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Langsam senkt sich die Nacht hernieder. Auf einem kleinen Plateau, hoch oben an der zerklüfteten Felswand, flackert ein Lagerfeuer. Die Wärme, die von den hellen Flammen ausgeht, bewegt die Frau bald dazu, auch ihre grobe Wolljacke abzulegen. Sorgfältig breitet sie sie über die eiserne Rüstung, die bereits neben ihr auf dem Boden liegt. Zum Glück kann sie hier keiner sehen, in ihrem dünnen Leinenhemdchen, denkt sie sanft lächelnd, und streckt ihre Hände dem Feuer entgegen.
Lange lauscht sie dem Knacken der trockenen Äste, die in den Flammen brechen und dem Tosen des Flusses, das aus der Tiefe zu ihr hinauf dringt. Die Geräusche vermischen sich mit dem Rauschen des Waldes, der den Fels zum größten Teil bedeckt.
Dann umschlingt sie mit den Armen ihre an die Brust gezogenen Knie und blickt, tief in Gedanken versunken, in das flackernde Feuer, das hin und wieder einen Schwarm kleiner roter Funken ausspeit.

Feuer hat schon immer eine magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt und nie ist diese Leidenschaft erloschen. Das liege an ihren glutroten Haaren, hat ihr Vater immer wieder lachend gesagt. Rothaarige Frauen seien eben von der Kraft und der Leidenschaft des Feuers beseelt. Aber sie hätten aber auch die Eigenschaft, jedes noch so harte Herz zum Schmelzen zu bringen, so wie Feuer das Eisen.

Die Erinnerung an ihren Vater zaubert ein Lächeln auf das Gesicht der Frau. Sie sieht ihn vor sich, die alte, fleckige Lederschürze vor den nackten Oberkörper gebunden, seine gewaltigen Arme und sein ernstes, stets rußgeschwärztes Gesicht. Artos der Schmied war ein rauer, bärenstarker Mann gewesen. Einmal, sie war noch ein Kind, hatte sie in der Schänke gehört wie jemand erzählte, er wäre von einem Riesen mit einer Menschenfrau gegen deren Willen gezeugt und sie habe das Kind im Walde ausgesetzt. Dort hätten Zwerge den Jungen gefunden und ihn mit hinein, tief in den Berg genommen, wo sie ihm das Schmieden beigebracht haben. Wo sonst sollte er gelernt haben, solche Waffen und Rüstungen zu schmieden?
Als sie ihn danach fragte, hatte sie ihn das einzige Mal in ihrem Leben laut lachen hören. Als Unfug und Märchen hatte er die Erzählungen des Mannes bezeichnet. „Glaub mir, Artis“, hatte er gesagt, „wenn das wahr wäre, ich würde nicht hier in dieser kleinen Schmiede stehen und Tag für Tag die Hämmer schwingen. Dann würde ich in der Welt umherziehen, den Drachen ihre Schätze abjagen und es mir gut gehen lassen.“

Die Frau wirft eine Handvoll Zweige in die Flammen, die hinaufzuspringen scheinen in den schwarzen Nachthimmel. Noch immer lächelnd sieht sie die Funken in die Nacht stieben. Dann hängt sie wieder ihren Gedanken nach.

Sie hatte ihn angesehen und nicht gewusst, was sie glauben sollte. Denn solange sie denken konnte, kamen immer und immer wieder fremde Ritter und fahrende Sänger in die kleine Schmiede ihres Vaters, manchmal allein, aber oft auch mit Tross und Gefolge, und baten Artos, Geschichten zu erzählen. Geschichten aus seinem Leben. Einem früheren Leben, wie es Artis schien. Der Vater hatte sich oft lange bitten lassen, dann aber doch die Hämmer aus der Hand gelegt, die Schürze an den Nagel neben der Tür gehängt und sich zu den Fremden an den Tisch gesetzt.
Sie hatte dann immer einen schweren Krug Wein aus dem Keller holen und die alten hölzernen Becher füllen müssen. Und dann hatte Artos erzählt. Niemand konnte so wie er erzählen. Was er berichtete, trieb ihr so manchen kalten Schauer der Rücken hinunter oder ließ ihr Gesicht vor Aufregung glühen. Von Wölfen und Riesen erzählte er, von Drachen und ihren Schätzen, aber auch von Krieg und Leid. Vom Töten und vom Sterben. Von Göttern und Helden. Und nie war auch nur eine einzige lustige Geschichte dabei.
Jahre später, sie war schon eine junge Frau und stand mit ihm gemeinsam am Amboss, weil so allmählich ihn seine Kraft verließ, hatte sie ihn gefragt, ob er diese Abenteuer wirklich alle selbst erlebt habe. Er hatte sie angesehen, mit einem Blick der so hart war wie das Eisen der Hämmer in ihren Händen. „Ist das so wichtig, Artis?“ hatte er gefragt. „Ob Wahrheit oder Mythos, Legende oder Märchen, den Männern, denen ich diese Geschichten erzähle, ist es egal. Es hält sie nicht davon ab, ihren Weg zu gehen und ihre Bestimmung zu finden. Ob sie ihr Glück finden oder den Tod – ich kann es nicht beeinflussen, glaub‘ es mir, denn ich bin kein Gott.“
Etwa zu dieser Zeit hatte Fingal den Vater aufgesucht. Ein junger Ritter aus einem fremden Land, weit drüben über dem Meer. Er hatte seltsames, helles Haar und leuchtend blaue Augen gehabt, in denen sich der Himmel zu spiegeln schien. Ob es den Drachen noch gäbe, hoch in den Bergen, hatte er den Vater gefragt. Er habe gehört, dass dieser aus hundertjährigem Schlaf erwacht wäre und bald wieder über die Städte und Dörfer am Fluss herfallen würde mit seinem Feueratem.
Der Vater hatte die Schultern gezuckt. Möglich wäre es, hatte er gesagt. Daraufhin hatte Fingal ihn gebeten, eine Rüstung zu fertigen, die dem Drachenatem widerstehen würde und ein scharfes Schwert, wie nur Artos es zu schmieden in der Lage sei. Wissend hatte der Vater genickt und gemeint, seine letzte Drachenträne einzubringen in die Rüstung. Ein Lächeln hatte Fingals Gesicht überstrahlt, wie Artis noch keines gesehen. Dann hatte er dem Vater so viel Gold auf den Tisch gezählt, dass sie es kaum fassen konnte. Als Artis ihren Vater daraufhin fragte, was es mit diesen Drachentränen auf sich habe, hatte er etwas in seinen Bart gebrummt und sich in seine Kammer zurückgezogen, wie so oft in dieser Zeit
In den nächsten Tagen war Fingal immer wieder vorbeigekommen und hatte mit Erstaunen festgestellt, dass nicht nur der alte Schmied sein Handwerk verstand, sondern auch dessen Tochter. Irgendwann hatte Artis gemerkt, dass er nur wegen ihr so oft in der Schmiede war. Sein Blick hielt sie gefangen und zum ersten Mal im Leben spürte die junge Frau ein Brennen, heißer noch als das Schmiedefeuer, in sich aufsteigen, wenn sie seinen Blick auf ihrer Haut spürte. Sie ertappte sich dabei, immer wieder zur Tür zu blicken, wenn er nicht da war. Nachts sah sie seine Augen auf sich gerichtet und wachte erschrocken auf, wenn er sich im Traum über sie beugte.
Als ihr Vater Fingal die Rüstung und das Schwert übergab, sah dieser sie noch einmal lange an und sagte dann, zum Vater gewandt: „Wenn ich den Drachen erschlagen und seinen Schatz an mich genommen habe, komme ich zurück und bitte euch um die Hand eurer Tochter, Meister Artos. Neue Drachentränen werden meine Brautgabe sein.“ Dann hatte er sich der Tür zugewandt und die Schmiede eilig verlassen.

Die Frau stützt einen Ellbogen auf das Knie und legt den Kopf auf ihre Hand. Am Himmel stehen jetzt hell die Sterne und eine schmale Mondsichel verbreitet weißes Licht. Die Flammen des Feuers scheinen nicht mehr so hell und das Rauschen des Waldes hat sich gelegt. Selbst der Fluss scheint seinen Lauf verlangsamt zu haben. Eine tiefe Stille umfängt sie, nur ab und zu unterbrochen vom Knistern des Feuers.

Fingal war nie zurückgekehrt und Artis spürte einen Schmerz tief im Innern wie sie ihn bis dahin nicht gekannt hatte. Andere Männer haben ihr in den Jahren den Hof gemacht, doch sie hat keinen von ihnen auch nur angelächelt. Mit der Zeit hatte sich in die Trauer um Fingal auch die Sorge um ihren alten Vater gemischt.
Auf seinem Sterbebett hatte er ihr Jahre später das Geheimnis der Drachentränen offenbart. „So wisse denn, meine Tochter“, hatte er mit schwacher, heiserer Stimme erklärt, „dass Drachen längst nicht so grausam und kaltherzig sind, wie die Menschen denken. Oft verbirgt sich unter ihrem undurchdringlichen Schuppenpanzer ein sanftes, mitfühlendes Herz. Und wenn sie Leid und Trauer verspüren, perlen manchmal bunte Tränen aus ihren Augen. Mit ihnen verlässt ein Teil der mystischen Kraft, die dem Drachen innewohnt, diesen für immer. Fallen die Tränen dann auf den Drachenhort, erstarren sie zu winzig kleinen Edelsteinen. Angesicht des riesigen Schatzes halten die Menschen diese kleinen bunten Steine oft für bedeutungslos. Achtlos lassen sie sie liegen, wenn sie den Drachen getötet haben und sich von seinen Hort so viel sie tragen können in die Taschen stopfen. Wenn es allerdings einem Schmied gelingt, die Tränen eines Drachen in das Eisen einzuarbeiten, übertragen sie ihre magische Kraft auf den Gegenstand, den er herstellt. So werden Rüstungen undurchdringlich und Schwerter unglaublich scharf. Aber auch einfache Gegenständen erhalten magische Eigenschaften.“
Als Artos dann gestorben war ging auch die Anzahl fremder Ritter zurück, die in der Schmiede einkehrten. Und bald kamen auch keine fahrenden Sänger mehr. Es wurde einsam, sehr einsam in der Schmiede. Wenn sie nachts auf ihrer Bettstatt lag, träumte Artis davon wie es wohl gewesen wäre, wenn der Drache ihren geliebten Fingal nicht getötet hätte und mit der Zeit wuchs ihre Wut auf das Untier ins Unermessliche. Eines Nachts träumte sie, sie selbst würde in den Berg ziehen und den Drachen zum Kampf herausfordern.
Monate anhaltender Einsamkeit waren vergangen als eines Tages ein Ritter mit seiner kleinen Gefolgschaft bei der Schmiede anhielt. Und groß war das Erstaunen der Schmiedin, als sie Georg von Eisenberg, einen alten Freund ihres Vaters erkannte. Der Ritter, der gerade aus dem Land der Sarazenen heimkehrte, war tief erschüttert, als er vom Tod des Freundes erfuhr. Gern nahm er die Einladung der Schmiedin an, für ein paar Tage Quartier zu nehmen und sich von den Strapazen der Reise zu erholen.
Sie erinnert sich daran, wie Georg von Eisenberg ihr den Umgang mit dem Schwert beigebracht hat, und wie man sich am besten vor dem Flammenatem des Drachen schützt, ohne sie auch nur einmal zu fragen, warum eine Frau wie sie das alles lernen wollte. Beim Abschied hatte der alte Mann sie lange angesehen und gemeint Zorn und Hass seien schlechte Begleiter, könnten aber ungeahnte Kräfte freisetzen. Dann hatte er ihre Schultern genommen und gesagt: "Geht euren Weg, Artis, sonst werdet ihr niemals glücklich werden." Wenig später war er mit seinen Begleitern im Schatten des Waldes verschwunden. Am nächsten Morgen hatte sie auf einem Bord in der Schmiede ein kleines Kästchen gefunden, das ihr vorher noch nie aufgefallen war. Zwei winzig kleine Edelsteine fand sie darin. Einen Himmelblauen und einen Blutroten.

Die Kühle der Nacht reißt Artis aus ihren Gedanken. Das Feuer ist beinahe erloschen. Nur schwach glimmen noch ein paar Zweige. Sie greift nach ihrer Wolljacke und legt sie sich um die Schultern. In Gedanken versunken streicht sie über das helle Metall der Klinge. Im schwachen Schein des erlöschenden Feuers blitzt es rötlich auf. Wenn morgen die Sonne so rot über dem Tal aufgeht, wird sie sich ihrem Schicksal stellen, denkt sie, während sie die Glut noch einmal schürt. Dann wirft sie noch den Rest der trockenen Äste, die sie am Abend gesammelt hat, in das Feuer. Dass sie jetzt schlafen müsste, weiß sie, aber um keine Macht der Welt würde sie jetzt Ruhe finden. Langsam, beinahe zärtlich, streicht sie über die eiserne Brünne und blickt auf das Schwert, das neben ihren Füßen liegt.

Kein Wort hatte Artos der Schmied seiner Tochter gesagt, wie die Drachentränen in das Eisen hinein geschmiedet werden und so hatte sie noch Jahre am Amboss gestanden, bis es ihr endlich gelang. Durch den blauen Stein wurde die eiserne Rüstung leicht wie ein Hemd und doch konnte keine Waffe sie durchdringen und kein Feuer sie schmelzen. Das Schwert aber hatte die Kraft durch Eisen und Stein wie durch Gras zu schneiden.

Doch weder die harte Arbeit noch die lange Zeit haben ihre Trauer und ihre Wut aufgezehrt. Im Gegenteil, Artis ist nur noch von einem Gedanken beseelt: Rache zu nehmen!
Sie steht auf, geht hinüber zu ihrem Pferd und drückt ihr Gesicht an den warmen Hals. "Wenn ich nicht zurück komme", sagt sie leise, "suchst du deinen Weg nach Hause, versprich mir das." Der Rappe schnaubt und schüttelt den Kopf, als wolle er sagen, dass er auf jeden Fall auf sie warten wird. Artis lächelt und streicht ihm zärtlich über die Nüstern. Dann geht sie zum Feuer zurück und hüllt sich in ihre Decke.

Ein neuer Tag bricht an über dem Tal. Das Feuer auf dem Plateau ist erloschen. Einsam steht der Rappe zwischen den Bäumen, ein freies Pferd ohne Zaumzeug und Sattel. Die liegen, gut verborgen, in einer kleinen Hecke ein paar Meter tiefer im Wald.
Artis indes steigt den steilen Pfad bergan, der sich durch den Wald schlängelt. Sie hat die Rüstung angelegt und obwohl sie nur das dünne Leinenhemdchen darunter trägt, ist ihr schon bald unerträglich heiß. Der Schweiß rinnt ihr in Strömen den Rücken hinab und das ist beinahe noch unangenehmer, als ihn sich nicht vom Gesicht wischen zu können, denn auch den Helm hat sie bereits aufgesetzt. So brennt es in den Augen und Artis ist sich nicht sicher, ob das vom Schweiß oder vom Qualm der Pechfackel herrührt, die sie in der Linken trägt.
Dann steht sie vor der Höhle des Drachen und starrt einen Augenblick auf die gewaltige, schwarze Öffnung. Jetzt ist es also soweit, denkt sie. In wenigen Augenblicken werde ich dem Drachen gegenüberstehen, der mir den Liebsten genommen hat und ihn erschlagen. Oder ich werde diesen Berg niemals mehr lebendig verlassen. Aber auch das bereitet ihr keine Sorge. Da unten im Tal wartet niemand auf sie. Die Schmiede hat sie bereits vor Tagen aufgegeben und ein neuer, junger Schmied steht jetzt dort am Amboss.
Ihr Blick streift umher und sie stellt verwundert fest, dass nirgendwo Spuren des Drachens zu sehen sind. Sie hatte erwartet, trostloses, verbranntes Land, rauchschwarze Steine oder irgendetwas Ähnliches vorzufinden, aber nichts dergleichen ist zu sehen. Grüne Sträucher breiten sich neben dem Eingang aus und auf dem Grasteppich unter ihren Füßen blühen sogar Blumen.
Langsam und nachdenklich betritt sie den dunklen Gang. Vielleicht ist alles gar nicht wahr, geht es ihr durch den Kopf, und den Drachen gibt es schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Oder hat man ihr den falschen Weg gewiesen?
Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den Anderen immer tiefer in die Dunkelheit. Der schwache Schein der Fackel beleuchtet kaum die Wände, so breit ist der Gang. Die Lederbänder der Rüstung knirschen bei jedem Schritt. Leise klingen die eisernen Schuppen der Brustpanzerung und der Beinschienen. Die rechte Hand liegt fest um den Griff des Schwertes.
Der Gang macht plötzlich eine scharfe Biegung und dann tritt ihr Fuß auf loses Geröll. Knirschend gibt es unter ihren Füßen nach. Erst nach einigen Schritten fällt Artis auf, das etwas nicht stimmt: Wieso bricht der Stein unter ihren Fußsohlen?
Als sie die Fackel senkt und den Boden eingehend betrachtet, fährt sie erschrocken zurück. Jetzt weiß sie, dass sie auf dem richtigen Weg ist und doch ergreift sie mit einem Mal ein bisher unbekanntes Grauen. Soweit der Lichtschein ihrer Fackel reicht, ist der Boden des Ganges mit bleichen Knochen bedeckt. Ob von Menschen oder Tieren, kann sie zuerst nicht erkennen. Doch plötzlich fällt ihr Blick auf einen bleichen Totenschädel und damit hat sie endlich Gewissheit.
Während sie dem Gang folgt, der sie jetzt sanft bergab führt, lässt sie der Gedanke nicht los, dass auch Fingals Knochen hier unten vermodern. Mit einem hässlichen Scharren gleitet das Schwert aus der Scheide. Beide Arme nach vorn gestreckt, Feuer und Schwert vor schützend vor sich haltend, setzt Artis ihren Weg fort.
Und bald schon weitet sich der Gang zu einem gewaltigen Rund. Das Licht der Fackel bricht in unendlich viele, matt in allen Farben schimmernde Strahlen. Ein riesiger Hort ist aufgeschüttet, hier im Herzen des Berges. Mattes Gold, glitzernde Edelsteine, dunkles Silber. Ketten, Becher, Waffen, Geldstücke, Kronen und Geschmeide. Artis Auge ist nicht in der Lage, all das zu erfassen. Ihr Blick ist fest gerichtet auf den Drachen, der sich dort auf dem Schatz zusammengerollt hat. Eisengraue Schuppen bedecken seinen Leib, seinen Kopf krönen zwei gewaltige Hörner. Die Vorderbeine enden in gelblichen, gekrümmten Krallen, denen eines Vogels nicht unähnlich.
Schwer atmend bleibt die Schmiedin stehen und senkt, überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bietet, das Schwert. Es hat den Anschein, als ob der Drachen schon seit Ewigkeiten tot ist, denkt sie. Langsam tritt sie näher, sinkt in die Knie, legt ihr Schwert auf den Boden und streckt die Hand nach dem glitzernden Geschmeide aus. Und da bemerkt, sie halb vergraben unter Gold und Edelsteinen, ein Hemd, geschmiedet aus hunderten von eisernen Ringen. Sie erstarrt förmlich zu Eis, wohl wissend, wer dieses Hemd einst getragen hat, lag doch jeder dieser Ringe vor Jahren rotglühende auf dem Amboss vor ihr.
„Du bist eine Frau“

, vernimmt Artis da eine Stimme. Nein, keine Stimme, weiß sie. Es ist in ihrem Kopf. Eher Gedanken, und doch hört sie sie. „Kein Ritter hätte es je gewagt, den Hort zu plündern, ohne mir vorher den Kopf abzuschlagen!

“ Entsetzt fährt sie auf und greift nach dem Schwert. „Du aber siehst Schmuck und Tand und jede Vorsicht ist vergessen.

“ Sie spürt die Beleidigung mehr, als dass sie in den Worten wäre. Wütend springt sie auf und hebt das Schwert über den Kopf. Weit, sehr weit müsste sie den Hort hinaufsteigen, wollte sie dem Drachen wirklich ans Leben.
Na komm, Artis. Komm hoch und schlag mir den Kopf herunter. Deswegen bist du doch hier. Denn eines wisse: Der Hort kann nur dem gehören, der mich erschlägt. Wie viele wären umsonst gestorben, würde ich dich ziehen lassen mit meinem Schatz?


„Du kennst mich? Und woher weißt du, dass ich gekommen bin um dich zu töten?“ Ihre Stimme zittert nicht und dennoch bleibt sie am Fuße des Hortes stehen und sieht zu dem Drachen hinauf.
Plötzlich öffnet der ein Auge und blickt auf die winzige, gerüstete Gestalt herab, die ihm noch immer mit erhobenem Schwert gegenübersteht.
Ihr alle kommt, um mich zu töten. Seit Ewigkeiten schon. Aber es ist stets ein ungleicher Kampf gewesen. Glaub‘ mir, Artis.

“ Seine Worte scheinen in ihrem Kopf zu schwingen.
„Woher …?“ Artis versagt die Stimme.
Wer die Tränen eines Drachen bei sich trägt, ist mit ihm verbunden. Kann ihn hören und mit ihm fühlen, Artis.

“ Der Drachen richtet sich langsam auf, so dass sein Kopf beinahe die Decke der Höhle berührt. „Sie verleihen nicht nur Macht, wie die Menschen glauben, sondern machen sie zu einem Teil von uns. Und du, Schmiedin, trägst meine Tränen bei dir.


„Deine Tränen?“ fragt Artis und schiebt zögernd das Schwert in die Scheide zurück.
Ja, Artis. Einem Ritter gelang es vor langer Zeit, ein paar von meinen Tränen zu stehlen. Sein Freund starb im Kampf mit mir und ihm gelang es, sich mit den Tränen aus dem Staub zu machen.

“ Einen Augenblick lang ist die Stimme aus Artis Kopf verschwunden, dann klingt sie wieder auf. „An diesem Tag habe ich gemerkt, dass ich alt geworden bin. Denn ich schickte ihm meinen Feueratem nicht hinterher. Zuviel meiner Kraft hatte ich bereits verloren mit den Tränen, die ich vor Ewigkeiten um meine vielen Artgenossen vergoss, die ihr Menschen um ihrer Schätze willen erschlagen habt.


Dann senkt der Drachen seinen Hals und bald liegt sein gewaltiger Kopf beinahe vor Artis Füßen. „Und nun töte mich, Artis, denn sonst werde ich niemals sterben. Es wird nicht mehr viele Menschen geben, die durch die Welt ziehen um Drachen zu töten. Bald, schon sehr bald wird man uns für einen Mythos halten und sich anderen Wesen zuwenden, sie vernichten, ausrotten. Und irgendwann werden die Menschen diese Welt auch von sich selbst erlösen. Ich aber bin des Tötens müde. Für meine Art ist das Ende nah.


Artis sinkt vor dem Drachen auf die Knie. Langsam streckt sie die Hand aus und berührt seinen Kopf. Wie Leder fühlt seine Haut sich an, denkt sie, und nicht wie Stein oder Eisen. „Du hast mir den Liebsten genommen“, sagt sie dann, aber nicht einmal sie selbst spürt dabei Hass oder Wut in diesen Worten.
Das ihr zugewandte Auge des Drachen, das wie tausend bunte Edelsteine schimmert, weitet sich für einen kurzen Augenblick. „Das ist nicht wahr, Artis

“, vernimmt sie dann die Stimme wieder. „Auch Fingal hatte ein Schwert und eine Tränenrüstung, so wie du.

“ Langsam schließt sich das Augen des Drachen. „Auch ihn habe ich gebeten, mich zu töten, aber er hat es nicht getan. Er hat den Berg unbeschadet verlassen, glaube mir.


„Aber warum ist er dann nicht zu mir zurückgekommen?“ Artis kann kaum noch ihre eigenen Tränen zurückhalten und ihre Stimme zittert. Langsam gleitet ihre Hand über den Kopf des Drachen.
Warum wohl? Er hatte versprochen, mich zu töten und deinem Vater meine Tränen zu Füßen zu legen um dich zu gewinnen. Und das hat er nicht einlösen können. Voller Verzweiflung hat er den Berg verlassen, der schöne Fremde.


„Er hätte deine Tränen nicht gebraucht, mich zu gewinnen.“
So seid ihr Menschen eben. Stets braucht ihr Kampf und Streit, braucht eure Schwüre und euren Hass und fragt euch, warum ihr so einsam seid.

“ Dann dröhnt es in ihrem Kopf: „Und nun mach ein Ende, Artis. Töte mich und nimm vom Hort so viel du tragen kannst.“
Zögernd erhebt sich die Schmiedin und zieht ihr Schwert. „Verzeih mir“, flüstert sie. Dann hebt sie das Schwert und stößt es mit einem heftigen Ruck in den glitzernden Hort. Langsam nimmt sie ihren Helm ab. Und während ihr feuerrotes Haar auf ihren Rücken herabfällt, wirft sie ihn hoch hinauf auf den Hort. Sie löst die Schnallen der Rüstung und legt sie zu dem Geschmeide, das sie umgibt. Nahe neben Fingals Kettenhemd.
Für einen Moment, der ihr eine Ewigkeit scheint, schließt sie die Augen und lauscht in die Stille des Berges hinein. Endlich greift sie nach der kaum noch glimmenden Fackel und steigt den Gang hinauf. Ein paar Schritte noch fürchtet sie, im Flammenatem des Drachen zu sterben. Doch wenig später steht Artis im hellen Licht des Tages Sonne, das rote Haar wehend im Wind. Noch weiß sie nicht, wohin sie sich wenden wird, aber das Ziel ihrer Suche kennt sie.

Impressum

Texte: Matthias Günther
Bildmaterialien: Matthias Günther
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2012

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Widmung:
Wettbewerbsbeitrag "Drachengold"

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