wurde ihm bewusst, dass das der erste zusammenhängende Satz war, den er aus dem Mund dieser seltsamen Frau hörte und er starrte sie fasziniert an. Sie legte den Kopf auf die Schulter und strich ich langes blaues Haar aus dem Gesicht. „Bitte!“ sagte sie extrem sanft und leise. Art hatte auf einmal das Gefühl, dass sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Dann setzte er sich an seinen Arbeitsplatz.

Da er mit dem Hochfahren der Recheneinheit beschäftigt war, sah er das breite Grinsen in Jaydens Gesicht genauso wenig wie Pats sanftes Lächeln. Ter’sa Gesicht hingegen blieb genauso ernst wie vorher. Aber auch das bemerkte Art nicht.

Ohne große Mühe rief er die beiden fremden Raumschiffe auf den Monitor seiner Konsole. Seine Finger glitten schnell und sicher über die Eingabeeinheit, wählten Befehle und Konfigurationen aus und binnen weniger Minuten zeichneten sich Konturen und bald darauf klare Zeichnungen der beiden Schiffe auf seinem Bildschirm ab.

Erst in diesem Augenblick merkte er, dass die Anderen alle hinter seinem Platz standen und ebenso gebannt auf den Monitor starrten.

„Zwei aldebaranische Kampfschiffe der Delta-Klasse. Ich hab’s geahnt!“ stöhnte Jayden. Art nickte und zog ein Raster über eines der beiden Schiffe um es zu vergrößern und gab noch ein paar weitere Befehle ein. Etwa ein Dutzend rote Punkte erschienen an den Längsseiten des Schiffes. „Und voll aufgerüstet“, setzte er hinzu.

Art blickte Jayden an. „Meinst du, sie haben es auf uns abgesehen?“

Jayden nickte. „Ich denke schon. Aber ich kann nicht sagen, ob sie uns angreifen werden. Ich hab‘ noch nie gehört, dass die Aldebaraner ein ersianisches Frachtschiff angegriffen haben. Vielleicht wollen sie ja wirklich nur wissen, wer sich in der Nähe ihres Sprungtores herumtreibt.“

„Könnten es nicht Zollschiffe sein, die auf Schmuggler aus sind?“ wollte Pat wissen und zwinkerte Jayden zu. „Vielleicht kennen sie die NIGHTOWL ja auch schon.“

Jayden ließ sich auf seinen Platz sinken und hob die Hände. „Glaub mir Pat“, sagte er dann, „ich kenne jedes ersianische, aldebaranische und sonstige Zollschiff, dass in unserer Galaxie unterwegs ist. Hab‘ mit den meisten schon persönlichen Kontakt gehabt.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber solche riesigen Kampfschiffe hat keine Zollbehörde des ganzen bekannten Universums.“

Dann blickte er Ter’sa an. „Können wir sie loswerden?“ fragte er.

„Ich versuche mein Bestes, Kommandant!“ Die Weganerin setzte sich ebenfalls hinter ihre Konsole. „Aber es gibt hier kaum Möglichkeiten, sich zu verstecken oder zu tarnen.“ Setzte sie nach einer Weile hinzu.

Jayden seufzte. „Versuchen wir es!“ Er schaute zu Art. „Du behältst sie im Auge. Und fahr‘ unsere Waffensystem hoch. Nur für alle Fälle.“

Art nickte. Innerlich aber verfluchte er sich. Was war so schlimm daran, dass zwei schwerbewaffnete Kriegsschiffe unterwegs zu dem einzigen Sprungtor der Galaxie waren?

 

Als sie später in die Nähe eines größeren Asteroiden kamen, meinte Ter’sa: „Ich ziehe die NIGHTOWL jetzt mal auf die Rückseite dieses Brockens. Dann werden wir ja sehen, ob sie uns verfolgen oder vorbeiziehen.“

Jayden warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du weißt schon, dass du uns damit in Gefahr bringst?“

„Ich kann einfach nicht glauben, dass die Behörde unseretwegen zwei so große Schlachtschiffe zum Einsatz bringt, selbst wenn sie Wind von unserem Vorhaben bekommen haben und uns ausschalten will.“ Sie schüttelte den Kopf und ihre langen Haare flogen wie ein blassblauer Schleier um ihren Kopf. „Das könnten sie viel einfacher haben.“

Art glaubte, nicht recht gehört zu haben. Die Weganerin gab ihm Recht und noch dazu in einer für sie so langen Rede. Er wollte etwas sagen, doch Jayden winkte ab. „Wenn ihr meint…“

Nach vier Stunden waren die aldebaranischen Schlachtschiffe auf ihrem Weg zum Sprungtor schon an ihnen vorbei und wenig später auf dem Monitor kaum noch zu erkennen.

„Okay, dann geht mal in eure Quartiere und ruht euch aus“, sagte Jayden dann. „Noch sechszehn, achtzehn Stunden, dann sind wir am Sprungtor. Bis dahin wechseln wir uns hier oben wie gehabt ab.“

Während die Anderen die Zentrale verließen, wandte er sich wieder seinem Monitor zu. „ich hab‘ trotzdem ein ungutes Gefühl was diese beiden Aldebaraner betrifft“, brummte er.

 

Wie sich herausstellte, waren Jaydens Sorgen nicht unberechtigt. Als Art, der die letzte Wache vor dem Sprung zu absolvieren hatte, die Zentrale der NIGHTOWL betrat, bot sich ihm auf dem Hauptbildschirm ein eindrucksvolles Bild. Ein großes, silbernes, kreisrundes Gebilde, das in strahlendem Hellblau vor der tiefen Schwärze des Alls leuchtete und sich langsam um die eigene Achse drehte, füllte den Bildschirm fast vollständig aus.

Beim Blick aus der gläsernen Kanzel war das Sprungtor bereits mit bloßem Auge zu erkennen. „Noch sechs Stunden, Art, dann haben wir unsere Galaxie bereits verlassen.“ Pat seufzte. „Etwas aufgeregt bin ich schon.“

Art nahm ihren Platz vor dem Hauptmonitor ein. Er kippte den Sessel etwas zurück und verschränkte die Arme hinter den Kopf. Dann starrte er versonnen auf den Bildschirm. Das Tor sah fast genauso aus wie in den einschlägigen Spielen. Er grinste. Ein Ladebalken wird ja beim Durchfliegen nicht gerade erscheinen, dachte er.

Pat ließ sich an ihrem eigenen Arbeitsplatz nieder. „Wenn du nichts dagegen hast, leiste ich dir etwas Gesellschaft“ sagte sie.

Art nickte und sah sie an. Sie schien ihm noch schmaler geworden als sonst und ihr Blick verriet eine starke Anspannung. Er hatte das noch nie an ihr bemerkt. Aber seit sie an Bord der NIGHTOWL gegangen waren, hatte er sie auch kaum so intensiv beobachtet, fiel ihm ein.

„Hast du Angst?“ fragte er sie leise. Pat atmete tief ein und sagte dann genauso leise: „Irgendwie schon. So ein Raumsprung soll nicht ungefährlich sein und ich hab’s auch nicht so gern, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet.“

Es lag Art auf der Zunge, eine spitze Bemerkung über eine gute Story zu machen, aber er verkniff es sich im letzten Moment. Stattdessen zuckte er mit den Schultern und meinte: „So lebensgefährlich wird’s schon nicht sein. Ich hab‘ jedenfalls noch nie gehört, dass ein irgendein Schiff beim Raumsprung zerstört oder ein Mensch dabei getötet wurde.“

„Es soll aber schon Schiffe gegeben haben, die nirgendwo wieder herausgekommen sind!“ Ter’sa Ras glockengleiche Stimme hing im Raum und ihre Worte schienen von den Wänden widerzuhallen. Weder Art noch Pat hatten bemerkt, wie sie die Zentrale betreten hatte. „Oder zumindest weiß man nicht, wo sie wieder herausgekommen sind“, setzte sie dann hinzu und ging aufreizend langsam zu ihrem Platz.

Wieder einmal erwischte sich Art dabei, wie seine Augen gebannt an ihrem schlanken Körper hingen. Er runzelte die Stirn. „Märchen sind das“, murmelte er, „oder Spukgeschichten, wie man’s nimmt!“

Die hübsche Weganerin warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und wieder hatte Art das Gefühl, dass sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Dann wandte sie sich ihrem Monitor zu und begann, Programme aufzurufen und Befehle in ihre Konsole zu tippen.

Art und Pat sahen sich an und beide hatten das Gefühl, hier überflüssig zu sein. Zum ersten Mal seit sie an Bord gegangen waren, lächelte Pat ihn an und zwinkerte ihm zu. Er griente zurück und wandte sich dann ebenfalls dem Bildschirm zu.

Immer noch drehte sich dort das Sprungtor. Inzwischen waren sie ihm so nahe gekommen, dass es nicht mehr ganz auf den Monitor passte. Deshalb zoomte Art das Bild weiter auf und erstarrte plötzlich. „Verdammter …, das kann doch nicht wahr sein!“ entfuhr es ihm und er hieb mit der flachen Hand auf die Lehne des Sessels.

Die beiden Frauen schraken auf und starrten nun ebenfalls auf den Hauptbildschirm. Deutlich zeichneten sich links und rechts des Tores die Konturen der beiden aldebaranischen Schlachtschiffe ab!

Ter’sa stieß ein paar Worte in einer Sprache hervor, die Art und Pat nicht verstanden, und die alles andere als freundlich klangen.

Dann begab sie sich an ihr Pult, drosselte die Triebwerke der NIGHTOWL auf nahe Null und lehnte sich zurück.

Pat blieb neben Art stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er registrierte es und den warmen Schauer, der ihn überkam.

Nur wenige Augenblicke später wurde die Tür zur Kanzel aufgerissen und Jayden stürmte herein. „Was zum Teufel ist hier …“ Er brach ab, als er das Bild auf Arts Monitor sah. Ein heftiger Fluch entfuhr ihm und den verstanden auch Art und Patricia. Er schlug die rechte Faust in die linke Handfläche und blickte Art lange nachdenklich an. Dann ließ er sich in seinen Sessel sinken. Mit den Zeigefingern massierte er seine Schläfen. Es war totenstill in der Zentrale, die anderen drei anderen starrten Jayden an und er wusste, dass sie auf eine Entscheidung warteten.

Irgendwann blickt er auf und sah Art in die Augen. „Nun ist es an dir“, begann er. „Du musst dich entscheiden. Willst du wirklich weiter oder kehren wir hier um? Denn das da“, er wies auf den Bildschirm, „ist eine deutliche Warnung, Art, das ist dir wohl bewusst.“

Art wurde heiß. Alle Blicke auf sich gerichtet, fühlte er sich äußerst unwohl. In diesem Augenblick wurde ihm so richtig klar, dass er diese drei Menschen einer großen Gefahr aussetzte – für eine Sache, über die er mit sich selbst noch gar nicht im Reinen war.

Er verließ seinen Platz und trat an die Glasscheibe der Kanzel. Sein Blick ging in die tiefe Schwärze und blieb an dem blinkenden kleinen Kreis hängen, an dem zwei riesige Schlachtschiffe sie erwarten würden. Gut möglich, dass soeben die letzten Stunden für ihn und seine Freunde begannen. Er spürte ihre Blicke in seinem Rücken, als er leise sagte: „Wenn ich’s allein tun könnte, würde ich es machen.“

„Das heißt ja“, meinte Ter’sa nur und das Summen der Triebwerke wurde lauter. Art schloss die Augen.

„Haben wir überhaupt eine Chance?“ hörte er Patricia fragen.

„Ich denke schon“, meinte Jayden. „Da haben wir schon ganz Anderes überstanden, stimmt’s Ter’sa?“ Vermutlich nickte die nur und Art war sich nicht sicher, ob er Jayden glauben konnte.

„Dann los, an deinen Platz, Art.“ Jaydens Stimme klang hart und energisch. „Waffensysteme hochfahren. Kampfbereitschaft herstellen. Die Bewaffnung der Aldebaraner scannen.“

„Triebwerke fünfzig Prozent.“ Ter’sas melodische sanfte Stimme klang wie aus weiter Ferne zu ihm herüber.

Während Arts Finger beinahe automatisch über die Tasten glitten, hörte er Patricia sagen: „Weißt du, Jayden, was ich mich die ganze Zeit gefragt habe? Was ist an unserem Vorhaben so wichtig, dass man es auf alle Fälle verhindern will? Es ist doch eine rein private Angelegenheit. Und selbst wenn es Art gelingt, Jessica und die Kinder zur Umkehr zu bewegen, so ist doch weder die Reise der AURORA 4 noch die Kolonisierung des neuen Planeten in Gefahr.“

Art blickte auf. Genau dasselbe hatte er sich auch schon so oft gefragt. Schon damals, als Paul in Angel-City die Sache gleich so dramatisiert hatte. Dass der sich in die Gefahr brachte, seinen Job zu verlieren oder noch härter bestraft zu werden, wenn er Interna der Behörde preisgab, war ja verständlich. Aber er hatte damals schon so etwas gesagt, dass sie alle ihr Leben aufs Spiel setzen würden oder so ähnlich.

Jayden nickte. „Gut Frage, Pat. Ich kann sie dir aber nicht beantworten. Die Sprungtore habe ich schon so oft benutzt und nie hat jemand mir deswegen Ärger gemacht. Die Mission der AURORA 4 ist höchst offiziell. Auch daran kann es nicht liegen. Gut, dass wir die Strecke wissen und Kenntnis von den beiden geheimen Toren haben – aber das ist Pauls Problem. Aber was haben sie davon, wenn sie uns zu Staub zerbröseln? Ich sehe absolut keinen Sinn darin! Es sei denn …“ Er brach ab und starrte Patricia an.

Art bemerkte, dass ihre dunkle Haut eine Spur blasser wurde. „Aber das macht doch erst Sinn, wenn ich die Story habe“, stammelte sie, „und wenn ich die geheimen Tore darin erwähne.“

Jayden zuckte die Schultern. „Ich weiß es wie gesagt nicht. Vielleicht will man einfach von Anfang an ausschließen, dass etwas über die Route und den Bestimmungsort der AURORA 4 bekannt wird.“

„Ich habe mich schon immer gefragt, warum man so ein Geheimnis aus den Zielplaneten der Kolonieschiffe macht“, meinte Patricia nachdenklich.

„Das macht keinen Sinn, weil die ja manchmal Jahrzehnte oder länger brauchen, nachdem sie das letzte Tor passiert haben.“ Art sah Pat an. „Wenn die AURORA 4 an ihrem Ziel ankommt, leben wir vielleicht schon längst nicht mehr und wen soll dann noch interessieren, wo sie hingeflogen ist?“ Er schwieg einen Moment. „Wenn sie das Wega-System verlassen hat, gibt es nichts mehr, was sie mit der Erde verbindet.“

"Na dann", meinte Jayden und ein grimmiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. "Dann bring ich uns mal durch." Er sah zu Art hinüber. "Laserkanonen auf 100 Prozent Leistung, zwei G-Raketen abschussbereit halten, auf mein Kommando warten!"

Dann wandte er sich an Ter'sa. "Du hilfst mir dabei, alles klar?" Die Weganerin nickte und es schien Art, als lächelte auch sie in sich hinein.

„Pat, du schaltest alle Elektronik an deinem Platz aus und schnallt euch alle vorsichtshalber an, wird etwas unruhig werden, die nächsten Minuten."

Patricia nickte etwas verwirrt, folgte aber der Anweisung. "Alles aus!" meldete sie bald darauf.

"Laserkanonen 100 Prozent, zwei Raketen abschussbereit!" Art lehnte sich zurück und verzog das Gesicht.

"Co-Steuerung aktiviert - es kann losgehen!" Ter’sa Ras Stimme klang ruhig und sicher wie immer.

Jayden stieß den Geschwindigkeitshebel abrupt nach vorn, die NIGHTOWL heulte auf und schien einen weiten Sprung nach vorn zu machen. Alle wurden in ihre Sitze gepresst und Art hatte das Gefühl als säße jemand auf seiner Brust. Wie durch' einen Nebel drang Jaydens Stimme zu ihm durch:

"Rechter Laser Feuer!"

In dem selben Augenblick als Art die Feuertaste der rechten Laserkanone betätige, zog Jayden die NIGHTOWL in eine enge Schleife und Art sah auf seinem Display, wie der rote Lichtstrahl auf die Außenhaut des einen Schlachtkreuzers traf.

Von dort erfolgte prompt die Antwort. Am Bug des Kreuzers erschien ein gewaltige Lichtblitz und jagte bogenförmig auf das kleine Raumschiff zu.

Just in diesem Moment schob Ter'sa Ra den Geschwindigkeitsregler auf null und Jayden riss das Raumschiff erneut herum. Der Lichtbogen verschwand in der Tiefe des Alls ohne Schaden anzurichten.

Sofort schoss die NIGHTOWL wieder mit Höchstgeschwindigkeit davon, wurde in einem weiten Bogen herumgerissen, um gleich darauf senkrecht nach oben zu rasen. Jedenfalls fühlte es sich für Art so an.

Noch während er mit sich kämpfte, um nicht seinen Mageninhalt auf das Pult vor sich zu entleeren, sah er auf dem Monitor einen roten Strahl auf die NIGHTOWL zurasen. „Laserbeschuss von vorn!" rief er in den Raum.

"G-Rakete 1 abschussbereit halten" befahl Jayden. Art legte einen Finger auf den Auslöser. Sofort preschte die NIGHTOWL wieder nach vorn.

"Feuer!"

Art drückte den Taster herunter, ehe Jayden zu Ende gesprochen hatte. Ein Aufleuchten auf dem Monitor verriet ihm, dass er den Kreuzer getroffen hatte.

Gleichzeitig riss Jayden das Schiff wieder nahezu senkrecht in die Höhe und drehte es zur Seite um Art die Möglichkeit zu geben, die zweite Rakete abzufeuern.

Doch ehe er den Befehl dazu geben konnte, kippte die NIGHTOWL plötzlich zur Seite und geriet ins Taumeln. "Treffer an Backbordseite" vernahm Art die Stimme der Weganerin. „Ist aber nicht schlimm, nur ein Kratzer würde ich sagen", meinte sie dann.

Jayden ließ das Schiff wie einen Stein nach unten sacken und plötzlich tauchten hinter den Scheiben der Kanzel silbern und bläulich leuchtende Strukturen auf.

"Fertig zum Sprung!" Ter'sa Ras Stimme zitterte leicht.

„Macht euch drauf gefasst, dass der Tanz nach dem Tor gleich weitergeht“, brummte Jayden. „Sie folgen uns bestimmt!“ Dann stieß er mit einer heftigen Handbewegung den Beschleunigungshebel wieder nach vorn.

Zuerst bemerkte Art keinerlei Veränderung. Er hörte noch wie Ter‘sa sagte: „Wundert euch …“ Dann war es plötzlich still und leer. Nichts war mehr da. Kein Raumschiff, keine Person, kein Geräusch, kein Geruch, kein Universum – nur helles Licht. Es war, als schwebe er in einem Meer aus hellem Licht. Art konnte sich weder bewegen, noch fühlen oder denken. Er spürte weder seinen Körper noch konnte er einen Gedanken fassen. Es gibt keinen Begriff für die Zeit die verging bis sich die Helligkeit in ein Farbenspiel zwischen Weiß und Dunkelgrün änderte. Ein schwankender Lichtvorhang tanzte vor Arts Augen herum. Und auf einmal waren auch wieder Gedanken da. So etwas Ähnliches hatte er schon mal gesehen. Ein Licht. Nordlicht. Oder zumindest so ungefähr.

Irgendwann schien aus dem Flimmern eine Gestalt herauszutreten. Eine Frau mit dunkler Haut und langen, schwarzen Haaren in einem engen, blauen Kleid. Er erkannte sie. Patricia. So wie sie in San Franzisco auf den Balkon getreten war. Er hatte damals gar nicht wirklich bemerkt, wie schön sie eigentlich war! Vor seinen Augen begannen die Formen langsam zu schmelzen. Das Gesicht der Frau änderte sich, ihr Haar wurde rot und lockig. Auf dem Arm hielt sie ein Baby. Ein kleines Gesicht mit dunklem Haar wandte sich ihm zu und beide lächelten strahlend. Jessie. Jessie und Jamie! Gefühle kehrten in seinen Körper zurück, durchströmten ihn. Glück und Angst. Liebe und Hass. Jessie – wo bist du? Wieder flossen die Gesichtszüge der Frau auseinander und das Kind wuchs wabernd und flirrend heran. Jetzt stand es, von der Hand der Mutter gehalten, löste sich jedoch auf einmal von ihr und machte ein paar kurze, unsichere Schritte auf ihn zu. Aber das war nicht Jamie – das war er selbst! Die ersten Schritte auf seinen Vater zugehend.

Während der grünliche Lichtvorhang sich nach und nach in Lila- und Rottöne färbte, verschwand die Frauengestalt völlig und das Kind verwandelte sich in ein seltsames Tier. Ähnlich einem riesigen Frosch, mit schuppiger Haut und riesigen roten Augen. Aus seinem Kopf wuchs ein langer, gewundener Rüssel, der sich suchend seinem Gesicht näherte.

Art keuchte und schrie panisch auf. In diesem Moment wurde es urplötzlich finster. Ein heftiger Ruck schien durch seinen Körper zu gehen und Art fühlt, dass sich etwas verändert hatte. Schon bemerkte er, dass das Leben in seinen Körper zurückkehrte, aber alles um ihn herum lag in furchtbarer Dunkelheit! Hatte er das Augenlicht verloren? Was war geschehen?

Während er panisch um sich tastete und die Lehne des Sessels und seinen Händen fühlte, hörte er Jaydens ruhige Stimme: „Ter’sa, Notbeleuchtung an, sofort!“ Sekunden später flammten sanfte, gelbliche Lichter an den Wänden des Schiffes auf und Art erkannte, dass alles nur ein Traum gewesen sein musste.

Jayden schwang sich in seinem Sessel herum und grinste zu Art und Pat hinüber. „‘tschuldigung, ich hätt’ euch warnen sollen. Aber ich wollte es euch einfach erleben lassen!“

Rätsel im All

 

Art hörte, wie Pat tief und heftig ausatmete. „Was zum Teufel war das, Jay?“ fragte sie leise und Art hatte das Gefühl, ihre Stimme noch nie so brüchig gehört zu haben. Er sah zu ihr hinüber und bemerkte trotz des schwachen gelblichen Lichtes, dass ihre sonst so dunkle Haut grau und schweißüberströmt war.

„Während des Fluges durch das Sprungtor werden immense elektrische Ströme freigesetzt. Das führt dazu, dass das menschliche Gehirn nicht mehr richtig arbeiten kann und mitunter auch so eine Art Kurzschluss entsteht. Die Elektronik des Schiffes kommt meist auch nicht ohne Schaden davon. Das ist der Nachteil des Raumsprungs. Aber wenn man sich dran gewöhnt hat, ist es ganz schön!“

„Ich weiß ja nicht, was bei dir schön ist“, meinte Art, immer noch leicht verwirrt.

„Erst mal ein Stück weg vom Tor, denn wenn uns so ein Kreuzer rammt, sind wir nur noch Elementarteilchen“, meinte Jayden, zog das Raumschiff in eine enge Kurve und beschleunigte es wieder. Ein grässliches Knirschen war zu vernehmen und Art hatte das Gefühl, das kleine Schiff würde auseinander gerissen.

„Ter’sa, Statusmeldung“, Jayden kniff die Augen zusammen. Seine Stimme klang ernst und etwas besorgt.

„Nicht möglich, Totalausfall“, meldete die, ging dann zu Pat und sagte: „lass mich mal an deinen Platz, Patricia, ich muss deine Technik nutzen.“

Patricia nickt und stand auf. Jayden trat neben sie. „Deswegen fahren wir vor dem Sprung immer einen Arbeitsplatz total runter“, erklärte er. „Und von deinem Platz aus kann Ter‘sa auf alle Systeme zugreifen.“

„Du scannst mal das Tor, Art, ob die Kreuzer schon durchgekommen sind“, fuhr er dann fort. „Und mach alle Waffen scharf!“

Art nickte und gab die entsprechenden Befehle ein. Nach einem Blick auf seinen Monitor meinte er: „Die Aldebaraner sind nirgends zu sehen.“

Jayden zuckte die Schultern. „Merkwürdig. Aber warten wir noch etwas ab. Wenn sie uns folgen, müssen sie hier heraus kommen.“

 

Zwei Tage später lag das Sprungtor schon weit hinter ihnen und auch von den beiden aldebaranischen Kampfschriften war nichts mehr auf den Monitoren zu sehen gewesen. Überhaupt machte das Arktor-System auf sie einen völlig verlassenen Eindruck. Es gab kein Anzeichen von Leben in diesem System und nicht ei einziges fremdes Raumschiff war in diesen zwei Tagen auf ihren Monitoren aufgetaucht.

Der Autopilot hielt die NIGHTOWL auf Kurs - geradewegs in Richtung des ersten geheimen Sprungtors, das sie aber erst in etwa drei Wochen erreichen würden.

Außer Ter'sa Ra, die alle Hände voll zu tun gehabt hatte, um die Elektronik der NIGHTOWL wieder funktionsfähig zu machen und sich nun um die anderen Schäden kümmerte, hatten sich alle ausgiebig gelangweilt. Selbst Jayden hatte sein ständiges Herumkommandieren und seine nervende Besserwisserei eingestellt und sich sehr oft in seine Kabine zurückgezogen. Art hatte es zufrieden zur Kenntnis genommen.

Die Weganerin war es auch gewesen, die sie alle in den Gemeinschaftsraum gebeten hatte. In die gemütlichen, dunkelblauen Polster gelehnt, sah sie auf die schlanke, so seltsam anmutende Frau. Die strich sich die langen weißblauen Strähnen aus dem Gesicht und sagte dann: "Es gibt ein großes Problem, Freunde. Ich habe einen tiefen Riss an der Außenseite des rechten Transportcontainers gefunden. Keiner meiner Technobots ist in der Lage, diesen Schaden während des Fluges zu beheben." Sie sah in die Runde, stützte dann die Ellbogen auf die Tischplatte und ihren Kopf in die Hände.

"Der Schaden ist durch den Treffer des Kreuzers entstanden?" fragte Art.

Ter'sa nickte. "Vermutlich."

"Und er muss unbedingt behoben werden?" wollte Patricia wissen.

Wieder nickte Ter'sa. "Ein kleiner Kratzer nur, eigentlich nicht weiter schlimm. Aber beim nächsten Sprung könnte es die NIGHTOWL zerreißen."

Pat und Art sahen sie entsetzt an.

"Ihr habt ja gesehen, wie hoch die Belastung für das Material ist", meinte Jayden und dann, an Ter'sa gewandt: „Was schlägst du also vor?"

"Wir sollten landen. Dann ist die Reparatur kein Problem."

Jayden atmete tief durch. "Start und Landung kosten uns eine Menge Treibstoff, Ter'sa" meinte er dann. "Noch mal können wir uns das dann nicht erlauben bis zur nächsten Raumwerft."

Als Ter'sa darauf nicht weiter einging, sah er zu Pat hinüber. "Du suchst uns einen Planeten aus, scannst ihn nach einem vernünftigen Landeplatz und gibst mir sofort Bescheid, wenn du einen gefunden hast."

"Es gibt hier keinen Planeten mit atembarer Atmosphäre, das kann ich euch jetzt schon sagen", gab Pat zu Bedenken.

"Wir brauchen keine Atemluft", meinte Ter'sa. "Die Arbeit erledigt ein spezieller Technobot. Wir bleiben alle an Bord."

„Na gut, betrachte ich es mal als Übung“, knurrte Pat und Art konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

Noch während Patricia sich an die Arbeit machte, verließen Jayden und die Weganerin die Zentrale. Art ließ sich in seinen Sessel sinken und meinte: „Ich leiste dir etwas Gesellschaft.“ Als Pat nicht darauf reagierte, setzte er hinzu: „Mir ist da auch noch was eingefallen, was ich überprüfen muss. Ich will mal sehen ob ich herausbekomme, wie wir den Treffer hätten vermeiden können.“

Patricia murmelte etwas Unverständliches und drehte sich dann zu ihm um und fragte: „Du hast den Kampf aufgezeichnet?“

Art schüttelte den Kopf und lud die eine Menge Daten und Tabellen auf den Bildschirm. „Nein, ich habe in den letzten Tagen alle Daten rekonstruiert und ein kleines Programm gebastelt, mit dem ich in Zukunft alle Kämpfe der NIGHTOWL auswerten und analysieren kann.“

„Du wirst noch mal ein richtiger Kampfexperte.“ Ihre Stimme klang alles andere als belustigt. Dann wand sie sich wieder um und widmete sich ihrer Arbeit.

Art biss die Zähne zusammen und schlug mit der flachen Hand auf die Sessellehne. „Ich hab’s mir nicht ausgesucht!“ Er sagte es lauter, als er gewollt hatte und setzte leise hinzu: „Aber was ich mache, mache ich gewissenhaft!“

Als Art ein paar Stunden später laut durch die Zähne pfiff, fuhr Pat erschreckt hoch. Sie fragte sich, ob sie etwa eingenickt war, während die rote Markierung ihres Scanners über den Planeten auf dem Bildschirm vor ihr geglitten war und unendliche Zahlenkolonen im Vordergrund durchliefen.

Sie drehte sich zu Art um und der sah sie mit einem merkwürdigen Blick an. „Das ist kaum zu glauben, Pat“, sagte er leise. Als sie den Kopf auf die Schulter legte und ihn fragend ansah, setzte er hinzu: „Wir haben uns den Treffer selbst zugefügt, sozusagen.“

Patricia stand auf und trat hinter ihn. Sie legte die Hände auf seine Rückenlehne und versuchte, auf dem Bildschirm etwas zu erkennen. Aber was sie sah, waren nur Tabellen und Diagramme, mit denen sie nichts anfangen konnte.

„Siehst du, hier und hier und auch so?“ Art sah sie fragend an und als sie den Kopf schüttelte, lächelte er. „Na, ich mach’s mal deutlicher.“

Er markierte ein paar Daten und lud ein anderes Programm. Nachdem er die Daten dort eingefügt hatte, erschienen zwei stilisierte Raumschiffe auf dem Bildschirm. Eine gepunktete Linie zog sich vom einen zum anderen. „Das ist unser Schuss auf die Aldebaraner.“ Erklärte Art. „Er hat es voll getroffen, aber aufgrund der Panzerung nicht stark beschädigt. Der Aldebaraner weicht aus“, das eine Raumschiff schob sich nach oben, eine neue punktierte Linie erschien, „und feuert auf uns.“ Art sah Patricia an und die antworte, den Verlauf der Linie auf dem Bildschirm erfassend: „Hätte uns aber nicht getroffen!“

„Genau.“ Art nickte bestätigend. „Und egal, wie ich die Daten des weiteren Kampfverlaufes auch eingebe, mit keinem ihrer Schüsse hätten sie uns auch nur gestreift. Nur die von Jayden durchgeführte, für die Aldebaraner unvorhersehbare, Drehung des Schiffs hat die NIGHTOWL in ihre Schussbahn gebracht.“ Er unterbrach sich und wies erneut auf den Bildschirm. „Welches aldebaranische Kampfschiff hat einen solch schlechten Schützen an den Waffenkonsolen sitzen?“ Kopfschüttelnd sah er zu Pat.

„Keines.“ Es war Jaydens Stimme. Unbemerkt von den beiden hatte er die Zentrale schon zu Beginn von Arts Ausführungen die Zentrale betreten. „Sie wollten uns nur drohen, einfach nur warnen, denke ich.“

Art stand auf und trat auf ihn zu. Er blickte ihm eine Weile in die Augen und sagte dann mit fester Stimme: „Und hätten wir nicht zuerst angegriffen, wäre vielleicht gar nichts passiert!“

Jayden zuckte die Schultern. „Möglich. Oder auch nicht. Auf alle Fälle gilt es, das genauer zu untersuchen.“

Während er schon wieder zur Tür ging um die Zentrale zu verlassen, warf er Art noch einmal einen Blick über die Schulter zu und meinte: „Tolle Arbeit übrigens, dein Programm.“

Art nickte und schaltete die Konsole aus. Er sah zu Pat hinüber, die sich schon wieder ihrem Scanner zugewandt hatte und meinte: „Ich geh mal ‘ne Runde laufen, kommst du mit?“ Doch Pat schüttelte nur mit dem Kopf und wies auf ihren Bildschirm, auf dem sich die rote Markierung langsam über die Oberfläche eines Planeten bewegte.

 

Als Art öffnete die Tür des Fitnessraumes und blieb ruckartig stehen. Das Bild, das sich ihm bot, war einfach überwältigend: Der kleine Raum erstrahlte in einem sanften roten Licht. Es war nicht sehr hell. Art schien es, als habe jemand an einen trüben Tag auf der Erde ein rotes Tuch über den Himmel gezogen. Die Landschaft, die sich vor ihm erstreckte, war flach und steinig. Nur wenige niedrige Pflanzen säumten den schmalen Pfad, der sich um ein paar große Steine zu winden schien.

Auf diesem Pfad war Ter’sa beim Lauftraining. Und das war es, was Art eigentlich den Atem verschlagen hatte. Die Weganerin trug nur ein kurzes zweiteiliges Trainingsoutfit, das hauteng an ihrem schlanken Körper anlag. Die weißblaue Haarpracht hatte sie vergeblich versucht mit einem Stirnband zu bändigen. Noch nie zuvor war ihm aufgefallen, wie muskulös dieser schlanke Frauenkörper doch war. Da war nichts von der Zartheit und Zerbrechlichkeit, die er unter ihrem Raumanzug vermutet hatte.

Sanft schloss sich hinter Art die Tür. Das leise Zischen veranlasste Ter'sa, einen Knopf an ihrem Gürtel zu betätigen, worauf das Laufband geräuschlos langsamer wurde und stehen blieb. Sie drehte sich um und sah Art mit ihren roten Augen an, die in diesem seltsamen Licht noch intensiver wirkten, ja regelrecht zu strahlen schienen.

Art wusste nicht, wohin er blicken sollte. Sie sah einfach umwerfend aus! Vielleicht lag es daran, dass er noch keine Frau mit einem so schmalen Körper gesehen hatte. Aber auch das so hauteng anliegende, metallicblau leuchtende Outfit zog seinen Blick magisch an. Erst als er bemerkte, dass ein belustigtes Lächeln die Mundwinkel der Weganerin zu umspielen begann, riss er sich los und sah sich fragend in der seltsamen, imaginären Landschaft um.

"Wegion 3“, beantwortete Ter'sa seine unausgesprochene Frage, "Meine Heimat. Genauer gesagt: das Earthfield."

Stumm nickend trat Art, eine Fernbedienung aus der Halterung entnehmend und an seinem Gürtel befestigend auf das Laufband direkt neben dem, auf welchem die Weganerin stand. Im Gegensatz zu den auf der Erde üblichen Trainingskammern waren hier vier parallel verlaufende Bänder in den Boden integriert, so dass man miteinander in der projizierten Landschaft spazieren gehen oder auch Wettläufe veranstalten konnte.

Er ließ sein Band in moderatem Tempo anlaufen und begann sein Training. Das seltsame Licht machte ihm ganz schön zu schaffen. Als auch die Weganerin wieder zu laufen begann, schien sich die karge Landschaft ebenfalls in Bewegung zu setzen und an ihnen vorüberzuziehen.

Ter'sa warf Art einen Seitenblick zu und sagte: "Wir befinden uns in etwa 800m Höhe. Die Bergkette, auf der sich das Earthfield befindet, ist nicht die höchste auf Wegion 3, aber immerhin ist diese Hochebene die Landschaft hier, die der Erde klimatisch noch am nächsten kommt. Deshalb ist sie auch als Landefläche für das Kolonieschiff ausersehen wurden.“

Art versuchte, sich ihrem Schritttempo anzupassen, was ihm aber nicht gelang. Aufgrund der unterschiedlichen Bandgeschwindigkeiten blieb er aber dennoch neben ihr. Er sah sich noch einmal in der Landschaft um und stellte dann fest. „Hier war aber zu diesem Zeitpunkt alles bewaldet, oder? Sonst wäre ja so gut wie kein Baumaterial für die erste Stadt vorhanden gewesen, oder?“

Er sah ein seltsames Lächeln in Ter’sas Gesicht und wieder diese roten Augen aufblitzen. „So richtig hast du dich noch nicht mit der wahren Besiedlung von Planeten auseinandergesetzt, oder?“ fragte sie zurück.

Art antwortete nicht und stellte seine Laufgeschwindigkeit eine Stufe höher. Am liebsten hätte er schon jetzt aufgegeben. Diese Frau nahm ihn einfach nicht für voll, das spürte er.

Auch die Weganerin lief jetzt noch etwas schneller. Doch auch trotz der größeren Anstrengung klang ihre Stimme noch ruhig und sanft, während sie weitersprach. „Nach der Landung bildet das Kolonieschiff selbst so eine Art erste Stadt“, erklärte sie. „Je nach Gegebenheiten auf dem jeweiligen Planeten werden dann nach und nach die dort vorhandenen Ressourcen genutzt. Auf Wegion 3 hat man sich entschieden, die natürliche Beschaffenheit des Gesteins zu nutzen und die Stadt in den Fels hinein, unter die Oberfläche des Planeten gebaut. Das machte schon deshalb Sinn, weil man es bei diesem Licht“, sie wies auf die rote Sonne, die gerade vor ihnen hinter einem größeren Felsmassiv verschwand, „wahrscheinlich nicht lange ausgehalten hat.“

Art nickte. Er spürte, wie ihm der Schweiß in Strömen den Rücken hinunterlief und der Weganerin war keinerlei Anstrengung anzumerken.

Die wies nach vorn. „Siehst du dahinten die große Kuppel?“ Wieder nickte Art. „Das ist der Eingang zur Stadt und das Ziel meiner Laufstrecke. Hältst du noch durch?“ Als Antwort schaltete Art sein Band noch eine Stufe höher. Er wagte dabei nicht, Ter’sa anzusehen.

Sein Atem ging stoßweise und auf den letzten Metern wäre er ein paar Mal fast gestolpert, so ausgepowert war er. Die Kuppel entpuppte sich ein riesiges Gebilde aus Stahlträgern und Glas. Davor befand sich eine breite Fläche aus rötlichem Gras, die mit hohen Büschen bestanden war. Erschöpft ließ er sich unter einen von ihnen sinken. Die Simulation war täuschend echt, das Gras angenehm kühl und weich. Art hatte alles gegeben und war nicht mehr in der Lage, Ter‘sa etwas vorzumachen.

Doch die ließ sich ebenfalls ins Gras sinken und nicht etwa ein Stück abseits, wie er erwartet hatte, sondern gefährlich nah bei ihm. Er glaubte beinahe, ihre Nähe auf seiner Haut zu spüren.

Ter’sa drehte sich auf den Bauch und sah zu ihm hinüber. „Du warst richtig gut“, sagte sie und keine Spur von Spott lag in ihrer Stimme. Zum allerersten Mal hatte Art das Gefühl, dass sie etwas ehrlich meinte. Er drehte sich auf die Seite und wandte sich ihr zu. „Du bist aber besser“, sagte er dann, immer noch mühsam nach Luft ringend. „Du bist ja kaum außer Atem.“

Jetzt drehte sich auch Ter’sa auf die Seite und nun berührten sie sich fast tatsächlich. „Das geht bei uns auch gar nicht“, antwortete sie leise und ihre Augen leuchteten jetzt nicht spöttisch, sondern blickten in einem tiefen, dunklen Rot auf Art. „Wir Weganer sind eben in mancherlei Hinsicht anders als ihr. Aber glaub‘ mir: auch ich bin total fertig!“

Sie lagen eine Weile und langsam wurde es dunkel. Art hörte ihren ruhigen Atem und genoss ihre Nähe. Nur wenige Zentimeter war sie von ihm entfernt. Gerade einmal eine Handbreit. Wann war eine Frau ihm das letzte Mal so nah gewesen? Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein.

Ausgerechnet in dem Augenblick, als er sie wie aus Versehen berühren wollte, flammte grelles Licht auf, die Illusion erlosch und Pat’s Stimme ertönte aus dem Deckenlautsprecher: „Alle in die Zentrale – alle in die Zentrale – Möglichen Landeplatz gefunden!“

Ter’sa atmete tief durch und sagte: „Dann sollten wir mal schnell duschen gehen und uns umziehen“ Als Art nickte und aufstand, setzte sie hinzu: „Jeder für sich natürlich.“

 

Als sie die Zentrale betraten, stand auch Jayden bereits an Patricias Arbeitstisch. Auf dem Monitor vor ihr war in verschiedenen Farbtönen das plastische Bild einer Planetenoberfläche zu sehen. Art erkannte ein gewaltiges Hochplateau, das aber im Gegensatz zu dem, was Ter'sa im Trainingsraum eingespielt hatte, zum großen Teil bewaldet zu sein schien. Die Mitte des Bildschirms nahm allerdings eine gewaltige, rötlich leuchtende, Erhöhung ein, die durchaus eine Bergkuppe oder ähnliches hätte sein können, wenn die rötliche Färbung nicht eindeutig Metall dargestellt hätte.

"Ich habe mal den Arcorio gescannt, den einzigen Planeten, auf dem wir meiner Meinung nach hier überhaupt landen könnten", begann Pat und wies auf den Monitor. "Und das habe ich gefunden."

"Eine Basis oder so was vielleicht", mutmaßte Jayden. "Aber wer um alles in der Welt, würde hier so eine riesige Station errichten?"

"Und für was sollte das gut sein?" Ter'sa schüttelte den Kopf. "Hast du mal gescannt, ob irgendwelche Impulse oder Signale von dem Ding ausgehen?"

Pat nickte. "Hab' ich gemacht - war aber negativ. Keinerlei Aktivitäten zu verzeichnen. "

Art war inzwischen hinter sie getreten und stützte die Hände auf ihre Rückenlehne. Als er sich nach vorn beugte, war sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem ihren. "Das Grüne da ist Wald, richtig?", fragte er.

Pat nickte. "Das Gebilde ist völlig davon umgeben, teilweise scheint es auch davon überwuchert zu sein." Sie zögerte. "Wenn das Ding nicht eindeutig aus Metall wäre, würde ich sagen, es ist ein Berg."

Art starrte auf den Bildschirm, dann stutzte er plötzlich und sagte mit rauer Stimme: "Kannst du den Wald mal ausblenden?"

Stumm berührte Pat einen Sensor der Konsole und die grüne Fläche verschwand vom Bildschirm. Stattdessen waren jetzt auf fast der gesamten Fläche verstreut kleinere rötliche Flecke zu erkennen.

"Was ist das?" fragte Ter'sa.

Art biss sich auf die Lippen und meinte dann: "Ich hab' einen ganz schrecklichen Verdacht. Gib mir mal die Koordinaten rüber, Pat."

Dann ging er zu seinem Platz, lies sich in seinen Sessel sinken und lud ein Programm auf seinen Bildschirm. Bald darauf hatte er ein annähernd gleiches Bild auf dem Monitor wie Pat, nur in anderen Farben. Dann glitten seine Finger hastig, fast ein wenig nervös, über die Eingabesensoren.

Nach einer Weile stutzte er, gab neue Befehle in die Konsole ein und lehnte sich dann kopfschüttelnd zurück. „Also“ begann er dann, „ich kann eingeben, was ich will: Es ergibt keinen Sinn. Die einzige Raumschiffklasse, die annähernd übereinstimmt, ist die PERSEUS-Reihe.“

„Die berühmteste und größte Baureihe von Kolonieschiffen der Erde“ bestätigte Patricia. „Die kennt wohl jeder.“

„Richtig.“ Art nickte, berührte einen weiteren Sensor und das Bild erschien jetzt auf dem riesigen Hauptmonitor. Es zeigte jetzt die weite Fläche mit der hohen, jetzt grau unterlegten Erhebung, über der nun ein engmaschiges Raster lag. Innerhalb dieses Gitternetzes war eine weitere, dunkel eingefärbte, Form zu erkennen, deren oberes Ende sich, abgesehen von einigen Abweichungen, mit der Erhebung deckte, aber außerdem zu zwei Dritteln noch diagonal nach unten, sozusagen in das Hochplateau hinein, reichte. Neben der Darstellung stand jetzt ein Wort: "PERSEUS".

Alle vier starrten sie auf den großen Bildschirm, ohne recht begreifen zu können, was sie da sahen. Erst als sich Art aus seinem Sessel erhob und leise sagte: "Ein Raumschiff der PERSEUS-Klasse ist es nicht. Dazu sind mir zu viele Abweichungen vorhanden. Aber einer anderen Klasse kann ich die Form überhaupt nicht zuordnen. Es gibt im ganzen Universum kein Schiff diesen Typs.“

„Vielleicht ist es gar kein Raumschiff gewesen oder das eines unbekannten Volkes?“ Ter’sas Stimme klang, als ob sie selbst nicht glaube, was sie da sagte.

„Dazu sind die Abmessungen und alle anderen Daten zu eindeutig“ erwiderte Art. „In dem vor uns liegenden Heckteil des Schiffes befinden sich vermutlich Maschinenräume und Lager, genau wie bei den Schiffen der PERSEUS-Reihe.“

Patrica, die ebenfalls noch einmal ihren Scanner über das Wrack gezogen hatte, nickte. „Es besteht aus einer typischen, auf der Erde vor ungefähr fünfhundert Jahren verwendeten Legierung. Das hier“, sie wies auf den Bildschirm, „ist definitiv ein Raumschiff der Erde.“

Jayden, der während des Disputes auf und ab gegangen war, blieb jetzt vor dem großen Monitor stehen und fragte: „Gibt es nichts, was uns einen Hinweis auf die Identität des Schiffes geben könnte?“

Art überlegte. „Nichts“, sagte er dann. „Es sei denn, man hat den Namen des Schiffes auch auf die großen Geräte geschrieben. Was ich zwar nicht glaube, aber früher war das mal üblich.“

Jayden nickte, überlegte einen Moment und wandte sich dann an Patricia. "Du meinst, dass Plateau wäre ein günstiger Landeplatz?"

Pat nickte. "Wir müssten allerdings ein paar Bäume beseitigen. Das sollte aber kein Problem sein." Sie sah zu Art hinüber und der grinste breit.

"Ich wollte sowieso mal ausprobieren, ob die Laser noch funktionieren", meinte er.

Jayden gab sein Okay und blickte Ter'sa an. "Bring uns runter und das Baby wieder in Ordnung. Und ihr seht zu, dass ihr herausbekommt, was das für ein Schiff ist!" Er sah zu Pat und Art hinüber. „Kannst du uns einen Zugang brennen, Art?“

„Selbst wenn es uns gelingt – das kostet uns wieder jede Menge Energie“, mischte sich Ter’sa ein.

Jayden sah sie an. „Du sorgst dafür, dass wir den nächsten Sprung heil überstehen und ich bring uns so sparsam wie nötig zur nächsten Raumwerft, in Ordnung?“

 

Während der schmale rote Strahl lautlos durch den Wald glitt und alles Grün in Sekunden verdampfte, sank die NIGHTOWL langsam dicht neben dem verunglückten Raumschiff auf den Boden des Plateaus nieder.

Erst hier unten konnte man die wahren Ausmaße des gigantischen Schiffes erahnen, das sich, obwohl beim Aufprall die vorderen zwei Drittel zerrissen, ja regelrecht pulverisiert wurden waren und nur noch die Heckpartie neben ihnen aufragte, wie ein grauer Berg in den Himmel erhob. Das stumpfe graue Metall war von Flechten und Lianen überwuchert.

Während Ter’sa Ra damit begann, einen der Technobots auszuschleusen und das Geschehen auf ihrem Monitor verfolgte, begann Art, mit dem Laserstrahl die feste Außenhaut des riesigen Schiffes aufzuschneiden.

Beinahe zwei Stunden benötigte er dafür. Dagegen war das Vordringen in den Lagerraum dann ein Kinderspiel.

Ter’sa aktivierte einen zweiten Roboter, der, mit einer Kamera ausgerüstet, zu dem Wrack hinüberflog. Sie lenkte den Roboter in die Mitte der riesigen Halle. Auf dem Boden waren Halterungen angebracht, auf denen während dem Flug sicher die großen Maschinen und Geräte befestigt gewesen waren. Der Aufprall aber hatte alle aus ihren Halterungen gerissen und gegen das Schott zum davor befindlichen Raum geschleudert. Die Halterungen selbst hingen als verdrehte, hässliche Gerippe nun mitten im Raum.

Während die Weganerin den Roboter weiter in Richtung der Maschinen steuerte und dann entlang dieses Haufens Schrott, als etwas anderes konnte man es nicht mehr bezeichnen, versuchte Art erfolglos auszumachen, um was für Geräte es sich einmal gehandelt haben mochte.

„Stopp, zurück, Ter’sa“, rief er plötzlich. „Langsam, halt. Siehst du die rote Schrift auf der Maschine da?“

Ter’sa zoomte die kaum erkennbare Schrift heran. Dann stand in riesigen roten Lettern „ODYSSEUS 3“ auf dem Bildschirm.

 

„Unmöglich“, Pats Stimme klang ungläubig. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und auch Jayden schüttelte fassungslos den Kopf. Er sah Art an und fragte: "Hast du Datenbanken diesbezüglich?"

„Es gibt so ein populäres Lexikon aller Schiffe der Erde. Da stehen aber nur ganz allgemeine Angaben drin. Ich kann‘s ja mal versuchen.“

Er ging zu seinem Platz hinüber, lud die Datei auf seinen Monitor und pfiff nach ein paar Augenblicken durch die Zähne. „Bei der ODYSSEUS“, las er dann vor, „handelte es sich um einen Prototypen der heutigen Kolonieschiffe. Ein ehemaliges Transportschiff wurde umgebaut und für den Zweck des interstellaren Fluges getestet. Doch der Versuch schlug fehl. Die ODYSSEUS hat das System der Erde nie verlassen. Sie wurde auf der Raumwerft der Erde demontiert und in ihrer Weiterentwicklung entstand dann später die legendäre PERSEUS-Reihe.“

„Das klingt, als habe es nur ein Schiff dieses Typs gegeben“, meinte Jayden.

„Was aber definitiv nicht so ist“, entgegnete Patricia und wies auf den Monitor.

„Es könnte aber doch sein, dass man die Tests noch eine Weile fortgesetzt hat, ohne es an die Öffentlichkeit zu bringen.“

„Auch damals schon hätte die Öffentlichkeit solche Dinge erfahren“, knurrte Patricia.

„Ich glaube aber nicht, dass es sich hier um einen Testflug gehandelt hat.“ Ter’sas Stimme war ruhig und klar, wie immer. „Wozu hätte ein unbemanntes Schiff so ein Lager gebraucht?“ Ter’sa wies auf ihren Monitor und schaltete das Bild auf den großen Hauptschirm. Gigantische Lebensmittelbehälter waren zu sehen, fest in den Wänden des Raumes verankert. Pakete, Tanks und stählerne Kisten. Minutenlang flog der Robot an ihnen vorüber. Das Bild änderte sich kaum.

„Das da“, Jayden konnte kaum an sich halten und wies mit ausgetrecktem Zeigefinger auf die Scheibe der Zentrale, hinter der sich die gigantische graue Masse ausbreitete, „ist ein irdisches Kolonieschiff der ersten Generation, vor über fünfhundert Jahren auf einer Raumwerft der Erde gebaut. Daran besteht keinerlei Zweifel.“

Patricia ging zu ihm hinüber und legte eine Hand auf Jaydens Schulter. „Vielleicht kann Paul etwas herausbekommen“, sagte sie sanft.

Mit Paul Hartmann standen sie in losem Kontakt. Etwa einmal in der Woche nahmen sie mit ihm Verbindung auf. Bisher hatten sie sich aber hauptsächlich auf ihr normales Spiel zurückgezogen und versucht, keine Einzelheiten des Fluges zu besprechen, auch wenn die Verbindung über seinen privaten Kommunikator stattfand.

"Ja", meinte dann auch Jayden, "das halte ich auch für notwendig. Ich wollte ihn sowieso fragen, was er von dieser seltsamen Geschichte mit den Aldebaranern hält. Da kann ich gleich das abgestürzte Kolonieschiff hier ansprechen. Wenn wir irgendwo etwas darüber in Erfahrung bringen können, dann in der Behörde.“ Mit diesen Worten verließ er die Zentrale.

Art starrte eine Weile stumm aus dem Fenster. „ODYSSEUS 3“ sagte er dann mit bebender Stimme und Patricia wusste, dass er an ein ganz anderes Kolonieschiff dachte.

Lug und Trug

 

Jayden hatte während des am Abend planmäßig stattfindenden Spieles Paul wie nebensächlich von ihren Feststellungen informiert und um Hilfe bei der Aufklärung gebeten. Der Freund hatte etwas herumgedruckst, dann aber versprochen, Nachforschungen anzustellen. Seit dem waren Tage vergangen und die NIGHTOWL hatte das nächste Sprungtor fast erreicht, doch Paul hatte sich nicht gemeldet.

Ter’sa Ra befand sich in der Zentrale und beobachtete argwöhnisch alle Anzeigen während Patrica sich in der Bordküche zu schaffen machte. Einmal in der Woche ließ sie es sich nicht nehmen, aus den Vorräten selbst etwas zuzubereiten statt das Essen durch die Küchenautomaten aufbereiten zu lasse. Sonntag nannte sie das. Jayden hatte sich etwas hingelegt und Art saß gelangweilt in seiner Kabine vor der Multimediakonsole. Er war genervt. So langsam hatte er genug von diesem Flug durch diese Unendlichkeit. Seit dem sie in diesem Arkor-System unterwegs waren, hatten sie, abgesehen vom Wack der ODYSSEUS 3, kein Raumschiff zu Gesicht bekommen, kein Funksignal empfangen und nur hin und wieder einen trostlosen Planeten auf den Bildschirmen vorbeiziehen sehen. Selbst für ihn, der mal gut hatte mit Langeweile umgehen können, war das eindeutig zu einsam. Deshalb hatte er sich daran gemacht, das Typenerkennungsprogramm zu verbessern und mit Daten von bekannten Raumschiffen zu ergänzen. Er versuchte, Angaben zu Besatzung, Geschichte, Bewaffnung und der dergleichen zu erfassen, musste aber bald schon feststellen, dass ihm nicht genügend Informationen in seinen Datenbanken zur Verfügung standen.

Ein heller Signalton riss ihn aus seinen Grübeleien. Auf dem Bildschirm der Mediakonsole erschien eine Anweisung: „Alle in die Zentrale – Nachricht von Paul“.

Art sprang auf. Sie hatten tagelang vergebens auf einen Anruf von Paul gewartet. Auch ihrem Spiel war er das erste Mal seit Jahren fern geblieben. Selbst Jayden war in den letzten Tagen die Unruhe anzumerken gewesen.

Art traf gleichzeitig mit Pat in der Zentrale ein, Jayden kam nur wenige Augenblicke später. „Als Paul sich heute nicht gemeldet hat, hab‘ ich mal nach meinen Nachrichten gesehen und dabei das gefunden“, begann er und schaltete die Ansicht seines Arbeitsplatzmonitors auf den Hauptbildschirm.

Ein zweidimensionales Bild von Paul erschien. „Was ist das denn?“, wollte Ter‘sa wissen.

„Warte, es kommt noch besser“, meine Jayden. „Das ist eine Videobotschaft – eine uralte Nachrichtenform, die so heute längst keiner mehr nutzt, sowas Ähnliches wie ein uralter, zweidimensionaler Film.“

Gespannt sahen sie zu, wie Pauls Bild sich zu bewegen und zu sprechen begann. Der Ton war nicht ganz klar, aber verständlich.

„Ich habe heute versucht, deine Fragen betreffs Odysseus List zu beantworten, Jerome“, begann Paul und alle vier sahen sich verständnislos an. „Naja, ich hab‘ dazu das Auskunftssystem meiner Firma benutzt, was natürlich bemerkt wurde.“ Paul nahm umständlich seine altertümliche Brille ab und begann sie zu putzen, während er weitersprach. „Das wird wohl nicht ohne Folgen bleiben. Ich denke, du wirst eine Weile auf meine Spielteilnahme verzichten müssen. Leider muss ich dir auch sagen, dass ich absolut nichts herausbekommen habe, außer dass es irgendwie um einen antiken Krieg ging. Keine Ahnung, ob es das war, was du wissen wolltest.“ Der Paul auf dem Bild schob sich seine Brille wieder auf die Nase und nickte. „Auf alle Fälle grüße Art ganz herzlich von mir, wenn ihr euch mal wieder online begegnet und sag ihm, dass er ruhig mal wieder in die Gary-Wineman-Bar gehen soll. Ist zwar ganz schön teuer da, aber immer noch besser, als daheim rumzusitzen.“ Er sah ziemlich blass aus, als er hinzusetzte: „Ich hoffe, die Firma geht nicht zu sehr mit mir ins Gericht und ich kann mich bald mal wieder melden!“ Dann erlosch das Bild auf dem Monitor.

„Versteht ihr das?“, fragte Jayden. „Ich hab‘ keine Ahnung was er damit sagen will!“

Ter’sa drehte sich um und sah Jayden an. „Eines ist mal sicher: Er wollte uns helfen und hat das Computersystem seine Behörde genutzt. Dabei wurde er erwischt und nun wollen sie ihn vor Gericht stellen, denke ich. Vermutlich denken sie, er hat für jemanden spioniert.“

Jayden nickte. „Er spricht nur mich und dann auch mit meinem Spielernamen an, um euch zu schützen, falls sie die Nachricht finden, das ist klar. Wenn sie über mich Nachforschungen anstellen, finden sie eh‘ heraus, dass ich es mit den Gesetzen manchmal nicht so genau nehme. Aber was soll das, wenn er nichts herausgefunden hat und was bedeutet der ganze andere Unsinn?“

„Das ist kein Unsinn“, meine Art und sank in seinen Sessel. „und Paul hat irgendwas herausgefunden. Er kann es nur nicht sagen. Mit mir hat er das Spielchen schon mal gemacht, eine Nachricht als Rätsel zu verpacken. Das meint er mit der Gary-Wineman-Bar.“

Patricia nickte. „Genau. Er hat für uns über die ODYSSEUS 3 recherchieren sollen. Was will er uns also mit der List sagen? Darum ging es doch gar nicht. Hier scheint aber die Lösung zu liegen. Sagt das einem von euch was: Odysseus – List – Krieg?“ Sie ging aufgeregt in dem kleinen Raum auf und ab. „Alles andere war dann nur noch Ablenkung vom Thema, glaube ich. Und irgendwas sagt mir, dass ich diese Worte schon mal gehört habe.“ Verzweifelt sah sie die anderen an. Ter’sa und Jayden schüttelten nur ratlos die Köpfe. Art aber ließ seine Finger bereits über die Eingabetasten seiner Konsole gleiten. Dann grinste er. „Na bitte, da ist es ja! Odysseus war ein Held aus der Antike Griechenlands. Seine List hat was mit dem Krieg um die Stadt Troja zu tun. Diese konnte viele Jahre nicht eingenommen werden. Dann schlug Odysseus vor, sich scheinbar von den Mauern der Stadt zurückzuziehen. Die Bewohner von Troja stellten dann am Morgen fest, dass ihre Feinde zwar verschwunden waren, aber ein riesiges Holzpferd dagelassen hatten. Das zogen sie als Kriegsbeute in ihre Stadt hinein. Was sie nicht wussten war, dass sich Odysseus mit seinen Männern in dem Pferd versteckt hatte. In der Nacht kletterten sie dann heraus, überwältigten die Wachen und öffneten das Stadttor. Damit konnte Troja dann eingenommen werden.“

„Schön und gut, aber was soll uns das sagen?“ Ter’sa sah ihn fragend an und ihre roten Augen blitzten. Art zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Irgendwas daran kommt mir aber seltsam bekannt vor.“ Er stand jetzt auch auf und begann im Raum hin und her zu laufen, wobei er mit den Zeigefingern seine Schläfen massierte.

Pat sah ihn an und meinte dann: „Ich glaube, Paul hat nicht einfach so deinen Namen erwähnt. Es muss irgendetwas mit dir zu tun haben, vielleicht kannst nur du die Lösung des Rätsels wissen und Jayden nicht. Deshalb soll er dich grüßen, verstehst du?“

Art nickte. „Schon möglich. Aber was könnte das sein? Was kann ich wissen, dass ihr nicht wisst?“

Nachdenklich schwiegen alle vier.

„Spezialwissen“ sagte Ter’sa plötzlich. „Kann es was mit deiner Arbeit zu haben? Deinem Hobby? Mit Programmen?“

Art sah sie an und musste plötzlich lächeln. „Na klar, ich glaub‘ ich weiß, was Paul meint. Muss bloß noch was prüfen.“ Mit diesen Worten ließ er sich wieder an seinem Arbeitsplatz nieder und gab ein paar wenige Worte ein. Dann nickte er. „Das ist es, glaube ich“, meinte er dann.

Er sah die anderen grinsend an. „Als die Computertechnik noch ganz in den Anfängen steckte und solche Nachrichten“, er wies auf den inzwischen schwarzen Hauptmonitor, „der allerneuste Schrei waren, machten sich gewitzte Programmierer manchmal einen Spaß daraus, sogenannte Trojaner zu entwickeln. Das waren kleine Programme, die man in einem anderen Programm oder einer Datei wie dieser Nachricht eben, verstecken und auf einen anderen Computer schicken konnte, ohne dass es der Empfänger bemerkte. Damit konnte man dann allerlei Unfug oder auch riesigen Schaden auf dem fremden Rechner anrichten. Inzwischen macht das aber keiner mehr, weil die Schutzsysteme so ausgereift sind, dass das eh‘ nicht mehr funktionieren würde.“

Jayden sah ihn nachdenklich an und trat auf ihn zu. „Bist du sicher, dass es nicht funktionieren würde?“, fragte er. „Wenn heute jemand so einen altertümlichen Trojaner basteln und übersenden würde, bekämen das unsere modernen Sicherheitsprogramme überhaupt noch mit?“

Jetzt war es Art der ihn verstört und zweifelnd ansah. Dann ließ er sich langsam wieder in seinen Sessel fallen. „Vielleicht auch nicht“, sagte er leise. „Mit den alten Dingern rechnet gar keiner mehr. Vielleicht würde unsere heutige Software sowas Simples tatsächlich nicht mehr erkennen. Oder man sucht gar nicht mehr danach, weil‘s ja eh‘ keiner mehr programmiert.“ Er ließ seine Finger wieder über die Tasten flitzen. „Einen Versuch ist es auf alle Fälle wert“, meinte er dann. „Aber wie finde ich das Ding?“ Er sah Jayden an. „Ich brauche die Videodatei und etwas Zeit.“

Sie sahen im interessiert und gespannt zu, ohne zu verstehen, was er da tat. Immer tiefer taste er sich in Pauls übersendete Datei vor. In Abständen knurrte er vor sich hin. „Wo bist du bloß, wie hat er dich getarnt?“ Ab und zu lehnte er sich zurück und starrte verzweifelt auf den Monitor. „Was gehört hier nicht her? Wo steckst du nur?“ Je länger er suchte, desto verzweifelter wurde er. Das konnte doch nicht sein. Irgendwo musste Paul was versteckt haben. Er schwitzte vor Anspannung und weil er sich beobachtet fühlte.

Dann, endlich nach mehr als einer Stunde, lächelte er plötzlich. „Da bist du ja, mein Schatz!“ Art nickte. „Das muss es sein.“ Er sah die anderen an. „Das Schwierigste wäre geschafft. Jetzt nur noch … Moment … und: da ist es!“

Er stand lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

„Was ist das?“ wollte Jayden wissen.

Art zuckte die Schultern. „Werden wir gleich sehen. Auf alle Fälle ist es wohl kein Programm, wonach ich zuerst gesucht habe, sondern ein Paket aus mehreren winzigen Dateien.“

„Dann pack das Paket doch mal aus“, meinte Patricia und zwinkerte ihm zu.

„Manche Pakete sollte man lieber nicht öffnen.“ Jaydens Stimme klang etwas beunruhigt. „War da nicht auch was mit einer griechischen Göttin oder so?“

Als er das völlige Unverständnis in den Gesichtern der anderen sah, setzte er hinzu: „Wie war das vorhin mit dem Schaden, den man auf dem anderen Rechner anrichten kann?“ Doch als er die Blicke der anderen sah, schüttelte er den Kopf. „Kann mich ja auch irren.“

Art hatte inzwischen weitergearbeitet und eine Reihe kleiner Symbole auf den Bildschirm gezaubert. „Das sind Tabellen und Schriftstücke“, sagte er dann leise. „Berichte, Bewertungen, Anweisungen, Statistiken, wie es aussieht. Das ganze trägt die Bezeichnung „COLONI.“

„Was soll das denn sein?“ fragte Patricia und Art zuckt die Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Am besten, wir sehen uns an, um was für Dokumente es sich handelt.“

Während er eine Datei nach der anderen öffnete und studierte, wurde er immer blasser und schloss immer öfter die Augen. Irgendwann erhob er sich und verließ die Zentrale, ohne ein Wort zu sagen oder die Dateien zu schließen.

 

Tage später hatten sie ohne größere Probleme das Sprungtor ins Perista-System passiert. Art stand in der Zentrale und starrte in die Finsternis hinaus. Er hatte die Hände hinter den Gürtel seines Raumanzuges geschoben und rührte sich auch nicht, als er das Zischen der Tür vernahm.

Jemand stellte sich ganz nah hinter ihn. Art wusste, dass es Patricia war. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Sie schien seit einigen Tagen immer zu spüren, wenn er allein sein wollte und brachte sich ausgerechnet dann in seine Nähe.

„Sie werden im Wega-System auftauchen, Art.“ Sie legte ihre Arme um ihn und er schob sie weg. „Wir können sie warnen, glaub mir.“

„Und dann?“ Art starrte weiter hinaus in die Dunkelheit. Die AURORA 4 kann nicht wieder auf der Erde landen, das ist dir bewusst, oder? Sie würde beim Eintritt in die Atmosphäre verglühen, Pat.“ Er schüttelte den Kopf und sie wusste, dass er mit den Tränen kämpfte, die in ihm aufstiegen. „Sie haben sie ganz bewusst so konstruiert.“ Er flüsterte es.

„Auf Paraleon 5 können sie landen, wenn die Daten in den Akten stimmen“ meinte Pat. Art nickte. „Und die Menschen müssten nicht unter der Erde hausen, wie die Weganer.“ Er schluckte. „Das würde Jessie gefallen!“ Dann drehte er sich um und sah Pat in die Augen. „Sie liebt Bäume, Pat, und Wiesen, auf denen die Kinder herumtollen können!“

„Wir nehmen Jessie und die Kinder mit zurück“, sagte Pat sanft, doch Art schüttelte den Kopf. „Nein, Pat. Selbst wenn wir hier zusammenrücken, sie würden das nicht wollen. Denn da sind noch über zweitausend andere, die dieses Glück nicht hätten!“ Er schwieg einen Moment und setzte denn leise hinzu: „Und überhaupt, ich hatte das nie vor. Jedenfalls nicht mehr seit dem Abend in San Franzisco.“

Patricia starrte ihn an. „Aber wieso?“, stammelte sie.

Art zuckte die Schultern. „Ich wollte zu ihnen“, sagte er dann. „Ich habe schon vorher gewusst, dass sie nicht mit zurückkommen wird. Aber dort ist mir klar geworden, dass ich sie trotz allem nicht verlieren will. Ich hätt’s euch schon noch gesagt. Später. Ich wollte nur zu ihnen und dann mit ihnen fliegen.“

„Du hättest gar keinen Platz in einer der Tiefschlafkabinen gehabt“, wandte Pat ein. Art lächelte schwach. „Irgendjemanden hätte ich schon davon überzeugt, mit euch zurückzufliegen. Von der Besatzung oder den Kolonisten, so hatte ich wenigstens gehofft. Und außerdem müssen sie ja Reservekabinen haben.“

„Und jetzt?“

Art ging ganz langsam zu seinem Platz und ließ sich in den Sessel sinken. Dann vergrub er das Gesicht in den Händen. „Ich glaube nicht, dass das noch eine Rolle spielt.“

Seine Worte waren kaum zu verstehen, doch Pat wusste, was er sagen wollte.

„Zwanzig Prozent“, sagte sie leise und ging auf ihn zu. „Zwanzig Prozent, Art. Warum sollte ausgerechnet die AURORA 4 dabei sein?“

Art zuckte die Schultern. „Ich weiß es eben.“ Seine Stimme bebte. Pat legte die Hände auf die Rückenlehne seines Sessels. „Achtzig Prozent der Schiffe sind wahrscheinlich an ihrem Bestimmungsort angekommen, Art. Das ist doch positiv, oder?“

Er drehte sich zu ihr um und ihre Hände rutschten herunter. „Du sagst es, Pat: Wahrscheinlich!“ Er stand auf und ging wieder zum Fenster hinüber.

„Bei gerade mal vierzig Prozent aller Kolonieschiffe weiß man genau, dass sie ihren Zielplaneten definitiv erreicht haben. Und davon fallen zehn Prozent unter die allerersten. Die, die in Systemen gelandet sind, die mit Sprungtoren untereinander verbunden sind!“

Patricia nickte langsam. Es war ungeheuerlich. Bei den von Paul übersendeten Dateien handelte es sich um geheime Dokumente, aus denen klar hervorging, dass die Behörden die Menschen über Jahrhunderte bewusst belogen hatten. Art hatte in den Unterlagen Beweise dafür gefunden, dass man in den Nachrichtensendungen die glückliche Ankunft von Kolonieschiffen auf dem Zielplaneten verkündet hatte, obwohl man in Wahrheit keine Ahnung vom Verbleib des Schiffes hatte oder sogar von einer Katastrophe wusste, wie im Fall der ODYSSEUS 3.

Aus den jährlichen Berichten der Behördenmitarbeiter ging auch hervor, dass sogar die Ursache seit vielen Jahrzehnten bekannt war. Die Sprungtore der Aldebaraner hatten Schwachstellen. Immer wieder geschah es, dass Raumschiffe, nicht nur die großen Kolonieschiffe, nach dem Eintritt in ein Sprungtor einfach verschwanden. Keiner konnte sagen, ob sie irgendwohin geschleudert, oder zerstört worden waren. Für keine der beiden Möglichkeiten hatte man bisher irgendwelche Anhaltspunkte oder Beweise gefunden.

Ter’sa war nicht glücklich darüber gewesen, als Art ihr erzählt hatte, dass die Gerüchte, die er wenige Tage zuvor noch für Märchen gehalten hatte, tatsächlich wahr waren.

Es stimmte auch nicht, dass man den Flug des Schiffes bis zur Landung auf dem Zielplaneten technisch verfolgte und die Kolonisten nach der Landung entscheiden konnten, ob sie den Kontakt zum Mutterplaneten aufrecht erhalten wollten oder nicht. Vielmehr fungierten die Sprungtore auch als Funkzellen und nach dem Durchqueren des letzten Tores brach auch die Funkverbindung zum Schiff ab.

Die einzigen Quellen, die verlässlich bestätigten, dass ein Kolonieschiff sicher angekommen war, waren unbemannte Sonden, die durch den Kapitän des Schiffes nach der Landung zurückgeschickt wurden. Diese strahlten bei Erreichen des ersten Sprungtores Signale aus, die dann zur Erde weitergeleitet wurden.

Die Mitarbeiter einer kleinen Spezialabteilung der EKB waren ausschließlich mit der Datensammlung und der Steuerung von Informationen über den Verbleib der Kolonieschiffe beschäftigt. Das Ergebnis war ernüchternd: Für die Behörde war nur wichtig, dass die Anzahl der Erdbewohner nicht weiter stieg. Was mit den Kolonisten geschah, nachdem sie das erste Sprungtor hinter sich gelassen hatten, interessierte recht wenig. Aus den Berichten der Mitarbeiter wurden fast ausschließlich Falschinformationen erstellt und den Medien zur Berichterstattung übergeben.

Wie eben im Falle der ODYSSEUS-Schiffe. Nach den Problemen beim Flug der ODYSSEUS hatte man der Öffentlichkeit verschwiegen, dass man bereits zwei weitere Transporter zu Kolonieschiffen umgebaut hatte. Obwohl zu befürchten war, dass beide Schiffe schon beim ersten Raumsprung in Schwierigkeiten geraten würden, wich man keinen Schritt vom geplanten Ablauf ab. Im Abstand von zwei Jahren starteten beide Schiffe mit jeweils zweitausend Siedlern. Die ODYSSEUS 2 verschwand nach dem Passieren des Sprungtores zum Arktor-System spurlos.

Die Besatzung der ODYSSEUS 3 hatte zwei Jahre später noch ein Notsignal gesendet, da das Schiff nach dem Raumsprung zu zerbrechen drohte. Wenig später war das riesige Kolonieschiff abgestürzt und auf Arcorio zerschellt. Die Behörde brach daraufhin das ODYSSEUS-Programm ab, verschwieg die beiden Vorfälle der Öffentlichkeit aber komplett.

Ein ähnliches Unglück ereignete sich Jahre später mit dem Kolonieschiff PERSEUS 8. Nach dem zweiten Sprungtor geriet das Schiff mitten in eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Aldebaranern und Polygoniern. Die PERSEUS 8 wurde getroffen und stürzte auf einen nicht besiedelbaren Planeten im Gemma-System. Obwohl man davon ausgehen konnte, dass niemand überlebt hatte teilte man wenige Monate später in den Medien mit, dass die PERSEUS 8 das letzte Sprungtor hinter sich gelassen habe und in die Tiefschlafphase eingetreten sei. Niemand schöpfte Verdacht, da über die Details der Reiseroute ja nicht berichtet wurde. Gekrönt wurde das Ganze mit der etwa vierzig Jahre später verfassten Meldung, die PERSEUS 8 sei sicher an ihrem Bestimmungsort angekommen.

Die Berichte der Experten belegten außerdem, dass man von vornherein damit rechnete, dass etwa zwanzig Prozent aller gestarteten Kolonieschiffe ihren Zielplaneten sowieso niemals erreichen würden.

Patricia ließ sich in Arts Sessel sinken und sah traurig zu ihm hinüber. Seine Entscheidung, mit seiner Familie noch einmal von vorn anfangen zu wollen, hatte sie in Sacn Franzisco schon stärker getroffen, als sie zuvor erwartet hatte und es hatte sie einige unruhige und ja, auch verweinte, Nächte gekostet, bis sie sich damit abgefunden hatte. Seit sie den Inhalt der von Paul übermittelten Dateien studiert hatten, war Art schweigsam und in sich gekehrt. Pat hatte manchmal das Gefühl, dass er seine Umwelt gar nicht mehr wahr nahm. Sie hatte geahnt, dass der Gedanke, seine Familie könnte in größter Gefahr, oder schon gar nicht mehr am Leben sein, ihm furchtbar zusetzte.

Aber das Art ihr nun offenbart hatte, bei seiner Familie bleiben und mit ihr in die neue Heimat fliegen zu wollen, hatte Gefühle in ihr ausgelöst, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

„Art, wir treffen auf die AURORA 4, ich bin mir ganz sicher!“ Das war Ter’sa Ra, die wenige Augenblicke vorher, unbemerkt von den Beiden anderen, die Zentrale betreten hatte. „Wir haben ungefähr zwei Wochen Vorsprung, wenn wir an der Wega-Station eintreffen.“ Sie trat hinter ihn und legte sanft ihre Arme um ihn.

Art hob den Kopf und sah ihr Gesicht sich neben seinem in der Scheibe spiegeln. Er kämpfte mit sich. In den letzten Wochen und Monaten war sie es gewesen, zu der er sich stets hingezogen fühlte. Dazu kam seine stetig wachsende Angst vor dem Verlust seiner Familie. Bei jedem Raumsprung hatte er Jessie vor sich gesehen, immer deutlich und klar, als bestimme sie gesamtes Denken. Die Kinder hatten stets nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Außerdem hatte er immer wieder Szenen aus seiner Kindheit vor Augen gehabt. Das alles verwirrte ihn. Dazu kam, dass er noch immer oft das Gefühl hatte, dass Ter‘sa ihn nicht so richtig ernst nahm. Seinen Annährungen war sie stets gekonnt und diplomatisch aus dem Weg gegangen. Und das mit dem gleichen Glitzern in den Augen, als wenn sie ihn auf den Arm nehmen wolle. Und genau das brachte ihn immer wieder völlig aus der Fassung.

„Alles wird gut, Art“, sagte Ter’sa dann leise. „Wir bringen das zu Ende, was wir angefangen haben. Egal, was passiert!“ Er wollte gerade die Augen schließen und sich zurücklehnen, als er in der Fensterscheibe deutlich ihre roten Augen aufblitzen sah und eine ungeheure Wut ergriff ihn plötzlich.

Er drehte sich ruckartig um und stieß sie an den Schultern von sich weg. „Du sollst mich nicht immer für dumm verkaufen“, schrie er sie an. „Du sollst, verdammt noch mal, meine Gefühle akzeptieren und mich endlich mal ernst nehmen, Weganerin! Ich hasse es, wenn du mich so ansiehst!“ Dann drehte er sich wieder zum Fenster um und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah nicht, wie Ter’sas Augen sich mit Tränen füllten, und sie zur Tür stürzte. Sie schob Jayden, der kurz zuvor die Zentrale betreten hatte, unsanft zur Seite und drängte sich an ihm vorbei hinaus.

Jayden sah ihr nach, atmete tief durch und trat dann neben Art. Auch er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte hinaus in die Dunkelheit. Ohne den Freund anzusehen sagte er dann leise: „Sie nimmt dich ernst, Art. Sehr ernst, glaub‘ mir.“

„Woher willst du das wissen?“ Art’s Stimme zitterte.

„Ich weiß es eben.“

Schatten der Vergangenheit

 

Die Farben des Bildes verliefen in einander. Zuerst bildeten sie breite Streifen, die von oben nach unten krochen, sich teilten, vermischten und plötzlich anfingen, Wirbel zu bilden. Auf einmal waren sie nicht mehr auseinander zu halten. Pat hätte nicht sagen können, ob es grün war oder orange, das sie vor ihren Augen sah. Egal ob rot oder gelb, alles war eines. Dazu drang eine sanfte, wogende Musik in sie ein, von der sie nie hätte sagen können, ob sie sie schon einmal gehört hatte und durch welches Instrument sie erzeugt wurde. Es war nicht von dieser Welt, was sie da sah und hörte.

Sie wußte nicht, ob sie am Anfang noch versucht hatte, die Farben auseinanderzuhalten oder wenigstens die Klänge von der Farbe zu trennen. Nach und nach begannen sich die Farben aufzulösen und kleine Wölkchen zu bilden, die immer größer wurden. Schließlich füllte sich ihr ganzes Gesichtsfeld mit einem Nebel von undefinierbarer Farbe, der von sphärischen Klängen durchwoben wurde. Ihr Verstand reagierte nicht mehr und so ließ sie sich einfach immer weiter treiben. Sie wusste, dass die Reise begann. Ein Flug hinein in diese seltsame bunte, und doch so eintönige Umgebung. Sie spürte das Verlangen, für immer dort zu bleiben. Und auch das war ihr nicht neu.

Denn diese Reise hatte sie schon einmal gemacht. In einer anderen Zeit. Vielleicht auch in einer Welt. Und so wußte sie ganz tief in ihrem Innern, dass sie zurückkehren würde. Zumindest war sie in dieser Hoffnung aufgebrochen.

Art stand vor Pats Kabine. Entgegen Jaydens strikter Anweisung war sie von innen verriegelt. Patricia reagierte seit Stunden weder auf den Anrufsummer der Kommunikationsanlage noch auf den Gong an der Kabinentür.

Nach seiner Auseinandersetzung mit Ter’sa war Art aufgefallen, wie still Pat gewesen war und wie gebannt sie immer noch auf den Monitorgestarrt hatte, auf dem es schon längst nichts mehr zu sehen gab. Sie war ihm merkwürdig blass erschienen. Dann hatte sie langsam, ohnen ein Wort zu sagen oder jemanden anzusehen, das Cockpit verlassen.

Seit dem hatte sie sich bei niemandem gemeldet und jede Form der Kontaktaufnahme ignoriert. Art war wütend, vor allem aber besorgt. In zwei Stunden würde ihre gemeinsame Schicht beginnen. Spätestens dann sollte sie ihre Kabine verlassen haben.

Es war überhaupt merkwürdig, dass weder Jayden noch Ter’sa zu bemerken schienen, dass auf dem Kontrollmonitor die Verrieglung von Pats Kabinentür angezeigt wurde. Normalerweise hätte Jayden schon längst versucht, sie anzusprechen. Und er wäre geplatzt vor Wut, wenn sie nicht reagiert hätte.

Aber wahrscheinlich waren Ter’sa und er zu sehr mit dem beschäftigt, was sie vorhin aus Pauls Dokumenten erfahren hatten.

Art war fest entschlossen, nur noch ein mal den Türgong zu betätigen und dann zu Jayden zu gehen um ihn zu bitten, Pats Kabinentür von der Zentrale aus zu öffnen. Irgendetwas schien nicht in Ordnung mit Pat zu sein. Ganz und gar nicht in Ordnung.

Er war gerade im Begriff, sich umzuwenden und nach oben zu gehen, als die Tür sich mit einem sanften Zischen zur Seite schob. Erleichter betrat er den winzigen Raum und blieb geschockt stehen, während sich hinter ihm die Tür genauso sanft wieder schloß und ein leises Klicken verriet, dass sie wieder verriegelt wurde.

Das war das einzige Zeichen, dass ihm im Unterbewusstsein übermittelte, dass Pat noch lebte. Sie lag, völlig unbekleidet, auf der bequemen Liege im hinteren Teil des Raumes. Trotz der nur schwachen Beleuchtung erkannte er auch, dass ihre Haltung unnatürlich gekrümmt und ihr Körper total verkrampft war. Es schien, als habe sie versucht, sich aufzusetzen, das aber nicht geschafft.

Während er langsam näher trat, nahm er die Unordnung in der engen Kabine wahr. Pats Raumanzug lag auf dem Fußboden, fast vor seinen Füßen. Ihre Unterwäsche und Schuhe waren in dem kleinen Raum verstreut. irgendwo dazwischen lagen der Kommunikator und andere Teile der Ausrüstung . Scheinbar hatte sie, während sie sich auszog, alles durch die Gegend geworfen. Auf dem Tisch standen mehrere flache Gefäße, die er noch nie gesehen hatte, und denen ein höchst merkwürdiger Geruch entströmte. Irgendwo zwischen herb und süßlich. Art bemerkte sofort, wie er davon leicht benommen wurde.

Auf der Projektionswand gegenüber dem Bett war ein Bild dargestellt, von dem er erst annahm, es sei ein Screenshot aus einer älteren Version von „Bediedlung des Universums“, einem seiner Lieblingsspiele. Es zeigte eine Gruppe Kinder und Jugendliche auf einer Waldlichtung. Im Hintergrund war eine aus Holz und Blättern gebaute Hütte zu erkennen. Die Personen auf dem Bild waren anscheinend in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Der Wald selbst erinnerte ihn entfernt an eine Stimmung der heimatliche Waschzelle, den Wald der Mayas. Erst nach und nach wurde ihm klar, dass es sich um eine zweidiemsionale Fotografie handelte. Vermutlich mit einer uralten Kamera aufgenommen. Er hatte aber nicht den Eindruck, dass es sich um ein historisches Foto handelte.

Dann fiel ihm ein weiterer Gegenstand auf dem Tisch ins Auge. Es war ein aus Holz gefertigter Becher. Schlicht und unverziert, aber eben aus Holz. So etwas hatte er bisher nur in Dokumentationen über die ersten Jahre der Menschheit gesehen. In dem Becher befand sich der kleine Rest eine dunklen Flüssigkeit, die einen unangenehmen Geruch verbreitete.

Art hob den Becher an um besser riechen zu können, um was es sich hierbei handeln könnte.

„Nicht ... nicht trinken ... nicht ...“ Patricias Stimme war sehr schwach und kratzig. Sie versuchte, sich erneut zu bewegen, fiel aber sofort wieder steif nach hinten.

„Was ist das?“, fragte Art, während er den Behälter wieder auf dem Tisch abstellte.

„Ko’Unana“, stöhnte Pat, als ob das alles erklären würde.

Verständnislos sah er sie an. Eine neue Schockwelle durchströmte ihn. Jetzt erst erkannte er, dass sich ihre Haut grau gefärbt hatte und ihr ganzer Körper mit kleinen, weißen Pickeln übersät war. Was war das?

Als er an die Liege trat, weil er ihr vorsichtig über das Haar streichen wollte, wäre er fast auf die Fernbedienung der Raumsteuerung getreten. Pat zuckte vor seiner Berührung zurück und schob sich mühsam an das Kopfende der Liege. Dort begann sie sich, indem sie sich an der Kabinenwand abstützte, in eine sitzende Position zu bewegen. Ihre Augen blickten leer und glasig in seine Richtung, schienen ihn aber nicht richtig erfassen zu können.

„Was hast du?“, fragte er und merkte, wie seine Stimme zitterte.

„Nicht schlimm ... Nebenwirkung ... geht ... weg“, lallte Patricia und ihr Kopf fiel nach vorn. Nur die krampfartigen Wellen, die ihren Körper schüttelten, bewiesen, dass sie noch immer am Leben war.

Art starrte sie entsetzt an. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden. So etwas hatte er noch nie gesehen. Und noch nie war ihm diese Frau so zerbrechlich und so verletzt erschienen. Was konnte das nur bei ihr ausgelöst haben. Sie war immer so bestimmt, so lebenslustig, voller Ideen und Durchsetzungskraft gewesen. Er konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen. Und dann wurde ihm bewusst, dass auch er sich noch nie so hilflos vorgekommen war. Verzweifelt war er gewesen, ratlos, das ja - aber noch nie so vollkommen hilflos.

Der nächste Krampf ließ Patricia fest von der Liege kippen. Beinahe wäre sie mit dem Kopf auf den Boden geschlagen. Gerade noch rechtzeitig hatte sie ihre Arme nach vorne bringen und sich abfangen können.

Mit einem Schritt war Art bei ihr und half ihr, sich aufzurichten. Dabei fiel ihm auf, dass ihr Blick viel klarer war, als noch vor wenigen Minuten.

Pat zog die Knie an ihre Brust und schlang die Arme darum. Ihr Körper hatte sich scheinbar auch entspannt. Wieder verharrten sie eine Weile schweigend.

Gerade als Art aufatmen wollte, stöhnte Pat heftig auf und würgte lange krampfhaft. Mühsam schob sie die Beine aus dem Bett. „Verdammt, ist mir schlecht“, stöhnte sie. Aber wenigstens klang auch ihre Stimme wieder etwas normaler. „Ins Bad. Hilf mir, Art“. Ein neues Würgen zwang sie, sich die Hand vor den Mund zu halten.

Art fasste sie am Arm, legte ihn um seinen Hals und zog sie hoch. Schritt für Schritt schleppten sie sich in die kleine Sanitärzelle der Kabine, wo Pat vor der Toilettenschüssel zusammensackte und sich heftig übergab.

„Wasser“, stöhnte sie. Als Art am Becken Wasser in einen Becher lassen wollte, schüttelte sie den Kopf und sagte leise: „Einlassen. Muss baden. Kalt.“

Er sah sie verständnislos an, ließ dann aber kaltes Wasser in das Badebecken laufen.

„Du kannst mich jetzt allein lassen“, sagte sie leise und mühsam, als Art ihr in das Becken geholfen hatte. „Wird alles gut, Art.“ Er schüttelte den Kopf und wollte sich neben sie setzen. Doch sie streichelte seine Hand und meinte: „Warte drüben, in der Kabine. Aber fass’ ja nichts an. Ich räume dann später auf.“ In ihren Augen funkelte ein schelmisches Blitzen.

 

Als Art in den Wohnbereich zurückkam, verschlug es ihm den Atem. Ein leichter Schwindelanfall erfasste ihn. Mit zwei, drei schnellen Schritten war er an der Tür und aktivierte das Paneel der Raumsteuerung. Er stellte die Lufterneuerung auf höchste Stufe und fügte die Modifikation für frische Bergluft hinzu.

Bereits wenige Sekunden später ging es ihm besser. Er kehrte an den Tisch zurück und ließ sich in eine flache Sitzschale fallen. Von dort aus betrachtete er das Bild an der Motivwand genauer. Die Züge eines der größeren Mädchen, es mochte zehn oder zwölf Jahre alt sein, wiesen unverkennbare Ähnlichkeit mit Patricia auf. Die Kinder schienen einem älteren Jungen zu lauschen, der auf einem Baumstumpf stand und heftig zu gestikulieren schien. Er trug zerschlissene kurze Hosen und ein verwaschenes, ehemals rotes, Hemd, dass ihm viel zu groß war. Auf dem Kopf hatte er einen geflochtenen breitkrempigen Hut, der aber nicht die langen blonde Locken des Jungen verbarg.

Art schüttelte verwundert lächelnd den Kopf. Wie konnte man nur so herumlaufen!

Dann ließ er seine Blicke wieder über den Tisch schweifen und betrachtete eingehend noch einmal die Utensilien. Wie hatte Pat das Zeug noch mal genannt? Ko’Unana. Das hatte er noch nie gehört. Nicht, dass er nicht auch schon Rauschmittel ausprobiert hätte. Er wäre der letzte gewesen, der sie deswegen gerügt hätte. Aber dieses Zeug sagte ihm gar nichts. Und es schien äußerst gefährlich zu sein.

Als habe sie seine Gedanken erraten, sagte sie da: „Keine Sorge, so gefährlich ist der Stoff gar nicht. Aber mit der Borke und den Blättern zusammen habe ich es wohl etwas übertrieben. Übrigens danke für die Frischluft, Art.“

Sie stand in der Tür der Waschzelle und wirkte völlig entspannt und erholt. Sie trug eine hautenge, Arme und Beine bedeckende, weinrote Sportkombination. Das Haar hing ihr offen über beide Schultern. Ein süßer, exotischer Duft ging von ihr aus.

„Was ist das für ein Zeug?“, fragte Art, während sie sich auf die Liege setzte, die Füße unter das Gesäß gezogen und anfing, sich das Haar zu kämmen und in zwei Zöpfe zu flechten.

„Ko’Unana. Das ist ein Baum, der auf einem nicht besiedelten Planeten im Wega-System wächst. Das Verbrennen seiner Rinde erzeugt ähnliche Rauschzustände wie ein aus den Blütenblättern gekochter Tee. Naja, und beides zusammen sollte man wohl nicht versuchen.“

Sie sahen sich ein paar Augenblicke lang stumm an. „Na los, nun sag’ es schon“, fing Pat dann wieder an. „Du hättest nicht gedacht, dass ich Drogen nehme, oder?“ Doch Art antwortete nicht. Darum setzte sie fort. „Mache ich normalerweise auch nicht. Das war erst das dritte oder vierte Mal. Aber es gibt Momente...“ Sie brach ab, als wäre ihr gerade eingefallen, dass sie schon zu viel gesagt hatte.

„Das ist es nicht“, meinte Art daraufhin. „Ich kann nicht behaupten, dass ich es nicht auch schon ausprobiert hätte. Aber das hier“, sein Blick ging zum Tisch hinüber, „scheint schon ziemlich gefährlich zu sein. Und hat hässliche Nebenwirkungen. Wo hast du das Zeug überhaupt her? Auf der Erde gibt’s das bestimmt nicht. Das muss dir doch jemand besorgen. Und das kann doch nur ...“ Mitten im Satz brach er ab und starrte sie an. Plötzlich war alles glasklar. Es konnte ja nur so sein. Deshalb also hatte Jayden nicht reagiert, obwohl er gewusst haben musste, dass ihre Kabinentür von innen verriegelt war! Wie hatte sie einmal gesagt? Er sei ihre „Kontaktperson zur Unterwelt“. Art atmete tief durch und sah Pat’s sanftes Lächeln.

„Na, hast du’s jetzt?“ fragte sie und er nickte.

„Wie kann er dich nur solchem Zeug aussetzen?“ Art schüttelte den Kopf. „Wenn du mich nicht reingelassen hättest...“

Pat zuckte die Schultern. „Womöglich wäre es zu spät gewesen, ja. Aber unwahrscheinlich. Jay hätte auch nicht viel länger gewartet, da bin ich mir sicher. Und wie gesagt: Normalerweise ist Ko’Unana nicht gefährlich. Im Gegenteil. Der Rauschzustand dauert zwar bis zu fünf Stunden an, aber innerhalb weniger Minuten ist man danach wieder völlig in Ordnung. Ja, sogar ... wie soll ich es am besten ausdrücken? Gereinigt. Beklemmungen, Ängste, Sorgen, ja auch Erschöpfung, alles scheint nie dagewesen zu sein! Es fühlt sich an, als wärst du stundenlang im Wald umhergelaufen und hättest anschließend, nach einem Bad im See, ein paar Stunden im weichen Gras geschlafen. Aber das kannst du dir bestimmt nicht vorstellen.“

Art schüttelte den Kopf. Das alles konnte er sich wirklich nicht vorstellen.

„Siehst du“, sagte sie dann, „für mich war das alles mal mein normales Leben.“ Sie wies auf das Bild an der Wand. „So bin ich aufgewachsen. Frei, natürlich, ohne Sorge, und immer von Freunden umgeben.“

Art starrte sie an, dann das seltsame Bild an der Wand. „Im ... Wald?“ Er hörte selbst, wie ungläubig das klang.

„Merkwürdig, nicht wahr?“ Patrica sah ihn nicht an. Ihre Augen waren ebenfalls auf das Bild fixiert. „Ich kann es manchmal selbst nicht glauben. Aber Ko’Unana holt das alles wieder zurück. Die Luft, den Geruch, die Geräusche - aber auch die Stimmen der Menschen, ihre Worte - und sogar meine eigenen Gefühle.“ Ein sanftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich fühle das Gras unter meinen Füßen, die Rinde der Bäume unter meinen Händen, das Wasser des Sees auf der Haut. Und die Liebe. Die Liebe in meinem Herzen. - Wärme und Schmerz zugleich, Art. Es ist so ganz anders, als wir es im Hier und Heute erleben.“

„Ko’Unana bringt dich in die Vergangenheit?“ fragte Art leise.

„Wenn du es so nennen willst. Ich bleibe zwar hier - aber ich wecke sie, hole sie zu mir. Ich kann sie so erleben, wie sie war. Kann mich erinnern und frei sein. Ein Glück erleben, dass ich nur in der Kindheit hatte.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, was daran so schön sein soll“, sagte Art, „ich halte es eher für sehr gefährlich. Da ist mir mein Wohnkomplex doch schon lieber.“

Patricia lächelte und schwieg bis ein sanfter Gongschlag den Raum erfüllte. Wenig später hörten sie Jaydens Stimme, der sie zur Wachablösung rief.

„Oh verdammt“, stöhnte Pat und sah sich in dem kleinen Raum um. „Ich glaube, ich sollte noch etwas Ordnung machen. Und umziehen muss ich mich auch noch.“

„Aber du bist wieder völlig in Ordnung, ja?“ fragte Art. Patricia nickte. „Fast, ja. Gehst du schon mal vor? Ich komme in ein paar Minuten nach.“

 

Die Blicke, die sich Ter’sa und Jayden zuwarfen, als Art die Kommandozentrale betrat, waren eindeutig. Beide wussten Bescheid, warum Pats Kabine verschlossen gewesen war.

„Pat kommt ein paar Minuten später. Ich übernehme schon mal.“ In Arts Stimme schwang unverhohlen Wut mit. Ter’sa erhob sich langsam und sah zu Jayden. Dieser nickte ihr knapp zu und sie verließ, ohne ein Wort an Art zu richten, die Zentrale.

Dann erhob sich auch Jayden. „Du bist sicher enttäuscht“, begann er, „aber weder Pat noch ich haben jemals behauptet, nie etwas Illegales zu tun.“ Als Art ihm nicht antwortete, setzte er fort: „Du weißt sogar, dass mein Broterwerb nicht gerade in legalen Geschäften besteht. Sonst wärst du ja nicht hier.“

„Darum geht es gar nicht.“ Art trat an das Pult des Kommandanten und starrte eine Weile schweigend auf die Anzeigen der Monitore. „Sie hätte sterben können. Die Dosis war viel zu hoch. Jemand hätte nach ihr sehen müssen.“

Lange war nur das leise Summen des Antriebs der NIGHTOWL zu hören, dann trat Jayden neben Art. „Ter’sa hatte sie die ganze Zeit auf dem Schirm“ sagte er leise. Art blickte überrascht auf und sah ihn an. „Ihr überwacht die privaten Kabinen?“ fragte er.

„Normalerweise nicht“. Jayden wagte es nicht, Art anzusehen. „Das ist nur in Verbindung mit einem Anruf aus der Zentrale oder aber für den Notfall vorgesehen. Als Pat sich nach drei Stunden immer noch nicht gemeldet hat, bat ich Ter’sa nach dem Rechten zu sehen. Weil Pat aber ihre Kabine nicht öffnete, hatte ich auch große Bedenken und ließ Ter’sa die Kabinenkamera aktivieren. Von da an hatten wir sie im Blick. Sie bewegte sich ab und zu. Also hatte ich keinen Anlass, etwas zu unternehmen.“

„Wann habt ihr abgeschaltet?“

„Als sie dich rein gelassen hat.“ Jetzt erst sah Jayden Art an. „Wirklich. In diesem Augenblick konnten wir sicher sein, dass sie zurück ist.“

„Ich habe keine Ahnung, warum ich dir glauben sollte.“ Art schüttelte den Kopf. „Und ich frage mich, was die NIGHTOWL wohl noch für Geheimnisse hat“.

Jayden grinste. „Einige, Art. Das kannst du wissen. Aber mehr verrate ich auf keinen Fall. Ich hoffe nur, dass ich nicht noch mehr davon auf dieser Reise preisgeben muss.“

Langsam ließ Art sich in den Sessel sinken. „Wenn ich nur mal lernen würde, dich zu durchschauen“, sagte er und blickte den Kommandanten ernst an. „Ich weiß nie wirklich, woran ich bei dir bin.“

„Und hoffentlich bleibt das auch so.“ Jayden legte Art die Hand auf die Schulter. „Es gibt nichts zu übergeben, Art. Das Logbuch hast du auf dem Monitor. Alles läuft planmäßig. Ich hau mich jetzt ein wenig hin. Gute Nacht!“

Er ging zur Tür. Kurz bevor er die Zentrale verließ, knurrte Art: „Aber schließ deine Kabine nicht ab. Wenn’s dir schlecht geht, kann ich sonst nicht nach dir sehen.“ Er hatte gehofft, dass Jayden ihn nicht gehört hatte, doch der drehte sich um und grinste. „Schön, dass du dir Sorgen machst. Ist aber nicht nötig, Art!“ Dann schloss sich die Tür hinter ihm.

Art hatte sich gerade in die Systeme eingeloggt und ließ den Routinecheck der Bordbewaffnung laufen, als sich die Tür der Zentrale mit leisem Zischen wieder öffnete und Patricia hereinkam.

Statt der eigentlichen, enganliegenden, Dienstkombination trug sie ein bequemes kurzärmliges Shirt und eine weite dunkelblaue Hose. Soweit Art sehen konnte, waren sämtliche Hautveränderungen zurückgegangen. Ihre Haarpracht hatte sie mit einem breiten blauen Band aus der Stirn gebunden, was ihr Gesicht durchaus ernster und strenger machte als es sonst war. daran änderten auch die beiden geflochtenenen Zöpfe nichts, die ihr nach vorn über die Schultern fielen.

„Wenn Jayden das sieht“, Art deutete auf ihr Shirt, „wird er bestimmt wieder was auszusetzen haben“.

„Hatte er schon“ sagte Pat und lächelte. „Wir sind uns gerade auf dem Gang begegnet. Aber ich hab ihm gesagt, dass er mich ja gerne entlassen kann und dann ist er abgezogen.“ Sie setzte sich an das Pult, an dem vorher Ter’sa gesessen hatte. „Mir ist heute danach, Regeln zu brechen.“ Sie lächelte. „Müsstest du ja schon gemerkt haben.“

„Du machst das aber nicht oft, oder?“ Art drehte sich zu ihr und beobachtete, wie ihre zarten Finger schnell und völlig fehlerlos über die Tastatur huschten, obwohl sie nur auf den Monitor blickte. „Jedenfalls habe ich das noch nicht bemerkt.“

Patricia schwieg einen Moment und hielt mit dem Eingeben der Befehle inne. Dann atmete sie tief durch und drehte sich zu Art. Sie sah ihm lange ins Gesicht und er hatte den Eindruck, dass ihre Augen feucht geworden waren.

„Nein. Ich versuche, mich an die Normen und Regeln zu halten. Aber in meinem Beruf ist das nicht immer möglich. Zumindest, wenn man ehrlich zu sich selbst bleiben will.“ Sie nickte versonnen. „Ich war völlig schockiert als wir von den Coloni-Akten erfuhren, und welche Rolle die Medien und Journalisten bei diesem Betrug an der Menschheit spielten. Wobei ich überzeugt davon bin, dass sie missbraucht und als Werkzeuge benutzt wurden, ohne die Chance, sich selbst ein objektives Bild machen zu können.“ Sie schwieg einen Moment und Art merkte, wie schwer es ihr fiel, weiterzusprechen. „Und dann fiel mir auf einmal auch noch ein, dass heute ein Jahrestag ist. Ein Jahrestag, den ich meist auf meine ganz spezielle Weise … feiere... gedenke. Egal, wie du es nennst. Eigentlich gibt es kein Wort dafür.“

„Du setzt dich heftigen Drogen aus.“ Art sagte es leise und mehr zu sich als zu ihr. „Nur an diesem Tag? Warum?“

„Das ist eine lange Geschichte, Art.“ Patricia wandte ich ihren Armaturen zu. „Und ich weiß nicht, ob ich sie dir erzählen kann.“

„Warum nicht? Wir haben jede Menge Zeit. Unsere Schicht hat gerade angefangen und es ist äußert unwahrscheinlich, dass irgendetwas passiert, auf das wir reagieren müssten.“

„Darum geht es nicht.“ Pat schloss die Augen und legte ihre Hände vor das Gesicht. Hinter ihnen hervor klangen ihre Worte dumpf und erstickt. „Sondern weil ich sie wahrscheinlich nicht erzählen kann ohne ständig zu heulen. Gerade heute.“

Art schwieg und sah sie lange an. Erneut dachte er darüber nach, dass diese starke, energische Frau kurz davor schien, zu zerbrechen. Dann spürte er einen leichten, ziehenden Schmerz in der Brust, der sich in Richtung Magen auszubreiten schien, während er sie beobachtete. Erst wusste Art nicht, was mit ihm los war und begriff schließlich, dass es daran lag, weil er fühlte, wie schlecht es Patricia ging. Er war verwirrt und wusste nicht, was er dagegen machen sollte, denn das war etwas, das er noch nie zuvor gefühlt hatte.

Endlich wandte er sich von ihr ab und holte sich die Coloni-Dateien noch einmal auf den Bildschirm. Er wollte versuchen, noch mehr über diese Dokumente herauszufinden. Und insgeheim hoffte er, dass Paul noch etwas anderes darin versteckt hatte. Als Suchbegriff gab er „AURORA 4“ ein.

Wenig später erhellte sich der Bildschirm am Rande der Kommandozentrale, auf dem normalerweise persönliche oder Unterhaltungsprogramme dargestellt wurden. Es erschien das gleiche Bild, das er zuvor in Patricias Kabine gesehen hatte. Dazu war der Raum plötzlich von seltsamen Geräuschen erfüllt, die er noch nie in seinem Leben vernommen hatte. Schrilles Pfeifen und Kreischen mischte sich mit lautem Rascheln und dem Plätschern von Wasser. Ab und zu unterbrachen leise, langgezogene Pfiffe und kurze, abgehackte Schreie diese schon so unheimliche Geräuschkulisse. Wieder fühlte er sich in seinBad zu Hause versetzt. Aber irgendwie klangen die Geräusche hier anders, nicht so sanft, romantisch und stimmungsvoll.

Art richtete sich auf und sah Patricia an. „Was ist das?“ fragte er verstört.

Pat lehnte sich zurück und schob ihre Zöpfe nach hinten. Ihre Gesichtsfarbe wirkte dunkler als sonst, bemerkte Art und ihre Augen leuchteten. „Das hast du noch nie gehört, stimmt’s?“ fragte sie zurück und Art schüttelte den Kopf.

„Das sind die Geräusche, die ich im Kopf habe, wenn ich dieses Bild sehe. So klingt meine Kindheit. Es fehlt nur noch das Lachen der Kinder und das Knistern des Feuers, um das wir uns am Abend versammelten.“

„Ich wusste gar nicht, dass du von einem der anderen Planeten stammst“, staunte Art und Patricia musste lächeln.

„Das ist die Erde, Art. Es gibt sie noch, solche Wälder. Aber sie werden immer kleiner. Nur wenige Menschen können sie sehen und erleben. Und das ist gut so. Sonst wären sie wahrscheinlich wirklich schon komplett von unserem Planeten verschwunden.“

„Und da bist du aufgewachsen? Wer setzt seine Kinder diesem Risiko aus, inmitten solcher Wildnis aufzuwachsen?“

„Meine Eltern sind beide in einer abgelegenen Kommune aufgewachsen und haben von klein auf gelernt, mit der Natur zu leben. Das Leben in einer der großen Städte erschien ihnen genauso gefährlich und unheimlich wie dir das Leben in der Natur, die ihnen sehr am Herzen lag – und immer noch liegt. Beide sind Mitglieder einer Organisation die sich das Ziel gesetzt hat, die letzten Reste dieser Urwälder, die übrigens viel älter sind, als die Menschheit selbst, zu erhalten und für ihre Nachkommen zu bewahren. Deshalb waren sie begeistert, als man ihnen anbot, auf den afrikanischen Kontinent zu reisen und das prähistorische Leben der Menschen in diesen Gebieten zu erforschen.“

„Dort haben mal Menschen gelebt?“ Art konnte das kaum glauben.

Patricia nickte. „Das ist nur wenige Jahrhunderte her. Und ihre Spuren findet man noch immer, wenn man weiß, wonach man suchen muss.“

„Aber sie sind nicht allein dahin gegangen?“

„Nein. In der Forschungsstation wohnten damals achtzehn Familien. Forscher aus allen Teilen der Erde waren dort zusammengekommen. Manche blieben nur kurz. Andere, wie meine Eltern, leben noch heute dort.“

Art nickte, aber er konnte sich nur schwer vorstellen, wie das Leben dort gewesen sein könnte. Aber so langsam bekam er eine Vorstellung davon, warum Pat so anders war, als alle Frauen, die er bisher gekannt hatte.

Als Patricia die Geräuschkulisse abschaltete, war er über die schlagartig einsetzende Stille regelrecht erschrocken. Einen Moment glaubte er, sie noch in seinem Kopf zu hören, dann waren nur noch die Antriebe der NIGHTOWL zu vernehmen.

Patricia stellte die Lehne ihres Sitzes nach hinten und lehnte sich zurück. dann verschränkte sie die Hände hinter ihrem Kopf. Art konnte nicht sehen, ob sie ihren Blick an die Kabinendecke richtete oder ihre Augen geschlossen hatte, während sie weitersprach.

„Die Welt, in die ich hineingeboren wurde, war so völlig anders als die deine, dass du es dir kaum vorstellen kannst, Art. Aber sie war gut zu uns. Wir lernten zu achten, was uns umgab - uns selbst, jedes Tier, jede Pflanze, den Regen, die Sonne, den Fluss und den Wald. Wir lernten, uns auf uns selbst zu verlassen und dem anderen zu vetrauen. Wir Kinder wussten nicht, dass wir aufwuchsen wie die Kinder vor vielen Tausenden von Jahre. Wir haben dieses Leben geliebt. Im Wald herum zu tollen, im Fluss oder im See zu baden, im Gras zu liegen...“

„Und ihr hattet keine Angst, von wilden Tieren angegriffen zu werden? Eure Eltern auch nicht? Die müssen doch das andere Leben gekannt haben. Sie müssen gewusst haben, welchen Gefahren sie euch aussetzten.“ Art war immer noch verwirrt.

„Wir haben bie darüber nachgedacht und wenn, dann waren wir uns sicher, dass Raphael uns beschützt hätte. Er war war der Älteste von uns und durfte immer einen Impulsstrahler mitnehmen. Er hat ihn nie benutzen müssen. Heute weiß ich auch, warum“

Art sah den blonden Jungen auf dem Bild an. „Er sieht mir eher wie ein Redner aus, als wie ein Kämpfer.“

„Seine Waffe war das Wort. Das stimmt. Aber damals war für uns nur wichtig, dass er älter und stärker war als wir. Und dass er eine Waffe führen durfte. Ohne dass wir es merkten, war er unser erster Lehrer. Mehr noch als unsere Eltern, die ja den ganzen Tag mit ihrer Arbeit beschäftigt waren, brachte er uns seine Sicht auf alle Dinge bei. Stundenlang konnte er uns Vorträge über Tierarten, die längst ausgestorben waren oder bald aussterben würden halten. Er sprach über Pflanzen wie über liebe Menschen. Und zeigte uns kleine Bäume, die viele Male größer und hundert Mal älter werden würden als wir.“ Sie hielt kurz inne, als müsse sie nachdenken, und fuhr dann fort. „Wir hingen wie gebannt an seinen Lippen und sogen jedes seiner Worte in uns auf. Bis heute weiß ich nicht, woher er sein Wissen hatte. Ich habe später oft darüber nachgedacht, als mir bewusst wurde, dass er ja nur zwei Jahre älter war als die meisten von uns.“

Pat richtete sich auf und sah Art jetzt wieder an. Dann betätigte sie eine Taste an ihrem Pult und das Bild verschwand von Art’s Monitor.

„Was ist aus ihm geworden?“ wollte Art wissen. Patricia schien wieder zu überlegen und sagte dann nachdenklich: „Vielleicht zwei Jahre, nachdem das Foto aufgenommen wurde, Raphael war sechzehn Jahre alt, kehrten seine Eltern zurück in ihre Heimat, die Scandipolregion. Er ging natürlich mit ihnen. Vom herrlichsten Platz der Erde in ihre trostloseste, entlegenste Gegend. Ich konnte es nicht fassen. Wir alle konnten es nicht glauben. Und unsere Welt war von diesem Tag an nicht mehr die selbe.“

„Und du hast ihn nie mehr wiedergesehen?“

„Oh doch.“ Patricia stand auf und ging zum Hauptfenster der Zentrale. Sie sah eine Weile in die schier unendliche Dunkelheit hinaus, drehte sich dann zu Art um und sagte: „Ein paar Jahre später haben wir uns in Angel-City getroffen. Meine Eltern hatten mich zu den Großeltern geschickt, weil ich unbedingt Journalismus studieren wollte. Ich hatte gerade den ersten Schock überwunden, der mich überkam, als ich diese völlig fremde Welt betrat, da traf ich in einer kleinen Bar, die es heute längst nicht mehr gibt und die noch richtiges, natürliches Essen und frisches, klares Wasser anbot, auf Raphael. Du kannst dir kaum vorstellen, was in mir vorging. Ich habe geglaubt, zu träumen. Und erst als er mir erzählte, dass er den gleichen Berufsweg eingeschlagen hatte. Er arbeitete damals für eine große Wissenschaftsagentur und war gerade dabei, für eine Dokumentation der Menschheitsgeschichte zu recherchieren.“ Sie schluckte hart, und das Sprechen schien ihr schwer, als sie sagte: „Und wieder wurde er mein Lehrer, mein Mentor und bald darauf auch mein Mann.“

Durch Arts Körper lief ein feuriger Strom. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. „Du bist verheiratet?“ fragte er stockend. Patricia reagierte nicht, sah ihn aber auch nicht an. Leise sprach sie weiter.

„Raphael de Gent, der große Menscheits- und Naturforscher, konnte sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Er musste immer weiter forschen. Und er eckte mit seinen Theorien bei seinen Kollegen und vielen anderen Leuten immer wieder heftig an. Es kam immer öfter vor, dass man seine Dokumentationen und Informationssendungen nicht annehmen wollte, oder sogar verbot. Ich habe inzwischen für unseren Lebensunterhalt gesorgt und war trotzdem immer aufs Neue stolz auf ihn. Er hat sich nie verbiegen lassen.“

Art stand auf und ging zu ihr hinüber. Er stellte sich neben sie und starrte jetzt selbst in die Finsternis hinaus. Sie anzusehen wagte er nicht, da er merkte, dass sie leise weinte. Nach einer Weile fand sie wieder Worte.

„Einmal fuhren wir zusammen nach Scandipol, da Raphael dort zu tun hatte. Ich kannte diese Gegend bis dahin nur von Dokumentationen. Aber diese geben nicht wirklich wieder, was einen dort erwartet. Eines Abends standen wir im obersten Stockwerk des Wohnkomplexes, in dem er auch sein Büro hatte und blickten über diese endlose, graue Steinwüste. Man kann sich nicht vorstellen, dass die gesamte Gegend vor tausend Jahren noch unter Eis und Schnee verborgen war. Aber bestimmt hatte das besser ausgesehen als heutzutage. Zwischen den grauen Felsen wächst inzwischen Gras und ein paar kleine, flache Büsche breiten ihre Zweige aus. Aber kein Tier, nicht einmal ein Vogel, hat sich bis heute dort angesiedelt. Raphael nahm mich in den Arm und erzählte mir, woran er gerade arbeitete. Der ein paar Wochen zuvor stattgefundene Start eines Kolonieschiffes hatte ihn darauf gebracht, sich damit zu beschäftigen, wie die Ankunft der Menschen auf fremden Planeten deren Ökosystem beeinflussen würde.“

Sie sah Art jetzt an und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich werde mein Leben lang nicht vergessen, was er mir dann sagte. ‘Sie schicken die Kolonisten mit so wenig Technik und Komfort wie möglich los, sagen sie, um nicht zu sehr in das Leben auf der neuen Heimat einzugreifen. Aber weißt du was, Pat? Egal, wie wir es anstellen, wir werden jeden Planeten, jeden einzelnen, den wir besiedeln, furchtbar beschädigen und vielleicht sogar am Ende zerstören!’ Ich sagte ihm, dass ich das für etwas übetrieben hielt, aber er wies mit der Hand hinaus und sagte: ‘Sieh Pat, was wir unserem Planeten angetan haben. Er hat tausend Jahre gebraucht, um sich davon zu erholen. Und er wird, selbst wenn wir hier nicht mehr eingreifen, viele Tausend Jahre brauchen, um sich zu regenerieren.’“

„Ich schätze mal, er hat diese Theorie auch nicht veröffentlichen dürfen“, meinte Art nachdenklich.

„Sie haben es ihm verboten, aber er hat es dennoch getan. Dafür haben sie ihn aus dem Journalistenverband ausgeschlossen. Er durfte nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Sie haben versucht, ihn auf jeglichen Kanälen von Auskunftsdateien abzuschneiden, damit er nicht mehr recherchieren konnte.“

„Aber ein Mensch wie er findet doch bestimmt Wege und Mittel, um an seine Informationen zu gelangen“, meinte Art und Patricia nickte.

„Ja. Natürlich. Und er beschäftigte sich weiter mit der Besiedlung von Planeten durch unsere Kolonisten. Dabei konzentrierte er sich plötzlich, ich weiß nicht warum, auf die Geschichte einiger Kolonieschiffe. Er wollte herausfinden, was aus den Menschen geworden war und wie die Ansiedlungen verlaufen waren. Anfangs war das auch völlig unproblematisch. Doch je weiter er vordrang, desto weniger Antworten fand er. Letztendlich schloß er sich einem Team an, das Forschungen über historische Kolonieschiffe anstellte. Die Gruppe hatte Beziehenung bis in die Chefetagen der Ersianischen Kolonisierungsbehörde“

Sie unterbrach sich und blickte wieder lange hinaus in die tiefe Dunkelheit. Art stand noch immer neben ihr und blickte sie von der Seite her an. Auch ihre Haut erschien ihm jetzt dunkler als sonst. Leichte Tränenspuren zeichneten sich ab, begannen schon zu trocknen. Ihre Finger spielten mit dem Ende ihres rechten Zopfes. Mit ihren Gedanken schien sie sehr weit weg zu sein.

„Es war vor fast genau fünf Jahren, wir waren zu der Zeit längst wieder in Angel-City, da sagte er zu mir: ‘Pat, ich fliege morgen mit zwei Leuten meines Teams in die Kongo-Region.’ Ich habe ihn angestarrt als wäre er völlig verrückt geworden. Ich wollte nicht glauben, was er gesagt hatte. ‘Und ich?’ fragte ich ihn. ‘Meine Eltern leben da!’ Es ging mir absolut nicht in den Kopf, weshalb er in unsere alte Heimat fliegen wollte und warum er mich nicht bat, mitzukommen. Er sah mich lange an und schüttelte dann den Kopf. ‘Es ist zu gefährlich, Pat. Jemand hat uns gewarnt. Wir sollen die Forschungen abbrechen, sonst könnte es sein, dass wir uns in Lebensgefahr begeben. Wir sind hier bestimmt einer ganz gemeinen Sache auf der Spur. Irgendetwas stimmt nicht mit den Berichten über die Kolonieschiffe.’ Ich glaube heute, dass sie näher dran waren als er vermutete.“

„Aber warum dort?“ wollte Art wissen. Er hätte doch auch von zu Hause aus recherchieren können?“

„Ja vermutlich hätte er das gekonnt. Aber ich glaube, man hat ihm eine Falle gestellt. Sie haben einen Köder ausgelegt, den er sich nicht entgehen lassen konnte.“

„Hast du eine Ahnung, was das gewesen sein könnte“ fragte Art und Patricia nickte.

„Jemand hatte Raphael gesagt, aus sicherer Quelle erfahrten zu haben, dass die Erde nicht der Ursprungsplanet der Menschheit wäre, sondern auch ein durch ein Kolonieschiff besiedelter. Und dieses Schiff wäre vor vielen tausend Jahren in der Kongo-Region gelandet.“ Sie holte tief Luft und sah Art in die Augen. „Das musste er einfach überprüfen. Dieser Versuchung konnte er nicht wiederstehen.“

„Und du meinst, es war eine Falle?“

„Ganz bestimmt, Art. Er hat den falschen Leuten vertraut. Nur ein paar Tage später, heute genau vor fünf Jahren, meldete sich ein Freund“, sie sprach dieses Wort so voller Abscheu aus, dass Art zusammenzuckte, „der mit ihm zum Kongo geflogen war, und sagte mir, dass Raphael nicht mehr am Leben sei. Er wäre noch vor Tagesanbruch in den Wald gegangen und nicht zurückgekehrt. Als man nach ihm suchte, hätten sie nur eine große Blutlache gefunden und seinen Impulsstrahler. Er wäre wahrscheinlich von einem wilden Tier angefallen und getötet wurden.“ Sie nahm Arts Hände in die seinen. „Ich habe ihnen kein Wort geglaubt.“

„Warum nicht?“

„Wir sind dort aufgewachsen, Art.“ Patricias Stimme versagte beinahe. „Und wir haben nie ein wildes Tier gesehen. Es gibt dort schon ewig keine großen Raubtiere mehr. Sie sind längst ausgestorben. Nein. Diejenigen, denen Raphael am meisten vertraute, die er für seine besten Freunde hielt, haben ihn ermordet. Sie töteten ihn, weil er den Verbrechern der EKB zu nahe gekommen war.“

Sie drehte sich um und ging zu ihrem Pult zurück, wo sie sich in den Sessel sinken ließ und auf den Bildschirm zeigte. „Und seit heute weiß ich, dass Raphael Recht hatte mit seinen Vermutungen.“

„Wenn das stimmt Pat, und ich glaube dir natürlich, dann werden sie auch Paul aus dem Weg räumen.“ Mit diesen Worten ging auch er zu seinem Pult und setzte sich.

„Durchaus möglich.“ Patricia blickte auf ihren Monitor, wo immer noch das Bild mit den Kindern im Urwald zu sehen war. „Aber Paul ist clever. Er hat bestimmt dafür gesorgt, dass sie das nicht so ohne Weiteres machen können. Sie können ihn am Reden hindern, das ja. Aber umbringen werden sie ihn nicht.“

Art sah ihr an, dass sie selbst nicht davon überzeugt war, was sie gerade gesagt hatte, aber er schwieg und nickte. „Vielleicht hast du Recht, Pat. Hoffen wir es.“

Wiedersehen und Abschiednehmen

Sie hatten ihr Ziel, die Raumwerft im Wega-System, erreicht. Seit fast vier Monaten waren sie unterwegs und noch immer warteten sie vergeblich auf eine Nachricht von Paul Hartmann.

Art starrte wie so oft in den letzten Wochen teilnahmslos auf seinen Monitor. Stunden um Stunde zogen die Gesichter fremder Menschen an ihm vorbei, die er nie zuvor gesehen hatte. Mit den Bildern der Menschen auf der AURORA 4 hatte es angefangen, dann hatte er Besatzung und Kolonisten der ODYSSEUS 3 auf seinen Bildschirm gerufen und dann die aller bisher verschollenen Kolonieschiffe.

Sie hatten inzwischen mehrere Raumsysteme durchquert, ohne dass sie wieder in Kampfhandlungen verwickelt worden wären. Im Perista-System hatten sie ihre Treibstoffvorräte aufgefüllt und sich für ein paar Stunden auf der Station aufgehalten. Sie hatten es genossen, der Enge an Bord, wenn auch nur für kurze Zeit, entfliehen zu können. Nur Art war auf der NIGHTOWL geblieben.

Ter’sa schüttelte den Kopf bei diesen Gedanken. Art war seltsam geworden, einsam und mürrisch. Sie hatte versucht, ihm so oft und so weit wie nur möglich aus dem Weg zu gehen und fühlte sich nicht gerad gut dabei. Sie hätte mit ihm reden sollen, ihm einige Dinge erklären. Aber andererseits verspürte sie immer weniger Lust dazu, je schwieriger er wurde.

Sie wandte den Blick von ihm ab und sah auf ihren Monitor. Vor ihnen lag, einem gigantischen Rad gleich, die Station. Sie atmete tief durch, sah noch einmal ihre Gefährten der Reihe nach an und betätigte dann mit versteinerter Miene die Sprechtaste.

„NIGHTOWL an WEGA 1“, sagte sie laut und deutlich. „NIGHTOWL an WEGA 1, erbitten Landeerlaubnis!“

Über der Konsole vor ihr tauchte das dreidimensionale Abbild eines Mannes in unbestimmbarem Alter auf. Ein schmales Gesicht, mit schräg stehenden, dunkelroten Augen und langem, blauweißem Haar, das von einem silbernen Stirnband zurückgehalten wurde.

„Landerlaubnis für NIGHTOWL wird nicht erteilt!“ Seine Stimme klang hart und unerbittlich. „Ich wiederhole: Landeerlaubnis für NIGHTOWL wird nicht erteilt!“

Art schrak aus seiner Lethargie auf und blickte entsetzt zu Ter’sa hinüber. Auch Pat verzog verständnislos das Gesicht. Jayden stand auf und ging nach vorn, in den Sichtbereich der Kamera. Er verschränkte die Arme vor der Brust und fragte, deutlich ungehalten: „Was soll das, Starcommander? Wieso wird uns hier die Landung verweigert?“

Der Andere legte den Kopf leicht auf die Seite und schien ihn direkt in die Augen zu sehen. Ein samtiger, tiefroter Schimmer lag in den seinen. „Warum nicht, Kapitän Romanescu? Denkt ihr, um euretwillen lädt sich die WEGA 1 Ärger mit ihren stärksten Freunden auf?“

„Freunde?“, fauchte Jayden. „Ihr meint die Aldebaraner? Seit wann habt ihr Angst vor denen, Starcommander?“

„Seit zwei ihrer Schiffe durch die NIGHTOWL beinahe in den Tod getrieben worden wären.“ Seine Augen blitzten kurz auf.

„In den Tod? So ein Unsinn! Wir sind es, die unterlegen gewesen wären, wenn die Aldebaraner Ernst gemacht hätten, dass wisst ihr!“

Der Starcommander nickte leicht. „Wir lassen euch dennoch nicht hier landen. Die Sicherheit der Station steht auf dem Spiel.“

Art und Pat waren dem Dialog fassungslos gefolgt. Sollte alles umsonst gewesen sein? Patricia bebte vor Zorn. Aber sie hatte das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Sie hörte, wie Art aufstand und nach vorn ging. Mach ja keinen Unsinn, dachte sie und erhob sich ebenfalls. Dann fiel ihr Blick auf Ter’sa. Die junge Weganerin saß zurückgelehnt und scheinbar völlig entspannt auf ihrem Stuhl und musterte den Starcommander mit einem Blick, der Pat eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Art war neben Jayden getreten. Er ballte die Fäuste, holte tief Luft und wollte gerade losbrüllen, als Jayden und Patricia beinahe gleichzeitig die Hände auf die Arme legten. „Bleib ruhig, Art“, sagte Jayden leise. „Ich regle das!“

„Du?“ Art sah ihn mit hasserfülltem Gesicht an. „Wegen dir stecken wir doch in diesem Schlamassel! Du warst es doch, der den Feuerbefehl gegeben hat! Ich will auf diese Station. Wenn es sein muss auch ohne euch! Ich will, ich werde…“

„Du, Art Karas“, sagte der Weganer auf einmal, „du hast die Waffen gegen unsere Freunde gerichtet. Und deshalb wird gerade dir das Betreten der Station untersagt!“

In dem unbeschreiblichen Schrei, den Art daraufhin ausstieß, ging Patricias Frage fast unter. „Woher kennt ihr Art Karas, Starcommander?“ Und dann ging ihr auf, was sie vorhin schon so verwirrt hatte. „Und wieso wisst ihr eigentlich von dem Kampf mit den Aldebaranern?“

Der Starcommander richtete seine dunkelroten Augen auf ihr Gesicht. „Das ganze Universum spricht davon. Die NIGHTOWL wird niemals mehr sicher sein!“

Patricia schnappte nach Luft. „Warum haben sie ausgerechnet euch davon erzählt? In der Raumstation im Perista-System wusste niemand etwas davon.“

Der Weganer nickte wieder. „Wie gesagt. Die Aldebaraner sind unsere Freunde. Glaub‘ mir, Pat, eure Mission ist hier zu Ende!“

Das verschlug selbst Patricia die Sprache. Schweigend starrte sie auf den bei diesen Worten in sich zusammensinkenden Art, der von Jayden mit aller Kraft gestützt wurde.

Dann hörte sie plötzlich Ter’sas ruhige, helle Stimme. „Jetzt ist’s aber genug, Vater! Du musst es immer übertreiben!“

Der Weganer blickte jetzt zu ihr hinüber und ein breites Grinsen zog sich über sein schmales Gesicht. „Spielverderberin“, knurrte er. Ter’sa musste ebenfalls lächeln und sagte dann laut: „NIGHTOWL erbittet Landeerlaubnis, WEGA 1!“

„Landeerlaubnis für NIGHTOWL erteilt!“ Der Starcommander hob eine Hand und hielt zwei Finger noch oben. „Positionslichter für Hangar 2 sind aktiviert.“ Dann blickte er zu den anderen, die diese Szene sprachlos und bis auf Jayden, der ebenfalls grinste, mit offenen Mündern verfolgt hatte und meinte: „Herzlich willkommen auf der WEGA 1, ihr Erdenbürger.“

 

Starcommander Ben’dict Ra erwartete seine Gäste in seinen privaten Räumen. Der Empfangsraum stellte eine halbkreisförmige Halle dar, an deren Wänden sich sieben angedeutete silberfarbene Säulen nach oben reckten und in einem Punkt über der Eingangstür zusammenliefen, was dem Raum die Atmosphäre eines gotischen Gewölbes gab. In den Seiten der Säulen waren Beleuchtungselemente integriert, die den Raum in verschiedenen Farben erstrahlen lassen konnten. Zur Begrüßung seiner Gäste hatte der Starcommander gelbliches, an die irdische Sonne erinnerndes Licht ausgewählt.

Der Raum selbst war sparsam möbliert. Eine halbrunde Sitzgruppe, nach weganischem Stil sehr hoch und weniger weich gepolstert, als das auf der Erde üblich war, davor der im Boden versenkbare Tisch sowie auf der anderen Seite des Raumes ein altertümlich anmutendes Stehpult, in das die Kommunikationskonsole eingelassen war, bildetet die einzigen sichtbaren Einrichtungsgegenstände.

Der Fußboden war mit einem an rissige Steinplatten erinnerndes Muster versehen und aus gut verborgenen Lautsprechern an den Wänden klang leise, sanfte Musik, die dem Raum eine feierliche Atmosphäre verlieh.

Dass sich zwischen den Säulen mehrere Türen mehrere Türen in Nebenräume führten, blieb Besuchern wohlverborgen.

Während seine Besucher empfangen und in ihre Räumlichkeiten gebracht wurden waren, hatte auch der Starcommander die Gelegenheit genutzt, um die Uniform gegen eine zivile dunkelblaue Kombination aus Tuchjacke und –hose zu tauschen und sein langes Haar zu einem Zopf zu flechten.

Gerade als er zu Sitzgruppe hinüber gehen wollte, wurde die Eingangstür geöffnet und die vier Gäste traten ein. Auch sie hatten die modischen und bequemen Bekleidungsstücke angezogen, die er in den Unterkünften für sie hatte bereitlegen lassen.

Ter’sa ging auf ihren Vater zu und umarmte ihn. Er drückte sie herzlich an sich und gab dann Jaden die Hand. „Ich bin glücklich, dass ihr wieder hier seid“, sagte er und sah dann zu Art und Patricia. „Und auch ihr seid herzlich willkommen, Art und Part!“ dann erst reichte er ihnen die Hand zum Gruß.

„Woher kennen sie uns, Commander Ra?“ wollte Pat wissen. „Langsam, alles zu seiner Zeit.“ Ben’dict Ra hob abwehrend die Hände. „Setzt euch erst mal.“ Er wies auf die Sitzgruppe und fügte hinzu: „Ich möchte euch erst etwas zu Trinken anbieten, bevor ich euch alles erkläre.“ Mit diesen Worten betätigte er eine Taste der Konsole des Stehpultes und kaum hatten die Gäste Platz genommen, was bei Art und Pat etwas merkwürdig aussah, da ihre Füße nicht mehr den Boden berührten, da öffnete sich die Eingangstür erneut und ein Servierrobot brachte gläserne Becher mit einer hellblau schimmernden Flüssigkeit sowie eine Schüssel mit kleinen Gebäckteilen, wie sie Art und Pat so noch nie gesehen hatten.

Das Getränk schmeckte leicht süßlich, doch als Art wissen wollte, um was es sich dabei handelte, meinte Ter’sa mit einem ernsten Blick ihrer dunkelroten Augen, dass er das bestimmt nicht wirklich wissen wolle. Art verschluckte sich fast und stellte den Becher ab. Er musste sehr entsetzt ausgesehen haben, den die beiden Weganer und zu seinem Unglück auch Jayden begannen laut und ausgiebig zu lachen. Patricia sah verwirrt zu ihnen hinüber. Doch ehe sie etwas sagen konnte, war es Jayden, der sie und Art aufklärte. „Das“, er wies auf den Becher vor sich, „ist gegorener Saft von blauen Hallkrautbeeren. So etwa das Gleiche wie unser Wein, nur nicht so stark alkoholhaltig und viel süßer.“ Art wollte etwas erwidern, aber Jayden winkte ab und sah Patricia an. „Dass Art nicht bemerkt hat, wenn Ter’sa ihn etwas veralbern wollte, oder“, er sah zu Ben’dict, „oder ihr Vater“, setzte er dann fort, „wundert mich nicht. Aber du hättest es bemerken müssen, Pat. Du solltest dich doch den ganzen Flug über fortbilden, was fremde Völker im Universum betrifft.“

„Aber das sind doch keine fremden Völker“, wies Pat ihn zurück. „Das sind doch Menschen, genau wie wir!“

Jayden nickte. „Das schon, aber trotzdem unterschieden sich alle kolonisierten Völker auf Grund der Bedingungen, die sie auf ihren neuen Heimatplaneten vorfinden und auf Grund ihrer Entwicklung dennoch in manchen Dingen von uns. Das müsste dir klar sein, dachte ich.“

„Naja“, Patricias Stimme klang etwas kleinlaut, „ich habe eben nicht daran gedacht, mit dem nächstliegenden anzufangen. Aber…“

„Ist ja auch egal und halb so schlimm“, unterbrach Jayden sie. „jedenfalls habt ihr nicht gemerkt, wenn sie euch auf den Arm genommen haben und das war schon ganz schön lustig.“

„Du hast das die ganze Zeit gewusst?“ fragte Art und sah Jayden an. „Und mich immer wieder drauf reinfallen lassen?“

Jayden zuckte die Schultern. „Ist ja nichts passiert dadurch. Außer einmal, als du ihr ziemlich weh getan hast.“

Art atmete tief durch und auf einmal mischte sich Ter’sa in das Gespräch. „Jay hat ganz schön lange gebraucht, bis er mich wieder runter gekriegt hat. Aber er wollte auch nicht, dass ich es dir sage.“

„Dass eure Augen strahlen und blitzen wenn ihr ernst oder gar traurig seid und nur, wenn ihr etwas lustig findet, dunkler werden?“ fragte Patricia.

„Das auch.“ Ter’sa sah Jayden in einer Art an, die alle anderen den Atem anhalten ließ. Doch ehe sie weitersprechen konnte, wandte sich Jayden an Ben’dict Ra. „Du wolltest uns was erzählen. Was weißt du über Pat und Art?“

Der Angesprochene lehnte sich in die Polster zurück und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: „Also gut. Wenn ihr es unbedingt wissen wollt: Ich habe Nachricht von Paul Hartmann. Er hat vor zwei Tagen Kontakt mit mir aufgenommen, da er vermutet hat, dass ihr schon hier eingetroffen sein könntet.“

„Er ist frei?“ Glück und Hoffnung schwangen in Arts Stimme.

„Natürlich.“ Der Starcommander nickte. „Sie haben ihn eine Weile im Bürokomplex unter Arrest gestellt und jeden Kontakt zur Außenwelt untersagt, da sie ihn der Spionage für die Polygonier verdächtigten. Es ist ihm aber gelungen, ihnen klar zu machen, dass er durch Zufall auf Akten gestoßen ist, die nicht für ihn bestimmt gewesen sind. Da er nun aber mal davon wusste, hat ihn sein Chef in eben jene Abteilung versetzt, die mit diesen Akten zu tun hat.“

„Dadurch kann er noch weniger für uns tun, als vorher.“ Patricia nickte. „Er wird selbstverständlich genauestens überwacht und kann es sich nicht leisten, direkt Kontakt mit uns aufzunehmen.“

„Genau so.“ Der Starcommander stimmt ihr zu.

Sie schwiegen eine Weile und nippten an ihren Bechern. Dann unterbrach Art die Stille. „Was sollte das übrigens vorhin mit den aldebaranischen Freunden? Wenn ich das jetzt richtig verstehe, war das ihr Ernst, Commander, dass wir sie beinahe ihn den Tod getrieben hätten: Was heißt das?“

Auch Jayden sah Ben’dict Raa erwartungsvoll an. „Das habe ich übrigens auch nicht verstanden.“ Setzte er hinzu.

Wieder einmal blitzte es in der Mine des Starcommanders. „Paul hat einen seiner aldebaranischen Freunde eingeweiht und gebeten, euch zu beschützen. Er war sich nicht ganz sicher, ob und wie die Benutzung des geheimen Sprungtores durch die Behörden registriert wird und ob euch dadurch Gefahr droht. Und außerdem ist es so, dass selbst die Benutzung normaler Sprungtore nicht ganz ungefährlich ist.“

„Ja, sowas ähnliches hat er uns schon in Angel-City gesagt“, meinte Art. „Nur ist er nicht konkret geworden.“

„Das Problem ist“, begann Ben’dict Ra, „dass die Sprungtore der Aldebaraner nicht ganz so funktionieren, wie offiziell gesagt wird. Was genau da drin passiert, wissen ihre Erbauer scheinbar selbst nicht.“

Jayden nickte. „Es sind schon Kolonieschiffe auf unerklärliche Weise verschwunden oder gar zerstört worden, keiner weiß das so genau.“

„Nicht nur Kolonieschiffe“, sagte der Starcommander mit bewegter Stimme. Art und Pat sahen ihn gespannt an.

„Ich bin schon so oft durch diese Dinger geflogen“, begann Jayden, doch Ben’dict Ra unterbrach ihn.

„Kleineren Schiffen passiert nichts oder höchst selten. Aber je größer das Schiff …“ Er schwieg.

„Die aldebaranischen Kreuzer…“ Art stockte die Stimme.

„Sind ganz schön gigantisch. Und einer ging das Risiko ein, euch zu folgen, falls ihr auf der anderen Seite abgefangen werdet“ meinte der Starcommander. „Der andere hat zum Glück gewartet und ist dann abgedreht, als von dem ersten Kreuzer kein Signal mehr kam.“

„Er ist vorschollen?“ fragte Art.

Ben’dict nickte. „Ja, er war. Allerdings hat er Glück gehabt. Vor einer Woche etwa ist er stark havariert plötzlich im Andromeda-System aufgetaucht. Da haben die Aldebaraner gerade das neueste Tor in Betrieb genommen. Es soll mit dem Arktor-System verbunden sein.“

„Und die Besatzung?“ Paricia starrte Ben’dict Ra fassungslos an.

„Alle am Leben“, er nickte ihr zu. „Aber für sie sind nur Minuten vergangen, obwohl sie Monate unterwegs gewesen sein müssten.“ Sie schwiegen betroffen.

Ohne dass sie es bemerkt hatten, hatte ein paar Augenblicke vorher ein etwa zehnjähriger Junge durch eine Nebentür den Raum betreten und lehnte jetzt an einer der Säulen. Auch er hatte den Ausführungen Ben’dict Ras voller Spannung gelauscht. Patricia sah ihn zuerst. Was ihr zuerst auffiel, war sein Haar. Es war schulterlang und lockig, von schwarzer Farbe, aber mit weißen Strähnen durchzogen.

Der Junge machte einen ernsten und zugleich schüchternen, ja beinahe ängstlichen, Eindruck auf Patricia. Als seine Augen ihrem Blick begegneten, wand er sich sofort ab und sah zu Ter'sa hinüber. Dass Pat ihm ein sanftes Lächeln schenkte, nahm er schon gar nicht mehr wahr.

In diesem Augenblick öffnete sich die Seitentür direkt hinter dem Jungen und ein junger uniformierter Mitarbeiter der Station betrat den Raum. Er nahm den Jungen sanft bei den Schultern, woraufhin dieser erschrocken zusammenzuckte, und sprach leise, aber eindringlich auf ihn ein. Patricia konnte sehen, wie der Junge sich auf die Unterlippe biss und Tränen in seine Augen traten.

Gerade wollte der junge Mann ihn aus dem Raum führen, als Ben'dict Ra auf die Szene aufmerksam wurde. Er unterbrach sein Gespräch, erhob sich und winkte mit einer Hand den Mitarbeiter aus dem Raum und mit der anderen zugleich den Jungen zu sich heran. Der Junge stürmte zu ihm und schmiegte sich an den Starcommander. Auch Ter'sa und Jayden waren, kaum dass sie des Jungen ansichtig wurden, aufgesprungen.

Erstaunt beobachten Pat und Art die Szene. Ben'dict Ra schob den Jungen sanft von sich und sagte lächelnd: "Konntest doch nicht warten, was Tabor?" Und in das Kopfschütteln des Jungen hinein fügte er lächelnd hinzu: "Na dann los, hast ja lange genug auf sie warten müssen."

Im Gesicht des Jungen erschien das strahlendste Lächeln, das Pat je gesehen hatte. Dann schoss er auf Ter'sa zu und warf sich ihr in die Arme.

Art und Pat sahen sich entgeistert an. Damit, dass die hübsche Weganerin ein Kind haben könnte, hätten sie nie und nimmer gerechnet. Aber was dann kam, brachte sie völlig aus der Fassung: Der Junge löste sich aus der Umarmung seiner Mutter und schmiegte sich an Jayden, der sich hingehockt hatte und ihn ganz fest in seine Arme nahm.

Der Starcommander winkte Pat und Art zu sich und verließ mit ihnen den Raum durch eine andere Tür. "Das haben sie euch verschwiegen, denke ich" stellte er im Gehen fest. Lassen wir ihnen ein paar Augenblicke und gehen wir in mein Arbeitszimmer. Die drei finden uns dann schon."

Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, nahmen sie auf den noch weitaus unbequemeren Sitzgelegenheiten vor seinem Schreibtisch Platz und der Starcommander klärte sie über das eben Gesehene auf.

Ter'sa Ra hatte als junge Wissenschaftlerin in der Konstruktionsabteilung der Raumwerft im Wega­System gearbeitet, als sie Jayden kennenlernte. Ben'dict Ra war nicht wirklich einverstanden gewesen mit der Beziehung seiner Tochter zu dem jungen Schmuggler, der damals noch als Copilot auf dem Schiff seines Vaters flog. Nachdem Jayden damals das kleine Transportschiff NIGHTOWL aufgebracht hatte, entwarf Ter'sa für ihn verschiedene Schmuggelverstecke. Als das später durch einen Zufall bekannt wurde, verlor sie ihren Arbeitsplatz auf der Werft. Jayden nahm sie daraufhin in seine Besatzung auf. Nach der Geburt ihres Sohnes vor zehn Jahren nahm sie dann aber wieder einen Job in der Werft an. Jayden war nach wie vor oft viele Monate unterwegs, kam dann für ein oder zwei Wochen, manchmal auch nur Tage, nach Hause und flog wieder davon.

Vor etwa mehr als einem Jahr etwa war Ter'sa dann in die Technische Abteilung der Raumwerft von Ers entsandt wurden, wo sie ein halbes Jahr aushelfen sollte. Dem Jungen hatte Ter'sa die Strapazen von vier Monaten Hin- und vier Monaten Rückflug nicht zumuten wollen und ihn bei seinem Großvater auf der Station gelassen.

Jayden, der sowieso oft im erdnahen Raum unterwegs war, hatte ihr angeboten, sie mit der NIGHTOWL nach Hause zu bringen.

Genau zu dieser Zeit erreichte ihn Patricias Nachricht und er brachte seine eigentliche Besatzung auf einem Transportschiff, das gerade unterwegs zur WEGA 1 war, unter, damit er neben Ter'sa auch Patricia und Art mitnehmen konnte.

 

Der kleine Aufenthaltsraum der WEGA 1 hatte sich gelehrt und langsam zog Ruhe ein. Sie standen an der drei Seiten des Raumes einnehmenden Scheibe und starrten in das All hinaus. Die riesige Sonne überzog alles mit ihrem Schleier aus dunkelrotem Samt. Im Gegensatz zu den meisten Systemen, die Art und seine Freunde durchquert hatten, war das der Wega voller Dynamik. Einige der Planeten, nicht nur WEGION 3, waren besiedelt und nicht alle Einwohner dieses Systems waren menschlichen Ursprungs. Außer der Raumwerft gab es hier auch eine große Handelszentrale, weshalb hin und wieder fremde Schiffe am Fenster vorbei zogen.

Sein Herz war fast geborsten in den Wochen, die sie hier auf die AURORA 4 gewartet hatten. Sehnsucht und Angst hatten es fast zerrissen. Aber auch die Ungewissheit, wie Jessie und die Kinder reagieren würden, wenn sie ihn hier wiedersahen.

Seit die Techniker vor zwölf Tagen die Meldung gebracht hatten, dass die AURORA 4 das letzte Tor passiert hatte und auf dem Weg zur Station war, hatte Art immer wieder hier gestanden und wie gebannt in die Unendlichkeit geblickt.

Wenn er jetzt ganz nah an die Scheibe herantrat und nach unten sah, konnte er den gigantischen Rumpf des Kolonieschiffes sehen, das vor ein paar Stunden angelegt hatte. Es war so gewaltig, dass es in keinen Hangar der Station passte. Aber um Treibstoffvorräte aufzunehmen, reichte die Verankerung mit der Station. Über eine mobile Schleuse hatten die Kolonisten die Möglichkeit erhalten, noch ein letztes Mal eine Station zu betreten und mit Menschen zu sprechen, bevor sie in einen Jahrzehnte dauernden Tiefschlaf versetzt werden würden.

Wenn sie irgendwann erwachen, befinden sie sich in einem System, das vermutlich nie wieder ein anderer Mensch erreichen wird, dachte Art. Sie werden auf sich selbst gestellt sein, ihr Leben leben und ihren Kindern eine neue, unfertige Welt übergeben. Und so wird sich das Generation um Generation fortsetzen.

Art war hierher, an den Rand des Universums sozusagen, geflogen um noch einmal mit Jessica zu reden. Und nun hatten sie, seit sie sich vorhin gegenüber gestanden hatten, so gut wie noch kein Wort gesprochen.

Jamie und Janine hatten sich ängstlich an Caspar geschmiegt, als sie Art gesehen hatten. Das hatte Art die letzte Hoffnung genommen, die ihm verblieben war. Wie oft hatte er sich in der Vergangenheit ausgemalt, dass die Kinder glücklich auf ihn zustürmen würden und ihn bitten würden, sie mit zurückzunehmen, oder aber mit ihnen zu fliegen.

Doch so wütend Art noch vor einem halben Jahr darüber geworden wäre, so ruhig blieb er jetzt. Er hatte ihnen "einen guten Flug und viel Glück" hinterhergerufen, als Caspar die Kinder an die Hand nahm und mit ihnen aus dem Raum ging. Nur Jamie hatte sich noch einmal umgedreht und in seinen Augen hatten Tränen geglitzert. Art hatte sich auf die Unterlippe beißen und die Augen schließen müssen. Es hatte so weh getan!

"Du bist verrückt, Art Karas" wiederholte Jessica einen Satz, den sie schon vor Minuten ausgesprochen hatte. Ihre Stimme bebte, als sie hinzusetzte: "Du machst es uns schwerer als notwendig."

Art nickte leicht, sah Jessie nicht an. "Ich hab' gedacht", fing er an. "Das du uns zurückgewinnen kannst?" unterbrach sie ihn. "Hast du das wirklich geglaubt?"

Art stützte seine Hände an die Scheibe, spürte die Kälte des Kunststoffes und nahm sie in sich auf. "Ja, daran habe ich geglaubt, Jessie." Er sprach leise und gefasst. "Am Anfang. Aber dann, als ich die Coloni-Dateien studierte, habe ich es mit der Angst zu tun bekommen. Mit panischer Angst um euch. Du kannst dir nicht vorstellen", er unterbrach sich und schluckte heftig.

„Doch ich kann, Art." Jetzt drehte sie sich zum ihm und griff nach seinen Händen. Er entzog sich ihr nicht. „Was glaubst du denn, was in mir vorging, als ich mich entschloss, den Kindern diesen Flug zuzumuten? Denkst du, ich wäre mir nicht bewusst gewesen, was ich ihnen antue, Art?" Sie sah ihn lange an, doch er starrte noch immer hinaus und erwiderte ihren Blick nicht. ,,Ja, das glaubst du", setzte sie dann hinzu und schüttelte den Kopf. „Du musst mich hassen, Art. Und glaube mir, ich habe das selbst manchmal getan. Ich kann verstehen, wenn du mich für ein Monster hältst, dass seine Kinder opfert, um ein freies, einfaches Leben führen zu können."

Art drehte sich mit einem heftigen Ruck zu ihr um. „Das ist nicht wahr, Jessica." Seine Stimme war heiser und jetzt sah er ihr tief in die Augen. Diese Augen, er könnte sie verfluchen. „Ich liebe Dich! Noch nie ist mir das so bewusst geworden, wie in den letzten Monaten. Und ich habe mir Sorgen gemacht."

„Du hattest Angst, uns zu verlieren", stellte Jessica fest. „Das bricht dein Leben aus der Bahn, Art. Aber du hast uns schon lange verloren. Es ist dir nur nicht bewusst gewesen. Jedenfalls nicht so. Und glaube mir: Dein Leben wird sich nicht ändern."

Art schloss für einen Moment die Augen und bemerkte dann erst, dass sie noch immer seine Hände hielt. Wärme ging von ihnen aus und erfüllte ihn.

„Das ist es nicht, Jessie", sagte er dann fest und sah sie an. „Irgendwie war mir von Anfang an klar, dass ich euch nicht zurückgewinnen werde. Auch wenn ich mir das immer vorgemacht habe. Entweder mit euch zurück oder weiterfliegen. Völlig egal. Aber mit euch zusammen wollte ich sein."

Er schwieg einen Moment und setzte dann fort: "Aber inzwischen ist es anders. Ich habe panische Angst gehabt, ihr würdet gar nicht hier ankommen und dann ... Ach, es ist alles so verdammt schwer zu erklären, Jessica."

„Wieso hätten wir denn nicht hier ankommen sollen?" Sie hatte den Kopf etwas auf die Seite gelegt und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Art konnte kaum an sich halten. Wie gerne hätte er sie jetzt in die Arme genommen.

„Besser, du weißt es nicht", meinte er dann. Doch Jessica ging, ohne Art loszulassen, zur Sitzecke, die ihnen am nächsten stand und zog ihn vorsichtig auf das Polster. Art ließ es geschehen.

“Was ist los, Art?" Ihre Stimme war sanft und weich und hing wie ein Hauch im Raum. Das war es gewesen, was Art damals so an dem jungen Mädchen aufgefallen war, als sie sich kennenlernten.

„Es gibt jede Menge Kolonieschiffe, die die Reise durch die Sprungtore nicht überstanden haben", begann Art. Und dann berichtete er ihr ausführlich über die Coloni-Dateien. Je länger er sprach, umso leichter wurde es. Jessica hörte zu. Dabei hatte sie jetzt die Augen geschlossen. Während er sprach, studierte Art ihre Gesichtszüge und nahm sie in sich auf. Nie würde er sie vergessen.

„Verstehst du, Jessie?" sagte er am Ende. „Ich habe keine Angst euch zu verlieren um meinetwillen. Das ist mir längst klar. Auch wenn ihr auf der Erde geblieben wärt, hätten wir uns vielleicht nie wieder gesehen. Aber ich habe Angst um euch, dass ihr euer Ziel nicht erreicht, dass ihr bis an Ende eures Lebens im Universum herumirrt oder euch etwas noch Schlimmeres zustößt. Die Tore habt ihr nun hinter euch, aber es gibt so viele Schiffe, so viele Menschen, von denen nicht klar ist, ob sie jemals in ihrer neuen Heimat angekommen sind."

Schweigend saßen sie nebeneinander. Und plötzlich drehte Jessica sich zu ihm um und umarmte ihn. Sie schmiegte sich fest an ihn und nun spürte er, dass sie weinte. Vorsichtig legte er seine Arme um sie.

„Ich werde mit euch kommen, Jessie“, sagte er dann leise. „Egal, wie es ausgeht. Ich will bei euch sein. Und wenn ich mich als blinder Passagier an Bord schnuggeln muss. Ich...

Jessica unterbrach ihn, indem sie ihm eine Finger auf die Lippen legte. „Das wirst du nicht, Art Karas. Das, was uns dort erwartet, ist nicht dein Leben. Du würdest es aushalten und du würdest dich vielleicht auch einfügen in unsere Gemeinschaft. Aber du würdest nie mehr glücklich sein. Wir sind viel zu verschieden. Und wenn ich eines nicht will, wenn ich eines nie gewollt habe, Art, dann, dass du unglücklich bist.“ Sie hielt einen Moment inne und setzte dann hinzu: „Und noch etwas: Du wirst auf der Erde gebraucht. Wer, wenn nicht du, wird die Menschen dazu ermutigen, sich mit dem Schicksal aller Kolonisten auseinanderzusetzen und Aufklärung zu verlangen über den Verbleib der verschollenen Schiffe? Du wirst keinen neuen Planeten besiedeln, Art. Du wirst helfen, die Erde zu verändern.“

Art wusste später nicht, wie lange sie so gesessen hatten. Irgendwann hatte Jessie ihn angesehen, auch diesen Blick würde er niemals im Leben mehr vergessen, und gesagt: „Ich liebe Dich, Art. Längst hatte ich das vergessen. Und ich bin furchtbar stolz auf dich. Das, was du gewagt hast, was du auf’s Spiel gesetzt hast, würde so schnell kein anderer Mann für seine Familie tun. Aber", sie hatte sich unterbrochen und tief Luft geholt, „das ändert nichts an meiner Entscheidung. In", sie sah auf die Zeitanzeige über der Tür, „in zwei Stunden werde ich mich an Bord der AURORA 4 schlafen legen und irgendwann in fünfzig, sechzig Jahren, irgendwo im Orbit eines fernen Planeten erwachen."

„Sechsundfünfzig Jahre und zwei Monate", murmelte Art. „Und der Planet heißt Paraleon 5. Er liegt im System der Parasonne und sieht fast genauso aus wie die Erde." Er sah sie an und strich ihr über das Haar. „Schickt ihr die Sonde los?" fragte er leise.

Jessie lächelte traurig. „Du wirst es sicher niemals erfahren Art. Aber ich werde mich immer gern an dich erinnern.“

 

Epilog

 Der kleine hellblaue Gleiter flog langsam nur wenige Meter über der Fahrbahn durch die menschenleeren Straßen von San Franzisco. Um diese Zeit hielten sich die Bewohner der Stadt schon längst in den Wohn- und Gesellschaftskomplexen auf und gingen ihren abendlichen Vergnügungen nach.

Aus einer Laune heraus zog Patricia den Gleiter nach links und lenkte ihn genau über die Wasserfläche der Bucht. Sie schob den Antriebshebel nach vorn und das kleine Fahrzeug schoss davon. Pat wurde in ihren Sitz gepresst und jubelte innerlich. Sie wusste selbstverständlich genau, dass sie weit über der erlaubten Geschwindigkeitsbegrenzung lag, aber das machte ihr nichts aus. Die Konturen der alten, rot erleuchteten, Brücke tauchten vor ihr auf und nur wenige Sekunden später jagte der kleine Gleiter, fast die Wasseroberfläche berührend, unter der Brücke hindurch. Für einen Moment schloss Pat die Augen. Eine tiefe Befriedigung erfüllte sie. Wann bekam man schon mal die Gelegenheit, etwas so Verrücktes zu tun?

Sie drosselte die Geschwindigkeit und zog den Gleiter wieder nach rechts, wo im Scheinwerferlicht die ersten, an die Hänge der Berge geschmiegten, uralten Villen auftauchten. Sie musste an jenen Abend denken, als sie mit Art vom Balkon des Wohnkomplexes am anderen Ufer herübergesehen und die Menschen beneidet hatte, die hier lebten. Jetzt gehörte sie dazu, oder zumindest so in etwa. Ihre Wohnung lag außerhalb der großen Stadt, aber hier war sie vielleicht noch öfter als zu Hause.

Sie ließ den Gleiter langsam steigen und flog ein kurzes Stück über die bewaldeten Hänge, ehe sie gleich darauf zur Landung ansetzte. Inmitten einer weitläufigen Parkanlage mit hohen, alten Bäumen stand eine ehrwürdige, mindestens genauso alte Villa. Der Saal in der obersten Etage war hell erleuchtet und auf der Landeplattform hinter dem Haus so gut wie kein Platz mehr frei. Vorsichtig drängte sie sich zwischen einen noblen roten Gleiter, neben dem sich ihrer wie ein Oldtimer ausnahm, und ein ebenso hochmodernes, aber straßengebundenes Fahrzeug. Sie ging um das Haus herum zum Haupteingang. Auf der Tafel neben der Eingangstür leuchteten in blauer Schrift die Buchstaben B A S E K, darunter, in feinen Goldlettern, die Aufschrift: “Behörde zur Aufklärung des Schicksals Ersianischer Kolonieschiffe“

Pat lächelte und schüttelte den Kopf. Paul hatte es sich also nicht nehmen lassen, die kleine Messingtafel anlässlich des heutigen Jubiläums durch dieses Monstrum ersetzen zu lassen.

Wenig später öffnete sie die Tür zum Festsaal und erstarrte angesichts der vielen Menschen, die sich hier drängten. Einige wenige erkannte sie. Mitarbeiter der BASEK, hochrangige Vertreter der Ersianischen Kolonisierungsbehörde EKB, sowie einige ehemalige Journalistenkollegen. Und natürlich Paul Hartmann.

Der Freund stand an das hellerleuchtete Rednerpult an der Stirnseite des Raumes gelehnt. Müde und abgespannt sah er aus, fand sie. Aber auch irgendwie erleichtert. Sie wusste, was er gleich verkünden würde und hatte ihn in seiner Entscheidung bestärkt. Paul hatte in den vergangenen Jahren viel geleistet und war oft bis an den Rand der Erschöpfung gegangen. Aber es hatte sich gelohnt.

Plötzlich spürte sie, wie sich zwei starke Hände auf ihre Augen legten. Sie lächelte und drehte sich langsam um. „Ich hab dich schon vermisst“, sagte sie leise.

Art nahm die Hände von ihrem Gesicht und zog Patricia an sich. „Ach wirklich?“ fragte er schmunzelnd. „Es sah so aus, als hättest du nur Augen für Paul.“

Sie küsste ihn. „Du bist manchmal unmöglich.“

Er nickte, doch ehe er antworten konnte, erfüllte Pauls Stimme den Saal.

„Sehr verehrte Gäste, liebe Mitarbeiter und Freunde“, begann er. „Ich freue mich, sie alle ganz herzlich zu unserm Jubiläum hier begrüßen zu dürfen“. Er nickte den Menschen zu, die still stehen geblieben waren und ihm ihre volle Aufmerksamkeit widmeten.

„Viele von Ihnen, von Euch, haben unserer Behörde seit Anbeginn die Treue gehalten und die großen Erfolge erst ermöglicht, die wir in den vergangenen zehn Jahren erreicht haben.“ Er stützte die Hände auf das Pult und beugte sich etwas nach vorn. „ich möchte auch gleich vorweg nehmen, dass ich große Neuigkeiten zu verkünden habe. Aber zuallererst möchte ich das Wort an Patricia Karas, der Pressesprecherin der BASEK übergeben.“

Pat lächelte und bemerkte erst jetzt, da alle zu ihr hinüber sahen, dass Art sie noch immer fest in den Armen hielt. Sie machte sich vorsichtig von ihm los und ging nach vorn. Dann hatte sie sich wieder gefasst.

„Tja“, begann sie dann, „die erste Neuigkeit, wenn man so will, ist wohl kein großes Geheimnis, denke ich. In den letzten Tagen wurde in den Medien bereits oft genug darüber spekuliert. Aber heute erst kann ich es mit Gewissheit verkünden.“ Sie machte eine kurze Pause, holte tief Luft und sagte dann: „Die NIGHTOWL unter Commander Romanescu hat gestern das letzte, noch vermisste Kolonieschiff, innerhalb der Tore gefunden.“ Applaus brandete auf und Patricia wurde heiß. Dann sprach sie weiter. „Die DIANA 3 ist wohlbehalten vor 230 Jahren im Allaris-System gelandet. Auf Grund einer Epidemie ist aber ein großer Teil der Kolonisten und Besatzungsmitglieder in den ersten Monaten gestorben, so dass sich die Entwicklung der Allarier stark verlangsamt anlief. Bewusst haben die Kolonisten damals keinen Kontakt zur Erde aufgenommen. Später, als andere Generationen diesen dann herstellen wollten, mussten sie feststellen, dass die technischen Systeme einfach nicht mehr funktionierten.“ Sie unterbrach sich, sah zu Paul hinüber, und als der nickte, setzte sie fort: „Aber das werden sie alles zu gegebener Zeit aus berufenerem Mund sicher genauer erfahren. Commander Romanescu und seine Besatzung werden von einem Mitglied der allarischen Kolonie begleitet, das dann auch seinen Sitz im Kolonialen Rat einnehmen wird.“

Ein Raunen ging durch Menge. „Ja, sie haben richtig gehört“, setzte Patricia ihre Rede dann fort. „Heute Nachmittag wurde der Beschluss gefasst, ein Gremium aller von der Erde abstammenden Kolonien zu gründen.“ Mit einem Lächeln und einer leichten Handbewegung stoppte sie den aufkommenden Beifall. „Das ist schon seit Jahren von uns angestrebt worden, ich weiß. Aber heute haben wir endlich eine Übereinkunft erzielt. Der Koloniale Rat wird seinen Sitz in Paris haben und alle bisher erreichten Kolonien werden jeweils einen Vertreter entsenden. Aufgabe dieses Rates wird es sein, gemeinsame Interessen herauszufinden und zu vertreten, falls es notwendig wird. Außerdem haben wir während unserer Nachforschungen festgestellt, dass alle Kolonien auf Grund ihrer unterschiedlichen Entwicklung, abhängig vom Ausstattungsgrad zu Beginn ihrer Abreise, wie auch von den Gegebenheiten auf dem jeweiligen Zielplaneten, sich mit verschiedenen Forschungen und Industrien beschäftigt haben. Das hat uns auf den Gedanken gebracht, alle diese Erkenntnisse zu bündeln und allen Völkern zugänglich zu machen.“ Patricia lächelte, als sie feststellte, dass nun alle gebannt an ihren Lippen hingen. „Ja, und das bringt mich dazu, eine weitere Neuigkeit bekannt zu geben.“ Sie sah zu Paul hinüber und der nickte ihr aufmunternd zu. „Auch Ers wird mit einem Mitglied im Rat vertreten sein. Und diese Aufgabe übernimmt der bisherige Leiter unserer Behörde, Paul Hartmann!“

Ein paar klatschten spontan Beifall, andere starrten schweigend oder erschüttert zu Paul. Der lächelte, ging nach vorn und sagte: „Ja, liebe Freunde und liebe Mitarbeiter, ich möchte euch allen für die Unterstützung danken, die ihr mir in den letzten zehn Jahren gegeben habt. Aber wir dürfen nicht vergessen, mit welchem Ziel diese Behörde gegründet wurde: Noch immer sind hunderte Kolonieschiffe mit vielen, vielen Menschen irgendwo da draußen im Universum verschollen. Noch reichen unsere technischen Mittel und Möglichkeiten nicht aus, alle Schicksale aufzuklären und alle von uns besiedelten Planeten zu erreichen. Aber wir arbeiten daran. Ich allerdings fühle mich geehrt von der Einladung des Kolonialen Rates, diese Aufgaben dort wahrzunehmen. Gleichzeitig bin ich mir sicher, dass ich meine bisherige Arbeit in gute, erfahrene Hände legen kann. In die Hände eines Mannes, der von der ersten Stunde an zu meinen fähigsten Mitarbeitern und besten Freunde gehört und dessen Schicksal eng mit denen der Kolonien verbunden ist. Ich bin mir sicher, dass er Alles daran setzen wird, meine Arbeit mit Erfolg fortzuführen – der bisherige Leiter unserer Rechercheabteilung: Art Karas!“

Pat sah zu ihrem Mann hinüber, der bis jetzt scheinbar unbeteiligt, mit ein paar seiner Kollegen etwas abseits gestanden hatte und nun langsam und bedächtig zum Rednerpult schritt.

„Danke Paul“, begann Art seine Ansprache, „danke für dein Vertrauen und deine lieben Worte, mein Freund! Ja ich werde mein Bestes geben, unseren gemeinsamen Weg fortzusetzen. Und ich weiß auch, dass uns noch ein weiter, gefahrvoller Weg bevorsteht. Ja liebe Kollegen, liebe Freunde“, er sah sich im Publikum um, „alles das, was wir bisher geleistet haben, war nur der Anfang. Jetzt müssen wir neue Wege gehen, denn jetzt gilt es, den nächsten Schritt zu machen. Den Schritt in die Unendlichkeit, denn jenseits der Tore geht er nun weiter. Nachdem sämtliche Kolonien im Universum diesseits der Tore gefunden wurden, bleibt das Schicksal vieler weiterer Schiffe ungeklärt. Wir werden unsere Suche allerdings ausdehnen müssen. Das erfordert von uns allen das Denken in anderen Dimensionen. Denn wenn wir bisher über Forschungsreisen von einem halben oder einem Jahr gesprochen haben, so reden wir jetzt über Reisen von Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten.“ Wieder wurde es unruhig im Saal. Arts Blick suchte Patricia und sie lächelte ihm zu. „Ja ihr habt recht“, setzte er dann fort. „Bisher haben wir nicht die Möglichkeit, unsere Suchschiffe außerhalb der Reichweite der Tore einzusetzen. Aber auch unsere Entwicklungsabteilung hat ja nicht geschlafen. Hier also nun die nächste Überraschung: Die Leiterin unserer Konstruktionsabteilung, Ter’sa Ra, wird ihnen, wird euch, hier und heute das erste Forschungsschiff mit Tiefschlaffunktion vorstellen!“ Damit trat er zur Seite und die Weganerin nahm seinen Platz ein. Sie hat sich kaum verändert, dachte Patricia etwas neidisch. Ihr sieht man die vergangenen zehn Jahre überhaupt nicht an.

 

Die hochgewachsene Weganerin mit den roten Augen und dem langen, weißblauem Haar strich sich eine Strähne aus der Stirn und sagte: "Für uns hat sich nie die Frage gestellt, ob wir irgendwann kleine Forschungsschiffe entwickeln müssen, die Jahrzehnte ohne manuelle Steuerung den Raum durchqueren können, da ihre komplette Besatzung im Tiefschlaf liegt. Wir haben uns nur gefragt, wie wir das in so einem kleinen Schiff technische bewältigen können und wie so ein Schiff dann aussehen würde. Meine Damen und Herren, liebe Freunde, das ist das Ergebnis:" Sie betätigte ein Tastenfeld auf dem Pult und in der Mitte des Raumes erschien, unter der Decke schwebend das dreidimensionale Hologramm eines linsenförmigen Raumschiffs. An der unteren Seite des Rumpfes befand sich eine Art Kanzel und auf der Oberseite im Heckbereich zwei röhrenartige Aggregate.

"Die PEGASUS, verkündete Ter'sa voller Stolz, "das Pilotschiff eines völligen neuen Raumschifftyps. Zwar immer noch mit Tiefschlafkammern ausgerüstet aber dennoch mehr als doppelt so schnell wie jedes bisher auf der Ers-Raumwerft gebaute Schiff vor ihm."

Die Fragen der Medienvertreter prasselten auf sie ein. Geduldig versuchte sie, jede zu beantworten, winkte dann aber ab. "Ich schlage vor, dass wir in den nächsten Tagen ausgiebig über unsere Pläne sprechen", sagte sie dann. Sie sah zu Paul hinüber, der zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. Dann setzte sie hinzu: "Heute sollten wir aber erst einmal feiern."

Art eröffnete den inoffiziellen Teil und schon bald schoben sich mehrere mit Speisen und Getränken beladene Servicerobots in den Saal. Die PEGASUS schwebte unter der Decke durch den gesamten Raum.

Patricia wollte zu Art hinüber gehen, sah aber dann, dass er in ein Gespräch mit Paul und einem Vertreter der Ersianischen Kolonisierungsbehörde vertieft war. Dann bemerkte sie, wie sich die Eingangstür öffnete und ein junger Mann in der hellblauen Uniform der ersianischen Raumflotte den Saal betrat. Im ersten Augenblick erkannte sie ihn gar nicht. Er war hochgewachsen, hatte tiefbraune Haut und trug einen schmalen Schnurbart über der Oberlippe. Sein langes, dunkles Haar, trug er offen und es reichte ihm bis weit über die Schultern. Dann fielen ihr die hellen Strähnen in seinen Haaren auf und als er ihr mit seinen dunkelroten Augen direkt ins Gesicht sah, erkannte sie ihn.

Freudestrahlend kam er auf sie zu. Sie umarmte ihn freundschaftlich und lachte. „Tabor, du bist ja richtig erwachsen geworden!" Er drückte sie herzlich an sich und meinte: "Wir haben uns ja auch schon ein paar Jahre nicht mehr gesehen, Pat." Seine Stimme klang tief und nachhallend wie ein Gong. Weganisches Erbe eben, dachte Patricia.

"Willst du deine Mutter nur abholen, oder zur Erfindung ihres genialen Raumschiffes gratulieren?" fragte sie. Tabor schüttelte den Kopf, antwortete aber nicht. Dennoch bemerkte Pat, wie sich sein Gesicht schmerzlich verzog. Sie sah ihn aufmerksam an und dann fiel ihr noch etwas auf. "Du bist zum Capitän befördert wurden? Glückwunsch Tabor!"

Keine Regung war in seinem Gesicht zu erkennen als er sagte: "Danke, Patricia. Vorige Woche habe ich die Akademie mit Auszeichnung bestanden. Ich muss aber erst mal zu meiner Mutter hinüber." Dann ging er zu Ter'sa, die ihn ebenfalls fest in ihre Arme schloss.

Ein wenig später, Patricia war gerade im Gespräch mit einem ehemaligen Kollegen, der sich die Exklusivrechte an der Berichterstattung vom Start der PEGASUS sichern wollte, vernahm sie die Stimme ihres Mannes.

„Ich komme nun zum Höhepunkt dieser Feier, liebe Gäste und möchte euch, möchte ihnen eine weitere Neuigkeit unterbreiten." Patricia horchte auf. Hatte sie etwas verpasst? Was gab es denn noch zu berichten, von dem sie nichts wusste?

Art stand hoch aufgerichtet hinter dem Rednerpult. "Ich wollte ihnen sagen, dass die PEGASUS“, er wies auf das immer noch an der Decke entlang ziehende Modell, "in zwei Tagen zu ihrem Jungfernflug ins Karios-System aufbrechen um nach den Kolonisten der PERSEUS 9 zu suchen. Unterwegs wird die PEGASUS in gleichmäßigen Abständen automatisch tausende winziger Kommunikationssatelliten aussetzen, damit irgendwann auch die Mitglieder dieser Kolonie Kontakt zum Kolonialen Rat aufnehmen können. Und nun meine Damen und Herren, begrüßen wir den Kommandanten der PEGASUS - Capitän Tabor Romanescu!"

 

„Das war gemein, Art“ sagte sie später, als sie draußen vor der Tür standen und sie in der kühlen Nachtluft langsam wieder zu sich fand. „Warum hast du mir nichts gesagt?“

Art sah sie traurig an und meinte: „Ich wollte euch eben nicht aufregen“. Dabei strich er ihr vorsichtig über den hohen, gewölbten Bauch.

„Ist dir nicht gerade gelungen.“ Patricia lächelte schwach.

„Ich hab‘ ja extra gewartet, bis Ter’sa in deiner Nähe war. Und außerdem ist Tabor viel zu spät da gewesen. War alles ein bisschen anders geplant.“

„Seit wann weißt du es?“

„Genau genommen erst seit heute früh. Tabor hat sich vorige Woche, gleich nach seinem Abschluss für die Mission gemeldet. Paul, Ter’sa und ich haben ewig mit ihm diskutiert, aber er ließ es sich nicht ausreden. Zu einem Schiff der neuesten Generation gehöre auch eine Besatzung der neuesten Generation, hat er gemeint. Trotzdem hat er sich Bedenkzeit ausgebeten und heute früh fest zugesagt.“

Patricia schüttelte den Kopf. „Wie hat Ter’sa das aufgenommen?“

„Na, wie schon – nicht eben glücklich, denke ich. Aber irgendwie ist so auch stolz auf Tabor, das fühle ich.“

„Und Jayden?“

Im hellen Mondlicht sah sie, wie sich ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. „Vielleicht begegne ich ihm mal zwischen den Welten hat er gemeint. Aber er hat seinen Sohn ja sowieso nur selten zu Gesicht bekommen.“

„Meinen will ich nicht so schnell verlieren“ sagte Patricia leise und zog Arts Hände auf ihren Bauch.

Nach einer Weile nahm er Pat in die Arme und ihre Blicken folgten den seinen hinauf in den dunklen Himmel, wo er zwischen den Sternen hängen blieb.

„Das ist das Schicksal der Menschheit“, sagte Art. „Wir lernen einander kennen und verlieren uns in einem winzigen Augenblick der Ewigkeit. Wie viel Zeit zwischen diesen beiden Ereignissen liegt ist nicht vorhersehbar und auch völlig unwichtig. Wichtig ist nur, was wir zwischen diesen Augenblicken damit anfangen.“

Impressum

Texte: Matthias Günther
Cover: Matthias Günther (provisorisches Cover)
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2018

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