Cover


„Ich habe gehört, eure geliebte Gattin ist von Euch gegangen, de Vernaag." In der Stimme des jungen Mannes ist keine Spur von Trauer zu vernehmen. Und tatsächlich fügt er hinzu: „Ihr werdet sicher entschuldigen, dass sich mein Mitleid in Grenzen hält."
Der breitschultrige Ältere, der gerade einen gewaltigen goldenen Pokal in den Wandschrank gestellt hat und dabei ist, die aufwendig geschnitzte Tür des Schrankes wieder mit einem dreibärtigen Schlüssel, den er an einem Band um den Hals hängen hat, zu verschließen, fährt herum. In seinen stahlgrauen Augen funkelt ungezügelte Wut.
"Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?"
„Immerhin hast du ja schon eine Ehefrau ins Grab gebracht." Auch der Jüngere lässt jetzt jegliche Höflichkeit fallen und eiskalter Hass liegt in seiner Stimme.
"Das ist eine unverschämte Lüge, Claudius." Der Alte stopft den Schlüssel unter das edle Gewand und starrt den Jüngeren an. "Oder kannst du was anderes beweisen?" zischt er dann.
"Leider nicht. Und jetzt gebt mir das Geld für den Tolkramél-Pokal, de Vernaag, damit ich wieder aus diesem Haus verschwinden kann. Ich kann in diesen Räumen nicht atmen, so sehr lastet die Verdorbenheit dieses Hauses auf mir."
Die Augen des Älteren ziehen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Dann wirft er ihm einen prall gefüllten Geldbeutel zu. "Auf dass auch du etwas vom Wohlstand meines Hauses abbekommst." Ein selbstgefälliges Grinsen legt sich über sein feistes Gesicht.
"Ich habe auch diesen Auftrag ordnungsgemäß ausgeführt. Und wie viel Reichtum ich diesem Haus in den letzten Jahren verschafft habe, will ich gar nicht wissen. Aber Eines sage ich Euch: Nach dem nächsten Auftrag will ich wissen, wo Ihr Córa versteckt haltet, sonst wird es der letzte Aufrag gewesen sein, den ich für Euch ausgeführt habe. Ihr haltet mich nicht mehr länger hin! Ich werde die Schwelle Eures Hauses erst wieder betreten, wenn ich sie gefunden habe. Und wenn ich am Ende der Welt nach ihr suchen muss!"
Mit diesen Worten dreht der junge Mann sich um, verbirgt den Geldbeutel unter seiner Kleidung und geht mit festen Schritten zur Tür.
"Es wird keinen Auftrag mehr geben, Claudius. Córa ist auf dem Weg hier her." Die Worte hängen eisig im Raum und wie erstarrt bleibt der junge Mann stehen. Er schließt die Augen und öffnet sie langsam wieder. Dann merkt er, dass der Ältere direkt hinter ihm steht. "Damit ist unsere Geschäftsbeziehung zu Ende, Claudius. Deine geliebten Wälder haben dich wieder. Und hoffentlich für alle Ewigkeit!"
Langsam dreht sich Claudius um. Er sieht dem feisten Händler ins Gesicht und sagt leise: "Ich werde sie hier rausholen, dass versprech' ich dir."
Ein geringschätziges Lächeln gleitet über das Gesicht des Anderen. Er zieht einen schmalen Dolch aus dem Gürtel und lässt ihn spielerisch über die Kuppe des eigenen Daumens gleiten. Eine zarte, blutige Spur bleibt auf der Waffe zurück. "Das glaube ich kaum." Er flüstert fast und seine Augen haben jedes Glitzern verloren. Grau wie Stahl und genauso scharf starren sie Claudius an. "Du willst doch nicht, dass Córa etwas zustößt, oder?" Und als sich die eine Hand des Jüngeren um das Gelenk der anderen krampft, wie um diese daran zu hindern, dem Alten an die Kehle zu fahren, setzt der hinzu: "Auch das Haus de Vernaag könnte eines Tages von üblen Trésortern überfallen und die Hausherrin dabei getötet werden, weißt du. Es gibt böse Menschen, die eine schnelle Klinge führen. Und es ist auch nicht auszuschließen, dass die arme Córa urplötzlich an einer schweren, schnell voranschreitenden Krankheit stirbt. Und", er wiegt nachdenklich den Kopf, „Ich glaube, das könnte auch passieren, wenn sie dieses Haus einmal verlässt. Böse Unfälle passieren überall, Claudius. Ich glaube nicht, dass du durch deine Unbedachtheit ein junges, unschuldiges Leben gefährden willst." Dann zischt er ihn an, den Dolch auf seine Kehle gerichtet: "Und jetzt raus hier. Verschwinde für immer aus unserem Leben, wenn dir Córas Leben wirklich etwas bedeutet! Aus ihr soll mal was Vernünftiges werden."
Noch ehe Claudius etwas erwidern kann, klopft es an der Tür und ein bärtiger, alter Diener steckt seinen Kopf herein. "Da ist ein ...."
Weiter kommt er nicht. Grob in den Raum gestoßen, schlägt er hart auf dem Boden auf. Hinter ihm tritt ein hochgewachsener Fremder in das Zimmer. Das unangenehme Äußere wird durch den penetranten Geruch, der ihn umgibt, und die beiden langen, schmalen Dolche, die blank in seinem Gürtel stecken, ergänzt.
Die beiden Männer sehen sich an und wenden sich dann dem Eindringling zu, während der Diener mühsam versucht, wieder auf die Beine zu kommen.
"Wer wagt es ... " setzt der Händler an, doch der Fremde unterbricht ihn sofort.
"Das tut gar nichts zur Sache, Wenn ihr Eure Tochter jemals wiedersehen wollt, solltet ihr schnellstens fünftausend Duk zusammenraffen und dann sage ich Euch, wann und wo ihr Eure Tochter wiederbekommt."
"Fauler Zauber", knurrt Claudius ihn an. "Jeder weiß, dass Herr de Vernaag keine Kinder hat."
"Na dann, das wusste ich nicht." der Fremde verzieht das Gesicht. "Mein Boss wird nicht sehr erfreut sein, das zu hören. Und diese Córa wohl auch nicht. Denn wenn sie nicht Eure Tochter ist, nützt sie uns nichts." Seine Hand macht eine unmissverständliche Bewegung den Hals entlang.
"Córa!" entfährt es Claudius und er erntet einen bösen Blick de Vernaags.
Da löst sich aus dem Schatten des gewaltigen Bücherregals neben der Tür eine weitere Gestalt. "Woher will er überhaupt wissen, dass es Eure Tochter ist?" fragt diese mit eiskalter, drohender Stimme, den Blick fest auf den Eindringling gerichtet.
Ungerührt über das plötzliche Auftauchen einer weiteren Person grinst der Bandit, sieht sich im Zimmer um und lässt sich dann in einen tiefen, bequemen Ledersessel fallen, der mit einem weißen Fell belegt ist. Dann legt er seine stinkenden, dreckigen Stiefel auf den danebenstehenden Tisch, während de Vernaag hörbar nach Luft schnappt. „Ich weiß es nicht." Er schüttelt bedauernd den Kopf. "Wirklich nicht. Aber irgendjemand muss es dem Boss ja erzählt haben." Er reibt sich über die tagealten Bartstoppeln. "Wenn ich es richtig bedenke, kann es nur dieses hässliche Frauenzimmer gewesen sein, mit dem er sich die Tage in Har de Mora herumgetrieben hat."
"Oh, diese verdammte alte Hexe!" De Vernaag kann vor Wut kaum an sich halten. Doch ehe er sich auf den Fremden stürzen kann, hält Claudius ihn zurück.
"Und warum sollte Herr de Vernaag so einem dahergelaufenen Halunken wie euch glauben, dass ihr tatsächlich seine Tochter in der Gewalt habt?" fragt er den Fremden.
"Na deswegen!" Der Fremde zieht eine dünne Goldkette unter seinem Wams hervor. Daran baumelt ein runder Anhänger. Deutlich ist das Wappen der Familie de Vernaag zu erkennen.


Córa de Vernaag ballt die Fäuste. Am liebsten würde sie heulen wie ein kleines Mädchen. Aber sie hat keine Tränen mehr. Ihre Augen brennen genauso wie die Haut unter ihren Fesseln. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie jemals in so eine erniedrigende Situation kommen würde! Tante Joslinda würde vor Scham in Ohnmacht fallen. Aber das gelingt Córa einfach nicht. Von Anfang an hat sie alles mit wachem Verstand ertragen müssen. Noch lieber wäre sie gestorben, aber nicht einmal diese Möglichkeit haben diese verfluchten Kerle ihr gelassen.
Elende Trésorter, denkt sie. Sie hatte es gleich gewusst, als der Kutscher mit einem Pfeil in der Brust auf dem Bock zusammengesunken war und Augenblicke später diese vier Halunken auf der Straße gestanden und ihnen den Weg versperrt hatten. Verdammte Schatzjäger, die ihre Finger nicht vom Eigentum anderer Leute lassen konnten! Sie hatte schon viel über die Gräueltaten dieser gesetzlosen Bastarde gehört, aber was sie seit jenem Augenblick hatte ansehen und erdulden müssen, überstieg an Brutalität und Rohheit alle diese Erzählungen bei Weitem.
Ihre Zähne graben sich in die Unterlippe und die zwei noch nicht abgebrochenen Fingernägel in die Handflächen. Der Schmerz lenkt sie eine Weile ab, das hat sie in den letzten Tagen gelernt. Hasserfüllt starrt sie auf die drei Männer, die nur wenige Schritte von ihr entfernt an einem flackernden Lagerfeuer sitzen. Unter lautem, ungenierten Gelächter, das von noch viel unanständigeren Geräuschen begleitet wird, schütten sie den guten Wein, der für ihren Vater bestimmt gewesen war, in sich hinein und verspeisen einen dürren Hasen, den einer von ihnen vorhin angeschleppt hat.
Als einer von ihnen aufsteht und ein paar Jant in Richtung Waldrand torkelt um sich dort zu erleichtern, dreht sie angewidert das Gesicht weg. Aber gleichzeitig spürt sie, dass auch sie beim besten Willen ihr Bedürfnis nicht länger bezwingen kann.
„Heda, ihr Halunken!" ruft sie in Richtung des Feuers, ohne die Männer direkt anzusehen. Keiner nimmt Notiz von ihr. Erst, als sie das dritte oder vierte Mal ruft und ihre gesamte verbliebene Kraft in die Stimme legt, erhebt sich einer der Bastarde und kommt mit erstaunlich sicheren Schritten auf sie zu. Es ist der, der Hâkon, den Anführer ihrer kleinen Leibwache, getötet hat. Wieder sieht sie den treuen Hauptmann im Todeskampf, die Hände vor den zerfetzten Leib gepresst, zu ihr aufblicken, um Verzeihung bittend, bis das Licht in seinen Augen erlischt.
"Was will denn unsere Prinzessin?" Seine Stimme ist längst nicht so sicher wie seine Schritte und sein Atem stinkt nach Wein und Verwesung. Sie wendet den Kopf zur Seite, muss aber trotzdem würgen. „Ist dir langweilig?" Seine Hand umfasst ihre Brust und Córa würde am liebsten vor Scham in den Boden versinken. Dann spürt sie plötzlich kaltes Metall an ihrem Oberschenkel und wie ihr Körper sich beinahe nicht mehr kontrollieren lässt, während das Messer langsam höher gleitet. "Wir könnten ja ein bisschen spielen." Ein raues Lachen dringt aus der Kehle des Räubers. Dann fasst seine Hand an ihr Kinn und dreht ihr Gesicht dem seinen zu. "Aber dein Vater würde es bestimmt nicht gut finden, wenn wir dich ... beschädigt zurückgeben." Ein dreckiges Grinsen erscheint in seinem hässlichen, von einer wulstigen Narbe durchzogenen Gesicht, während er sein Messer wieder einsteckt.
„Ich muss mal." Sie flüstert aus Scham und vor Angst. Das Grinsen wird breiter und anzüglicher. "Du bringst es immer noch nicht fertig, das gleich hier zu erledigen, was?" fragt der widerliche Kerl. "Naja, bist eben eine feine Dame. Und von mir aus kannst du das auch bleiben." Dann löst er den Riemen von seiner Hose, fertigt daraus eine Schlinge und legt sie ihr um den Hals.
Während er das Seil losknotet, mit dem Córa an den Baum gefesselt ist, hält er den Riemen straff gespannt, so dass der jungen Frau kaum Luft zum Atmen bleibt. Dann verknotet er ein Seilende fest mit dem Lederriemen und zerrt die Frau, deren Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt sind, zu einem in der Nähe gelegenem Busch. "Na los, beeil dich, meine Schöne, ich hab' nicht ewig Zeit" knurrt er sie an.
Die junge Frau hockt sich hinter das Gebüsch und versucht, den Gedanken aus ihrem Kopf zu verdrängen, dass ihr Peiniger nur einen Schritt entfernt auf der anderen Seite der dürren Blätterbarriere steht und ziemlich sicher mit seinem ekligen Grinsen im Gesicht versucht, sie auch jetzt zu beobachten.
Seit bald sieben Tagen schleppen diese Bastarde sie nun schon durch die Gegend. Und noch immer scheint die Qual kein Ende zu nehmen. Wenn diese räudigen Hunde sie doch nur ebenso getötet hätten, wie den Kutscher und die fünfköpfige Leibwache, die sie hätten zu ihrem Vater bringen sollen. Doch diese Banditen scheinen genau gewusst zu haben, wer ihnen da in die gierigen Finger geraten ist. Kaum dass sie an das Pferd des Anführers der Banditen gefesselt war, ist einer von ihnen aufgebrochen, um das Lösegeld von ihrem Vater zu erpressen. Es waren drei, vielleicht vier Tagesritte bis Wildenstein, das wusste sie. Morgen oder übermorgen mussten sie also an dem Platz ankommen, den diese Halsabschneider für die Übergabe auserkoren hatten. Dann würden ihr Leid und die Peinlichkeiten endlich ein Ende haben! Wenn sie es wahrscheinlich auch bis an ihr Lebensende nie mehr würde verwinden können.
"Na los jetzt!" Die Stimme des Banditen reißt sie aus ihren Gedanken. Ruckartig zieht sich die Schlinge um ihren Hals zusammen. Ächzend und nach Luft ringend stemmt sie sich nach oben. Sie fühlt sich unsagbar schmutzig, aber dennoch erleichtert.
Kraftlos und unsagbar müde stolpert sie hinter dem Kerl her, der scheinbar aus Spaß immer wieder so heftig an der Schlinge ruckt, dass sie sich immer fester um ihren Hals schließt. Doch kurz bevor sie den Baum erreichen, an dem sie bis vorhin gefesselt war, geschieht etwas Merkwürdiges.
Die beiden Trésorter am Feuer brüllen plötzlich wie wahnsinnig auf und starren zum gegenüberliegenden Waldrand, als ob dort gerade ein grauenvolles Untier heraustritt. Die junge Frau sieht das blanke Entsetzen in den Augen der Männer. Doch so sehr sie sich auch anstrengt, dort ist nichts, aber auch gar nichts, zu sehen. Nur tiefe Dunkelheit. Dennoch schreien die Männer wild durcheinander. Einer schleudert einen Speer in das schwarze Dickicht.
Auch das Narbengesicht lässt auf einmal mit einem entsetzten Aufschrei das Seil fallen und wendet sich ebenfalls dem Waldrand zu.
Die Beiden am Feuer springen, so schnell es durch die Wirkung des Alkohols möglich ist, auf die Beine, greifen zu ihren Waffen und laufen über die Lichtung auf den Wald zu.
Córa sieht, wie auch das Narbengesicht sein Schwert ziehen will und in der Bewegung erstarrt, da dieses wohl neben dem Feuer liegt. Dann reißt er plötzlich seine Hände an die Hüften. Doch zu spät: schon gleiten seine Hosen zu Boden.
Córa schließt für einen Moment verschämt die Augen. Gleich darauf aber besinnt sie sich und als sie sie wieder öffnet, taucht hinter dem starr wie eine Statue dastehendem Räuber ein weiterer Mann wie aus dem Nichts auf.
Er ist in einen weiten, dunklen Mantel gekleidet, das Gesicht zum größten Teil unter der Kapuze verborgen. In einer Hand hält er einen langen Stab an dessen oberen Ende ein blassblau leuchtender Stein befestigt ist. Diesen hält er auf die andere Seite der Lichtung gerichtet und mit der freien Hand zieht er ihrem Peiniger den Dolch aus dem Gürtel.
Das Licht auf dem Stab des Fremden wird langsam schwächer.
In diesem Augenblick halten die beiden anderen Wegelagerer in ihrer Bewegung plötzlich inne und schauen sich verwirrt um. Sie scheinen die Situation zu erkennen und kommen jetzt, sichtlich ernüchtert, mit erhobenen Schwertern auf sie zugelaufen.
Sie sind keine fünf Jant mehr entfernt, da legt der Fremde mit einer ruhigen, gleitenden Bewegung den Dolch an die Kehle des immer noch versteinert dastehenden Anführers der Bande und wendet sich den anderen Beiden zu. "Stehen geblieben und die Waffen weg, ihr Bastarde!" Eine dunkle und geheimnisvoll klingende Stimme schallt über die Lichtung. "Oder euer Boss ist hinüber!"
Als die beiden Angreifer nicht auf diesen Befehl reagieren, sieht Córa, die vor Anspannung selbst nicht in der Lage ist sich zu rühren, wie plötzlich eisblaue Funken aus der Spitze des noch immer erhobenen Stabes sprühen und sich zu einer großen, beinahe durchsichtigen Blase vereinigen die auf die beiden Männer zufliegt. Sie sieht auch, wie in dem Moment, da die Blase sie einhüllt, die Gesichtszüge der Angreifer erstarren und wie ihnen die Waffen aus den Händen fallen. Genau in diesem Augenblick erlischt das Leuchten und das Klirren des Stahls auf dem Boden bringt Córa zurück in die Realität.
Der geheimnisvolle Fremde zerrt den sich immer noch nicht wehrenden Gefangenen zu dem Baum, an dem bis vor kurzem die junge Frau gefesselt gewesen ist. Geschickt verknotet er mit dem Seil, das er inzwischen von dem Lederriemen gelöst hat, Arme und Füße des Mannes, der noch immer mit heruntergelassenen Hosen dasteht, an dem dünnen Stamm.
Dann zieht er unter seinem Umhang ein weiteres Seil hervor. Er reicht es der Córa. "Willst du die Beiden selbst fesseln?" Sein Kopf nickt in Richtung der starr und steif dastehenden Männer. Die durchsichtige Blase ist längst verschwunden. Als sie zögert, setzt er hinzu: "Der Erstarrungszauber wird nicht mehr lange halten, fürchte ich. Meine magische Energie war nur noch ziemlich schwach, wie du bestimmt gesehen hast."
Córa nickt und die Starre weicht plötzlich von ihr. Mit festem Griff packt sie das Seil und als sie auf die beiden Kerle zugeht, tritt ein wildes Funkeln in ihre Augen. Der Fremde hilft ihr dabei, die Banditen zu verschnüren und tritt einem von ihnen dann heftig in die Kniekehle, so dass beide sich nicht mehr auf den Beinen halten können und unsanft auf dem Waldboden aufschlagen.
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, geht er zum Lagerfeuer hinüber und winkt die junge Frau zu sich heran. Unschlüssig tritt sie näher. Das Gesicht noch immer fast gänzlich im Schatten der Kapuze verborgen mustert er sie aufmerksam, und Córa merkt, wie ihr das Blut in den Kopf schießt. Sie fühlt sich nackt und verkommen, so wie er sie anstarrt.
Als ob er das spürt, nickt der Fremde plötzlich. "Du würdest jetzt sicher gerne baden", sagt er und seine tiefe Stimme ist diesmal leise, beinahe sanft. "Aber hier gibt es keinen Bach oder See in der Nähe. Du musst damit bis morgen gegen Mittag warten. Am Dunkelsee wirst du Gelegenheit haben, dich endlich von diesem Dreck zu befreien." Sie wundert sich über seine Wortwahl und als er sich zu den Lagerstätten der Räuber herabbeugt, setzt er hinzu: "Bis dahin erträgst du auch das noch. Du kannst ja nichts dafür." Er kramt in den Habseligkeiten der Banditen herum und wirft das meiste davon ins Feuer. Den Rest legt er zu einem niedrigen Stapel zusammen. Nahrungsmittel, Weinschläuche, Waffen.
Ohne seine Beschäftigung zu unterbrechen zieht unter seinem Umhang eine zusammengerollte Decke hervor und reicht sie ihr mit den Worten: „Schlaft gut, Lady de Vernaag von Wildenstein." Dass der Fremde plötzlich das höfliche Sie und ihren Titel verwendet, irritiert sie weniger, als sein Wissen um ihre Identität.
"Wer, bei Zarion und Jeltara, seid ihr?" flüstert sie.
Der Fremde schlägt mit einer schnellen Handbewegung die Kapuze zurück und sie blickt in ein junges, von aschblonden Locken umrahmtes, Gesicht, in dem wunderschöne hellbraune Augen wie Juwelen blitzen. Sie hat dieses Gesicht noch nie gesehen, und doch kommt es ihr merkwürdig bekannt vor. "Man nennt mich Valôrius, ich bin ein ... nun sagen wir, Geschäftspartner, eures Vaters. Hin und wieder jedenfalls." Er lächelt seltsam. Ein Freund ihres Vaters scheint er nicht zu sein. Der Klang seiner Stimme und der Blick seiner Augen scheinen einen warmen Hauch auf ihrer Haut zu verursachen. Verlegen blickt sie zu Boden und ärgert sich darüber.
"Er hat euch geschickt, mich aus den Händen dieser Halsabschneider zu retten?" sagt Córa und ihre Stimme ist jetzt fester und selbstbewusster als noch vor wenigen Augenblicken.
Der Fremde zuckt die Schultern. „Wenn ihr es so ausdrücken wollt. Nun legt euch aber hin und schlaft etwas, in ein paar Stunden schon müsst ihr wieder bei Kräften sein, denn unser Weg ist noch weit und nicht ganz einfach. Darüber, was ihr noch wissen müsst, können wir morgen reden."
Ohne weitere Widerworte legt sich Córa auf die Decke und hüllt sich in diese ein. Sie schläft fast auf der Stelle ein und hat dabei das Gefühl, dass der Magier etwas nachgeholfen hat.

Erholt und merklich gestärkt erwacht Córa de Vernaag kurz nachdem die ersten Sonnenstrahlen auf die kleine Lichtung fallen. Sie richtet sich etwas auf und sieht sich um. An das Lagerfeuer erinnert nur noch ein dunkler Fleck, daneben steht dieser Magier Valôrius. Die drei Banditen sind verschwunden.
Während sie aufsteht und die Decke zusammenrollt fragt sie wie beiläufig: "Was habt ihr mit ihnen gemacht?"
"Laufen gelassen."
Córa bleibt fast das Herz stehen. Ein riesiger Kloß ballt sich in ihrer Kehle zusammen. "Ihr habt sie nicht umgebracht?" Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie den Magier an, der, beinahe verständnislos, den Kopf schüttelt.
"Warum hätte ich das tun sollen? Sie stellen keine Gefahr mehr für uns dar. Ihre Pferde sind längst weg, ihre Vorräte und alle Waffen gut verstaut", er weist auf ein Bündel, das neben ihm auf dem Boden liegt, "und neue Sachen müssen sie sich auch erst mal besorgen." Er grinst schelmisch. "Ihre Kleidung war in so einem erbärmlichen Zustand, dass ich sie einfach verbrennen musste."
Nun tritt auch in das blasse Gesicht der jungen Frau ein leichtes Lächeln. "Aber trotzdem, es wäre euch doch ein Leichtes gewesen, sie zu töten", sagt sie dann leise. "Sie hätten es verdient, diese Banditen."
Der Blick der schönen hellbraunen Augen des Mannes wird plötzlich dunkel und hart. "Niemand hat es verdient zu sterben, Lady. Einem Menschen das Leben zu nehmen ist in keinem Fall ehrenhaft. Und einen Unbewaffneten oder Wehrlosen zu erschlagen ist mehr als grauenvoll. Bei allem, was ihr erdulden musstet ... " Er bricht den Satz ab und wendet sich ab. “Wie viele Menschen habt ihr denn schon getötet, Lady Córa?" fragt er und erwartet keine Antwort.
Sie atmet zwei, drei Mal tief durch und sagt dann: "Aber es waren doch nur ein paar elende Schatzjäger. Menschen ... ?" Mit einem abfälligen Geräusch auf den Lippen winkt sie ab.
Der Magier fährt herum. "Schatzjäger?"
"Na, dreckige Trésorter eben. Habt ihr noch nie davon gehört? Elendes Pack, das sich in neuerdings in allen Ländern Galâriens breitmacht und für Geld einfach alles tut, was man von ihnen verlangt."
Die Augen des Magiers werden noch eine Spur dunkler, dann nickt er bedächtig. "Trotzdem" sagt er und zieht die Kapuze wieder über den Kopf. "Ich glaube nicht, dass das Trésorter gewesen sind" murmelt er vor sich hin.
Seine Augen sind nicht zu erkennen, als er unvermittelt fragt: "Könnt ihr reiten, Lady Córa?"
„Nein, ich …“
"Ach ja, ihr werdet ja ständig kutschiert. Nun, damit kann ich nicht dienen." Er stößt einen langen Pfiff aus und aus dem Dickicht kommt ein wunderschöner, dunkelbrauner Hengst heran getrabt. Eine kleinere Schimmelstute folgt ihm.
"Dann müsst ihr es ertragen, vor mir im Sattel zu sitzen." Als sie heftig protestieren will, zuckt der Magier die Schultern. "Oder eben laufen. Wie es euch besser gefällt." Er tritt an die Stute heran, flüstert ihr etwas ins Ohr und legt seine rechte Hand auf ihre Stirn. Córa scheint es, als würde für einen kurzen Augenblick ein rötliches Leuchten von seiner Handfläche ausgehen, dann trabt die Stute gemächlich davon.
"Was habt ihr mit ihr gemacht?"
Sie nach Hause zurück geschickt", meint er und Córa glaubt, ein leichtes Lächeln unter der Kapuze zu sehen. "Sie wird unbeschadet dort ankommen, glaubt mir."

Zuerst empfindet sie es als äußerst unangenehm, so dicht an den fremden Mann gepresst in dem harten Sattel zu sitzen, voller Angst, irgendwann herunterzufallen von diesem hohen, sich so merkwürdig bewegenden Tier. Und wieder kommen Scham und Ekel auf, weil der Magier einen Arm um ihre Hüfte liegen hat und sie so fest an sich drückt, dass sie die Wärme seines Körpers durch den Stoff ihres dünnen Kleides hindurch auf ihrer Haut spürt. Doch irgendwann sagt sie sich, dass das immer noch angenehmer ist, als mit gefesselten Händen und mit einem Seil an den Sattelknauf gebunden zu sein, stundenlang durch den Wald gezerrt zu werden. Sich mit diesen Gedanken befassend lässt es sich aushalten.
Irgendwann fängt sie an, zum ersten Mal seit dem Überfall, aufmerksam ihre Umgebung zu betrachten. Sie befinden sich noch immer tief in den Wäldern Jelturias. Dieser Teil Galâriens ist zum größten Teil mit unheimlichen Urwäldern bedeckt. Es gibt nur zwei richtige Städte. Da ist zum Einen Har de Mora, an der Küste des unendlichen Meeres, wo ihre Tante Joslinda lebt, bei der sie die letzten fünfzehn Jahre verbracht hat und dann Tor Geólis weit im Osten, an der Grenze zu Tiri Geol, eine Kleinstadt, in der sich hauptsächlich Händler und Handwerker niedergelassen haben. Tief versteckt in den dunklen, undurchdringlichen Wäldern soll es noch kleine Dörfer geben, fast vollständig abgeschnitten von der übrigen Welt. Über eine Menge merkwürdige und sagenumwobene Wesen, die in den Wäldern hausen sollen, spricht man in den Städten nur hinter vorgehaltener Hand.
Eine einzige, schmale Straße durchquert die Wälder von Jelturia, gesäumt von mächtigen, uralten Laubbäumen, deren Äste hoch oben ein fast undurchdringliches Dach bilden. Dazwischen stehen beinahe mannshohe Farne und andere Pflanzen mit leuchtend roten und gelben Blüten. Diese sind nicht ungefährlich, wie sie gesehen hat. Einer ihrer Entführer war aus Versehen mit einem Arm gegen einer der schönen Blüten gekommen, als sie einem Hindernis auf dem Weg ausweichen mussten. Nur wenige Stunden später war sein Arm angeschwollen und feuerrot geworden. Zwei Tage lang hatte er vermutlich ungeheure Schmerzen aushalten müssen und Córa hatte es ihm gegönnt.
Als sie daran denkt, fällt ihr plötzlich etwas ein. "Was habt ihr vorhin eigentlich damit gemeint, ihr glaubt nicht daran, dass diese Banditen Schatzjäger waren, Valôrius?" bricht sie das lange Schweigen.
"Nun, ich denke, Trésorter hätten das Lösegeld nicht direkt von eurem Vater gefordert, sondern euch zu ihrem Auftraggeber gebracht, der dann selbst mit eurem Vater verhandelt hätte."
"Meint ihr?"
"Andererseits kann ich mir aber nicht vorstellen, dass Schatzjäger überhaupt an einem Geschäft wie diesem interessiert wären. Das ist eher etwas für Wegelagerer und Räuber."
„Ich sehe da keinen Unterschied, für mich ist das Alles ein und dasselbe elende Pack!"
Valôrius schweigt eine Weile und beendet das Gespräch mit den Worten: "Bestimmt habt ihr Recht, Lady Córa."
Plötzlich schießt ein riesiger dunkler Schatten auf sie zu. Die junge Frau schreit vor Schreck laut auf. "Halt dich fest!" ruft Valôrius, plötzlich wieder zum Du wechselnd. Doch Córa hat keine Zeit darüber nachzudenken und krallt ihre Hände angsterfüllt in die Mähne des Hengstes, während der Magier seinen Arm zu Seite ausstreckt. Es ist ein gewaltiger Vogel, der da mit mächtigen Flügelschlägen auf sie zu kommt und dann auf dem ausgestreckten Arm des Magiers landet.
Sie zittert am ganzen Körper als sie ängstlich zurückblickt und den gewaltigen gelben Schnabel des Vogels nur zwei Handbreit vor ihrem Gesicht sieht. Der Vogel dreht ebenfalls den Kopf und ein rundes, schwarzes Auge, in dem sich der Wald zu spiegeln scheint, starrt Córa an.
"Schön, dich zu sehen, Taêl" sagt Valôrius dann leise. Der Vogel stößt einen schrillen Schrei aus, der Córa beinahe das Blut in den Adern gefrieren lässt. Eine Weile schweigen alle und dann nickt der Magier dem Vogel zu. "Gut, treffen wir uns am Dunkelsee." Und als der Vogel sich wieder in die Luft erhebt, um in die Richtung zurückzufliegen, aus der er gekommen ist, ruft er ihm nach: "Und sag‘ Fe'thorn, er soll sich nicht so sehr beeilen. Lady Córa braucht bestimmt etwas Zeit für sich."
"Was war das denn?" flüstert die junge Frau aufgeregt, als der Magier seinen Arm wieder um ihre Hüfte legt und sie ihre Finger langsam aus der Mähne des Pferdes löst.
"Eine treue Freundin. Sie und ein anderer Freund erwarten uns am Dunkelsee und gemeinsam werden wir euch sicher nach Hause begleiten."
"Ihr sprecht von Freunden und meint damit ... Vögel?" fragt Córa ungläubig.
Ein dunkles, aber freundliches Lachen dringt unter der Kapuze des Magiers hervor. "Nicht unbedingt, lasst euch überraschen."
Nur wenig später hält Valôrius das Pferd an und steigt ab. Dann hebt er die junge Frau herunter, die es jetzt gar nicht mehr so schlimm findet, dass er sie dabei fest an der Hüfte packt und auch noch einen Augenblick festhält, als sie bereits festen Boden unter den Füßen hat. Denn plötzlich geben ihre Knie etwas nach und sie sinkt dem Magier an die Brust. Er hält sie an den Schultern fest, während ihr das Blut in den Kopf schießt. Mit keinem Wort geht er auf ihre Verlegenheit ein und schließlich hat Córa auch wieder einen festen Stand gefunden.
Der Magier nimmt sein Reittier am Zügel und geht langsam in den Wald hinein.
"Wohin wollt ihr?" fragt die junge Frau verwirrt.
"Da hinein!" Valôrius zeigt auf einen schmalen, kaum erkennbaren Pfad, der von der Straße weg in den Wald hineinführt. "Ab hier müssen wir zu Fuß gehen. Aber es ist nicht weit."
Nach ein paar wenigen Schritten wird der Pfad etwas breiter. Vermutlich, weil kaum noch ein Lichtstrahl bis zum Boden vordringen kann. In tiefer Dämmerung schreiten sie schweigend dahin. Selbst die Pferde schnauben nervös. Ansonsten ist kein Geräusch zu vernehmen. Es riecht nach Moder und nassem Holz. Der Boden selbst ist mit einer dicken, weichen Schicht aus längst verrotteten Blättern und anderen abgestorbenen Pflanzenteilen bedeckt.
Da plötzlich durchschneidet ein gellender Schrei die Stille. Das Pferd reißt den Kopf hoch und wiehert angstvoll. Dann vernimmt sie die dunkle, ruhige Stimme des Magiers: "Keine Angst. Es ist alles in Ordnung. Das war nur Taêl, sie wollte uns sagen, dass keine Gefahr droht." Erst jetzt merkt sie, dass sie am ganzen Körper bebt.
"Ihr verstehst die Sprache von Tieren?" fragt die junge Frau, mehr um sich selbst zu beruhigen, als an einem Gespräch wirklich interessiert zu sein.
"Wenn ich will - ja. Aber das war nur ein Signal. Ein vereinbartes Zeichen."
"Ihr hättet mich warnen können."
"Ich wusste ja nicht, dass ihr Angst habt, Lady Córa."
Sie beißt sich auf die Lippen und schweigt. So ein unverschämter Kerl, denkt sie und registriert dabei verwirrt, dass sie nicht mal wütend wird bei diesem Gedanken. Im Gegenteil: ein Lächeln gleitet über ihr Gesicht.
Völlig überraschend treten sie aus dem Wald heraus. Ein großer, ovaler See, der auf dieser Seite von einem schmalen Streifen weichem, knöchelhohem Gras gesäumt ist, breitet sich vor ihnen aus. Bis zum anderen Ufer sind es mindestens drei Bal.
Trotz des strahlend blauen Himmels und der hoch stehenden Sonne erscheint das Wasser merkwürdig dunkelgrün und lädt nicht gerade zum Baden ein. Skeptisch blickt Córa auf die sich leicht kräuselnde Wasserfläche.
Valôrius, der bereits die Bündel vom Rücken seine Pferdes hebt, sieht zu ihr hinüber und meint: "Sieht nicht gerade einladend aus, ich weiß. Ist aber ungefährlich und die einzige Möglichkeit weit und breit. Und bis nach Wildenstein brauchen wir bestimmt noch zwei Tagesritte. Da hinten ist übrigens eine Stelle, die etwas blickgeschützt ist." Er weist auf eine kleine Buschgruppe vielleicht vierzig, fünfzig Jant von ihnen entfernt. "Wir rasten hier und warten auf Fe'thorn. Bis er kommt solltet ihr fertig sein."
Córa bleibt, immer noch unsicher, stehen und sieht ihn an. „Ist das Wasser tief?" fragt sie und ihre Stimme zittert ein Wenig. Valôrius dreht sich zu ihr um und streift die Kapuze ab. Ernst, nur mit einem leichten Funkeln in den Augen, fragt er dann zurück: „Ihr könnt nicht schwimmen, Lady Córa? Nun, ein paar Schritte weiter ist das kein Problem. Seht ihr, da, wo das Ufer etwas sandiger ist. Allerdings .... " Er bricht ab und legt den Kopf etwas auf die Schulter. Sie folgt seinem Blick und weiß, was er meint. Die Stelle liegt zwar ein wenig weiter weg als die Buschgruppe, aber immer noch in Blickweite und vollkommen ungeschützt.
Scham und Ekel kämpfen in der jungen Frau miteinander. Vielleicht sollte sie versuchen, sich hinter der Buschgruppe, seinen neugierigen Blicken verborgen, nur etwas zu waschen ohne sich gänzlich entkleiden zu müssen. Andererseits kann sie es kaum erwarten, die dreckigen, zerrissenen Sachen endlich einmal loszuwerden. Und sei es nur für ein paar Augenblicke.
"Keine Sorge. Er sieht nicht hin, sonst hacke ich ihm die Augen aus." Eine feine, sanfte Stimme, die an einen warmen Windhauch erinnert, erklingt plötzlich hinter Córa. Bevor sie erschrocken herum fährt, erhaschen ihre Augen noch das breite Grinsen im Gesicht des jungen Magiers.
Dann steht sie einer Frau, oder eher einem Mädchen, gegenüber. Sie ist von zierlicher Gestalt, zwei Köpfe kleiner als Córa, mit zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen, die irgendwie zu lang für den kleinen Körper scheinen. Ihre Haut schimmert rötlich, als ob sie durchsichtig wäre. In dem schmalen, scharf geschnittenen Gesicht leuchten runde, dunkelgrüne Augen. Langes, rabenschwarzes Haar fällt ihr lose bis auf die Hüften. Sie trägt ein dünnes, hemdartiges, hellbraunes Gewand, das nicht einmal ihre Oberschenkel bedeckt und mehr von ihrem kleinen Körper sehen lässt, als es verbirgt.
Bei diesem Anblick verschlägt es Córa die Sprache und sie schaut verlegen auf ihre Füße. Ein helles, fröhliches Lachen folgt darauf. Dann nimmt die Fremde Córas Hand. Sie spürt wohltuende Wärme und einen sanften Druck. "Komm mit, Córa, brauchst keine Angst zu haben. Ich passe gut auf dich auf." Mit diesen Worten zieht die Fremde sie zum Strand.
Erst langsam und ängstlich, dann immer schneller und gelöster folgt sie der seltsamen Frau, von deren Hand reine positive Energie in ihren Körper zu strömen scheint. Am Ende rennt sie mit erhobenem Kopf und wehendem Kleid der Fremden hinterher, wie sie zuletzt in ihrer Kindheit gerannt ist. Sie hört sich selbst lachen und merkt auf einmal, dass dieses sonderbare Mädchen mindestens einen Jant vor ihr läuft und sie längst losgelassen hat.
Ausgelassen lassen sich die beiden jungen Frauen dann in den Sand fallen. Die Fremde lächelt Córa an und ihre grünen Augen strahlen. Dann reicht sie ihr die Hand. "Ich bin Taêl n wé, aber das weißt du ja bestimmt schon. Du brauchst auch nur Taêl zu sagen, ist einfacher."
"Taêl, aber das ... der Vogel ... wie?" stottert Córa, als ob sie es tief in ihrem Innern nicht schon gespürt hätte.
"Ich bin eine Fomavára." Taêl setzt sich auf und streicht ihr Haar zurück. “Du hast bestimmt schon mal von uns gehört."
Versonnen nickt Córa. "Ja, als Kind. In alten Märchen und Legenden.“ Dann schüttelt sie den Kopf. "Gestaltwandler gibt es doch nicht in Wirklichkeit."
Wieder klingt das helle Lachen auf und Taêl fasst nach ihrer Hand. "Du siehst es doch, du spürst es doch, oder?" Dann wird ihr Blick ernster und ihre Stimme etwas fester. "Aber es gibt nicht mehr viele von uns, das ist wahr. Zur Zeit deiner Ahnen bevölkerten mehrere Stämme Fomavári die Wälder von Jelturia, doch jetzt gibt es nur noch eine Handvoll von uns. Bald schon werden wir wirklich nur noch in euren Legenden und Märchen existieren."
Für einen kurzen Augenblick liegt tiefe Trauer auf ihrem Gesicht, dann springt sie auf die Füße und streift sich das Gewand über den Kopf. "Los, baden!" ruft sie und rennt ins Wasser.
Córa starrt ihr hinterher. Wie kann sie so nackt, wie Jeltara oder sonst eine Gottheit sie erschaffen hat, herumlaufen? Zumal eindeutig in Blickweite eines Mannes!
Taêl steht bereits bis zu den Hüften im Wasser. Sie winkt mit beiden Händen und ruft: "Na komm schon, worauf wartest du denn?"
Zögernd steht die junge Frau auf und streift ihr zerrissenes Kleid und die Schuhe ab. Das Unterkleid ist ebenfalls löchrig und voller Flecke. Sie lässt es trotzdem an, als sie langsam zum Wasser geht. Vorsichtig setzt sie einen Fuß ins Wasser und wieder ertönt die sanfte, belustigt klingende Stimme Taêls. Sie hat die Hände in die Hüften gestützt und schüttelt den Kopf. "Zieh bloß dieses Ding aus. Selbst wenn Valôrius hersehen würde, was ich ihm nicht geraten haben will, solltest du dich mit diesem Fetzen mehr schämen, als ohne."
Córa schließt einen Moment die Augen und atmet tief ein. Dann streift sie mit entschlossenen Bewegungen die Träger des Unterkleides ab. Langsam gleitet das Stück Stoff an ihrem Körper herunter in den Sand.
Nur wenig später steht sie bis zum Hals im kalten Wasser des Dunkelsees. Der Grund ist dicht mit schwarzen, aber harmlosen Pflanzen bewachsen, die sich wie ein dicker Teppich unter ihren Füßen anfühlen. Daher die dunkle Farbe und der Name des Sees, erklärt ihr die Gestaltwandlerin, die, einem große Fisch gleich, ständig um sie herumschwimmt und sie hin und wieder unter hellem Lachen mit einem Schwall Wasser überschüttet.
Auch Córa ist plötzlich ausgelassen und planscht bald darauf mit der seltsamen Fremden im seichten Wasser nahe am Ufer herum. Sie genießt das Wasser und die Sonne auf ihrer Haut und denkt mit keiner Silbe mehr daran, dass sie jemand beobachten könnte.
Außer Atem sinken die beiden Frauen später in das weiche Gras oberhalb des schmalen Sandstrandes. Córa hat ihr Untergewand aufgesammelt und will es gerade überstreifen, als Taêl ihre Hand festhält. "Bist du verrückt geworden? Das Ding kannst du bloß noch verbrennen. Das willst du doch nicht wirklich wieder anziehen?"
Nun liegt es zwischen den Beiden. Córa betrachtet es abschätzend und fragt dann: "Und was meint ihr, soll ich dann ...“
"Ihr?" unterbricht die kleine Gestaltwandlerin sie und blickt sich um. Dann begreift sie und lacht herzlich. "Hör' bloß mit diesem herrschaftlichen Siezen auf. Mit Valôrius kannst du das ja noch machen, aber Fe'thorn wird kein Wort mit dir sprechen, wenn du ihm so kommst." Dann wird sie ernst und blickt Córa tief in die Augen. "Hier im Wald sind wir alle gleich, Córa. Was du draußen in den großen Städten bist und wie du da mit den Menschen umgehst, ist deine Sache. Aber hier kannst du das alles vergessen. Hier bist du nur du selbst." Dann kniet sich die zierliche Frau hin und auf ihren zarten, mädchenhaften Körper deutend, setzt hinzu: "Schau, Córa, so viel anders als ich bist du nicht, dass du einen Unterschied machen musst."
Verlegen blickt Córa auf den fremden Körper, unter dessen dünner Haut rot das Blut pulsiert und sie begreift, was Taêl meint. Dann hebt diese Córas alte Sachen und ihr eigenes Hemdchen auf und geht zurück zum Lager. Ganz langsam steht Córa auf, zieht ihre Schuhe an und blickt der Fomavára nach. "He, und was soll ich ... ?“
Die dreht sich um und zwinkert ihr zu. „Ich hab' ein schickes Kleid für dich, da vorn." Sie weist zum Lager.
„Soll ich etwa nackt ...“ Córa wagt es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.
Taêl zuckt mit den Schultern. „Ich denke, du hast verstanden. Hier tut dir niemand etwas an, egal, ob du etwas anhast oder nicht. Aber wenn du dich gar nicht überwinden kannst, ist das auch nicht schlimm. Dann hole ich es dir her." Mit diesen Worten dreht sie sich um und geht weiter.
Córa bleibt stehen und ringt mit sich. Die Worte der kleinen Gestaltwandlerin haben sie nachdenklich gemacht. Schon das Gespräch heute früh mit dem Magier, hat ihr zu denken gegeben. Und nun diese Fomavára mit ihrer irgendwie beneidenswerten Einfachheit. Nein, es ist nicht ihre Art, sich auszugrenzen und als etwas Besseres zu sehen. Aber schließlich ist sie unter anderen Voraussetzungen erzogen worden und nicht in den Wäldern. Das kann ihr niemand verübeln.
Immer noch etwas verlegen ringt sie die Hände und schüttelt dann ihr langes, dunkelblondes Haar nach vorn. Wenigstens bedeckt es einigermaßen ihre Brüste. Sie blickt zum Lager hinüber, wo Valôrius, mit dem Rücken zu ihr, an einem kleinen Feuer sitzt. Er hält einen Spieß in die Flammen und scheint voll damit beschäftigt zu sein. Taêl ist inzwischen ebenfalls am Lagerplatz angekommen und kramt in einem kleinen Bündel, das, soweit sich Córa erinnern kann, vorhin noch nicht dagelegen hat. Schließlich nimmt sie all ihren Mut zusammen und geht langsam auf die Gestaltwandlerin zu, während sie versucht, ihrer Blöße mit den gefalteten Händen zu bedecken.
Als sie neben ihr steht, richtet die sich auf und reicht ihr ein leichtes, zartgrünes Kleid aus einfachem, aber weichem Stoff. „Du bist wirklich mutig, ich hätt' nicht gedacht, dass du mir folgst." Die zierliche Frau lächelt sanft, als sie Córa ansieht.
Noch einen flüchtigen Blick auf Valôrius werfend, der immer noch keine Notiz von ihr nimmt, dreht sie sich zum Waldrand, wirft das Haar zurück und streift das Kleid über. Es passt wie angegossen und zum ersten Mal seit vielen Tagen fühlt sie sich einfach nur wohl. Sie schließt die Augen und genießt die Berührung des zarten Stoffes auf ihrer Haut und den umwerfenden Duft, der von dem Kleidungstück ausgeht.
„Mutig, und noch viel schöner als ich sie mir vorgestellt habe!" hört sie plötzlich eine ruhige, schwingende Stimme, die ihr einen Schauer den Rücken hinunter jagt. Dann erst wird ihr klar, dass es eine Männerstimme ist und dass die nicht dem Magier gehört. Mehr überrascht als entsetzt reißt sie die Augen auf, kann aber niemanden sehen.
„Fe, musste das sein?" Sehr deutlich vernimmt Córa, dass in der außergewöhnlich ernst klingenden Stimme der Gestaltwandlerin ein leises Lachen mitschwingt. „Männer halt", sagt sie dann, während sie sich wieder Córa zuwendet und ihr ein paar neue Schuhe reicht. „Er ist manchmal einfach unmöglich."
„Wer?“ fragt die junge Frau verstört, weil sie niemanden sehen kann, so sehr sie sich auch anstrengt. „Komm schon vor, du Kindskopf" lacht Taêl. „Sie reißt dir schon nicht den Kopf ab, oder?" Fragend blickt sie Córa an, die nur verstört den Kopf schütteln kann.
“Nur, wenn Córa mir wirklich verzeiht" sagt die seltsame und bezaubernde Stimme. Und als Córa nickt, löst sich aus dem Waldrand eine Gestalt.
Ein hochgewachsener, schlanker Mann tritt auf die Wiese. Er scheint nicht viel älter zu sein als Córa und in seinem jungenhaften Gesicht bemerkt sie ein verlegenes Lächeln. Er ist in eng am Körper anliegende Sachen aus einem seltsamen schimmernden Stoff in verschiedenen Grün- und Brauntönen. Kein Wunder, denkt sie, dass sie ihn zwischen den Bäumen nicht bemerkt hat. Darüber trägt er eine Art Kapuzencape aus demselben Material, wobei aber die Kapuze zurückgeschlagen ist. Umso mehr fällt Córa das kurze, helle, ja beinahe weiße, Haar des Mannes auf.
"Seid ihr ein Elf?" rutscht es ihr heraus und sie würde sich am liebsten die Zunge abbeißen. Der seltsame Mann kommt auf sie zu und reicht ihr die Hand. Dabei schüttelt er den Kopf. "Nein, Córa. Geboren wurde ich in Fellstadt, am Fuß der Karishberge. Ich habe aber viele Jahre bei Waldelfen hier in Jelturia gelebt und bin sozusagen beinahe selbst einer geworden."
Als Córa seine Hand ergreift, ist es, als ob ein Funke in ihren Körper schlägt. Sie spürt diese Berührung überall und weiß vor Verlegenheit nicht, wohin mit ihrem Blick und ihren Händen. Ihr Herz rast, aber sie hat nicht das Gefühl, in Panik zu sein. Das, was sie tief in ihrem Inneren spürt, ist ein ganz neues Gefühl.
Wie, um sie aus dieser Situation zu retten, steht plötzlich Valôrius neben ihr und meint: "Wer weiß, vielleicht fließt auch etwas Elfenblut in deinen Adern, Fe’thorn. Manchmal hast du eine Art, die an die Kar'jeval erinnert." Er lacht, als sich das Gesicht des jungen Mannes verfinstert.
„Ich frag mich, wer von euch Kerlen mehr Eiselfenblut in den Adern hat", mischt sich Taêl in das Gespräch. Und zu Córa gewandt, die verständnislos zwischen den Andern hin und her blickt, setzt sie hinzu: „Kar'jeval sind die Eiselfen des Karishgebirges und zählen zu den widerwärtigsten, niedrigsten Kreaturen ganz Galâriens. Sie sind einfach und schlicht und meiden den Kontakt zu allen anderen Völkern."
"Grobe, raue Geschöpfe, denen man besser aus dem Weg geht" fügt Valôrius hinzu. "Aber nun lasst uns über die Fische hermachen, sonst hab' ich sie umsonst gebraten."
Das weiche, zarte Fleisch zergeht ihr auf der Zunge und Córa schließt genussvoll die Augen. Doch das Gespräch von vorhin geht ihr nicht aus dem Kopf. „Ihr meint also, dass Eiselfen genauso furchtbar und widerwärtig sind wie Trésorter?" fragt sie und blickt dabei Fe’thorn an. Der verschluckt sich fast und schaut abwechselnd mit fragenden Blicken auf seine Gefährten. Eine Weile herrscht Schweigen, dann antwortet Valôrius an seiner Stelle. "Was wisst ihr überhaupt über diese sogenannten Schatzjäger und woher stammt dieser abgrundtiefe Hass, Lady Córa?"
„Abartige Geschöpfe, die in die Wohnungen von normalen Menschen einsteigen und alles mitgehen lassen, was sie finden. Brutal und grausam gegen Alle vorgehen, die sich ihnen in den Weg stellen. Selbst vor Tempeln und Schreinen aller Götter Galâriens zeigen sie keine Ehrfurcht! Und das nur, um an etwas Geld zu kommen und ihre groben Gelüste zu stillen." Sie hat sich in Rage geredet und ihre Brust hebt und senkt sich mit jedem hastigen Atemzug. "Was sie mir angetan haben, hast du selbst gesehen, Valôrius und außerdem ...“ Sie unterbricht sich plötzlich und blickt auf die zarte Gestalt Taêls. „Lass das Lady weg. Ich will nicht anders sein als ihr."
Valôrius nickt nur stumm und sieht sie dabei nicht an. Stattdessen zieht er die Kapuze wieder über den Kopf, steht auf und geht zu seinem Pferd hinüber.
"Was hat er denn?" verständnislos sieht Córa die beiden anderen an zuckt nur leicht mit den Schulter, antwortet aber nicht und beginnt, zusammenzupacken.
Taêl hingegen nimmt Córas Hand in die ihre und sieht sie sanft lächelnd an. "Valôrius ist manchmal etwas kompliziert, das wirst du schon noch merken. Er ist eben kein Kind Jelturias und der Wälder. Aber er gibt sich große Mühe, eines zu werden." Dann nickt sie ihr aufmunternd zu. "Komm, lass uns aufbrechen."
"Wo habt ihr eigentlich eure Pferde?" fragt Córa, obwohl sie die Antwort bereits ahnt.
"Also, ich fliege lieber und Fe läuft."
"Er läuft den ganzen Weg?“ Zweifel liegt in Córas Stimme.
"Fe ist schneller und ausdauernder als Valôrius‘ Hengst." Ein strahlendes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. "Er gefällt dir, stimmt's?" Córa könnte sich ohrfeigen, weil ihr schon wieder das Blut in den Kopf schießt und die kleine Gestaltwandlerin es einfach nicht übersehen kann.
"Brauchst nicht rot zu werden, ich mag ihn auch sehr. Er hat irgendwas." Mit diesen Worten streift sie ihr Hemdchen über den Kopf und drückt es Córa in die Hand. "Heb' es auf für mich" sagt sie und dann beginnt ihr zarter Körper sich auch schon zu verformen. Haut und Knochen scheinen mit der sie umgebenden Luft zu verschmelzen, das lange Haar löst sich auf. Nur die moosgrünen Augen sind nach wie vor auf Córa gerichtet, bis für einen Augenblick völlig unsichtbar zu sein scheint, um gleich darauf mit einem schrillen Schrei als Vogel in die Lüfte zu steigen.

Die nächste Rast legen sie am späten Abend auf einer kleinen Anhöhe kurz neben der Straße ein. Ein schmaler, klarer Bach durcheilt unterhalb des kleinen Hügels hier den Wald, so dass sie sich und das Pferd mit frischem Trinkwasser versorgen können.
Córa ist froh, als sie sich in das weiche Gras sinken lassen kann. Zum einen plagen sie Schmerzen im Rücken und in den Oberschenkeln, denn die ungewohnte Körperhaltung fordert ihren Tribut, zum anderen aber hat sie sich, eng an den Körper des Magiers gepresst, längst nicht mehr so gut gefühlt wie heute Morgen. Sie kann selbst nicht sagen, woran das liegt. Dass es mit dem neuen, sauberen Kleid und dem erfrischenden Bad zusammenhängt, versucht sie sich einzureden. Aber wenn sie die Augen schließt, sieht sie ein schmales Gesicht mit wunderschönen blauen Augen und silbern glänzenden Haaren vor sich und eine angenehme Wärme durchflutet ihren Körper.
"Na, träumst du schon wieder?" Die zarte Stimme Taêls reißt sie aus ihren Gedanken. Diesmal errötet sie nicht, sondern lächelt zurück. Zu sagen braucht sie nichts. "Gibst du mir mein Kleid zurück?" Immer noch lächelnd betrachtet sie den unbekleideten merkwürdigen Körper der Gestaltwandlerin und reicht ihr das Kleidungsstück. "Kannst du dich eigentlich in Alles verwandeln, was dir gerade einfällt?" Diese Frage hat sie einen Großteil des Nachmittags beschäftigt.
Taêls Augen blitzen in den letzten Strahlen der Sonne. Dann schüttelt sie den Kopf. "Nein, aber ich weiß, dass das in einigen eurer Legenden so ankommt. Ein durchschnittlich begabter Fomavári bringt drei oder vier Gestaltänderungen im Laufe seines Lebens, das übrigens mehr als doppelt so lang ist wie das eines Menschen." Sie streicht sich eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht und redet weiter: "Besonders gute Gestaltwandler kommen auf vielleicht sechs Formen."
Als sie Córas fragenden Gesichtsausdruck sieht, nimmt sie deren Hände in die ihren und sagt: "Jede Gestalt, die ein Fomavári annehmen möchte, muss er bis ins Detail kennen, sonst funktioniert das nicht, verstehst du? Ich nehme ja nicht nur das Äußere eines Wesens an, sondern übernehme auch seine innere Struktur, seine Sinne, sein Fühlen und seine Lebensweise. Ich muss mich also jahrelang intensiv mit diesem Wesen beschäftigen, es in- und auswendig kennen. Und dann beginnt das Trainieren des Umwandlungsprozesses. Bei den ersten Versuchen dauert es manchmal mehrere Tage, bis du die komplette Umwandlung vollzogen hast."
Córa genießt die Freundlichkeit und Wärme, die von den Händen der jungen Gestaltwandlerin ausgehen. Dann sagt sie: "Dann bist du ja richtig gut."
Taêl zuckt die Schultern und meint: "Naja, ich bin noch sehr jung und komme gerade mal auf zwei Formen. Aber die kann ich wirklich gut."
"Den Vogel habe ich ja schon kennengelernt. Was ist das überhaupt für einer? So einen Vogel habe ich vorher noch nie hier gesehen."
Mit einem sanften Lächeln nickt die Fomavára. "Ein Jeltara- oder auch Waldadler. Sie sind sehr selten geworden, denn die Wälder ihrer Heimat werden immer dichter und dunkler. Dabei brauchen sie große, weite Lichtungen oder solche Seen wie den Dunkelsee. Aber beides verschwindet eben immer mehr aus den Wäldern Jelturiens."
Versonnen nickt Córa. "Es ist dein Lieblingstier, denn ihr teilt das gleiche Schicksal", sagt sie leise. Da nimmt Taêl sie in die Arme und schmiegt sich ganz eng an sie. Córa spürt den zarten, warmen Körper wie ein loderndes Feuer auf ihrer Haut und nimmt den zarten Duft des langen, schwarzen Haares der Gestaltwandlerin wahr. Dann schließen sich auch ihre Arme um den Körper der Freundin.
Als sich die beiden Frauen voneinander lösen und sich in die Augen sehen, fragt Córa: "Und was ist die zweite Form, in die du dich verwandeln kannst?"
Taêl lacht herzlich auf und verschränkt die Arme vor dem Körper. "Die hast du auch schon gesehen. Aber du wolltest ja nicht reiten!" Dann lacht sie wieder laut auf. Diesmal über das verblüffte Gesicht und die sichtbare Fassungslosigkeit Córas.
"Die ... die weiße Stute?" Ungläubig sieht die auf Taêl.
"Soll ich's dir zeigen?"
"Nein", sie schüttelt den Kopf. "Ich glaub' dir auch so. Aber. Valôrius hat gesagt..... Er hat mich reingelegt!" Sie ist immer noch außer sich.
In diesem Moment ertönt hinter ihr die Stimme Fe'thorns. "Kommen die Damen zum Abendessen ans Feuer, oder möchten sie ihr Mahl gebracht haben?"

Später sitzt sie, den Rücken an einen rauen Baumstamm gelehnt, und lässt ihre Füße vom eisigen Wasser des Baches umströmen. Catherine ist froh, endlich ein paar Augenblicke Einsamkeit genießen zu können. Jetzt, wo sie das erste Mal seit Tagen zur Besinnung kommt, fragt sie sich, ob sie sich in ihrem Elternhaus wohlfühlen und ob sie ihren Vater überhaupt wiedererkennen wird. Gerade einmal vier Sommer ist sie alt gewesen, als er sie zu Tante Joslinda gegeben hat. Ihre geliebte Mutter war damals gerade gestorben und wenig später hatte ihr großer Bruder, an den sie sich kaum erinnern kann, das elterliche Haus verlassen. Ihr Vater, zu dieser Zeit der angesehenste Schmied Wildensteins, hatte keine Zeit gehabt, sich um sie zu kümmern und deswegen zu einer entfernten Verwandten gegeben. Seit dem war er nur drei oder vier Mal in Har de Mora gewesen. Sie selbst hatte ihn aber nie gesehen, da er immer nur zur Nachtzeit zu Joslinda gekommen war. Einmal, es muss vor etwa fünf Sommern gewesen sein, hatte sie an der Zimmertür gelauscht und versucht, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Das gelang ihr zwar nicht, aber sie konnte hören, wie er mit Tante Joslinda sprach. Das Gespräch hatte sie inzwischen längst vergessen, aber ein kurzer Wortwechsel war ihr für immer im Gedächtnis geblieben:
„Und du bist dir sicher, dass sie nicht das Erbe ihrer Mutter in sich trägt?“ hatte er die Tante gefragt, und diese hatte geantwortet: „Völlig sicher! Es wäre zu Tage getreten inzwischen, das schwöre ich. In ihrem Blut ist nichts von ihrer Mutter.“
Eine Weile hatte Stille geherrscht, nur unterbrochen von den harten Tritten des Mannes, der unruhig auf und abging. Dann wieder die Stimme des Mannes: „Nun gut, ich werde sie wieder zu mir nehmen, aber zu seiner Zeit. Sie soll meine Geschäfte übernehmen. Einen Sohn habe ich ja nicht mehr.“
Sie war erschrocken und hätte beinahe laut aufgeschrien. Um das zu verhindern biss sie auf ihre Faust. Ihr Bruder! War er gestorben?
Tage später hatte sie vorsichtig, wie nebenbei, ihre Tante nach ihm gefragt. Die hatte sie mit ihren giftigen Blicken angestarrt und dann gesagt: „Diesen Bastard vergiss am besten! Ein elender Trésorter, der sich am Eigentum und am Leben Unschuldiger vergreift. Ich habe dir oft genug von diesen Verbrechern erzählt. Einen von denen in der Familie zu haben, ist die größte Schande, die du dir vorstellen kannst. Also: Sprich nie wieder von ihm!“ und daran hatte sie sich gehalten.
„Was bringt eine wunderschöne Frau in so einer Nacht zum Grübeln?“ Die sanfte Stimme des jungen Fe’thorn reißt sie aus ihren Gedanken. „Verrätst du es mir?“ Die schlanke Gestalt verlässt den Schatten des Waldes und tritt an Córa heran. Verlegen sieht sie zum ihm hinauf. Seine Augen glitzern im hellen Licht des Mondes, das seinen Körper in einen silbernen Umhang zu hüllen scheint.
„An meine Familie habe ich gedacht“, antwortet sie zögernd. „An meinen Vater. Und an …“ Sie beißt sich auf die Lippen und sieht Fe’thorn bestürzt und verlegen an.
Der stützt sich mit einer Hand an den Baum, an dem die junge Frau lehnt, und blickt auf das glitzernde, zitternde Licht, das sich im Bach zu ihren Füßen spiegelt. Dann sagt er leise: „Und an deinen Bruder.“
Mit einem heiseren Schrei springt Córa auf und wäre in das Wasser gestürzt, hätte der junge Mann sie nicht am Arm festgehalten. „Wie kannst du? Was? Woher weißt du?“ Sie bekommt keinen vernünftigen Satz heraus und könnte sich ohrfeigen dafür.
Jetzt ist es an Fe’thorn, verlegen zu sein. So hat Córa ihn noch nie gesehen. Selbst im fahlen Licht des Mondscheins ist zu erkennen, wie blass er wird. Dann wendet er das Gesicht ab. „Ich … nein … Ich darf dir nichts sagen“, stammelt er.
„Was weißt du, Fe’thorn?“ Córa spürt plötzlich, dass er sie noch immer festhält, doch statt sich von ihm loszureißen, fasst sie nach seiner anderen Hand. „Was weißt du über meine Familie, und woher weißt du es?“ Vor Erregung ist ihrer Stimme laut und scharf geworden.
Doch der junge Mann schüttelt den Kopf und sieht sie noch immer nicht an. „Er bringt mich um, wenn ich dir auch nur ein Wort verrate“, flüstert er.
„Wer? Mein verdammter Bruder?“ Ihre Hand krampft sich um die seine. Er nickt und plötzlich dreht er sich zu ihr um und blickt ihr in die Augen. „Sprich leise, Córa. Um Jeltaras Willen, und dem aller Geschöpfe des Waldes: Die Anderen dürfen uns nicht hören!“
Die junge Frau nickt nur und sieht ihn fragend an.
„Wir sind zusammen aufgewachsen“, sagt er nach einem Moment des Schweigens. „Brüder sind wir, sozusagen.“
„Aber wo? Wie?“ Córa ist immer noch nicht in der Lage, ihre Gedanken klar zu formulieren.
„Wir sind beide ungefähr im gleichen Alter von zu Hause weggelaufen und wären wahrscheinlich in den Wäldern nicht lange am Leben geblieben, hätten uns nicht die Jelt‘jeval gefunden.“
„Aber wie kommt es dann, dass aus dir so ein, ein“, sie sucht krampfhaft nach einem Wort, „freundlicher Mensch geworden ist und aus ihm ein elender Räuber und Trésorter?“
Fe‘thorns Gesichtszüge spannen sich plötzlich an und seine Augen werden dunkel. Dann schüttelt er den Kopf. „Verzeih‘ mir, Córa“, sagt er dann und jetzt klingt seine Stimme ungewohnt hart, „aber du kennst das Leben nicht. Noch nicht.“ Dann packt er die junge Frau auf einmal an den Schultern, und sie hat das Gefühl, eine eisige Kälte gehe von seinen Händen aus. „Daran ist nicht er schuld, Córa. Er tut das nur für dich!“ Dann lässt er sie los und weichen zwei Schritte zurück. Er könnte sich verfluchen! Kann er seinen Mund nicht halten?
Schon ist Córa wieder bei ihm. Mit großen Augen sieht sie ihn an und er weiß, dass er diesen Augen nicht ausweichen kann. Magisch ziehen sie seine Blicke an. „Was meinst du damit?“ fragt sie er sieht, wie ihr Körper dabei bebt.
„Ich darf dir nichts erzählen, glaube mir doch! Ich hab‘ schon viel zu viel preisgegeben, Córa. Er reißt mir den Kopf herunter, wenn ich dir mehr erzähle.“
„Du hast Angst vor ihm? Ist er wirklich so gefährlich?“
Da muss Fe’thorn lächeln. „Nein, nicht wirklich. Aber ich habe es ihm nun mal versprochen.“ Aber als er weiter in die fragende, bittenden, Augen der jungen Frau blickt, zuckt er nach einem Moment die Schultern. „Na gut, aber sag‘ ihm niemals, dass ich es dir erzählt habe!“
„Ich glaube nicht, dass mir jemals der Sinn danach stehen wird, mit ihm zu reden“, knurrt Córa und erntet ein erneutes Kopfschütteln. „Aber du musst mir trotzdem sagen, was du vorhin damit gemeint hast, er habe das nur für mich getan.“ Ihre Stimme und ihr Blick flehen ihn förmlich an, obwohl sie mit dem Rest ihres Körpers Abwehr signalisiert.
Fe’thorn weist mit einer Hand in den Wald hinter sich. „Wildenstein“, sagt er leise, „eine Stadt der Schmiede und des Handels. Und dein Vater, Córa, war der beste und geschickteste Schmied, den diese Stadt je gesehen hat. Manch einer behauptet sogar, der beste in ganz Galârien. Aber seine Arbeit diente in den Jahren, bevor er eure Mutter kennenlernte, nur einem Zweck: Reich zu werden. Ihm gehörten zu dieser Zeit drei Schmieden in der Stadt und an seiner Stelle arbeiteten andere. Er selbst nahm nur noch besondere Aufträge an. Doch seine Gier war unersättlich. Durch seinen Einfluss schaffte er es, das reichste und schönste Mädchen der Stadt, Katharina de Vernaag, zu seiner Frau zu machen und ihren Titel anzunehmen. Sie passten überhaupt nicht zusammen, denn im Gegensatz zu ihm war sie bescheiden und gewohnt, ihre Fähigkeiten nur dazu einzusetzen, anderen zu helfen. Aber mit dieser Heirat wurde dein Vater unermesslich reich und er gründete ein großes Handelshaus.
Seine Frau gebar ihm einen Sohn, widersetzte sich aber allen seinen Bemühungen, ihn bei der Beschaffung weiterer Reichtümer zu unterstützen. Als sich dann noch herausstellte, dass der Sohn in seiner Art ganz nach seiner Mutter kam, versuchte er ihn zu beeinflussen, doch stieß er auch bei ihm auf Widerstand. Und dann wurde Katharina wieder schwanger und brachte dich zur Welt. Von da an muss er Angst gehabt haben, dass auch du wie deine Mutter wirst und er fühlte sich von Feinden im eigenen Haus umgeben. Sein Sohn wurde von Jahr zu Jahr rebellischer ihm gegenüber und er dachte darüber nach, wie er euch loswerden könnte.“
Córa starrt Fe’thorn mit offenem Mund an und schlägt ihn mit beiden Fäusten vor die Brust. „Du lügst!“ Sie schreit es fast. „Tante Joslinda hat es mir ganz anders erzählt!“
Ein grimmiges Lachen ist seine Antwort. „Tante Joslinda! Sie war nie deine Tante, Córa. Wer oder was sie wirklich ist, kann ich dir auch nicht sagen, aber eines ist sicher: deine Tante war sie auf keinen Fall. Alle in Frage kommenden Angehörigen eurer Eltern hat dein Bruder schon vor Jahren aufgesucht und niemand konnte einen Hinweis auf deinen Verbleib geben.“
„Das glaub ich dir nicht.“ Einem wütenden Schnauben gleicht ihre Antwort.
„Glaub was du willst, aber höre mir weiter zu.“ Fe’thorn umfasst vorsichtig ihre Schultern und aus irgendeinem Grund, den sie sich selbst nicht erklären kann, schüttelt sie seine Hände nicht ab.
„Du warst etwas mehr als vier Sommer alt, als deine Mutter plötzlich krank wurde und bald darauf starb. Dein Bruder hat immer behauptet, dein Vater habe sie vergiftet. Und vielleicht stimmt das auch. Vielleicht hat er ihr auch einfach nur das Herz gebrochen, weil er sich einfach nicht zur Besinnung bringen ließ. Er verkehrte mit allem möglichen Gesindel, wenn es ihm nur seinen Reichtum mehrte. Auf welche Weise diese Leute das Geld und die Schätze beschafften, war ihm gleichgültig.
Nun, da er Angst hatte, auch du könntest das Erbe deiner Mutter in dir tragen und gegen ihn verwenden, und um dich in seinem Sinne erziehen zu lassen, wenn das nicht der Fall sein sollte, brachte er dich zu dieser Joslinda, die niemand in seiner Umgebung kannte. Er hat dich einfach versteckt gehalten. Und glaube mir, wenn es auch nur das kleinste Anzeichen dafür gegeben hätte, dass du wie deine Mutter und dein Bruder bist, hätte er dich ohne zu zögern umbringen lassen.“

Sie sieht ihn nicht mehr an. Sieht über seine Schulter hinweg in die Schwärze des Waldes. Ihre Brust hebt und senkt sich im Rhythmus ihres rasenden Pulses. Sollte das wirklich wahr sein? Sollte das der Mann sein, an den sie ihr ganzes Leben wie an einen der Götter geglaubt hatte? Woher wusste dieser seltsame Fremde das alles? Und was um alles in der Welt war dieses verdammte Erbe ihrer Mutter?
Doch ehe sie ihn fragen kann, fährt Fe’thorn fort. „Dein Bruder hat immer wieder versucht zu erfahren, wohin euer Vater dich hat verschleppen lassen. Er hat alles in seiner Macht stehende getan, dich zu finden. Doch was er auch anstellte, wen er auch ausschickte und wie viel Geld er auch ausgab, niemand konnte ihm einen Hinweis auf deinen Verbleib geben. Und dann sah dein Vater seine Chance gekommen, auch ihn loszuwerden. Er gab ihm den Auftrag, ihm einen bestimmten Gegenstand zu beschaffen, den noch kein anderer seiner Söldner ihm hatte beschaffen können. Dafür versprach er ihm, zu sagen, wo er dich finden könne. Als er den besagten Gegenstand dann aber in der Hand hielt, hat er sich anders überlegt und forderte einen Weiteren. Dein Bruder besorgte ihn, wurde vom Vater dafür bezahlt – aber wo er dich versteckt hielt, sagte er nicht. Im Laufe der Jahre handelte dein Bruder dann einen Vertrag mit ihm aus. Zwanzig wertvolle Schätze gegen deine Freiheit, Córa.“
Fe’thorn schweigt einen Moment, in dem man nur das tiefe, schwere Atmen der jungen Frau und das Plätschern des Baches hört.
„Noch einen elenden Schatz hätte er ihm besorgen müssen“, sagt er dann leise, „nur noch einen! Und jetzt haben dich Andere vor ihm gefunden! Das muss ein furchtbarer Schmerz für ihn gewesen sein.“
Mit einem heftigen Schluchzen sinkt die Frau an seine Brust. Vorsichtig schließen sich seine Arme um ihren Oberkörper und ziehen ihn sanft an sich. Erst nach einigen Augenblicken merkt er, dass Córa ihr Arme ebenfalls um ihn gelegt hat.

Am nächsten Morgen beschließt sie, nicht wieder zu Valôrius in den Sattel zu steigen, sondern mit Fe’thorn zu Fuß zu gehen. Der junge Magier wirft ihr zwar einen seltsamen fragenden Blick zu, zuckt aber nur die Schultern, als sie ihm das mitteilt.
Ganz anders Taêl. Kurz bevor sie sich wieder in den herrlichen Vogel verwandelt, zwinkert sie Córa zu. „Irgendwie hab‘ ich euch beide heute Nacht eine ganze Weile vermisst“, sagt sie mit einem sanften Lächeln. „Und irgendwie habe ich das Gefühl, ihr habt euch viel zu erzählen.“
Catherine fühlt, wie ihr das Blut ins Gesicht schießt und blickt zu den beiden Männern hinüber, die etwas abseits stehen. „Hat Valôrius das auch bemerkt?“ fragt sie die Freundin leise. Die hebt die Schultern, während ihre Gestalt langsam zu zerfließen beginnt. „Ich glaube schon, aber gesagt hat er nichts dazu. Er hat die ganze Zeit nur dagesessen und schien über irgendetwas nachzudenken.“ Dann verweht der Klang ihrer Stimme im Wind und weicht dem hellen Schrei des Adlers.
Je weiter der Tag voranschreitet, desto mehr lichtet sich der Wald. Die Straße wird breiter und der Boden fester. Rechts und links ziehen sich hohe Böschungen hin, die Zweige der Sträucher und Bäume streifen sie nicht mehr so oft.
„Nun bist du bald zu Hause, Córa.“ Fe‘thorn scheint nicht gerade glücklich darüber zu sein.
„Die Straße führt direkt bis Wildenstein? Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern.“ Ein kurzes Lächeln begleitet seine Antwort. „Nein. Die alte Handelsstraße führt nach Fellstadt hinüber. Wir müssen lange vorher abbiegen. Aber dann ist es nicht mehr weit. Noch vor dem Abendessen wirst du die Schwelle deines Elternhauses überschreiten.“
Ein schwerer Seufzer entringt sich ihrer Brust. Nach all dem, was sie in der letzten Nacht und heute Morgen erfahren hat, ist sie sich gar nicht mehr sicher, ob sie wirklich dorthin gehört. Aber wohin soll sie sich sonst wenden? Zurück will sie erst Recht nicht mehr, und in den Wäldern leben? Das kann sie sich nicht vorstellen.
Ein heller Schrei reißt sie aus ihren Grübeleien. Kurz darauf steht Taêl wieder bei ihnen. Córa erwidert das offene Lächeln der kleinen Gestaltwandlerin. Sie hat diese merkwürdige Frau in ihr Herz geschlossen. Sie hofft, dass die Fomavára nicht bemerkt, dass jedes Mal, wenn sie der jungen Frau gegenübertritt, eine heiße Welle durch deren ganzen Körper fließt.
Auch Valôrius ist abgesessen und führt das Pferd am Zügel. „Wenn es nicht sein muss, sollten wir jetzt nicht rasten. Es liegt noch ein ganzes Stück Weg vor uns. Wir sollten Lady de Vernaag so schnell wie möglich nach Hause bringen. Ihr Vater verzehrt sich bestimmt schon vor Sehnsucht.“
Sein merkwürdiger Tonfall entgeht Córa ebenso wenig wir der seltsame Blick, den Fe’thorn ihm aus zusammengekniffenen Augen zuwirft. Sie kommt nicht dazu, etwas dazu zu sagen, denn Taêl weist auf einen schmalen Pfad, der hier von der Straße abzweigt. „Dann los, lasst uns gehen!“
Während sie bereits losläuft, zieht sie aus dem Bündel, das Fe’thorn trägt, eine lange, braunglänzende Lederhose und ein dunkelgrünes Hemd, dessen lange Ärmel mit dunklen Fransen verziert sind. Als ob ihr auch in dieser Gestalt Flügel gewachsen sein, denkt Córa.
„Du fliegst nicht weiter?“ fragt sie die Freundin. Taêl schüttelt den Kopf. „irgendwann sind auch unsere Kräfte mal am Ende, genau wie den Magiern.“ Sie blickt zu Valôrius hinüber. „Dann müssen wir sie erst wieder regenerieren. Nur einen kleinen Teil dieser Energie sparen wir uns auf. Für eine Notsituation, du verstehst?“
Córa nickt und fragt sich, was sie noch alles nicht weiß.

Die Sonne steht hoch am Himmel und sie haben die tiefen Wälder Jelturias hinter sich gelassen. Sie durchqueren nun die ersten Hügel Zarkistans. Aber immer noch führt ihr Weg durch den Wald. Nur ist er hier längst nicht mehr so dicht wie in den letzten Tagen.
Fast können sie die Stadt Wildenstein schon sehen, als der an der Spitze gehende Fe’thorn stehenbleibt und die Hand hebt. „Ich habe ein ungutes Gefühl“, sagt er leise und aufmerksam blickt er nach vorn.
Der Magier nickt. „Wenn sie uns irgendwo auflauern, dann hier.“ Córa versteht nicht, wovon die Beiden sprechen. Wer soll ihnen auflauern?
„Siehst du den Weg da vorn?“ fragt Taêl und spricht, ohne auf Córas Antwort zu warten, weiter. „Der Pfad ist hier so schmal, dass höchstens zwei von uns nebeneinander gehen können. An beiden Seiten des Weges sind die Böschungen so hoch, dass wir nicht ausweichen können. Ein idealer Ort für einen Überfall!“
„Ihr denkt, diese elenden Trésorter warten hier auf uns?“ Córa schüttelt den Kopf. „Warum sollten sie?“
Ehe die Fomavára antworten kann, spricht der Magier. „Du hast nicht begriffen, Córa, gar nichts. Aber Schluss jetzt damit, gehen wir!“ Mit diesen Worten richtet er seinen Stab nach vorn und der helle Stein sendet ein schwaches blaues Licht aus.
Fe’thorn zieht ein schmales, leicht gekrümmtes Schwert aus seinem Bündel und geht an das Ende des kleinen Trupps. „Schaffst du es, Córa in Sicherheit zu bringen, falls es zur Sache geht?“ fragt er Taêl. Diese zuckt die Schultern und wirft einen abschätzenden Blick auf Córa. „Wenn sie nicht die Böschung besetzen, vielleicht. Weiter wird meine Kraft nicht reichen.“
„Redet nicht so viel, beeilt euch lieber!“ ruft Valôrius ihnen zu, der schon ein ganzes Stück in den Hohlweg hineingegangen ist. Schweigend folgen sie ihm.
Córa hat das Gefühl, ihre Schritte seien kürzer und schwächer als je zuvor. So muss sie sich gefühlt haben, als sie die ersten Schritte auf ihre Mutter zu gemacht hat. Dazu scheinen die Wände der Böschungen bei jedem Schritt weiter auf den Weg zu rücken. Irgendwann begreift sie, dass der Pfad hier eine scharfe Biegung macht.
Doch genau in diesem Augenblick stößt sie einen panischen Schrei aus. Wie aus dem Nichts steht plötzlich ein Mann vor ihnen. Mitten auf dem Weg. Dieser dreckige, untersetzte Kerl hat sich in ihr Gedächtnis gebrannt wie kaum ein zweiter. „Ich denke, ihr werdet hier nicht nur eure Hosen verlieren.“ Er sagt es mit einer eisigen Stimme, die Córa das Blut in den Adern gefrieren lässt. Er zieht ein schartiges Schwert aus dem Gürtel und richtet es auf Valôrius. „Und diesmal erspare uns deinen blöden Zauber, du Narr. Es wir euch nichts nützen!“
„Auch eurer Leben werdet ihr leider hier verlieren!“ Ertönt plötzlich eine andere Stimme hinter ihnen. Eine Stimme, die Córa nur zu gut kennt. Sie sieht eine wulstige Narbe, die quer über ein hässliches Gesicht verläuft, in dem sich jetzt ein dreckiges Grinsen abzeichnet.
Neben dem Narbengesicht steht ein weiterer Räuber, der grinsend mit einem Dolch spielt. Ihn hat Córa vorher nur kurz gesehen. Es ist der, den sie zu ihrem Vater geschickt hatten.
Hastig fliegt Taêls Blick zu Córa und nach oben. Doch auf der einen Seite der Böschung steht ein weiterer Wegelagerer. Einen Kurzbogen hält er in der Hand. Der Pfeil ist auf den Magier gerichtet.
Als sie zur anderen Böschung hinaufsieht, tritt dort ein hagerer, älterer Mann aus dem Wald. Im Gegensatz zu den Räubern ist er in feinstes Tuch gekleidet und sein Gesicht ist glatt rasiert. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und starrt mit schwarzen, in tiefen Höhlen liegenden Augen auf Córa hinunter. Ein unheimliches Lächeln umspielt seine schmalen Lippen. Dann hebt er eine Hand und eine Stimme, die Córa nie vergessen wird, hallt zu ihnen herab: „Und nun tötet sie, diese elenden Trèsorter! Schickt sie alle hinab in Gorons Reich!“
„Brégor, wie kannst du?“ ruft Valôrius noch zu ihm hinauf, dann zischt ein Pfeil auf ihn zu. Mit einer raschen Bewegung, die sich kaum mit den Augen verfolgen lässt, schwingt er seinen Mâg’or, der einen feinen, blauen Schleier hinter sich her zieht. An diesem prallt der Pfeil ab und zischt in den Boden.
„Tut mir leid, mein Junge. Aber seine Befehle waren eindeutig!“ hallt wieder die Stimme des Fremden herab, dann tritt er einen Schritt zurück. In seiner Hand blinkt plötzlich ein langer, glänzender Degen mit einem aufwendig verzierten Korb.
Córa hat dafür keinen Blick. Starr vor Angst sieht sie den stoppelbärtigen Räuber, der sich ihr, noch immer seinen Dolch von einer Hand in die andere werfend, grinsend nähert, während Fe’thorn versucht, die heftigen Angriffe des Narbengesichts abzuwehren.
Dann zuckt plötzlich ein gewaltiger, dunkelblauer Blitz den Hohlweg entlang, begleitet von hastig in einer alten Sprache gesprochenen, Worten. Und plötzlich fühlt sich die junge Frau wie von einer gläsernen Wand umgeben. Sie sieht den verdutzten Blick des Räubers, dessen Dolch an diesem seltsamen Hindernis wirkungslos herabgleitet, und langsam begreift sie, was geschehen ist. Sie blickt zu Valôrius hinüber, der ihr zunickt und ein Lächeln schenkt, wie sie es von ihm noch nie gesehen hat.
Und plötzlich sieht sie, dass der Mann mit dem Bogen einen neuen Pfeil auf der Sehne hat und wiederum auf Valôrius zielt. Sie will etwas sagen und merkt, dass kein Wort aus ihrer Kehle dringt. Entsetzt muss sie mit ansehen, wie der Kerl langsam die Bogensehne spannt. Doch dann reißt der Magier seinen Stab nach oben und aus dem Kristall schießt ein leuchtend roter Blitz. Wie eine heftig geworfene Öllampe fliegt er auf den Bogenschützen zu und trifft ihn vor die Brust, noch ehe er die Sehne loslassen kann. Und im gleichen Moment steht er in Flammen. Seine grauenvollen Schreie dringen bis an Córas Ohr, als er von der Böschung herunter auf den Weg stürzt. Sie sieht, wie er sich auf dem Boden wälzt, damit die Flammen erstickt, dann aber ganz ruhig liegenbleibt. Sie sieht auch das Bedauern und die grimmige Entschlossenheit im Gesicht des Magiers, der sich jetzt dem untersetzten, schmierigen Räuber zuwendet, dessen heftigen Schwerthieben sich Taêl durch geschickte Körperbewegungen immer wieder zu entziehen versucht. Sie ist unbewaffnet und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihre Kraft erschöpft sein wird.
Wie wild wirbelt der Stab des Magiers dazwischen und trennt den Angreifer von Taêl. Diese wirft Córa einen kurzen Blick zu, stemmt dann die Hände in die Hüften und verschnauft kurz.
Gerade in diesem Moment ertönt direkt neben Córa ein weiterer Schmerzensschrei. Sie sieht gerade noch, wie Fe’thorn sein Schwert aus der Brust des Narbengesichts zieht. Beide Hände auf die Wunde pressend, so als wolle er den Blutstrom aufhalten, kracht der Räuber auf das Gesicht. Geschwind bückt der junge Mann sich, hebt das Schwert des gefallenen Banditen vom Boden auf und wirft es Taêl zu. Die fängt es auf und nickt ihm dankbar zu, dann stürzt sie sich auf ihren Widersacher.
Fe’thorn sieht sich den wütenden Angriffen des Stoppelbärtigen ausgesetzt, der jetzt in jeder Hand einen Dolch hält und geschickt seine Hiebe abwehrt. Er scheint ein Meister mit diesen kurzen Waffen zu sein, denn Fe’thorn hat es schwer, ihn auf Distanz zu halten.
Währenddessen hat der schmierige Kerl Taêl mit einer kurzen, heftigen Bewegung das Schwert wieder aus der Hand geschlagen und bedrängt jetzt massiv Valôrius, der sich kaum noch wehren kann. Er spürt, wie ihn langsam die Kraft verlässt. Der Schutzzauber für Córa hat ihn viel Energie gekostet. Nicht nur magische. Und da geschieht es: Von einem heftigen Hieb getroffen, fliegt ihm der Mâ’gor aus der Hand. Unerreichbar weit kracht er auf den Boden. Er blickt zu Córa hinüber und begreift sofort, dass das ein Fehler war. Er spürt einen rasenden Schmerz an der rechten Seite seiner Brust und sieht, wie sich auf seiner Kleidung sofort ein großer, roter Fleck abzeichnet. Er hört den Entsetzensschrei der kleinen Gestaltwandlerin und sieht das feiste grinsende Gesicht des Wegelagerers vor sich, ehe dieser zu einem neuen Streich ausholt. Valôrius will die blanken Hände heben, um das Schwert des Angreifers abzuwehren, da dringt es schon knapp unter dem Hals in sein Hemd. Doch dann sieht der Magier, wie die Augen des Banditen brechen und aus seinem Hals pulsierend ein gewaltiger Blutschwall stößt, ehe der Mann wie ein Stein zu Boden geht.
Doch dann schwinden auch im die Kräfte. Dass die junge Fomavári auf ihn zustürzt und die Tränen in ihren Augen sieht er kaum noch. Rote Lichter tanzen vor seinen Augen.
Auch Fe’thorn wendet sich von seinem Gegner ab und hastet zu seinem Freund hinüber, der langsam zu Boden sinkt.
Entsetzt presst Córa die Hände vor den Mund. Diese verfluchten Trésorter, denkt sie und plötzlich schießt ihr eine Erkenntnis in den Kopf. Während sie hinauf auf die Böschung sieht, wo der fein gekleidete Fremde steht, den Valôrius zu kennen scheint und den er Brégor genannt hat, wird ihr bewusst, mit welchen Worten dieser die Räuber in den Kampf geschickt hat. Sie starrt zu den Freunden hinüber und plötzlich begreift sie.
Fassungslos schlägt sie ihre kleinen Fäuste gegen den Schutzschirm und mit einem kurzen Aufflackern verlischt er. Sie ignoriert die in ihr aufsteigende Angst und läuft zu Taêl und Fe’thorn hinüber, die neben Valôrius knien. Dieser sieht zu ihr hin und lächelt schwach, während die Gestaltwandlerin ihm seinen Mantel von den Schultern reißt und auf seine Wunden presst. Dann hebt Valôrius schwach eine Hand und weist auf Córa. Erst begreift sie nicht, was er meint. Dann sieht sie das Entsetzen in seinem Blick und wendet sich um. Geistesgegenwärtig springt sie zur Seite, als ein Dolch auf sie zufliegt und sich kurz neben ihr in den Boden bohrt.
„Bist du irre, Abschaum?“ brüllt in diesem Augenblick Brégor von seiner Anhöhe herab. „Lebend, hat mein Herr gesagt! Verstehst du? Wenn du versucht, ihm die Tochter zu töten, schicke ich dich persönlich zum Schwarzen Gott hinunter!“
Córa kann nicht fassen, was sie hört und auch Valôrius begreift, was er für einen Fehler er gleich zu Beginn des Kampfes gemacht hat. Fast seine ganze verbliebene magische Energie hat er aufgebraucht, um Córa zu schützen – und das völlig umsonst. Er hätte es wissen müssen. Wer, wenn nicht er! Erschöpft sinkt er zurück, in den Schoß Taêls. Seine Hände krampfen sich um ein kleines Amulett auf seiner Brust.
Nur Fe’thorn sieht, wie der letzte verbliebene Räuber seinen anderen Dolch hebt und auf Valôrius zielt. Mit einem Satz ist er auf den Beinen. Er scheint förmlich auf den Angreifer zuzufliegen. Dann rammt ihm das Elfenschwert in die Brust. Ungläubig starrt der Bandit ihn an und gurgelnde Laute dringen aus seinem aufgerissenen Mund. Er spuckt einen Klumpen dunkelroten Blutes aus und mit einem leisen Klirren fällt ihm die Waffe aus der Hand. Er lebt bereits nicht mehr, als er kurz darauf zu Boden sinkt.
Valorius Hände geben den Anhänger auf seiner Brust frei und Córa starrt auf ein Wappen, das sie selbst seit ihrer Kindheit über dem Herzen getragen hat.
„Auch wenn du ihn nie wiedersehen wolltest“, hört sie Fe’thorns warme Stimme. „da ist er: Claudius de Vernaag von Wildenstein – dein Bruder.“
„Kümmert euch um ihn“, ruft in diesem Moment die kleine Fomavára und springt auf. Verständnislos starren Fe’thorn und Córa sie an, während sie sich mit fließenden Bewegungen die Kleider abstreift, während ihr Körper schon die festen Formen verliert.
Als der Schrei des Waldadlers ertönt, blicken sie zur Böschung hinüber, auf der immer noch regungslos der feine Fremde steht. Doch neben ihm taucht plötzlich eine weitere Gestalt auf. Selbst auf diese Entfernung scheint es Córa, als ob sie die hässliche Narbe deutlich erkennen kann. Sein Lederwams ist blutdurchdrängt und er kann sich kaum auf den Beinen halten. Aber in der Hand hält er den Bogen seines toten Kumpanes. Keiner hat im Kampfgetümmel darauf geachtet, dass er hinüber gerobbt ist und die Waffe und den einzigen noch brauchbaren Pfeil an sich genommen hat, die der Bandit beim Sturz von der Böschung weggeworfen haben muss. Dann hat er sich mühsam hinauf zu Brégor gekämpft, um eine gute Schussposition zu haben.
Jetzt hat er die Sehne gespannt und fast verlässt ihn die Kraft, da richtet er den Pfeil auf Córa und diesmal hält ihn der feine Fremde nicht zurück. Nun, da sie alle Geheimnisse kennt, ist es besser, sie stirbt, denkt der. Ihrem Vater würde sie sowieso nicht mehr vertrauen.
Heftig wirbeln die Flügel des gewaltigen Jeltaraadlers durch die Luft. Die Krallen nach vorn gereckt stürzt er auf den Bogenschützen zu. Doch Taêl erkennt, dass sie zu spät kommen wird. Schon schnellt der Pfeil von der Sehne. Mit einem wütenden Aufschrei wirft sie sich ihm entgegen. Der dumpfe Aufprall sagt ihr, dass Córa gerettet ist, und ein Gefühl des Triumphes durchströmt sie. Als dieses einem brennenden Schmerz weicht, legt der große Adler die Flügel an und stürzt ihn die Tiefe.
Fe‘thorn und Córa springen auf, fassungslos und ohne ein Wort. Während die junge Frau auf die kleine, zierliche Gestalt zuwankt, aus deren nackter Brust ein gefiederter Pfeil ragt, hastet Fe’thorn die kleine Anhöhe hinauf. Noch ehe er oben ankommt, taumelt das Narbengesicht nach vorn und stolpert über den Rand der Böschung.
Tränenüberströmt kniet Córa neben der Freundin. Sie will ihr den Pfeil aus der Brust ziehen, doch dann spürt sie die kleine, warme Hand der Gestaltwandlerin auf der ihren und sieht ihr schwaches Kopfschütteln.
„Soll es wieder einen Waldadler weniger geben in den Wäldern Jelturias?“ flüstert sie mit tränenerstickter Stimme und streicht mit der freien Hand über das weiche, schwarze Haar der Freundin und kann ihrem Blick nicht von dem zarten, beinahe gläsern wirkenden Körper wenden, unter dessen dünner Haut die rötliche Farbe langsam verblasst.
„Manche Entwicklungen … kann man … nicht … aufhalten.“ Die Stimme der Fomavára ist kaum noch zu hören. Dann zaubert sie mit letzter Kraft ihr warmes Lächeln auf das schmerzverzerrte Gesicht. „Und auch ich … weiß ja … nicht, … was … da … nach … kommt.“
Dann legt sie auch ihre zweite Hand auf Córas. „Behalte … meine … Kleider“ flüstert sie, unterbrochen von einem trockenen Husten. „… Freundin.“ Ihr Kopf fällt zur Seite und das Strahlen ihrer grünen Augen erlischt. Nur das sanfte Lächeln bleibt. Córa bricht über ihr zusammen und schluchzt hemmungslos. Einen größeren Schmerz hat sie nie in ihrem Leben erfahren.
Irgendwann mischt sich in ihr Schluchzen ein leises, fast flehendes Wimmern. Sie hebt den Blick und starrt in das blasse, in Angst und Schmerz verzerrte Gesicht dieses Brégor. Eine breite, blutige Schramme zieht sich über seine Stirn. Außerdem ist das feine hellgraue Tuch seiner Jacke an der rechten Schulter blutdurchdrängt und der Arm hängt schlaff herab.
Was Córa aber am meisten verwirrt, ist, dass der feine Herr vor ihr kniet. Hinter ihm steht Fe'thorn mit einem Ausdruck im Gesicht, der sie erschauern lässt. Er hält Brégors Degen in der Hand, die Spitze der Klinge nah beim Hals des Knienden leicht in die Haut der Schulter gedrückt. In seinen Augen liegt eine unausgesprochene Frage.
Cora blickt auf den leblosen Körper der Freundin und sieht dann zu ihrem Bruder hinüber. Erstaunt bemerkt sie, dass er aufgestanden ist und, schwer auf seinen Stab gestützt, den Umhang fest gegen die verletzte Schulter pressend, langsam näher kommt.
„Brégor Hallstein. Der Privatsekretär unseres Vaters", bringt er mühsam hervor. "Er hat dir den Auftrag gegeben, uns töten zu lassen?" wendet er sich dann an ihn.
Das Wimmern erstirbt und ein leichtes Nicken folgte "Lady Córa sollte ich mit zurückbringen. Sie sollte nie erfahren, dass sie ihrem Bruder begegnet ist." Seine Stimme klingt nun ruhig und gefasst. "Aber nachdem sie wusste ...“ Er bricht ab und starrt auf die junge Frau.
"Du hättest auch sie geopfert, obwohl du wusstest, dass du nicht mit dem Leben davonkommen würdest." Claudius schüttelt fassungslos den Kopf.
"Tötet mich ruhig." Brégor richtet sich etwas auf und ein dünner Blutfaden rinnt aus seiner Schulter. "Herr de Vernaag wird mich sowieso nicht am Leben lassen. Ihr wisst, wie er mit Leuten umgeht, die seine Aufträge nicht erfüllen, Claudius."
Der junge Magier nickt und sieht Fe'thorn in die Augen. Dessen Hände packen den Degen fester, doch ehe er zustoßen kann, springt Cora auf. „Nein!" ruft sie und hebt die Hände. "Claudius, Fe, wir sind keine Mörder!" Sie sieht ihren Bruder an. "Du selbst hast mir mal gesagt, dass es Unrecht ist, einem Menschen das Leben zu nehmen, und erst Recht einem Unbewaffneten." Dann hockt sie sich vor Hallstein hin und ihm tief in die Augen blickend, setzt sie hinzu: "Was mein Vater mit dir macht, ist mir egal, das sollst du wissen. Aber erst wirst du ihm eine Botschaft von mir überbringen. Und bei Jeltara und Zarion, wenn du es nicht tust, werde ich dich finden, verstehst du?"
Ein schwaches Nicken antwortet ihr. "Sag ihm, niemals werde ich die Schwelle seines Hauses übertreten! Schließlich hat er mich aus diesem Haus hinaus schaffen lassen um sein eigenes Wohlergehen zu sichern. Sag ihm auch, wir neiden ihm seinen Besitz nicht. Soll er glücklich damit werden! Doch er sollte gewarnt sein: Auch wenn ich nicht die magischen Gene meiner Mutter in mir trage, kann ich ihm gefährlich werden. Sollte er in gewohnter Weise versuchen, seine Intrigen zu spinnen, um Claudius und mich zu einer Umkehr zu bewegen, werde ich dafür sorgen, dass jedes Detail seiner Machenschaften auf jedem Markt und in jeder Taverne Galâriens für lange Zeit das einzige Gesprächsthema sein werden. Und Ihr wisst, was das bedeuten würde.“
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, steht Cora auf, geht zu Fe'thorn hinüber und nimmt ihm den Degen aus der Hand. Dann hebt sie die Sachen auf, die Tael zuletzt getragen hat. Sie streift ihr Kleid ab und schlüpft in die fremden Kleidungsstücke, die ihr wie durch ein Wunder auf den Leib geschneidert scheinen. Brégors Degen steckt sie sich in den Gürtel. Als sie danach wieder zu den beiden Männern tritt, verschwindet der Sekretär gerade hinter der Biegung.

„Wisst ihr, wo wir Taêls Leute finden?“ Entschlossen steht die junge Frau vor den beiden Männern. Fe’thorn nickt. „Na dann, bringen wir sie nach Hause. Sie sollte nach den Ritualen ihres Volkes ins Reich des Schwarzen Gottes geleitet werden.“ Dann sieht sie Claudius fragend an. „Schaffst du es?“
Der junge Magier lächelt schwach. „Keine Sorge, liebste Schwester, für einen schwachen Heilzauber war noch ein Rest vom Erbe unserer Mutter übrig.“


Anhang




Galarien
ist eine Welt ähnlich der unseren, doch auch völlig anders. Sie besteht aus sieben landschaftlich und klimatisch völlig verschiedenen Zonen. Jedes dieser Gebiete wird von Menschen und anderen Geschöpfen bewohnt.
In Galârien werden acht Götter verehrt, von denen in jedem Gebiet und eine andere als Hauptgottheit angesehen wird.
Im Folgenden sind einige in der Geschichte vorkommende Begriffe erklärt. Eine vollständige Übersicht ist in Arbeit.

Bal
Längenmaß, 1 Bal = 100 Jant = 180m

Duk
größere Wärungseinheit, 1Duk = 100 Bak

Fomavári
fast ausgestorbenes Volk der Gestaltwandler

Gorón
der Totengott, dessen Namen niemand ausspricht aus Angst, ihm sofort gegenüber zu stehen, meist nur „der Schwarze“ genannt, auch Gott der Unterwelt

Jant
1 Jant = 180cm

Jeltara
Göttin des Waldes und der Jagd, auch „die Grüne“ genannt, auch Göttin des Sommers

Jelt’jeval
Waldelfen Jelturias, ein aufgeschlossenes, naturverbundenes Elfenvolk, dass freundschaftliche Kontakte zu allen anderen Völkern unterhält. Zu ihren bevorzugten Jagdwaffen gehört der Speer. Im Kampf verwenden sie auch schmale, leicht gekrümmte Schwerter.

Jelturia
westlichste Landschaft Galâriens, von tiefen, undurchdringlichen Wäldern bedeckt

Karishgebirge
die Berge des Ewigen Eises hoch im Norden, wenig bevölkert und tödlich für alle, die hier nicht aufgewachsen sind

Mâg’or
Kampfstab der Magier, etwa 1,80m lang, aus biegsamem Holz mit einem Eisenkern. Der Mâg’or ist in der Lage, die magischen Kräfte seines Besitzers zu bündeln und zu beschleunigen

Tiri Geol
große fruchtbare Ebene westlich von Rostorien, die Menschen hier leben hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht

Trésorter
sog. „Schatzjäger“, sie sind stets auf der Suche nach wertvollen Gegenständen und Relikten, handeln fast immer im Auftrag, kaum selbstständig, mitunter gehören auch Diebstahl und Falschspiel zu ihrem Handwerk

Wildenstein
Stadt in Zarkistan, nahe der Grenze zu Jelturia

Zarion
Gott des Lichtes und des Feuers, der Gelbe, auch Gott des Tages

Zarkistan
Landschaft zwischen den Karishbergen und Rostorien, vorrangig Mittelgebirge, hier sind der Bergbau und die großen Schmieden Galâriens angesiedelt

Impressum

Texte: Rechte beim Autor
Bildmaterialien: Rechte beim Autor, unter Verwendung eines lizenzfreien Fotos vonhttp://www.cepolina.com
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Geschichten aus Galârien erscheinen in loser Folge. Sie sind in sich abgeschlossen und stehen in keiner zeitlichen Reihenfolge. Am Ende des Buches befindet sich ein kurzer Anhang mit Erklärungen einzelner Begriffe.

Nächste Seite
Seite 1 /