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In Gedanken versunken starrt der Alte in die Flammen des Kamins. Er nimmt den eisernen Schürhaken und stochert damit in der Glut herum. Dann langt er einen dicken Kloben vom Holzstapel neben der Feuerstelle und legt ihn bedächtig hinein. Während sich die Glut in das trockene Holz frisst, vernimmt der Alte die Stimme des jungen Amiên. „Für heute ist es genug, nicht war Großvater?“ Der Alte blickt auf und es fällt ihm auf, dass er für einen Augenblick die Kinder völlig vergessen hat. Nachdenklich nickt er. Ohne zu ihnen hinüberzusehen sagt er sanft: „Wenn ich euch noch länger mit meinen Geschichten wachhalte, bekomme ich richtig Ärger mit eurer Mutter!“
Er sieht Amiêns Grinsen nicht, ahnt es aber. Dann steht er langsam auf und geht zur Haustür hinüber. „Ich muss nur noch mal nach Kos’ent-tar sehen“ sagt er. „Wenn ich wiederkomme, liegt ihr schon in euren Betten!“
Schulterzuckend steht der Junge auf und nickt seiner kleinen Schwester zu. Während sie in Richtung des hinter ihnen gelegenen Schlafraumes gehen, murmelt Amiên: „Wind-unter-den-Hufen, ein blöder Name für so ein altes Pferd. Der ist doch froh, dass er sich noch im Schritt bewegen kann!“
Abrupt bleibt der Alte stehen und wendet sich den Kindern zu. „Wie soll man dich rufen, Amiên, wenn du alt und gebrechlich sein wirst?“ fragt er, sanft lächelnd. „Du weißt, dass Kos’ent-tar einmal das schnellste Pferd ganz Galâriens war.“
Gelangweilt zieht der Junge die Schultern hoch. „Er ist ein echter Varagol!“ mischt sich seine kleine Schwester Cyn’thea in das Gespräch. Ihre dunkelbraunen Augen blicken ernst und fragend in Amiêns Gesicht.
Der prustet los. „Ach ja. Das hätte ich doch beinahe vergessen: Varagol stammen ja von fliegenden Pferden ab!“ Vertraulich legt er dem Mädchen seinen Arm um die Schultern. „Das ist nur eine Legende“, sagt er wissend. „Sie soll die Schnelligkeit und Ausdauer unserer Pferde symbolisieren.“
Während sich Enttäuschung in dem Mädchengesicht breitmacht, tritt der Großvater mit festen Schritten auf Amiên zu. Sein langer, weißer Schnauzbart, der, zu zwei schmalen Zöpfen geflochten, bis weit unter das Kinn hinab hängt, zittert. Das ist kein gutes Zeichen, wie die Kinder wissen.
„Das ist kein Märchen“ sagt er, und eine unheimliche Spannung liegt in der Luft, wie kurz vor dem Start zu einem großen Rennen. „ich habe selbst eines mit diesen, meinen eigenen Augen gesehen!“ Mit beiden Zeigefingern weist er auf sein Gesicht.
Amiên aber grinst über das ganze Gesicht. „Märchen haben wir heute schon genug gehört, hast du selbst gesagt, Großvater. Aber du kannst es uns ja morgen Abend erzählen.“
„Du solltest wissen, dass ich nicht lüge, Amiên“ sagt er mit scharfer, leiser Stimme. Ein gewaltiges Donnerwetter liegt in der Luft und die Kinder ziehen ängstlich die Köpfe ein. Der Junge nickt leicht mit dem Kopf und starrt betreten zu Boden. Das Grinsen ist aus seinem Gesicht verschwunden. „Als ich so alt war wie du, hätte ich vor dem ins Bett gehen noch zwei Pferde striegeln müssen, wenn ich so über meinen Großvater oder auch über sein Pferd gesprochen hätte!“
Der Junge beißt sich auf die Unterlippe, erwidert aber nichts. Das Mädchen sieht ihren Großvater mit zitternden Mundwinkeln an. In ihren Augen sammeln sich erste Tränen.
„Aber ihr habt Recht“, sagt der Alte dann etwas versöhnlicher. „Reden wir morgen darüber.“ Dann sieht er die beiden Kinder einen Augenblick nachdenklich an, während sie es nicht wagen, sich von der Stelle zu rühren.
„Ich werde eurer Mutter sagen, sie soll euch wecken, wenn morgen die Sonne aufgeht. Ihr packt dann schnell jeder eine Satteltasche, denn ich will, dass ihr mich begleitet. Wir werden mindestens zwei Tage und eine Nacht unterwegs sein. Dann sucht ihr euch jeder ein starkes, ausdauerndes Pferd und kommt zu der kleinen Baumgruppe hinter der Koppel. Dort werde ich auf euch warten.“
Dann geht der Alte mit wenigen Schritten zur Tür, die verwirrten Kinder einfach stehen lassend. „Und lasst euch ja nicht einfallen, euch bei der Auswahl eures Gepäcks oder eures Pferdes helfen zu lassen!“ ruft er ihnen zu, ohne sich umzuwenden.

Die Goro Lal liegt noch im Dämmerlicht, und gerade erhebt sich die Sonne am Horizont, als der einsame Reiter sein Pferd zügelt. Hoch aufgerichtet und bewegungslos sitzt er, einer Statue gleich, und blickt hinüber zu der Ansammlung kleiner Holzhäuser, die soeben von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne getroffen werden. Bedächtig senkt sein Pferd den Kopf und beginnt zu grasen.
Nur wenig später tauchen aus dem Zwielicht zwischen den Häusern zwei weitere Reiter auf und kommen schnell näher. Ein gutmütiges Lächeln umspielt die Lippen des alten Urban Ikkarson, während er seinen Enkelkindern entgegenblickt. Amiên macht schon eine gute Figur im Sattel, denkt er. Der Junge ist für sein Alter groß und kräftig. Das lange schwarze Haar weht im Wind, ebenso wie der genauso schwarze Reitumhang. Urban Ikkarson schüttelt unwillkürlich den Kopf. Er mag diesen modernen Unfug nicht, doch den Jüngeren gefällt es. Zudem hält Amiên die Zügel seines braunen Hengstes nur mit der linken Hand. In der rechten hält er, nach vorn gestreckt, die Górta, als reite er in den Kampf oder zur Jagd.
Und Cyn’thea wirkt auf ihrer schlanken, hochbeinigen Schimmelstute wie eine Stammesfürstin. Nur viel kleiner eben. Mit geradem Rücken, beide Hände fest am Zügel, passt sich ihr Körper genau jeder Bewegung des Pferdes an. Sie scheint dem Tier seinen Weg zu lassen und nur wenn man genau hinsieht, erkennt man, wie zart aber bestimmt sie ihr Pferd dirigiert. Sie trägt feste dunkelbraune Lederbekleidung, deren Oberteil mit hunderten bunter Perlen bestickt ist. Um den Kopf hat sie den traditionellen weißen Schal gebunden, dessen Enden ebenfalls im Winde hinter ihr her wehen.
Die Wahl der Tiere macht den alten Ikkarson stolz. Wenn die Kinder ihre Entscheidungen selbst getroffen haben, und davon geht er aus, hätten sie nicht besser ausfallen können. Miranda, Cyn’theas weiße Stute, ist ein schnelles, kluges Tier, aber leicht zu beherrschen und sanft wie ein kleines Fohlen. Sie ist nicht mehr ganz jung, aber ausdauernd und stark genug, auch beide Kinder zu tragen, denkt er.
Amiêns Wahl ist, wie Urban erwartet hatte, auf Har’andras gefallen, eines der unbändigsten und stärksten Pferde des Dorfes. Eigentlich wäre es als ein Wunder anzusehen, wenn dieses so wilde Pferd einem so jungen Reiter gehorcht. Aber Amiêns Verhältnis zu Har’andras ist ein ganz Besonderes. Sie sind beide im gleichen Sommer geboren und sozusagen zusammen aufgewachsen. Sein Vater hat Amiên schon als Kleinkind mit zu sich auf den Sattel genommen, wenn er mit dem Pferd trainiert hat. Vielleicht ist der Junge dadurch so wild und ungestüm geworden, geht es Urban Ikkarson durch den Kopf.
Dann bringen die beiden Kinder ihre Pferde vor ihm zum Stehen. Urban blickt den Jungen ernst an. „Steck das weg!“ sagt er streng zu Amiên und weist mit dem Kopf auf die Górta. „Musst du immer übertreiben? Und wo hast du die überhaupt her?“
Amiên verzieht beleidigt das Gesicht, betätigt dann aber vier versteckte Knöpfe, woraufhin sich die Teile der lanzenartigen Waffe beinahe geräuschlos in deren Schaft schieben. Mit einer heftigen Bewegung steckt er die Waffe in seinen Gürtel. „Vater hat sie mir gegeben. Ich hab‘ ihn gefragt!“ setzt er hinzu, als er den ungläubigen Blick des Großvaters bemerkt. „Du hast schließlich gesagt, wir sollen selbst entscheiden, was wir mitnehmen.“
Cyn’theas helle Stimme unterbricht den Disput der Beiden. „Du hast dich aber seltsam angezogen!“ sagt sie und starrt ihren Großvater erstaunt an. Urban Ikkarsson trägt abgewetzte, von Regen und Schweiß geschwärzte Lederhosen, deren Außennähten mit schwarze Fransen gesäumt sind, die aus Mähnen- oder Schweifhaar eines Pferdes zu bestehen scheinen. Den Oberkörper des alten Mannes bedeckt ein ärmelloser Panzer aus winzigen, eng aneinander auf Leder genähten Knochenstücken. Um die Oberarme und Handgelenke hat er verschiedene bunte Riemen gebunden. Sein langes weißes Haar wird von einem Stirnband gehalten, das in der gleichen Weise bestickt ist wie das Oberteil ihrer eigenen Kleidung, doch stecken im Stirnband des Großvaters am Hinterkopf noch zwei große weißbraune Federn.
„Das ist unsere traditionelle Kleidung“, erklärt der Alte dem Mädchen. „Als ich noch so jung war wie ihr, trugen alle Gorden solche Sachen. Heute sind sie fast vergessen.“
„Vater hat auch solche alten Sachen in seiner Truhe“ mischt sich Amiên ins Gespräch der Beiden. „Er hat sie, glaube ich, nur einmal angehabt. Als wir Großmutter verbr…“ Er beißt sich auf die Lippen und blickt verlegen zwischen Urban und Cyn’thea hin und her. „Von Großmutter Abschied genommen haben, meine ich“ sagt er dann leise.
Der Alte nickt und drückt sanft seine Schenkel an den Pferdekörper. „Jetzt aber los“, sagt er. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“
Nun erst scheinen die Kinder sein Pferd zu bemerken. „Du reitest Kos’ent-tar?“ fragt Amiên verwirrt und schüttelt ungläubig den Kopf. „Uns sagst du, wir sollen uns die besten Pferde aussuchen und du nimmst dir den?“
„Und wieso ist er nicht gesattelt?“ will Cyn’thea wissen. „Willst du etwa so reiten?“
Der Alte lässt Kos’ent-tar antraben und winkt den Kindern mit einer Hand, ihm zu folgen. „Ich erkläre euch alles. Später.“
Das Mädchen hält ihr Pferd immer neben oder schräg hinter dem des Großvaters. Sorgsam achtet sie darauf, dass Miranda Kos’ent-tar nie auch nur eine Kopflänge voraus ist. So ist es Tradition bei den Gorden. Frauen haben sich stets im Hintergrund zu halten, Cyn’thea kennt es nicht anders. In ihrem Kopf beschäftigt sie sich mit einem anderen Problem: Wohin will der Großvater mit ihnen? Und wieso hat er sich Kos‘ent-tar für diesen Ritt ausgewählt? Es ist das mit Abstand älteste Pferd des Dorfes. Sie hat sogar mal einen Nachbarn sagen hören, es wäre das älteste Pferd Galâriens. Auf der Koppel steht er meist abseits von den anderen Tieren und von seiner legendären Schnelligkeit ist nichts mehr zu bemerken.
Auch jetzt bemerkt das Mädchen den unruhigen und manchmal stolpernden Schritt des Tieres und schüttelt unwillig den Kopf. Was für ein Unsinn, diesem Pferd noch so einen Ritt zuzumuten!
Amiên hingegen hält das mäßige Tempo der anderen beiden nicht aus. Immer wieder treibt er sein Pferd zum Galopp an und prescht voraus. Die Górta allerdings lässt er im Gürtel. Eine Rüge des Großvaters am Tage reicht, denn der Alte kann wirklich richtig böse werden, wenn man ihm nicht Respekt zollt. Und der Tag ist noch lang.
Har’andras hingegen gefällt es nicht sonderlich, immer wieder gezügelt und zurückgehalten zu werden, um auf die Anderen zu warten. Ungeduldig scharrt er dann mit den Vorderhufen und schüttelt die prächtige Mähne. Am liebsten würde er davon stürmen und mit Amiên über die Steppe fliegen. Mal, nicht vom Koppelzaun begrenzt, das Weite zu suchen und den Wind in den Nüstern zu spüren.
So vergeht die Zeit und schon steht die Sonne ziemlich hoch am Himmel, als Urban Ikkarson seinen Hengst zu einer Gruppe riesige alter Laubbäume lenkt, deren breite Kronen den einzigen Schatten weit und breit spenden. Keiner, nicht einmal die Ältesten der Gorden können sagen, wie diese Bäume hierher, mitten in die Goro Lal, gekommen sind. Ansonsten findet man in der Blauen Steppe nur ein paar Sträucher, und hin und wieder eine Gruppe kleiner, kaum belaubter, junger Bäume. Das Gras lässt ihnen keine Chance.
Schweigend steigen die drei Menschen ab und während die Kinder ihre Pferde absatteln, beginnt der Alte bereits, Kos‘ent-tar trocken zu reiben.
Dann breitet Urban Ikkarson eine Decke auf dem Boden aus und lehnt sich an den Stamm eines der gewaltigen Bäume. Während er ein großes Fladenbrot, das seine Schwiegertochter gestern Abend noch gebacken hat, auspackt und in drei Teile bricht, merkt auch er das Alter. Sein Rücken schmerzt von dem ungewohnt langen Ritt und ein erstes Brennen breitet sich in seinen Oberschenkeln aus.
Kos’ent-tar bleibt im Schatten der Bäume stehen und zupft das spärliche, kurze Gras vor seinen Hufen. Die anderen beiden Pferde laufen ein Stück hinaus in die Steppe und genießen das hohe, saftige Blaugras, das der Goro Lal einst ihren Namen gab.
Amiên nimmt, nachdem er Har’andras versorgt hat, die große hölzerne Wasserflasche vom Sattel, öffnet sie und reicht sie zuerst dem Großvater, ehe er sich auf die Decke niederlässt. Der nickt zufrieden und nimmt einen tiefen Schluck. Dann reicht er die Flasche an den Jungen weiter.
Nachdem auch Cyn’thea sich zu ihnen gesetzt und ihren Durst gestillt hat, verteilt der Alte das Brot. Erst nach dem Essen bricht Urban Ikkarson das Schweigen.
„Ihr wollt bestimmt wissen, wohin ich mit euch reiten will.“ Es ist eine Feststellung, keine Frage, und Urban schaut die Kinder dabei nicht an. Sein Blick schweift über die Steppe und verliert sich in der Ferne. „Unser Weg führt uns zum Halbmondsee.“ Dann steckt er zwei Finger in den Mund und stößt einen leisen Pfiff aus. Sofort kommen Har‘andras und Miranda ein paar Schritte näher. „Ihr habt davon gehört?“
„Klar“, stößt Amiên hervor. Jedes Kind hat schon einmal von dem geheimnisvollen, sichelförmigen See mitten in der Goro Lal gehört. „Aber das ist weit. Viel zu weit für so ein ….“ Wütend beißt er sich auf die Unterlippe und erntet sofort einen bösen und einen erschrockenen Blick. Einem von seinem Großvater, den anderen von seiner kleinen Schwester.
Doch dann nickt Urban. „Für so ein altes Pferd, wolltest du sagen?“
Verzagt nickt der Junge und Urban Ikkarson steht auf und klopft seinem Pferd die Flanke. „Du hast Recht, Amiên“, sagt er dann leise und setzt hinzu: „Aber Kos’ent-tar ist dort geboren. Und er soll noch einmal dahin zurückkehren.“
„Er ist nicht im Dorf geboren?“ Der Junge tritt näher und sieht seinen Großvater ungläubig an. Der dreht sich zu ihm um und während er umständlich einen Apfel aus einer Tasche seiner abgewetzten Hose kramt und dem Pferd hinhält, sieht er seinem Enkel ins Gesicht.
„Dörfer gab es zu dieser Zeit nur ganz wenige in der Goro Lal“, sagt er. „Als Kos’ent-tar geboren wurde, befand sich unser Aûl gerade am Halbmondsee.“
„Aûl?“ fragend sieht Cyn’thea ihren Großvater und ihren Bruder abwechselnd an.
„Ja!“ Amiên verdreht die Augen. „Haben sie uns doch in der Schule erklärt. Die alten Gorden zogen früher mit ihren Pferden in der Steppe herum und machten nur Halt, wo es ihnen gefiel.“
Das Mädchen zuckt die Schultern. „Das hat uns noch keiner erzählt“, stellt sie dann fest.
Mit bedächtigen Handgriffen beginnt Urban Kos’ent-tar zu striegeln. „Was Amiên da eben gesagt hat, stimmt nicht ganz“, sagt er. „oder er hat wieder einmal nicht richtig hingehört. Als ich so alt war, wie ihr jetzt, gab es wie gesagt, noch keine oder nur sehr wenige Dörfer. Wir lebten in Aûls zusammen. Immer drei oder höchstens vier Familien, von denen jeder Einzelne nur das besaß, was in eine kleine Ledertasche passte, die man sich über die Schulter hängen konnte. Außerdem besaß jede Familie ein großes, rundes Zelt, in dem sie gemeinsam wohnte.“
Der alte Hengst schnaubt, als ob er die Worte verstehen und sich an diese Zeit erinnern würde. „Die Pferde bestimmten unseren Tagesablauf“, setzte der Alte, vor sich hin lächelnd, fort. „Jeder Aûl hatte an die sechzig bis achtzig Tiere, die allen gemeinsam gehörten. Keine Familie hatte das Recht auf ein bestimmtes Pferd. Sie wurden gemeinsam versorgt und nur sie bestimmten, wann der Aûl weiterzog und wohin. Wenn es dem Leithengst irgendwo gefiel, machten wir Halt und schlugen die Zelte auf. Wir blieben so lange, bis er mit der Herde weiterzog.“
„Was habt ihr denn mit den vielen Pferden gemacht? Habt ihr sie irgendwo verkauft?“ fragt Cyn’thea dazwischen.
„Nun, Geld kannten wir zwar, in den anderen Gegenden Galâriens war es ja schon lange in Gebrauch, aber es nutzte uns wenig. Wenn wir unterwegs auf einen anderen Aûl trafen, wurde ein Fest gefeiert und wurden Pferde getauscht. Auch ein großes Rennen mit unseren besten Tieren veranstalteten wir dann.“ Urban streicht Kos’ent-tar durch die lange, zottige Mähne. „Ja, du warst das schnellste Tier in der ganzen Steppe!“ sagt er zu ihm. Dann wendet er sich wieder den Kindern zu. „Genaugenommen war der Aûl ein Teil der Herde. Wir pflegten und versorgten die Tiere, wenn sie krank oder verletzt waren, halfen ihnen im Kampf gegen Raubtiere und dafür gaben uns die Pferde alles, was wir zum Leben brauchten.“
Der Alte schweigt einen Augenblick und hängt seinen Erinnerungen nach, dann sagt er: „Sattelt eure Pferde, wir müssen weiter. Wie du ja selbst gesagt hast, Amiên, haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Den Halbmondsee werden wir wohl erst in der Dunkelheit erreichen.“
„Du wolltest uns von Kos‘ent-tar erzählen“, wendet Amiên ein.
„Heute Abend!“ Urban Ikkarson schwingt sich behände auf den Rücken seine Pferdes und drückt ihm vorsichtig die Fersen in die Seite. Gehorsam trabt der Hengst an.

Bis zum Einbruch der Dämmerung haben sie ein großes Stück des Weges hinter sich gebracht. Schon zeichnen sich vor dem hellen Grau des Horizontes die Silhouetten der Bäume ab, die das Ufer des Halbmondsees säumen, da bricht Miranda mit einem entsetzten Wiehern so heftig aus, das ihre kleine Reiterin beinahe aus dem Sattel fällt.
Urban Ikkarsons Blick streift wachsam über das wogende Gras. Im Dämmerlicht schimmert die Goro Lal wie ein riesiges Meer aus Silber. Und dann erblickt er zwischen den silbrigen Halmen dunkelgraue Schatten, drei an der Zahl.
„Reitet!“ schreit er den Kindern im selben Augenblick zu. „Reitet um eurer Leben!“ Dann schlägt er Kos’ent-tar die Fersen in die Seiten. Härter, als er es beabsichtigt hat. Das Pferd schnaubt wütend, setzt aber mit einem großen Sprung vor und verfällt, schwerfällig und stolpernd, in Galopp. Aus den Augenwinkeln sieht der Alte, dass die Kinder seinem harschen Befehl augenblicklich gefolgt sind. Seine rechte Hand greift an den Gürtel und er erstarrt. Wie konnte er nur vergessen, seine Górta einzustecken? Hatte das Leben in der Geborgenheit des Dorfes ihn schon so abgestumpft, dass er die Gefahren der Steppe nicht mehr bedacht hatte? Oder ist er einfach zu alt geworden?
Als er sich gefasst hat und sich umblickt, sind die grauen Schatten der drei Silberwölfe verschwunden. Als er sich noch fragt, ob ihnen die schnelle Flucht das Leben gerettet hat, denn diese großen Räuber sind zwar flink und sprunggewaltig, aber keine ausdauernden Jäger, da vernimmt er einen schrillen Schrei und erkennt, dass er sich geirrt hat. Hastig wendet er sein Pferd und prescht zu den Kindern hinüber.
Die Silberwölfe haben Miranda eingekreist. Zwei gewaltige, erfahrene Tiere, ein Männchen und ein Weibchen, und ein junges, aber auch schon fast ausgewachsenes Männchen, sind es, die sich ins Gras ducken und ihre riesigen Reißzähne aufblitzen lassen.
Cyn’thea ist außer sich vor Angst. Der Großvater ist in entgegengesetzter Richtung davongeritten, wohl in der Hoffnung, mit seinem alten Pferd die Räuber auf sich zu ziehen und von den Kindern abzulenken. Sie selbst hätte ihrem großen Bruder folgen müssen, das weiß sie. Oft genug ist den Kindern das eingeschärft worden. Aber sie hat einfach nicht daran gedacht. Mit schreckensweiten Augen sieht sie sich um und erkennt, dass sie kaum noch eine Chance hat. Zwar hat Amiên sein Pferd gewendet und angehalten, winkt ihr aber, sie solle zu ihm kommen. Der Großvater ist mit Kos’ent-tar ebenfalls weit weg, versetzt jetzt aber sein Pferd in Galopp und jagt auf sie zu.
In diesem Augenblick greift der jüngere Silberwolf an. Eine gewaltige graue Masse fliegt auf Mirandas Hals zu und will sie an der Kehle packen. Mit panisch verdrehten Augen bäumt sich die Stute auf. Sie tänzelt auf den Hinterläufen und die Vorderhufe wirbeln durch die Luft. Bei dem Ruck der dabei durch ihren Körper geht, reißt es Cyn’thea die Zügel aus der Hand. Blitzschnell greift sie in die lange Mähne Mirandas und klammert sich mit ganzer Kraft fest. Wenn sie vom Rücken des Pferdes fällt, so ist das ihr sicheres Ende, geht ihr durch den Kopf.
Doch dazu kommt es nicht. Durch das plötzliche Aufbäumen des Pferdes erreicht der Wolf sein Ziel nicht. Stattdessen treffen kurz nacheinander zwei heftige Hufschläge seinen Kopf. Mit zerschmettertem Schädel wird sein Körper mehrere Jant durch die Luft geschleudert, ehe er ins Steppengras kracht.
Mit zitternden Flanken steht Miranda da, jetzt den anderen beiden Räubern schutzlos ausgeliefert.
„Ho, Ho, Heejoh!“, laute Rufe lassen diese die breiten Köpfe herumreißen. Der des männlichen Tieres ist von einer schmalen Mähne umgeben. Es richtet sich auf und starrt dem heran galoppierenden Reiter entgegen. Weißer Schaum steht dem Wolf vor dem Maul. Seine wasserblauen Augen funkeln angriffslustig.
Die momentane Ablenkung der Räuber nutzend, leitet Cyn’thea die immer noch zitternde Stute vorsichtig zur Seite. Doch ehe sie aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich gelangen kann, setzt die Wölfin zum Sprung an. Ein wütendes Knurren ertönt und schon fliegt ihr Körper durch die Luft, um auf der Kruppe der Schimmelstute aufzusetzen.
Doch in diesem Augenblick zuckt ein heller Blitz heran und bohrt sich in ihren Rücken. Die Spitze der Górta durchdringt ihren Körper und gleitet am harten Leder des Sattels ab.
Das Gewicht der Wölfin reißt die lange Lanze, verstärkt durch die Wucht des Aufpralls, zu Boden. Amiên hat das Gefühl, beide Arme würden ihm aus dem Körper gerissen. Es gelingt ihm nicht, seine um den Schaft der Waffe verkrampften Hände zu lösen und so wird er ebenfalls auf den Boden geschleudert. Der Schmerz raubt ihm für einen Augenblick den Atem und sogar die Sinne.
Als er wieder zu sich kommt, blickt er genau in die blauen Augen des Steppenwolfes. Er spürt den nach fauligem Fleisch stinkenden Atem, der aus dem weitaufgerissenen Maul des Tieres dringt, heiß und stoßartig auf seinem Gesicht. Er fragt sich, ob er die Kraft aufbringen kann, das gewaltige Tier mit bloßen Händen zu erwürgen.
In diesem Augenblick ist Urban Ikkarson heran und zieht mit einer schnellen Handbewegung die Górta aus dem leblosen Körper der Wölfin. Die Spitze der Lanze hat ihr Herz durchbohrt. Gerade will der alte Gorde die Waffe in den weitaufgerissenen Rachen des neben dem im Gras liegenden Jungen stehende Räubers stoßen, da wirft das Tier ihm einen unbeschreiblichen Blick zu. Trauer und Rachelust scheinen sich mit Müdigkeit und Ungläubigkeit zu paaren. Urban zögert einen winzigen Augenblick. Diesen Moment nutzt der Wolf, mit zwei, drei weiten Sätzen im hohen Gras der Goro Lal zu verschwinden.
Der Alte gleitet von Kos’ent-tars Rücken und hockt sich, auf die Górta gestützt, neben den Jungen in Gras. „Alles in Ordnung?“ fragt er leise.
Amiên nickt und wirft einen funkelnden Blick auf die lange Lanze in Urban Ikkarsons Hand. „Bloß gut, dass wenigstens ich an eine Waffe gedacht habe!“ sagt er leise und ein verlegenes Grinsen gleitet über sein Gesicht.

Die hellen Flammen durchdringen die Dunkelheit und spiegeln sich im Wasser des Sees. Knackend bersten die trockenen Zweige im Feuer. Cyn’thea sitzt auf ihrem am Boden liegenden Sattel, den Kopf in beide Hände gestützt und blickt in die flackernde Flamme. Ihr Gesicht wird von den herabhängenden Enden des weißen Schals eingerahmt und erscheint so noch dunkler als sonst.
Amiên hingegen liegt lang ausgestreckt, den Kopf an seinen Sattel gelehnt, im hohen Gras und starrt auf den See hinaus. Fasziniert beobachtet der Junge, wie das Abbild des Feuerscheins im Rhythmus der Wellen mal auf ihn zu, mal weg von ihm schwingt. So etwas hat er noch nie gesehen. Wenn es in den Monden vor und nach dem Winter stark regnet, fließt in der Nähe des Dorfes ein schmaler Bach, in dem sie die Pferde tränken, sonst aber müssen sie das Wasser aus einem kleinen Brunnen schöpfen, der sich im Mittelpunkt des Dorfes befindet.
Seit sie ihren Durst am Ufer des Halbmondsees gelöscht haben, stehen die Pferde zwischen den Bäumen an einer höher gelegenen Stelle, ganz in der Nähe des Feuers. Miranda hat ihren Kopf auf Har‘andras Rücken gelegt und er knappert sanft an ihrem Hals.
Kos’ent-tar dagegen steht wie immer ein wenig abseits und blickt zu den anderen beiden Pferden hinüber. Hin und wieder schüttelt er den Kopf und schnaubt unwillig, als ärgere er sich über deren Verhalten.
Nachdenklich dreht Urban Ikkarson schon ein paar Augenblicke die herabhängenden Enden seines Bartes zwischen den Fingerspitzen. Für die Kinder ein deutliches Zeichen, dass der Großvater bald zu erzählen beginnt.
Dann beginnt er. Leise und sanft mischen sich die Worte unter das Knacken der Äste und den eintönigen Klang der Wellen. Auch Amiên richtet sich jetzt auf und sieht ihn gespannt an.

„Über fünfzig Sommer ist es her, ich war etwa so alt wie du, Amiên, auf alle Fälle noch keine vierzehn Sommer, da schlug unser Aûl seine Zelte weit weg von hier, am Ufer des Meeres auf.“
„Du hast das endlose Wasser gesehen?“ platzen die Kinder wie aus einem Mund heraus und ihre Augen werden noch größer als sie schon sind.
Versonnen nickt der Alte. „Mit dem Aûl haben wir damals die gesamte Goro Lal durchquert. Und glaubt mir: In ihrer gesamten Breite grenzt sie an das endlose Wasser. Deshalb glaube ich, dass die Ahnen Recht hatten, wenn sie sagten, ganz Galârien sei von Wasser umgeben.“
„Stimmt es, dass es hinter dem weiten Wasser noch andere Länder gibt?“ will Cyn’thea wissen und wird sofort von ihrem großen Bruder zurechtgewiesen. „Unfug ist das! Jeder weiß, dass die Götter unser Galârien erschaffen haben, um nicht im endlosen Wasser leben zu müssen. Später sind sie in Streit geraten und haben das Land unter sich aufgeteilt. Wozu hätten sie noch andere solche Länder erschaffen sollen?“
Nachdenklich legt das Mädchen den Kopf auf die Seite und blickt ihren Großvater fragend an. Der zuckt die Schultern und sagt dann: „Ich kann es euch nicht sagen. Aber es gibt ja die Legende vom Land am anderen Ende des Wassers, das dem unseren wie ein Ei dem anderen gleicht und in dem seltsame und geheimnisvolle Wesen leben sollen. Auch die fliegenden Pferde sollen dort ihre Heimat haben.“
„Die fliegenden Pferde kommen von den Gipfeln des Karishgebirges“, sagt Amiên kopfschüttelnd. „Falls es sie überhaupt gibt!“ setzt er dann noch hinzu und sieht den Großvater herausfordernd an.
Der geht diesmal nicht auf den provozierenden Tonfall des Jungen ein und hebt wieder die Schultern. „Andere Legenden sagen auch das, ja, ich weiß wirklich nicht, was davon stimmt. Aber, dass es sie gibt, das weiß ich genau. Und nun hört mir zu.“ Er räuspert sich, blickt lange auf den See hinaus und beginnt wieder zu erzählen:
„Zu unserer Herde gehörte eine wunderschöne Stute. Tar’les-oligar, Die-sich-mit-dem-Wind-vereint, war ihr Name. Kein Pferd in der Goro Lal konnte es an Schnelligkeit und Schönheit mit ihr aufnehmen. Ihr Fell war schwarz wie die Nacht, mit einer großen Blesse auf der Stirn und weißen Fesseln. Nur am rechten Hinterlauf konnte man, wenn man genau hinsah, einen kleinen hellbraunen Fleck erkennen.
Eines Morgens war Tar’les-oligar verschwunden. Der gesamte Aûl suchte die Stute den ganzen Tag. Die Männer ritten in alle Richtungen aus, doch niemand hat sie gesehen. Wir alle hatten die Hoffnung, dass sie am nächsten Morgen von selbst zur Herde zurückkehren würde.
Doch unsere Hoffnung erfüllte sich nicht. Schließlich ging ich zu meinem Vater und bat ihn, Tar’les-oligar suchen zu dürfen. Er sah mich lange an und meinte dann, ich sei noch nicht alt genug, meine erste Reifeprüfung zu bestehen.“ Urban Ikkarson unterbricht sich und sieht die Kinder abwechselnd an. „Zu dieser Zeit mussten Kinder in ihrem vierzehnten Sommer drei große Prüfungen bestehen, um dann in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Davon werde ich euch aber ein andermal mehr erzählen.“ Dann nickt er und setzt seine Erzählung fort:
„Also packte ich heimlich ein paar Sachen ein und lief so schnell mich meine Beine trugen in die Goro Lal hinein, genau wissend, dass die Männer ja bereits alles abgesucht hatten. An die Strafe, die mich ereilen würde, wenn ich wieder nach Hause kam, dachte ich nicht. Meine Gedanken waren nur bei Tar’les-oligar.
Ich lief den ganzen Tag und musste mir am Abend eingestehen, dass ich nicht nur keine Ahnung hatte, wo ich war, sondern auch keinen Bissen mehr zu essen in der Tasche und nur noch einen kleinen Schluck Wasser. Da wurde mir klar, dass ich allein in der Steppe nicht lange überleben würde. Ich wagte es nicht, mich in das hohe blaue Gras zu legen und zu schlafen, wusste ich doch, was für Gefahren nachts in der Goro Lal lauern. Zum ersten Mal im Leben hatte ich Angst vor der Nacht und der Dunkelheit.
Während ich weiterlief, bat ich Laletary immer wieder, mir zu helfen, die schöne Stute zu finden. Und die große Göttin hat mich kleinen Jungen erhört. Plötzlich vernahm ich das Geräusch galoppierender Hufe und dann das Schnauben eines Pferdes. Im letzten Licht des Tages sah ich plötzlich ein Pferd auf mich zukommen. Die dunkelrot und weiß gefleckte Stute war fast so wunderschön wie Tar’les-oligar, aber kleiner und gedrungener im Körperbau. Und auf ihrem Rücken saß das schönste Mädchen, das ich je im Leben gesehen hatte. Sie war etwa so alt wie ich und ihr langes, schwarzes Haar wehte im Abendwind. Als sie die Stute vor mir zum Stehen brachte, blies er ihr immer wieder Haarsträhnen vor das Gesicht, die sie geduldig und mit sanften Handbewegungen immer wieder wegstrich.
‚Wer bist du?‘ fragte sie mich. ‚Und was treibt dich nachts in die Steppe?‘ Nachdem ich ihr geantwortet hatte, sah sie mich eine Weile nachdenklich an. Dann reichte sie mir ihre Hand. ‚Steig auf‘, sagte sie freundlich, ‚ich denke, ich weiß, wohin eure Stute gelaufen ist.‘ Ihr könnt euch vorstellen, wie peinlich es mir war, hinter einem Mädchen auf einem Pferd zu sitzen, aber es konnte ja keiner sehen. Also nahm ich ihr Angebot an. Sobald ich aufgesessen war, trieb sie ihr Pferd an. ‚Wohin reiten wir?‘ fragte ich das schöne Mädchen.
‚Zum Strand.‘
‚Ich muss erst meine Stute finden, ehe ich nach Hause zurückkehren kann‘, erwiderte ich. Ihr herzliches Lachen klang ganz anders in meinen Ohren. Sie drehte ihren Kopf ein Stück zurück und sagte: ‚Es gibt hier eine kleine, flache Lagune, die ihr bestimmt noch nicht gefunden habt. Das soll ein seltsamer Ort sein, sagen die Alten. Und in manchen Vollmondnächten soll man dort Fliegende Pferde sehen können. Vielleicht spürt deine Stute das und hat sich auf den Weg dorthin gemacht.‘
‚Fliegende Pferde!‘ Ich schüttelte den Kopf. ‚Aus dem Märchenalter bin ich schon heraus. Das sind doch alles nur Legenden, die die Alten den kleinen Kindern erzählen.‘
Das fremde Mädchen zuckte die Schultern. ‚Wir werden ja sehen‘ sagte sie. ‚Und nun halt‘ dich fest. Wir müssen uns beeilen.‘
Gerade noch rechtzeitig schaffte ich es, meine Arme um ihren Körper zu legen, da jagte sie in vollem Galopp davon. Während ich versuchte, mich den Bewegungen der Stute und damit auch denen des Mädchens anzupassen, wurde mir auf einmal seltsam heiß. Mir wurde bewusst, dass ich noch nie einem Mädchen so nahe gewesen bin. Ihre Wärme drang durch das leichte Leder ihre Kleidung in meine Haut, ihr Haar streichelte und umwehte mein Gesicht und begierig nahm ich den Duft ihrer Haut in mich auf. Arietta war das wundervollste Geschöpf, dem ich je begegnet bin.“
„Großmutter?“ fällt Amiên ihm ins Wort. „So hast du Großmutter kennengelernt?“
Urban nickt. „So ist es, Amiên. An diesem Abend habe ich eure Großmutter zum ersten Mal getroffen. Doch nun lass mich weitererzählen, ihr sollt schließlich die Geschichte meines Pferdes hören und keine Liebesgeschichte.
Es war schon dunkel, als ich das vertraute Rauschen der Wellen vernahm und den Geruch des Meeres verspürte. Arietta hatte Mühe, ihre Stute zurückzuhalten, die aufgeregt wieherte und immer wieder versuchte, nach vorn auszubrechen. ‚Ob sie unsere Herde wittert, oder warum ist sie so unruhig?‘ fragte ich Arietta. Sie schüttelte den Kopf und wieder spürte ich einen spöttischen Unterton in ihrer Stimme, als sie sagte: „Von deinem Aûl dürften wir noch viel zu weit weg sein. Nein, ich denke, sie nimmt den Geruch des Fliegenden Hengstes wahr, auf den sie genauso wild ist wie wohl auch eure Stute.‘ Ich schwieg, weil es mir peinlich war. Klar wusste ich, wovon sie sprach, aber das war kein Thema zwischen Jungen und Mädchen. Und irgendwie kam mich mir auch sehr kindisch vor, weil ich nicht daran gedacht hatte.
Vom wilden Galopp Ariettas Stute getragen, kamen wir bald am Strand an. Tatsächlich gab es hier eine kleine, flache Bucht. Ein schmaler Bach mündete hier ins Meer und große, merkwürdige Bäume wuchsen hier, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Das alles glitzerte im silbernen Licht des großen Mondes, der hoch am Himmel stand.
Ariretta und ich ließen uns in den Sand gleiten und sie zog mich hinter einen Busch, der fast so hoch war, wie wir beide. Die Stute ging nah an das Wasser heran und hob die Nase in den Wind. Und kurz darauf vernahmen wir ein Wiehern, das ich aus allen anderen herausgehört hätte. Tar’les-oligar stürmte in die Bucht, stieg und tänzelte auf den Hinterbeinen. Es war ein grandioser Anblick, kann ich euch sagen. Beinahe hätte ich sie gerufen, doch eine sanfte und zugleich feste Hand verschloss mir den Mund. Ich sah in Ariettas Augen und sie schüttelte bittend den Kopf. Ich nickte und sie nahm die Hand von meinem Mund. Als wir wieder zum Strand hinsahen, hatte sich ihre Stute der meinen genähert und beschnupperte sie aufgeregt. Dann standen sie sich gegenüber und es sah aus, als ob sie sich gleich beißen würden. Tar’les-oligar schnaubte wild und riss den Kopf hoch. Ich hegte keinen Zweifel, dass sie die Fremde in die Flucht schlagen würde, da geschah es:
In das Rauschen des Meeres mischte sich ein anderes Geräusch. Ein noch heftigeres Rauschen erfüllte die Luft. Der Schlag gewaltiger Schwingen. Und dann sah ich ihn. Im silberhellen Mondlicht flog ein großer, hellbrauner oder hellroter Hengst auf die Lagune zu. Er war hoch über dem Meer in der Luft und seine Beine bewegten sich wie im Schritt. Dazu schwangen die großen Flügel stark und gleichmäßig auf und ab.
Die beiden Stuten standen genauso versteinert und andächtig wie Arietta und ich. Dann spürte ich ihre Hand in der meinen und sie zog mich nach unten. Wir lagen nebeneinander in der Deckung des Busches und sahen, wie der Fliegende Hengst auf dem Sand des Strandes aufsetzte. Er legte die Flügel an und ging sanft und leise, ohne ein Wiehern oder Schnauben, beinahe bedächtig, auf die beiden Stuten zu, die ihren Streit inzwischen wohl vergessen hatten.
Noch bevor er bei ihnen anlangte, konnten wir sehen, um was für ein gewaltiges Tier es sich handelte. Der Fliegende Hengst war ein ganzes Stück größer und kräftiger als unsere Tiere, aber von einem hohen, schlanken Körperbau, wie ich noch bis heute kein Pferd mehr gesehen habe.
Als er sich Ariettas Stute zuwendete und vorsichtig in ihren Hals biss, spürte ich, wie Ariettas Hand sich um die meine verkrampfte. Ich nahm kaum Notiz davon, denn in diesem Moment stieg Tar’les-oligar plötzlich wieder hoch und schoss mit einem schrillen Wiehern davon, nur knapp zwei Jant an uns vorbei. Mit Mühe konnte ich einen Aufschrei unterdrücken, da riss der Hengst den Kopf hoch und starrte meiner Stute hinterher. Und plötzlich galoppierte er ihr hinterher, in die Goro Lal hinein.
Ich blickte zu Arietta und sah, dass ihre Augen voller Tränen waren. Ich wollte ihr Gesicht streicheln, doch sie schob meine Hand weg. Dann stand sie auf und rief ihre Stute heran. Die aber sah sie nur kurz an, schüttelte den Kopf, dass die lange Mähne nur so flog, und galoppierte dann den anderen beiden Pferden hinter.
Bis der Morgen graute, gingen wir am Strand spazieren oder saßen am Wasser und unterhielten uns. Wir fragten uns, ob unsere Pferde wiederkommen würden und wie wir wieder nach Hause kämen, wenn dem nicht so wäre. ‚Du hast es gut‘, sagte sie, ‚du brauchst einfach nur da am Strand entlang zu laufen“, sie zeigte mir die Richtung, ‚dann kommst du irgendwann an das Lager eures Aûls. Aber ich?‘
‚Wenn deine Stute nicht zurückkommt, nehme ich dich eben mit zu uns, irgendwann treffen wir ja vielleicht mal auf euren Aûl‘ meinte ich dann und Arietta nickte.
Und genau in diesem Augenblick tauchten die beiden Stuten am Rand der Goro Lal auf und galoppierten in die Lagune. Ausgelassen stürzten sie sich in das Wasser des Meeres, wie um sich die Hitze der Nacht abzuspülen. Kurz nach ihnen preschte auch der herrliche Hengst heran. Jetzt konnte ich auch erkennen, dass sein Fell von einem hellen Braun war, wie das Gras der Steppe in besonders heißen Sommern. In vollem Galopp jagte er auf das Meer zu. Doch noch bevor seine Hufe das Wasser berührten, breitete er die mächtigen Schwingen aus und stieg hoch in den Himmel hinauf. Ohne die beiden Stuten noch eines Blickes zu würdigen, und als erwarte ihn dort oben etwas Besonderes, stieg er höher und höher, immer dem Horizont zustrebend. Und dann war er plötzlich verschwunden.“

„Und dann hast du Großmutter mit in unseren Aûl gebracht?“ wollte Cyn‘thea nach einer Weile des Schweigens wissen.
Urban Ikkarson schüttelt den Kopf. „Sie wies lachend auf die beiden Stuten, die noch immer ausgelassen im Wasser herumtollten und sah mich mit einem fragenden Blick an, den ich nie vergessen werde. Ich wusste, was sie meinte und nickte. Dann warfen wir, genauso ausgelassen wie unsere Pferde, unsere Sachen in den Sand und stürzten uns ins Meer. Bei allen Göttern, Kinder, es gibt nichts Schöneres, als mit Pferden an einem hellen Sommermorgen im Wasser herumzutollen.“
„Und das ist alles wahr?“ Amien sieht den Großvater zweifelnd an. Der zuckt die Schultern und meint: „Jedenfalls habe ich es so erlebt. Warum sollte ich euch belügen? Glaubst du, das wäre ein Märchen gewesen, Amien?“ Seine Stimme klingt streng und der Junge wagt nicht, etwas zu erwidern.
„Und außerdem gibt es ja einen Beweis dafür.“ Urban weist auf Kos’ent-tar. „Da steht er!“ Dann sieht er die Kinder abwechselnd an und setzt seine Erzählung fort:
„Arietta ritt mit ihrer Stute in die Steppe hinein. Das Pferd würde seine Herde finden, daran gab es keinen Zweifel. Ich aber galoppierte mit Tar’les-oligar immer am Strand entlang und kam gegen Abend in unserem Lager an.“
„Sie haben dich nicht sehr bestraft, oder?“ Wieder einmal zeichnet sich ein verwegenes Grinsen auf Amiêns Gesicht ab. Urban schüttelt den Kopf. „Sie haben beschlossen, mir die Suche nach Tar’les-oligar als erste Reifeprüfung anzuerkennen. Trotzdem musste ich einige Tage lang die schmutzigsten und niedrigsten Arbeiten übernehmen. Da gab es kein Erbarmen.
Nur wenige Tage später brachen unsere Pferde ins Innenland der Goro Lal auf und wir folgten ihnen.“ Urban unterbricht sich kurz und schürt noch einmal das Feuer. Aus weiter Ferne dringt das Heulen eines Steppenwolfes herüber und die Pferde werden unruhig.
Cyn’thea ist es, die aufsteht und hinübergeht, die Tiere zu beruhigen. Als sie zurückkommt, erzählt der Großvater weiter:
„Etwa ein Jahr später lagerten wir hier an diesem See. Da drüben, in der kleinen Bucht.“ Er weist zum anderen Ufer hinüber. „In einer hellen Vollmondnacht wurde dort Kos’ent-tar geboren. Er war das seltsamste Pferd, das selbst erfahrene Steppenreiter jemals gesehen hatten. Schon als Fohlen war er größer und kräftiger als alle andern, die in diesem Jahr geboren wurden. Sein helles, braunes Fell hatte kein anderes Tier der Herde. Nur die große Blesse auf der Stirn bewies die Abstammung von Tar’les-oligar.
Bald schon zeigte sich, dass er auch das schnellste Tier unseres Aûls war. Schon als ganz junger Hengst überflügelte er alle anderen Pferde bei den Rennen. So machte er seinem Namen, den ich ihm natürlich aussuchen durfte, alle Ehre.“
„Die Erwachsenen glaubten dir deine Geschichte?“ fragt Cyn’thea dazwischen. „Natürlich!“ Der Alte nickt. „Zu dieser Zeit hätte kein Gorde einen anderen der Lüge bezichtigt. Nach meinem Bericht sind einige erfahrene Steppenreiter ausgeritten und haben lange nach der geheimnisvollen Lagune gesucht, doch niemand hat sie gefunden. Und dennoch zweifelte niemand an meinen Worten. Wir alle wussten, dass Laletary nur Wenigen Einblick in ihre Geheimnisse gewährt.“ Urban verstummt und blickt lange zu seinem alten Pferd hinüber.
„Und Arietta?“ will Amiên wissen, „Wie hast du sie wiedergefunden?“
Ein Lächeln huscht über Urbans Gesicht. „Das, Kinder, ist eine andere Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie euch später einmal. Und was aus Kos’ent-tar geworden ist, wisst ihr. Er wurde zum berühmtesten Pferd in der Goro Lal und vielleicht in ganz Galârien. Kein Rennen war ihm zu lang oder zu schwer. Er hat sie alle gewonnen! Selbst das mörderische Quer-durch-die-Steppe, das lange vor eurer Geburt nicht mehr ausgetragen werden durfte, da viele Pferde die Strapazen nicht überstanden haben, hat er mehrmals gewonnen. Und er war der begehrteste Deckhengst, wie ihr euch sicher denken könnt. Viele wertvolle und herrliche Pferde stammen von ihm ab.“
Schweigen breitet sich über dem kleinen Lager aus. „nun geht schlafen, morgen wollen wir in aller Frühe zurück ins Dorf reiten“ sagt Urban Ikkarson dann leise.
Die Kinder nicken und verkriechen sich in ihre Decken. Nur wenig später sind sie fest eingeschlafen. Der Alte aber steht auf, geht zu Kos’ent-tar hinüber und schwingt sich auf seinen Rücken. Langsam und vorsichtig, damit die Kinder nicht erwachen, verlassen sie das Lager.

Als am nächsten Morgen die Sonne hinter dem Halbmondsee aufgeht, sitzt Urban Ikkarson am Lagerfeuer, das allerdings schon lange erloschen ist. Verschlafen schälen sich die Kinder aus ihren Decken und strecken sich um wach zu werden. „Frühstück ist fertig“ ruft der Großvater ihnen gutgelaunt zu. „Doch vorher geht ihr beide noch mal in den See. Er ist hier nicht tief. Genießt die Kühle des Wassers auf eurer Haut, es wird ein heißer Tag werden. Und denkt daran, Har‘andras und Miranda mitzunehmen. Ihr wisst, was ich euch heute Nacht erzählt habe.“
Die Kinder sind bereits mit den beiden Pferden im Wasser, da dreht sich Amiên um und fragt: „Und du, Großvater? Willst du nicht auch mit Kos…“ Als der Großvater den Kopf schüttelt, starrt der Junge zu der Baumgruppe hinüber. Erst jetzt fällt ihm auf, dass Kos’ent-tar verschwunden ist.
„Wo ist er?“ Seine Stimme bebt und sein Gesicht wird trotz der Bräune seiner Haut leichenblass. Auch seine Schwester hält jetzt im Toben inne und blickt verstört auf ihren Großvater.
Der hebt beschwichtigend die Hand. „Er lebt, falls ihr das meint. Aber er kommt nicht mit uns zurück.“ Der Alte breitet ein Tuch auf dem Boden aus und verteilt Brot und Früchte darauf. „Ich erkläre euch alles beim Frühstück.“
Als die Kinder die Pferde abgerieben und gestriegelt haben und alle beim Essen sitzen, sagt Urban dann: „Ihr wisst ja, dass Kos’ent-tar und ich schon immer eine enge Bindung hatten. Kaum ein Mensch hat mir je so nahe gestanden, wie dieses Pferd. Und keiner hat mich so lange begleitet. Immer habe ich seine Ausdauer, seine Kraft und seinen Willen bewundert und geschätzt. Und schon als Kind im Aûl habe ich gelernt, dass der Wille und das Glück der Pferde über unser Denken und Fühlen hinausgehen. Ich weiß, dass die jüngeren Pferde die Haltung auf den Weiden der Dörfer gewöhnt sind und die Freiheit, dahin zu gehen, wo der Wind sie hinführt, nicht vermissen werden. Aber bei Kos’ent-tar ist das etwas Anderes. Er hat länger gelebt, als alle anderen Pferde im Dorf. Und er hat diese Freiheit immer vermisst. Soweit ich weiß, ist er der letzte echte Varagol in der gesamten Steppe. Ich kann dieses Tier doch nicht in der Gefangenschaft sterben lassen! Auch wenn er es im Dorf gut haben würde in seinen letzten Tagen – ein Varagol muss frei über seinen Willen entscheiden können. Und ich habe gespürt, dass er hinaus wollte, hinaus in die Steppe um noch einmal frei zu sein, wenn auch nur für ein paar Tage. Deshalb sind wir hierher geritten.“

Der Wind pfeift über die Goro Lal, als sie heimwärts traben. Wild und unbändig prescht Har’andras immer wieder ein Stück nach vorn. Der Alte in seinem Sattel duldet es, denn er weiß, dass auch in den Adern dieses Pferdes das Blut eines echten Varagol fließt. Sanft und duldsam hingegen trägt die herrliche Stute Miranda die beiden Kinder der Heimat entgegen. Und hin und wieder scheint sich in das Pfeifen des Windes das Geräusch starker, schlagender Schwingen zu mischen.




Almanach:

Galârien
ist eine Welt ähnlich der unseren, doch auch völlig anders. Sie besteht aus sieben landschaftlich und klimatisch völlig verschiedenen Zonen. Jedes dieser Gebiete wird von Menschen und anderen Geschöpfen bewohnt.
In Galârien werden acht Götter verehrt, von denen in jedem Gebiet und eine andere als Hauptgottheit angesehen wird.
Im Folgenden sind einige in der Geschichte vorkommende Begriffe erklärt. Eine vollständige Übersicht ist in Arbeit.

Gorden
Ein Reitervolk der Goro Lal, von hoher, kräftiger Gestalt und äußerst zäh, sie führen meist einen schmalen Säbel und die Górta, eine teleskopartig zusammenschiebbare Lanze, bei sich, die auch als Stichwaffe verwendet werden kann

Jant
Längenmaß, ein Jant entspricht 180cm

Karishgebirge
Nördlichster Landesteil Galâriens, hohes unwegsames Gebirge, das die meiste zeit des Jahres von Schnee und Eis bedeckt ist

Laletary
Göttin der Luft und des Windes, Unsichtbar (Hauptgottheit)

Goro Lal
das Land der Blauen Steppe liegt weit im Süden, Berühmt für die Varagol - Abkömmlinge der Fliegenden Pferde, schnell wie der Wind und schwer zu reiten

Impressum

Texte: Alle Rechte beim Autoren
Bildmaterialien: Matthias Günther
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Geschichten aus Galârien erscheinen in loser Folge. Sie sind in sich abgeschlossen und stehen in keiner zeitlichen Reihenfolge. Am Ende des Buches befindet sich ein kurzer Anhang mit Erklärungen einzelner Begriffe.

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