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Freitagvormittag. Kurz nach zehn Uhr. Gelangweilt zappe ich durch die Fernsehsender. Unglaublich, was man den Leuten um diese Zeit anbietet! Trotzdem bleibe ich genervt bei irgendeiner Soap hängen. Irgendwas muss man ja machen, wenn man krankgeschrieben zu Hause rum hockt.
Als das Telefon klingelt, schrecke ich hoch. Bin ich doch eingenickt? Meine Laune wird nicht besser, als ich auf das Display schiele. Rufnummer unterdrückt. Na prima, Callcenter, denke ich, Werbeanruf. Erst will ich das Geklingel einfach ignorieren, dann dauert es mir doch zu lange.
Ich nehme die Fernbedienung und drücke den Reichen und Schönen erst mal den Ton weg. Als das Telefon dann immer noch keine Ruhe gibt, gehe ich ran.
„Ja?“ Ich habe keine Lust, mich vernünftig zu melden. Sollen die doch gleich hören, dass das kein langes Gespräch werden wird!
Stille. Kein Besetztzeichen, kein Freizeichen.
„Was denn nun?“ Langsam bin ich richtig genervt.
Ein schwerer Atemzug. Auch dass noch!
Und dann, gerade als ich das Telefon vom Ohr nehmen und ausschalten will:
„Micha?“ Leise, verweint.
Ich schließe die Augen, bekomme für einen Moment keine Luft. Mein Herz rast. Nicht gut, Gar nicht gut. Der Arzt hat mir jede Aufregung verboten! Aber diese Stimme! Sie bringt mich um den Verstand.
Ohne die Augen zu öffnen, frage ich: „Heike?“
„Kannst du reden?“ Immer noch tränenerstickt, stockend.
Überflüssigerweise sehe ich mich im Raum um. Meine Frau ist auf Arbeit und die Kinder wohnen schon eine ganze Weile nicht mehr bei uns.
„Ja.“ Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
„Ich muss mit jemandem reden. Und der Einzige mit dem ich darüber reden kann, bist du.“ Ihre Stimme ist ruhiger geworden und sanfter, so wie ich sie kenne. Ehe ich etwas antworten kann, fragt sie: „Hat Thomas schon mit dir gesprochen?“
Ich beiße mir fest auf die Lippen. Es schmerzt. „Nein“, sage ich. Das ist gelogen. „Was hast du denn?“ Ich weiß es längst, und das ist auch der Grund, weshalb es mir momentan so schlecht geht.

Seinen Anfang nahm Alles vor etwas mehr als zwei Jahren. Die Arbeit war neu, die Stadt war neu, die Nachbarn waren neu. Neu, aber in Ordnung. Alles. Thomas habe ich kennengelernt, da wohnten wir noch keine Woche hier. Ich war gerade von Arbeit gekommen und aus dem Auto gestiegen, als ein dunkelblauer Sportwagen mich fast in den Asphalt gebügelt hätte, dann aber mit quietschenden Reifen anhielt und sich zügig knapp hinter meinem klapprigen VW-Bus in die Parklücke schob. Ich schüttelte den Kopf. Angeber, dachte ich. Aber fahren konnte er, das musste man ihm lassen. Viel Platz war nicht mehr gewesen.
Wenn ich erwartet hatte, aus dem Wagen würde sich irgend so ein junger, verwöhnter Schnösel schwingen, hatte ich mich geirrt. Der Typ war bestimmt einige Jahre älter als ich, unrasiert und trug ein ausgefranstes Holzfällerhemd. Aber seine Jeans hatten bestimmt so viel gekostet, wie mein gesamtes Outfit.
„Fährst du immer so?“ wollte ich wissen.
„Meistens schneller.“ Er grinste und gab mir die Hand. „Du wohnst auch hier?“
Am Abend saßen wir dann zusammen beim Italiener um die Ecke. Anke hatte zwar erst mal die Augen verdreht, sie hat immer irgendwie Probleme mit fremden Leuten, ging dann aber doch mit. Und Thomas hatte versprochen, seine Frau ebenfalls mitzubringen. Da konnte ich ja schlecht alleine hingehen.
Die beiden verspäteten sich etwas, deshalb hatten Anke und ich uns schon was zu trinken bestellt. Als sie dann auf unseren Tisch zusteuerten, hätte ich mich beinahe verschluckt. Ich frage mich bis heute, ob Anke damals etwas gemerkt hat und ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ist.
Ich meine, trotz dass wir knapp vor der Silberhochzeit stehen, oder gerade deshalb, liebe ich meine Frau. Aber wenn eine schöne Frau meinen Weg kreuzt, machen sich meine Augen selbstständig. Nur die, das möchte ich betonen! Und in meinem Leben habe ich schon jede Menge schöne Frauen gesehen, dass bringt der Beruf als Fotograf so mit sich. Aber so eine Frau wie Heike war mir noch nie begegnet.
Im ersten Augenblick glaubte ich, er habe seine Tochter mitgebracht, so klein und zerbrechlich sah sie neben ihm aus. Auf höchstens Fünfundreißig schätzte ich sie. Ich sollte mich schwer getäuscht haben. Das lange brünette Haar trug sie locker über die rechte Schulter nach vorn gelegt. Ihr weißes Kleid lag hauteng an ihrem Körper an und war so kurz, dass es mir dem Atem nahm. In ihren ebenfalls High-Heels schritt sie wie eine Prinzessin durch den Raum. Das bezauberndste aber war ihr Gesicht! Selten habe ich solche Anmut, so einen freien und offenen Blick bei einem Menschen gesehen. Wenn es Engel gäbe, könnten sie nur so aussehen, habe ich damals gedacht. Und ich habe mich tatsächlich darüber geärgert, dass ich meine Kamera nicht dabei hatte. Übrigens habe ich bis heute kein einziges Foto von Heike.
Es wurde ein wunderschöner Abend. Wir erzählten und scherzten, als ob wir uns seit Jahren kennen würden. Wie Anke und ich hatten sie zwei Kinder. Die große Tochter lebt mit ihrer eigenen Familie irgendwo an der französischen Grenze, der Junge bei seiner Freundin im Bayrischen Wald.
Als mir im Laufe des Abends bewusst wurde, dass die Frau, die ich gerade so angehimmelt habe, nicht nur älter war als ich, sondern sogar schon eine süße Enkelin hatte, war ich für eine Weile völlig sprachlos. Wie ich meine Frau kenne, ist ihr auch das aufgefallen und bestimmt hat sie sich innerlich halb tot gelacht, aber sie hat sich nichts anmerken lassen und mich bis heute nicht darauf angesprochen.
Jedenfalls sollte dieser Abend der Beginn einer fantastischen Freundschaft werden. Wir besuchten uns gegenseitig, verbrachten die Wochenenden zusammen und irgendwann fuhren wir sogar gemeinsam in den Urlaub. Alles hätte einfach nur schön sein können. Wenn, ja wenn da nicht dieses Brennen in meiner Brust gewesen wäre, immer dann wenn Heike in der Nähe war. Ich brauchte sie nicht einmal zu sehen. Nur zu hören. Sogar der Duft ihres Parfüms reichte aus, meinen Herzschlag zu verdoppeln. Am Ende sogar die bloße Ahnung, dass sie in der Nähe sein könnte.

„Ich muss dich was fragen, Micha.“ Ich nicke, obwohl ich weiß, dass sie es nicht sehen kann. „Und ich brauche eine ehrliche Antwort.“
„Was willst du wissen, Heike?“ Ihre Antwort brennt tief in mir drin, sie brodelt in meinem Herzen, ergießt sich wie Lava in meinen Bauch.
„Was würdest du sagen…“ Einen Moment ist Stille. Ich höre zwei heftige Atemzüge. „Wenn ich mich von Thomas scheiden lassen würde?“
Er ist ausgesprochen. Der Satz, auf den ich über zwei Jahre gewartet habe. Den ich ersehnt habe. Der mich in so vielen Nächten nicht schlafen ließ. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich kämpfe mit den Tränen. Denn ich weiß, dass es zu spät ist
„Du hast dir das gut überlegt?“ frage ich zurück.
„Nein. Eben nicht. Deswegen bin ich hierhergefahren. Um allein zu sein. Weit weg von Allem. Um nachzudenken. Aber…“ Sie bricht ab und ich weiß, dass sie weint.
„Wo bist du? Soll ich zu dir kommen?“ Ich könnte mich ohrfeigen.
„Nein. Bitte nicht. Ich sage nicht, wo ich bin. Und … Micha … nein.“ Jetzt schluchzt sie heftig und ich fürchte, dass sie mich jeden Moment wegdrücken wird. Doch dann wird ihre Stimme wieder sicherer. „Ich muss mir erst mal selber darüber klar werden, wie es weitergehen soll. Oder mit wem. Wenn überhaupt. Ich will nicht noch eine Ehe zerstören, verstehst du? Es reicht, wenn meine kaputt ist.“
„Heike du …“ Du kannst doch nichts dafür will ich sagen, aber sie hört mir gar nicht zu.
„Es geht nicht mehr. Ich halte es einfach nicht mehr aus, Micha. Für Anke und dich muss das ein Schock sein, ich weiß. Ihr habt bestimmt immer geglaubt zwischen Thomas und mir wäre alles okay. Aber es war anders. Ganz anders. Und jetzt … ich kann einfach nicht mehr.“

Ja, zu Beginn unserer Freundschaft haben Anke und ich geglaubt, die Beiden seien für einander bestimmt. Es gab einfach nichts, dass wir nicht an ihrer Beziehung bewunderten. Wenn ich heute so darüber nachdenke, wundere ich mich, dass uns manches nicht schon eher aufgefallen ist. Das ich bis zum heutigen Tag zum Beispiel noch nicht ein einziges Mal mit Heike alleine gesprochen habe. Wir haben so gut wie nie einen von den beiden alleine gesehen. Höchstens mal ihn. Wenn er von Arbeit kam. Ansonsten waren sie unzertrennlich. Einfach immer Seite an Seite. Und wir fanden das toll.
Wenn wir zusammen saßen und quatschten, in einer Kneipe oder zu Hause, egal bei welchem Thema wir auch waren, Thomas und Heike sahen sich nur kurz an und hatten immer eine Meinung. Bei Anke und mir hingegen kam es immer wieder vor, dass wir uns auch vor unseren Freunden stritten. Einer Meinung sind wir sowieso eher selten, und wenn dann einer von uns in Erinnerungen kramte und eine Episode erzählte, hatte der Andere sie ganz bestimmt anders im Gedächtnis. Und sowas kam bei Thomas und Heike nie vor. Sie harmonisierten einfach perfekt. Fast perfekt. Irgendetwas stimmte nicht, das Gefühl hatte ich von Anfang an. Aber soviel ich auch grübelte, ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Irgendwann hatte ich mich schon selbst im Verdacht, einfach nur einen Grund zu suchen, warum Heike zu mir besser passen würde, als zu ihrem Mann.
Was es wirklich war, hat Anke dann aber mal auf den Punkt gebracht. Ich war schockiert darüber, wie genau meine Frau die Menschen in ihrer Nähe beobachtet. Und ich war ihr dankbar.
Es war während unseres ersten gemeinsamen Urlaubes mit den Freunden. Wir hatten zusammen ein Ferienhaus im Badischen gemietet, fuhren tagsüber in der Gegend herum und saßen abends bei Wein und sanfter Musik auf der Terrasse und genossen das Glänzen der Weinberge im Schein der untergehenden Sonne.
Nach so einem Abend lag Anke noch lange in meinen Armen. Dann rollte sie sich auf den Rücken und verschränkte die Hände unter dem Kopf.
„An was denkst du gerade?“ fragte ich sie.
„An Thomas und Heike“ antworte sie. „Ob sie auch gerade miteinander schlafen.“
Ans sowas denken glaube ich nur Frauen. „Wie kommst du darauf?“
Anke drehte sich zu mir herum und stützte sich etwas auf. „Ist dir noch nie aufgefallen, dass die Beiden sich niemals berühren? Sie fassen sich nie an. Ich habe noch nicht ein einziges Mal einen Kuss oder irgendeine Zärtlichkeit zwischen ihnen gesehen.“
Ich war sprachlos. Aber Anke hatte Recht. Bis dahin war mir das nie bewusst gewesen und sie hatte es von Anfang an beobachtet. Jetzt wusste ich, was mir immer so seltsam vorgekommen war.

„Soll ich noch mal mit ihm reden?“ Das wäre sinnlos. Ich weiß es. Und es wäre auch nicht das erste Mal.
Wieder herrscht einen Augenblick lang tiefe Stille.
„Worüber?“
„Darüber, wie er dich behandelt … dich … vernachlässigt hat.“ Ich weiß nicht so richtig, was ich sagen soll.
„Das bringt nichts, Micha. Er ist ja nie böse zu mir gewesen. Hat mich nie geschlagen oder so. Fast nie. Das ist es nicht.“
„Aber er ist niemals zärtlich zu dir gewesen.“ Ich sehe förmlich vor mir, wie ich sie mit diesen Worten quäle. Wie sehr sie um eine Antwort ringt.
„Früher schon“ sagt sie dann leise. „Aber als die Kinder da waren, aus dem Haus gingen…“ Sie seufzt. „es wurde eben irgendwie weniger. Und als dann unsere Enkelin auf die Welt kam…“
„Da war es vorbei?“
„Ach Micha, du verstehst das nicht. Er ist kein schlechter Mensch. Aber, aber er hat eben so seine Prinzipien, weißt du?“
Ja, ich weiß. Er hat sie mir erklärt. Und auch ich habe meine Prinzipien. Leider. Sonst wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Ganz, ganz anders.

Ein paar Tage nach diesem Urlaub habe Thomas dann mal abgepasst und er hat sich wirklich dazu überreden lassen, nur mit mir mal auf ein Bier zu gehen. Ich hatte das Gefühl, er fand es sehr angenehm, nur mal mit mir alleine zusammen zu sein.
Irgendwann brachte ich das Gespräch darauf, ob er Heike nach so vielen Jahren immer noch lieben würde. Seinen Blick daraufhin werde ich nie vergessen. Etwas lauerndes, Krankhaftes lag darin.
„Was willst du damit sagen?“ knurrte er mich an. Wie ein Hund, dessen Zwinger man betritt.
„Du küsst sie nie, du…“ Weiter kam ich nicht.
„Nicht in der Öffentlichkeit, du Arsch!“ In diesem Ton hatte er noch nie gesprochen. Er kriegte sich kaum noch ein. „Ich mag dieses Rumgemache in der Öffentlichkeit nicht! Prinzipiell nicht. Gehört sich nicht, sowas.“ Langsam wurde er wieder etwas ruhiger. „Und außerdem geht dich das ´nen Scheißdreck an, was ich mit meiner Frau mache und was nicht.“
Als ich ihn beruhigen wollte, hob er das Bierglas, als wenn er es mir jeden Moment ins Gesicht schlagen wollte. „Oder läuft da was zwischen euch?“ Mit diesen Worten krachte er das Glas auf den Tisch, so dass jeder zu uns herüber starrte. „Du weißt, was ich draufhabe, oder?“ Seine Stimme war in diesem Augenblick so kalt und hasserfüllt, dass ich wusste, er meinte es ernst.
Kalter Schweiß brach mir aus, denn ich wusste auch, was er meinte. Er hatte sie mir gezeigt, die beiden Smith&Wesson-Trommelrevolver in seiner Wohnung. Und die Urkunden und Pokale von früher. In seiner Jugend war er ein hervorragender Sportschütze gewesen. Jugend-Europameister sogar. Inzwischen trainierte er nur noch selten, denn auch seine Freizeit war knapp bemessen. Aber gut war er bestimmt immer noch.
„Ist ja gut, Thomas“, sagte ich, „ich wollte mich nicht einmischen. Und was Heike und mich betrifft, musst du dir auch keine Sorgen machen. Als ich vor zwanzig Jahren in das Geschäft als Fotograf eingestiegen bin, war ich schon mit Anke verheiratet. Ich habe mir geschworen, nie mit einer Kollegin oder einem Model ins Bett zu gehen. Und so schwer es mir auch hin und wieder gefallen ist, ich hab‘ mich dran gehalten.“
„Und?“
„Und? Thomas, da werde ich mich doch wohl an mein allerältestes Prinzip halten. Solange ich denken kann, solange Mädchen eine Rolle in meinem Leben gespielt haben, eine war immer absolut tabu: Die Freundin oder Frau meines besten Freundes, okay?“
Er nickte und starrte ruhig in sein Glas. Dann sah er mich wieder mit diesem seltsamen Blick an, der mich schaudern ließ. „Solange der Typ dein bester Freund ist, oder?“
Ich zuckte grinsend die Schultern. „Oder solange sie eben seine Frau ist.“ Manchmal kann ich’s einfach nicht lassen. Aber für Thomas schien das Thema damit erledigt zu sein. Wir haben nie wieder darüber gesprochen. Aber gelitten habe ich noch oft unter diesem Versprechen. Und nicht nur ich. Denn es wurde immer offensichtlicher: Wir konnten es sehen, es tief in uns fühlen, aber es uns nie eingestehen. So oft es ging, umschlangen sich unsere Blicke, berührten sich unsere Hände flüchtig und jedes Mal war das ein Feuerwerk der Gefühle. Ich bin mir sicher, dass Heike noch mehr litt als ich.

„Nein, Thomas ist kein schlechter Mensch. Er ist einfach nur er selbst. Und er will dich unter keinen Umständen verlieren, glaube ich.“ Was sage ich da? Ich glaube es nicht, ich weiß es.
„Das ist es ja gerade. Deswegen habe ich solche Angst, verstehst du?“ Ja, ich verstehe sie gut. Viel besser, als sie wissen kann. „Er holt mich mit Gewalt zurück, wenn er mich haben will.“ Ihre Stimme fängt wieder an zu zittern. „Das, das hat er schon einmal so gemacht.“
„Du wolltest ihn schon mal verlassen?“ Ich spüre ihr Nicken, auch wenn ich es nicht sehe.
„Kurz nachdem unsere Kinder geboren waren. Ich bin nicht weit gekommen.“
„Wenn er dich findet, musst du mit ihm reden, Heike. Ich denke, dass er es inzwischen versteht. Heute ist es anders.“ Sicher bin ich mir nicht. Aber ich habe Hoffnung.
„Heute ist es ernster, Micha.“
Langes Schweigen. Dass ich weiß, was sie meint, traue ich mir nicht auszusprechen.

Gestern Abend, ich saß mit Anke vor dem Fernseher, klingelte es kurz nach halb neun. Als ich öffnete, stand Thomas draußen, einen schweren Beutel in der Hand und total zerzaust. Ich hätte schwören können, ein paar Minuten vorher hatte er noch geheult.
Es bedurfte keiner Worte zwischen uns. Ich ließ ihn die Küche und er sich auf einen Stuhl fallen. Als ich mich auch gesetzt hatte, starrte er mich einen Moment mal wieder so forschend, so misstrauisch an, wie ich es in letzter Zeit lange nicht mehr gesehen hatte.
„Du weißt nicht, wo Heike ist, oder?“ fragte er. Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, und schüttelte den Kopf.
„Bei uns ist sie nicht.“
Nach einer Weile ein Nicken. Resignation. Plötzlich nahm er aus dem Beutel zwei große, schwarze Plastikschachteln. Ich erstarrte. Nur zu gut wusste ich, was sie enthielten.
„Tu mir einen Gefallen, Micha“, sagte er stockend. Dann schob er mir die beiden Schachteln zu. „Verwahr‘ sie für mich. Bewahre sie gut auf. Irgendwo, wo ich nicht rankomme, verstehst du?“
Ich nickte, schüttelte den Kopf. Fast zugleich. Was zum Teufel war passiert? Dann öffnete ich die Schachteln. Fast andächtig starrte ich auf die beiden Trommelrevolver, die sie friedlich darin lagen. Matt glänzten ihre Läufe im letzten Licht des Tages.
„Ja, sie sind wirklich drin.“ Er sagte es, jetzt mit ruhiger und gefasster Stimme sprechend. „Und es sind die einzigen scharfen Waffen, die ich besitze. Ich will sie nicht bei mir haben. Ich weiß sonst nicht, was ich tue, wenn…“ Er brach den Satz ab und starrte mich wieder an. Aber anders. Angst lag jetzt in seinem Blick und Verzweiflung. „Heike hat mich verlassen.“
Mir wurde schlecht. Ich kämpfte mit mir. Nur nichts anmerken lassen, hämmerte es in meinem Kopf. Auf keinen Fall etwas anmerken lassen! Endlich. Endlich war sie frei. In mir jubelte alles, mein Puls raste. Ich dachte keine Sekunde daran, was das für Anke und mich bedeuten würde. Das hatte die ganze Zeit keine Rolle in meinen Träumen gespielt, warum also jetzt?
„Sie liebt einen Anderen.“ Thomas sah mich an. Plötzlich fühlte ich einen eisigen Schauer auf dem Rücken. Wenn er es wusste, warum gab er mir dann seine Pistolen? „Einen Anderen, Micha. Nicht dich!“
Jetzt war ich es, der ihn anstarrte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, aus Glas zu sein und gerade auf dem Boden aufzuprallen. Eigentlich müsste ich in tausend Stücke zerspringen. Aber nichts dergleichen geschah. „Woher weißt du das?“ fragte ich leise und ich fühlte, dass ich den Tränen nahe war. So elend habe ich mich noch in meinem Leben gefühlt.
„Sie war gestern Abend in der Wanne. Obwohl sie sonst immer ihr Handy mit ins Badezimmer nimmt, diesmal hat sie es auf dem Stubentisch vergessen.“ Er nickte gedankenversunken und starrte auf das Muster des Tischtuches vor sich. Dann sprach er weiter. „Zuerst wollte ich es ihr noch reinbringen. Aber genau in diesem Augenblick kam eine Nachricht für sie rein. Da ich das Teil nun mal gerade in der Hand hatte, ging ich automatisch ran. Ich wollte es gar nicht, glaub‘ mir. Ich spioniere ihr doch nicht nach!“ Seine Stimme bebte jetzt ebenfalls verdächtig. Dann zog er ein Handy aus der Hosentasche. Heikes. Er suchte die SMS raus und zeigte sie mir.
Wir haben uns eine Weile stumm angesehen. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich hab‘ sie nicht geschlagen oder so. Brauchst keine Angst zu haben, Michael. So was tue ich nicht. Nicht mehr. Obwohl ich nahe dran war. Wir haben uns die halbe Nacht angebrüllt. Ich hab‘ sie so noch nicht erlebt. Sie war immer so sanft, ein Kind fast…“ Er drückte sich beide Fäuste gegen die Augen und schluchzte heftig. „Sie hat in der Stube schlafen wollen. Und heute früh war sie weg.“
„Und du hast keine Ahnung, wo sie hin sein könnte?“ Ich meinte es ehrlich. Irgendwie tat er mir leid.
„Nicht die geringste. Aber ich muss sie suchen, muss mit ihr reden. In Ruhe. Ich will ihr nichts Böses, Michael. Nur, dass sie zu mir zurückkommt.“ Das wird sie nicht. Wir wussten es beide.

Weil ich weiter schweige, spricht Heike. „Ich habe mich verliebt.“ Dann, als ich immer noch nichts erwidere: „Du hättest dein Versprechen eh‘ nicht gebrochen, Micha.“
Mir ist, als habe mich ein Blitz getroffen. „Du hast davon gewusst? Wann hat er es dir erzählt?“
„Gleich als er an dem Abend aus der Kneipe gekommen ist. Er hat mich angegrinst und gesagt, eine Affäre mit dir könne ich mir aus dem Kopf schlagen.“ Ich kann nicht fassen, was sie sagt. „Dabei habe ich zu dieser Zeit überhaupt nicht daran gedacht, dass ich etwas für dich empfinden könnte.“ Sie atmet noch einmal tief durch. „Das kam dann erst etwas später.“
„Heike, ich..“ Bevor ich weitersprechen kann, legt sie auf.
Grübelnd starre ich eine Weile auf den Fernseher. Warum ist das Leben nicht wirklich so einfach, denke ich, während ich das Telefon langsam zurück auf den Tisch lege.


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Texte: Alle Rechte beim Autoren
Bildmaterialien: Alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2012

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