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Ein Höllenlärm und die Ausdünstungen erhitzter Körper, vermengt mit Bratendunst, Pfeifenrauch und dem Geruch von verschüttetem Bier schlägt ihm entgegen als er die Tür öffnet. Wie unter einem Peitschenhieb zuckt er zusammen und wie um sich davor zu schützen, zieht er seinen Umhang fester um sich und mit der anderen Hand die Kapuze tiefer ins Gesicht.
Vorsichtig sieht er sich um. Die Taverne ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt, aber keiner scheint Notiz von seinem Eintreten zu nehmen. Aller Augen sind auf die schmächtige Gestalt der Gauklerin gerichtet, die auf der roh zusammengezimmerten Bühne ihre Vorstellung gibt. Johlen und Pfiffe begleiten gerade einen aufreizenden Tanz.
Bedächtig schließt er die Tür hinter sich und drängt sich zwischen den anderen Gästen hindurch. Ganz hinten, nahe am Durchgang zum Hof, hat er noch einen freien Platz erspäht. An dem Tisch sitzt ein hünenhafter Karishvare. Selbst im Sitzen muss er den Kopf einziehen um nicht an den niedrigen Deckenbalken zu stoßen. Seine Haut ist grau und scheint von Rissen, das kurze dunkle Haar mit eisgrauen Strähnen durchzogen zu sein. Auf den ersten Blick sieht er wie ein alter Mann aus, aber wenn man ihm genauer ins Gesicht schaut, stellt man fest, dass er vermutlich noch keine vierzig Sommer gesehen hat.
Seine gewaltigen Hände umschließen einen Bierkrug, der fast darin verschwindet. Als er den Ankömmling bemerkt, gleitet ein leichtes Lächeln über seine Züge. „Du hast mich hergebeten, und da bin ich“, sagt er mit rauer Stimme und dem seltsamen Akzent der Karishivari, jener wenigen Bewohner einsamer Höfe in den eisigen Bergen hoch im Norden. Dann bietet er ihm mit einer Handbewegung den Platz auf der Bank neben sich an, doch der Fremde schüttelt den Kopf. E setzt sich ihm gegenüber auf einen Stuhl und schiebt die Kapuze zurück. Seine langen schwarzen Haare verbergen dennoch einen großen Teil seines Gesichtes.
„Braucht mich keiner zu erkennen hier, Rysgar“ sagt er leise. „Und wenn du eine Pon‘jevala siehst, gib mir ein Zeichen.“ Der Hüne nickt und verzieht angewidert das Gesicht. „Elfenpack“ knurrt er leise.
Ein stechender Blick aus den schwarzen Augen des Anderen trifft ihn. „Jemand, der mich um Hilfe bat, Rysgar und jemand“, noch immer lässt sein Blick den Mann aus den Bergen nicht los, „für den ich dich um Hilfe bitte.“
Der Hüne stürzt seinen Krug Bier hinunter und senkt den Kopf. „Ich steh‘ in deiner Schuld, Ularik vom Eulenstein. Ich werde ihr helfen, wenn du es verlangst.“
Der Schwarzhaarige schüttelt den Kopf. „Ich verlange gar nichts von dir, Rysgar. Ich bitte dich! Und es ist nur dieser eine Gefallen, wenn du mir überhaupt etwas schuldest. Danach kannst du in deine Berge zurückkehren und die Elfen oder wen auch immer hassen, wenn du das wünschst. Aber bis dahin…“ Er unterbricht sich, weil Rysgar leicht mit dem Kopf in Richtung Tür weist. „Ist sie das?“ fragt er.
Ularik vom Eulenstein dreht sich um und soeben betritt eine schlanke junge Frau die Taverne. Sowohl ihre seltsame Tracht wie auch die Form ihrer Ohren kennzeichnen sie als eine Elfe aus den Sümpfen Pondarions. Schnell wendet er sein Gesicht wieder zum Tisch. „Das ist sie. Wink‘ sie an den Tisch, mein Freund.“
Doch noch ehe der reagiert, hat sich die Elfe einen Weg durch die Tische gebahnt und steht bei ihnen. „Danke, dass du gekommen bist, Magister Ularik“ sagt sie mit einer sanften, nachklingenden Stimme.
Der Angesprochene nickt. „Nimm doch Platz Ar‘nehâli“ Er weist auf die Bank neben Rysgar. Sie wirft ihm einen ähnlichen Blick zu wie Rysgar vorhin, lehnt ihren Langbogen an die Wand und lässt sich dann bedächtig auf der Bank nieder. Wie aus Versehen lässt sie etwas Platz zwischen dem finsteren Karishvaren und sich.
Schweigend sehen sie sich an, während die Gauklerin auf der Bühne ein nicht ganz jugendfreies Lied zum Besten gibt. Die Pon‘jevala schüttelt, nun sichtbar angewidert, den Kopf und Ularik vom Eulenstein winkt dem Wirt, worauf dieser unaufgefordert einen Krug Wein und drei Becher bringt.
Nachdem er sich wieder zurückgezogen hat, schaut Ularik die anderen beiden an und hebt ihnen seinen Becher entgegen. „Nun denn“, sagt er daraufhin. „Trinken wir auf unser Wiedersehen und darauf, dass es nicht das Letzte ist, denn uns steht Einiges bevor.“ Die Elfe und der Mann aus den Bergen werfen sich einen Blick zu, der Bände spricht, nicken dann aber. „Ar’nehâli, du hast mich um Hilfe gebeten. Da ich bei dem, was du mir in deiner Nachricht übermittelt hast, überzeugt davon bin, dass meine Magie nicht ausreichen wird, habe ich Rysgar gebeten, uns zu helfen. Seine Kraft und seine Erfahrung als Kämpfer werden wir unbedingt brauchen. Doch nun berichte uns erst mal in Ruhe und ausführlich, wo das Problem liegt.“
Die Elfe blickt immer noch düster auf Rysgar, streicht sich dann die langen blonden Haare aus der Stirn und beginnt zu erzählen. „Also, ich lebe zurzeit in Drohan, einem winzigen Dorf in der Region Pondarion. Das Dorf selbst liegt direkt hinter den großen Sümpfen. Es gibt dort aber auch einen tiefen, sauberen See. Die Menschen von Drohan leben vom Fischfang. Der See ist ihre Existenzgrundlage. Vor etwa drei Monden ist es dort sehr gefährlich geworden. Immer öfter kehren die Fischer nicht mehr heim. Die wenigen, die doch zurückkommen, sind verwirrt und berichten von fliegenden und menschenfressenden Monstern. Ein junger Mann, er heißt Dánilo, berichtete mir, dass er sie auch gesehen habe. Es soll sich um vierbeinige, Hundeartige Tiere mit einem dichten, struppigen Haarkranz um den Kopf, langen Schwänzen und riesigen, gefiederten Flügeln handeln. Zwei dieser Bestien habe er gesehen, von denen die eine Kálach, seinen Nachbarn, aus dem Boot gezogen und in den Himmel entführt habe. Ja und am nächsten Tag ist Dánilo, der es erneut wagte, zum Fischen hinauszufahren, ebenfalls nicht mehr zurückgekommen.“
Ularik merkt, wie sie mit den Tränen kämpft, sagt aber nichts. Ar’nehâli atmet tief durch und setzt dann hinzu: „Unter den Leuten geht das Gerücht, ein Magier habe sich in den Sümpfen niedergelassen und ein Tor zur Unterwelt geöffnet, aus dem nun diese Untiere emporsteigen.“ Sie sieht Ularik an und sagt leise: „Und deshalb habe ich dich um Hilfe gebeten. Wer, wenn nicht der beste Magier Galâriens, könnte es mit einem Magier im Dienste des Schwarzen aufnehmen?“
Der Angesprochene schüttelt den Kopf und sagt ebenfalls leise: „Du übertreibst, Ar’nehâli. Ich bin vielleicht der beste Magier hier in Hamira, aber bei Weitem nicht der Beste des ganzen Landes. Aber ich werde natürlich versuchen, dir zu helfen. Und du, Rysgar, nimmst du es mit ein paar Ungeheuern auf?“
Kein Muskel bewegt sich in dem grauen Gesicht. „Sicher.“ Das ist alles, was der Karishvare dann sagt.
„Also gut“, Ularik sieht die beiden lange an. „Wie lange brauchen wir bis Drohan?“
Ar’nehâli hebt die Schultern und wirft einen abschätzenden Blick auf Rysgar. „Je nachdem wie schnell wir laufen können. Ich denke, so fünfzehn, sechszehn Tage ungefähr.“
„Hab‘ nur keine Angst Elfe“, knurrt der Hüne und schnauft, „was das Laufen betrifft, nehme ich es mit dir ganz sicher auf.“
„Ich hatte eher an gute Pferde gedacht.“ Ularik vom Eulenstein ist nicht gerade von dem Gedanken begeistert, zu Fuß nach Drohan gelangen zu müssen, das merkt man ihm an.
Jetzt ist es an Ar’nehâli, ihn mit ihren Blicken zu durchbohren. „Viel schneller kommen wir damit auch nicht vorwärts“, gibt sie dann zu bedenken. „Aber gut, bis an den Rand des Schattenwaldes sparen wir vielleicht drei Tage ein. Dann müssen wir die Tiere sowieso zurücklassen. Im Wald und auf den Sumpfpfaden können wir sie gar nicht führen.“
Der Magier nickt nachdenklich und erhebt sich. „Ruht euch aus, bereitet euch vor. Wir treffen uns morgen bei Sonnenaufgang am Pferdestall. Die Tiere habe ich dann schon ausgesucht und fertig gemacht. Nehmt nur das Notwendigste an Ausrüstung mit. Zwei Zimmer für heute Nacht sind bezahlt.“ Als er zum Tresen hinüber sieht, wo der Wirt gerade einen großen Bierkrug füllt, stellt er überrascht fest, dass auch die Bühne verlassen und die Gauklerin verschwunden ist.
Der Lärm in der Taverne hat indes jedoch keineswegs nachgelassen. Es ist lauter als zuvor und die Anzahl der Gäste scheint sich noch mal verdoppelt zu haben.
Ohne ein weiteres Wort lässt er die Pon‘jevala und den Karishvaren zurück und drängt sich angewidert durch die schwitzenden, durcheinander brüllenden Gestalten, die meist direkt von ihren Arbeitsstellen hierher kommen, um für eine Weile die täglichen Sorgen im Alkohol zu ertränken.
Dann wendet er sich mit hastigen Schritten seinem Haus nahe dem größten Stadttor von Hamira zu. Er muss noch einige der alten Bücher studieren, denn die Worte Ar’nehâlis haben ihn an etwas Bestimmtes erinnert, dass er vor Jahren mal gehört hat.

Noch bevor am nächsten Morgen die Sonne aufgeht, steht er vor dem Mietstall der Stadt Hamira. Der Wind zieht durch die losen Bretter und trägt einen kaum zu ertragenden Gestank aus dem klapprigen Verschlag. Ein Grinsen stiehlt sich auf Ulariks Gesicht. Wenigstens ein paar Tiere werden sich freuen, dieser Umgebung entkommen zu sein denkt er, als er die windschiefe Tür aufreißt. Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen, das an einen gequälten Aufschrei erinnert, schwingt diese herum.
„Ist hier jemand?“ Ulariks Stimme schallt durch den Stall. Er sieht Innen weiträumiger aus, als es von außen den Anschein hat, denkt er und lauscht. Aber nur Rascheln von Stroh und hier und da ein verärgert klingendes Schnauben antwortet ihm.
„Hallo?“ fragt er noch einmal und das Rascheln von rechts neben der Tür wird intensiver. Dann schält sich aus dem Heuhaufen, der dort liegt, eine kleine, schmale Gestalt.
„Was’n los“ brabbelt die und bei genauerem Hinsehen erkennt Ularik, dass es sich um einen gebeugten alten Mann mit langen, schmutzig grauen Haaren und einem verfilzten Vollbart handelt. Seine Sachen sehen auch nicht besser aus und Ularik hat den Eindruck, der Alte habe nicht in dem Heuhaufen, sondern mindestens die halbe Nacht auch im Dunghaufen am anderen Ende des Stalls geschlafen. So riecht er auch. Dazu umgibt ihn ein heftiger Dunst von Branntwein. Der Magier verzieht voller Ekel das Gesicht.
„ich brauche deine besten drei Pferde“, sagt er dann. „Gesattelt. Dazu ein Packpferd. Und beeil‘ dich!“
„Wat’n für‘n Pferd? Mitt’n in de Nacht“, lallt der Alte. „Mittag wieder.“ Dann sinkt er zu Ulariks Füßen zusammen.
Der beißt die Zähne zusammen und legt die Stirn in Falten. Kopfschüttelnd schaut er auf den Betrunkenen, der am Boden kauert und mit glasigen Augen zu ihm hinauf starrt. „Tut mir leid, mein Alter“, murmelt er. „Eigentlich mache ich das nicht, aber heute muss es mal sein.“ Dann formen seine langen schlanken Finger in kurzer Folge merkwürdige Symbole. Dazu murmelt er Worte in einer fremden Sprache.
Plötzlich zeichnet sich ein kleiner, gelblicher Lichtpunkt auf einer seiner Fingerspitzen ab und dann spannt sich ein schmaler Lichtbogen zwischen dem Magier und dem Alten.
Glanz tritt in dessen Augen und er springt auf. „Ja, Herr. Moment, Herr. Die Pferde sind sofort bereit.“ Er eilt davon.
Ularik nickt und knetet seine Finger während er in Richtung Tür schaut. Die ist wieder zugefallen und durch die Ritzen dringt noch kein Tageslicht.
Nach einer Weile führt der Alte vier Pferde heran. Deren Anblick treibt dem Magier schon wieder Sorgenfalten auf die Stirn. Er weiß, dass es die besten Tiere sind, die er hier bekommen wird, denn dafür hat er gesorgt. Aber zufrieden kann er nicht sein. Er hat Zweifel, dass sie die weite Strecke nach Pondarion überleben. Nur der Rappe, den der Alte als ersten heranführt, ist stark und ausdauernd. Und er ist der Einzige, dessen Fell einigermaßen gepflegt wirkt. Die anderen sind stumpf und struppig. Dennoch nickt er dann. „In Ordnung. Und nun striegle sie noch mal und sattle drei so schnell du kannst“ befiehlt er.
Mit einem lauten „Jawohl, Herr“ macht sich der Alte an die Arbeit. Ularik steht mit verschränkten Armen und beobachtet ihn, während er sich an die Box hinter sich lehnt. Die Bewegungen des Alten sind flüssig und zeugen von jahrzehntelanger Erfahrung im Umgang mit Pferden.
Als er fertig ist, macht der Magier eine leichte Bewegung mit der rechten Hand und seine Lippen formen ein leises Wort in jener fremden Sprache. Daraufhin erschlafft der Alte, wankt zu seinem Heuhaufen und bricht dort zusammen. Sein Atem geht in rasselndes Schnarchen über und Ularik wendet sich den Pferden zu.
Gerade als er den Rappen am Zügel nehmen will, raschelt Heu in der Box hinter ihm und ein lautes Schnauben dringt an sein Ohr. Dann legt ein großer Apfelschimmel seinen Kopf auf die Boxentür. Ularik verschlägt es den Atem. Was für ein wunderschönes gepflegtes Tier. Es sieht ihn aus großen klugen Augen an und langsam streckt Ularik ihm die Hand entgegen. Wieso ist der ihm entgangen? Hätte der Alte dieses Tier nicht zuerst bringen müssen?
Vorsichtig öffnet er die Box und plötzlich steht ihm neben dem herrlichen Pferd ein junges Mädchen, fast ein Kind noch, gegenüber. „Siehst du, Arájo“, sagt sie vorwurfsvoll zu dem Pferd, „jetzt hat er uns entdeckt, der große Magier.“
Ularik vom Eulenstein starrt das Mädchen, dass ihm vielleicht sechszehn Sommer scheint, ungläubig an und fragt: „Wer bist du denn und warum versteckst du dich hier?“
Ein verführerisches Lächeln huscht über das Gesicht des Mädchens und Ularik hat das Gefühl, dieses Lächeln früher schon einmal gesehen zu haben.
„Oh, verzeiht, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe“ sagt sie und macht einen höflichen Knicks. Ularik hat irgendwie das Gefühl, dieses Mädchen in den schlichten, schon etwas abgetragenen und verwaschenen Sachen will ihn auf den Arm nehmen. Doch ihren Augen blicken ernst, als sie hinzu setzt: „Mein Name ist Demjéla und ich habe mich nicht versteckt, Herr, sondern ich wohne hier.“
„Ich bin kein Herr“, knurrt Ularik etwas verlegen und sieht kopfschüttelnd auf sie herab. Wieso nur hat der Alte ihm nicht das Pferd dieses Mädchens gebracht?
Als ob sie seine Gedanken erraten habe, sagt Demjéla dann leise: „Du hast ihm befohlen, seine besten Pferde zu bringen. Arájo aber gehört mir, außer ihm besitze ich so gut wie nichts.“
Es war ihm durch den Kopf gegangen zu fragen, ob sie ihm ihr Pferd verkaufen würde. Doch jetzt nickt er und lächelt sogar ein Wenig. „Na gut, behalt‘ ihn ruhig. Ich muss jetzt aber los.“
In diesem Moment schwingt die Stalltür wieder kreischend auf, fahles Licht fällt herein und sofort wird es wieder dunkel, als sich die massige Gestalt Rysgars in den Türrahmen stellt.
Als Ularik die Pferde an den Zügeln nimmt und zum Ausgang führt, fragt das Mädchen: „Nehmt ihr mich mit nach Pondarion? Vielleicht kann ich euch helfen.“
Wie erstarrt bleibt der Magier stehen und wendet sich zu ihr um. „Woher weißt du?“ fragt er fassungslos.
„Ihr habt doch so laut geredet gestern Abend, dass alle in der Taverne es gehört haben müssen und eure Monstergeschichte heute garantiert das Gesprächsthema in der ganzen Stadt ist.“ Das Mädchen lächelt wieder. Schelmisch dieses Mal, und jetzt erkennt Ularik sie. „Du bist die Gauklerin von gestern Abend.“
Sie nickt. Ularik aber hebt die freie Hand und weist sie energisch zurück. „Das ist kein Unternehmen für Kinder, soviel müsstest du eigentlich mitbekommen haben“, sagt er. „Und womit willst du uns schon helfen?“
Das Mädchen rümpft trotzig die Nase und schaut auf Rysgar, der inzwischen neben dem Magier steht. „Große starke Männer können natürlich mehr von Nutzen sein, wenn es gegen Monster geht. Aber vielleicht muss man ja auch mal durch eine enge Lücke schlüpfen oder an glatten Wänden hinauf klettern können“, sagt sie, immer noch leise, und sieht dann zu Ularik. „Und etwas Magie beherrsche ich auch.“
Jetzt kann er sich kaum noch beherrschen. Sein dröhnendes Lachen schallt durch den Stall. „Kartentricks und irgendwelche Zauberspielchen, ja in Ordnung. Aber Magie? Du weißt ja nicht, wovon du redest, Kind.“
Enttäuscht senkt das Mädchen den Kopf und Tränen treten ihr in die Augen. „Ich muss aber mit“, flüstert sie.
Ularik sieht Rysgar an und der schüttelt den Kopf. Gerade wollen sie das Mädchen so stehen lassen, da sagt sie: „Und Arájo kannst du auch nicht gebrauchen?“
Ularik lächelt sofort. „Du würdest ihn mir geben? Ich danke dir und verspreche, dass ich ihn dir heil zurück bringe.“
Das Mädchen schüttelt den Kopf und ihre langen dunklen Locken fliegen. „Ich trenn‘ mich nicht von ihm. Wenn du ihn haben willst, musst du mich schon mitnehmen.“
„Vergiss es, Kind!“ Mit diesen Worten wendet sich Ularik um und geht. Doch plötzlich ertönt die helle Stimme Ar’nehâlis. „Nimm sie lieber mit, Ularik.“ Die Pon‘jevala lehnt am Türrahmen, halb auf ihren langen Bogen gestützt. „Sie hat nämlich Recht. Vielleicht kann sie uns nützlich sein. Und wenn du nicht auf sie aufpasst, ich mach‘ das gerne.“ Sie lächelt das Mädchen an und das wischt sich die Tränen aus den Augen und greift sofort nach Zaumzeug und Sattel.
„Wenn du meinst.“ Ularik vom Eulenstein gibt sich geschlagen.
Als sie an der Stalltür sind, zupft Demjéla den Magier am Ärmel. „Aber dem alten Cymbor bezahlst du noch die vier Pferde, oder?“
Verlegen nestelt Ularik einen Beutel vom Gürtel. Das hätte er beinahe tatsächlich vergessen. Er bückt sich zu dem noch immer schnarchenden Alten hinunter und schiebt ihm den Beutel unter das stinkende Hemd. Dann beeilt er sich, hinter den andern dreien den Stall zu verlassen.

Sechs Tage später haben sie die letzte Stadt in den Hügeln Rostoriens hinter sich gelassen. Vor ihnen dehnt sich bis zum Horizont eine weite Ebene, mit kurzem, büschelförmigem Gras und vereinzelten Büschen bestanden. Ab und zu passieren sie kleinere Baumgruppen, die dem Begriff Wäldchen kaum gerecht werden. Am ehesten wird die Rosto Lal, die rote Steppe, wie diese Gegend auch genannt wird, ihrem Namen in den Monden des Frühjahres gerecht, wenn die Gräser über und über mit winzigen dunkelroten Blüten bedeckt sind. Sie ist längst nicht so groß wie die Blaue Steppe im Süden, aber einige Tagesreisen werden sie brauchen um sie zu durchqueren.
Der Magier stützt sich auf den Sattelknauf, an den er auch die Leine des Packpferdes gebunden hat und richtet sich auf. Er sieht zu seinen Begleitern, die ein paar Schritte vor ihm reiten. Sie haben nur wenig mehr als die notwendigsten Worte seit ihrem Aufbruch miteinander gesprochen. Außer die beiden Frauen vielleicht. Die junge Gauklerin hält sich von Beginn der Reise an stets in der Nähe der Pon’jevala auf. Sie teilen sich in den Gasthäusern auch stets ein Zimmer, während Rysgar und er eher die Einsamkeit suchen.
Als sein Blick auf den mächtigen Karishvaren fällt, dessen Pferd im Verhältnis zu ihm winzig erscheint, muss er lächeln. Das Alleinsein ist etwas, dass ihnen eigen ist und dort haben sich die beiden Männer auch kennengelernt. In der Einsamkeit der Karishberge.
Ularik vom Eulenstein zieht sich jedes Jahr in den Monden des Sommers dorthin zurück um Energie für seine Experimente zu schöpfen. Die magische Energie die seinesgleichen innewohnt, ist nicht unerschöpflich und jedes magische Unternehmen verbraucht einiges davon. Aus diesem Grund sind alle Magier regelmäßig gezwungen, ihre Energievorräte auffüllen. Und da magische Energie in einem selbst ruht, muss man sie in sich finden und sammeln. Das geht oft nur in absoluter Ruhe und Einsamkeit. Dabei hat jeder Magier hat seine eigene Weise, auf die er seine Energie regeneriert.
Bei einer seiner Wanderungen war er eines Tages auf den Karishvaren gestoßen, der bei der Jagd in eine Felsspalte gestürzt war und sich beide Beine gebrochen hatte. Zudem war die Kniescheibe des rechten Beines total zertrümmert. Mit diesen Verletzungen hatte er schon zwei Tage gelegen, ehe Ularik ihn fand. Dieser hatte keinen Moment gezögert und alle seine in den letzten Monden angesammelten Vorräte an magischer Energie in Heilzaubern gebunden, um den Mann aus den Bergen wieder auf die Beine zu bringen. Dafür hatte dieser den völlig erschöpften Magier in sein kleines Dorf begleitet, wo Ularik für den Rest des Jahres geblieben war. Dabei hatte er die Kultur und die Menschen des Karishgebirges kennen und schätzen gelernt.
Auch an die erste Begegnung mit Ar’nehâli erinnert er sich noch gut. Auf der Suche nach Blüten des grauen Schattenwaldfarnes, die er für seine Forschungen benötigte, war er in einen unwegsamen Morast geraten. Der Schattenwald bildet die natürliche Grenze zwischen Rostorien und Pondarion. Nie hatten sich die Bewohner der beiden Länder einigen können, zu wessen Gebiet der Wald gehört. So war er immer dichter und unwegsamer geworden, bis kaum jemand ihn noch durchquerte. Ähnlich wie die Karishvaren in ihren Bergen lebten die Pondarions abgeschieden vom Rest des Landes in winzigen Dörfern zusammen. Im Gegensatz zu den Bewohnern der Berge, welche die Eis-Elfen verachteten, hier allerdings in enger Gemeinschaft mit den Pon’jevala, den Schatten-Elfen des Waldes und der Sümpfe.
Nun, aus dem Morast hätte sich Ularik noch selbst befreien können. Doch in dem Augenblick, da er sich bis zu einem abgestorbenen Baum vorgekämpft hatte, an dem er sich wieder hätte auf festen Boden ziehen können, wurde er von einem riesigen Schlammbeißer, einer vier Mart langen, gepanzerten Echse mit einem spitzen Maul voller messerscharfer Zähne, attackiert. Um einen Kampfzauber zu wirken, fehlten dem Magier in diesem Augenblick sowohl die Kraft, wie auch die innere Ruhe. Seinen Mâg’or konnte er nicht einsetzen, ohne Gefahr zu laufen, in einem Schlammloch zu versinken und außerdem hätte er kaum eine Chance gegen den Angreifer gehabt.
Genau in dem Augenblick, als der Schlammbeißer seinen Rachen vor dem Kopf Ulariks aufriss, und der sein Ende nahen sah, ließ das Tier plötzlich von ihm ab, sank in den braunen Schlamm zurück und trollte sich. Verwirrt hatte der Magier sich umgesehen, konnte aber nichts bemerken, dass den Rückzug des Schlammbeißers hätte veranlassen könne.
„Nur ein billiger Beherrschungszauber, Magier!“ Die Stimme, direkt neben ihm, hatte belustigt, nicht etwa hochmütig, geklungen. Dann schälte sich die schlanke Gestalt der Pon’jevala aus dem Schatten des Baumes neben ihm. Wenn sie es nicht gewollt hätte, er hätte sie nie bemerkt.
Ar’nehâli hatte ihn zu den Schattenfarnen und anschließend aus dem Wald zurück nach Rostorien begleitet. Sie wollte nichts davon wissen, dass er sich in ihrer Schuld fühlte und hatte lachend abgewinkt, als er ihr das sagte.
Umso mehr hatte Ularik sich gewundert, als dann ihre Nachricht eintraf, in der sie ihn eindringlich um Hilfe bat. Andererseits hatte er sich auch auf ein Wiedersehen mit der hübschen und freundlichen Pon‘jevala gefreut.
„Ein guter Platz für eine Rast.“ Die raue Stimme Rysgars reißt ihn aus seinen Gedanken. Verwirrt sieht er den Karishvaren an. „Was ist?“
Der grauhäutige Hüne zeigt nach vorn. „Dort.“
Ularik sieht die kleine Baumgruppe, an der sich rechts träge ein Bach dahin wälzt und nickt. Jetzt erst wird ihm bewusst, wie heiß es ist und wie erschöpft die Pferde sind. Er streift die Kapuze vom Kopf und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er sieht dem davonreitenden Rysgar hinterher und lächelt. Während er selbst unter seinem hellen Reiseumhang nur leichte, ärmellose Lederkleidung trägt, hat der Karishvare trotz der Hitze immer noch seine Sommerkleidung aus Bergfuchsfell an. Darauf angesprochen hat er ihn schon vor ein paar Tagen. Doch der Mann aus den Bergen hat keine Miene verzogen und nur gemeint, das Fell wäre auch gut gegen die Hitze.
Die beiden Frauen haben gesehen, dass Rysgar auf das Wäldchen zureitet und sind ihm gefolgt. Nachdem sie ihre Pferde abgesattelt und trockengerieben haben, lassen sie sich in das weiche Gras am Bachufer fallen. Die Bäume spenden nur wenig Schatten. Während die beiden Männer noch mit ihren Pferden beschäftigt sind, wirft Demjéla sehnsüchtige Blicke auf das Wasser des Baches. Die Pon’jevala lächelt. „Bis du so richtig baden kannst, werden noch einige Tage vergehen“, meint sie dann. „Wenn wir die rote Steppe durchquert haben, kommen wir in den Schattenwald. Dort gibt es Bäche, da würde ich dir nicht empfehlen, auch nur eine Hand ins Wasser zu halten. Und erst recht nicht in den Sümpfen von Pondarion. Aber hinter den Sümpfen kannst du dich dann ausgiebig in Wasser tummeln. Es gibt keine Gegend in ganz Galârien, die so viele Seen und Flüsse hat wie meine Heimat.“
„Zwischen dieser heißen Steppe hier und dem nächsten Bad liegen also der Sumpf und der Kampf mit dem schwarzen Magier?“ Ein leichtes Beben in ihrer Stimme verrät ihre Gefühle. Die Elfe nickt versonnen und schaut jetzt ebenfalls auf den Bach. „Ich wünschte, du würdest nicht mit in die Sümpfe gehen.“
Die junge Gauklerin schweigt und deshalb setzt die Elfe fort:“Ehrlich gesagt, wollte ich Ularik nur etwas herausfordern, als ich ihn bat, dich mitzunehmen. Es war mir in Hamira noch völlig egal, warum du mit uns gehen willst und auch“, sie unterbricht sich und wirft einen kurzen Blick auf das Mädchen neben sich, „ob du das Abenteuer überlebst oder nicht.“
Mit einem heftigen Ruck wendet sich Demjéla ihr zu. „Und jetzt?“ faucht sie wie eine gereizte Katze. Aus ihren Augen scheinen kleine Funken zu sprühen.
Ar’nehâli lächelt sanft. Statt eine Antwort zu geben, langt sie nach der Packtasche, die wenige Sarti neben ihr im Gras liegt und zieht ein kleines Bündel daraus hervor. Das Tuch breitet sie vor sich aus und teilt das Obst, das sie darin aufbewahrt hatte, mit ihrem zierlichen Dolch in kleine Stück. Sie legt die Stücke schweigend auf das Tuch und fordert die Freundin mit einer kleinen Geste zum Zugreifen auf.
Demjélas Hand zittert etwas, als sie der stummen Aufforderung folgt. Nach einer Weile legt sie sich rücklings ins Gras und blickt zum Himmel hinauf, an dem nicht eine Wolke zu sehen ist. „Du würdest nicht für jeden beliebigen Dorfbewohner in die Sümpfe ziehen und dein Leben riskieren.“ Sagt sie dann leise. „Und wahrscheinlich nicht mal für ein ganzes Dorf.“
Die Pon’jevala setzt sich auf und zieht die Knie an ihre Brust. Sie umschlingt sie mit den Armen und blickt auf ihre Stiefelspitzen. „Dánilo ist kein beliebiger Mann.“
„Er ist groß und stark, mit Augen, die wie der Himmel strahlen.“ Versonnen klingt die Stimme der kleinen Gauklerin.
Jetzt wendet Ar’nehâli ihr ruckartig das Gesicht zu. „Du kennst ihn?“ fragt sie verwirrt. Demjéla sieht sie nicht an, als sie sagt: „Mein großer Bruder heißt Dánilo. Seit Jahren bin ich schon auf der Suche nach ihm. Ich hoffe so sehr, dass er es ist.“
Die Elfe will etwas sagen, als plötzlich das laute Gelächter der Männer zu ihnen herüberschallt. „Kommt“, ruft Ularik, „zum Baden ist es zwar nicht tief genug, aber herrlich frisch ist es!“
Demjéla richtet sich langsam auf und blickt hinüber. Mit nacktem Oberkörper, die Hosenbeine aufgekrempelt, stehen die beiden Männer bis zu den Knien im Bach, schöpfen mit den hohlen Händen das Wasser und gießen es sich gegenseitig über die Köpfe. Der sonst so eisig erscheinende Rysgar hat sich von der Ausgelassenheit des Magiers anstecken lassen und wirkt auf einmal gar nicht mehr so ernst und unnahbar wie sonst.
„Männer“ meint die Pon’jevala und grinst. Demjéla zuckt die Schultern, zieht ihre Schuhe aus und steht auf. „Sie haben aber Recht, Ar’nehâli“, sagt sie lachend und läuft zum Bach hinunter, während sie ihr leichtes, buntes Obergewand über den Kopf streift. Der Elfe verschlägt es die Sprache und auch das ausgelassene Lachen der Männer verstummt. Nur mit einem kurzen Hemd, dessen einer Träger aus im Nacken verknoteten Bändern besteht, und das nicht einmal bis zu den Knien reicht, bekleidet, läuft das Mädchen über die Wiese und steigt vorsichtig ins Wasser.
Sie merkt gar nicht, wie verlegen sich die beiden Männer ansehen, als sie sich bückt, ebenfalls Wasser schöpft und es sich langsam übers Gesicht rinnen lässt. Sie genießt die prickelnde Kühle auf ihrer Haut und kann der Lust, sich einfach in das flache Wasser gleiten zu lassen, nicht widerstehen. Angenehm kühl umspült das Wasser ihren Körper und sie schließt die Augen um diesen Moment zu genießen.
Ein tiefes Ächzen bringt sie zurück in die Wirklichkeit. Als sie die Augen öffnet und sich aufrichtet, sieht sie wie Rysgar sich mit einer heftigen Bewegung umdreht und auf das Ufer steigt. Ohne sich umzusehen geht er zu den Pferden hinüber.
Der Magier steht noch immer wie angewurzelt und kann seine Blicke nicht von dem Mädchen losreißen. Das jedoch nimmt jetzt die zwei Spangen aus ihrem Haar, welches ihr daraufhin nass und schwer bis weit über die Schultern fällt. Erst dann wird ihr Ulariks Blick bewusst.
„Was ist denn?“ fragt sie, leicht verwirrt. „Ihr habt doch gesagt, wir sollen mit ins Wasser kommen!“ Der Magier ringt um Fassung und nickt dann. „Das schon. Aber doch nicht …“ Ihm fehlen die Wort. Die junge Gauklerin schüttelt verwundert den Kopf. „Ihr könnt mir doch nicht erzählen, dass ihr noch nie ´ne nackte Frau gesehen habt. Und dabei bin ich nicht mal …“.
Ulrarik unterbricht sie mit einer verzweifelten Handbewegung. „Das nicht“, sagt er zögernd. „Aber schon eine ganze Weile nicht mehr.“ Er blickt zum Ufer hinüber. „Besonders Rysgar nicht. Seine Frau ist im letzten Winter gestorben.“
Demjéla merkt jetzt, dass das Wasser den Stoff ihres Hemdes völlig durchtränkt hat und spürt es jetzt eisig kalt auf ihrer Haut. Sie verschränkt die Arme vor den Brüsten und beißt sich auf die Unterlippe.
Der Magier lächelt sie verlegen an. „Ist ja gut, du kannst ja nichts dafür und ...“
„Und sie hat Recht“, unterbricht ihn die Pon’jevala, die jetzt, mit Demjélas Kleid und Schuhen auf dem Arm, am Ufer neben ihnen steht. „Ihr habt sie schließlich ins Wasser gelockt.“ Sie grinst frech. „Und was ihr zu sehen bekommen habt, hat euch ja bestimmt auch gefallen.“
Ularik wirft ihr einen nicht zu definierenden Blick zu, wendet sich dann ab und steigt an Ufer. Langsam geht er zu Rysgar hinüber, der an einen Baum gelehnt in einiger Entfernung stehen geblieben ist und zu ihnen hinüber sieht.
Ar’nehâli streckt Demjéla die Hand entgegen und hilft ihr die Böschung hinauf. Dann weist sie auf die andere Seite des Wäldchens und sagt: „Leg dich dort drüben in die Sonne und trockne dein Hemd. Ich setze mich derweil zu den Männer und passe auf, dass sie hübsch auf ihrer Seite bleiben.“
Doch Demjéla schüttelt den Kopf. „Bleib bei mir, Ar’nehâli“ sagt sie und lächelt. „Ich bin nicht gern allein.“
Die Pon’jevala nickt. „Gut. Da drüben kann ich mich auch noch ein bisschen erfrischen.“ Und während Demjéla ihr nasses Hemd auf dem Gras ausbreitet und auch sich selbst von der Sonne trocknen lässt, streift Ar’nehâli ihre Stiefel von den Füßen und schlägt den Saum ihrer Hosen mehrmals um, bevor sie sich an die Uferböschung setzt und die Füße ins Wasser hält.
Sie sieht nicht, wie ein sanftes Lächeln sich auf dem Gesicht der jungen Gauklerin ausbreitet. Diese sieht noch immer das verlegene Lächeln Ulariks vor sich, sein jungenhaftes, zartes Gesicht mit den seltsamen grünen Augen und dem verwegenen Bärtchen auf der Oberlippe und seinen muskulösen Oberkörper, der so gar nichts von einem Stubenhocker und Forscher hat, wie sie sich einen Magier immer vorgestellt hatte. Und, naja nicht nur den Männern hat gefallen, was sie gesehen haben, denkt sie und muss sich zwingen, ihre Gedanken etwas Anderem zuzuwenden.

Am Morgen des übernächsten Tages erreichen sie den Rand des Schattenwaldes. Sie haben in einem winzigen Gehöft in der Nähe übernachtet und dem Bauern ihre Pferde in Pflege gegeben. Die Trennung von Arájo ist Demjéla schwer gefallen, doch die beruhigenden Worte Ar’nehâlis haben sie einsehen lassen, dass es für den Hengst das Beste ist. „Bis an der Rand der Sümpfe sehen wir kein Haus und keine Hütte mehr“ hatte die Elfe ihr erklärt. „Und dort wird ein Weiterkommen selbst für uns schwierig. Für ihn unmöglich. Du müsstest ihn allein im Schattenwald zurücklassen. Und glaube mir: das willst du auf gar keinen Fall!“
Unterhalb der ersten Bäume bleiben sie wie auf ein Zeichen stehen. „Sieht gar nicht so gefährlich aus. Wald eben.“ Die raue Stimme des Karishvaren ist ungewöhnlich leise.
Ein spöttisches Lächeln umspielt Ar‘nehâlis Lippen als sie sagt: „Noch bevor die Sonne hoch am Himmel steht, wirst du wissen, dass dieser Wald anders ist, als der in deinem eisigen Gebirge. Nur wirst du die Sonne nicht sehen, wenn es soweit ist.“
Mit unbewegter Miene nimmt Rysgar den Einwand zur Kenntnis. Er legt das gewaltige Bündel ab, dass er sich früh auf den Rücken geschnallt hat und zieht eine Axt mit armlangem Stiel daraus hervor. Dann rollt er das Bündel wieder zusammen, verschnürt es mit ruhigen und geübten Handgriffen und wirft es sich wieder auf den Rücken. Ohne ein weiteres Wort stapft er in den Wald hinein. Die Pon‘jevala folgt ihm, den Langbogen in der linken Hand haltend.
Ularik blickt auf die schmächtige Gestalt der Gauklerin, die ebenfalls ein großes Bündel auf dem Rücken trägt. Er hatte ihr gesagt, dass sie sich weniger aufbürden soll. Daraufhin hatte sie ihn angesehen, mit einem Blick irgendwo zwischen Stolz und Beleidigung, dass er abgewinkte und sie weiterpacken ließ.
Jetzt zieht sie die Gurte ihres Bündels fester und hebt einen langen Stock vom Waldboden auf. Dann wirft sie Ularik einen finsteren Blick zu und folgt den Anderen in den Wald.
Der packt seinen Mâg‘or mit beiden Händen und sieht ihr einen Moment versonnen nach. Er muss an die Worte Ar‘nehâlis denken. Sie gelten auch für Demjéla, denkt er. Das Mädchen hat keine Ahnung worauf es sich eingelassen hat. Für einen Augenblick ärgert er sich, dass er sie hierher mitgenommen hat und es beschleicht ihn eine ungewohnte Angst. Angst, dass dieses junge Mädchen gerade aufgebrochen ist, dem schwarzen Gott in die Augen zu sehen. Er spürt ein heftiges Ziehen in der Brust, so stark, dass er für einen Moment die Augen schließen muss und gibt sich selbst dann das Versprechen, alles zu tun, damit Demjéla unversehrt nach Hamira zurückkehren kann.
Dann betritt er mit festen Schritten den Schattenwald.
In der Reihenfolge in der sie ihn betreten haben, gehen sie schweigend hintereinander auf dem schmalen, kaum zu erkennenden Pfad immer tiefer in den Wald hinein. Anfangs ist es ein Leichtes, Sonnenlicht fällt schrägt durch die Bäume, trockenes Gras Blätter rascheln unter ihren Füßen, ab und zu huscht ein winziges Tier in sein Versteck.
Doch schon nach etwa einem Balog ändert sich das plötzlich. Kein Geräusch ist mehr zu vernehmen, der Boden ist mit weichem, feuchtem Moos bedeckt, die Bäume sind jetzt riesig und ihre dichten Kronen lassen kaum einen Sonnenstrahl hindurch. Zu ihren Füßen dehnen sich harte, teils dornige, Sträucher aus, die der Karishvare unermüdlich mit seiner gewaltigen Axt zerteilt, um ihnen einen Weg zu bahnen. Von der Hitze, die sie draußen in der Steppe gestern noch gequält hat, ist nichts zu spüren.
Mit einer Hand zieht Ularik vom Eulenstein seinen Umhang enger an den Körper heran. Nicht nur wegen der Kühle, sondern vor Allem, da sich der teure Stoff immer wieder in den Dornen der den Weg säumenden Büsche verfängt.
Sein Blick fällt auf die bloßen Arme der vor ihm gehenden Gauklerin. Unter der von der Sonne gebräunten Haut des Mädchens zeichnen sich perfekt geformte Muskeln ab. Sie ist kräftiger, als ich gedacht habe, denkt er fasziniert. Er lächelt. Gestern ist ihm das gar nicht aufgefallen, aber da waren seine Blicke auch an anderen SteIlen ihres Körpers gefangen. Irgendwie verwirrt ihn dieser Gedanke. Sie ist noch ein halbes Kind, weist er sich selbst zurecht. Andererseits: Er hat sie seit dem Aufbruch in Hamira immer wieder beobachtet. Sie verbirgt ihn geschickt unter der Maske der ewig lustigen, lauten und sorglosen Gauklerin, doch er hat ihn gesehen: den gefassten, nachdenklichen Gesichtsausdruck und das eisige, harte Glitzern in ihren Augen, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. Vielleicht hat sie schon zu viel erlebt, um noch ein Kind zu sein.
An der Spitze des kleinen Zuges wechseln sich Ar‘nehâli und Rysgar jetzt ab. Die Pon‘jevala hat ihren Bogen über die rechte Schulter gehängt und einen schmalen Säbel aus der schmucklosen Lederscheide an ihrem Gürtel gezogen. Mit geübten Bewegungen bahnt sie ihnen jetzt einen Weg durch das immer widerspenstiger werdende Dickicht. Ein Pfad ist schon lange nicht mehr zu erkennen.
Nach einer ganzen Weile lichtet sich der Wald plötzlich. Sie stehen auf einer fünfundzwanzig Jant im Durchmesser messenden Wiese. Hier bedeckt weiches Gras den Boden und das grelle Sonnenlicht blendet sie für einen Moment. Der gegenüberliegende Waldrand wird von einigen mannshohen Felsbrocken gesäumt, zwischen denen ein schmales Rinnsal aus dem Boden tritt, das sich in Richtung des Sonnenaufgangs einen Weg durch das Gras gesucht hat und wenige Mart neben Ar‘nehâli im Wald verschwindet.
„Die Quelle des Schattenbaches!“ Seltsam hell und laut klingt nach Stunden des Schweigens die Stimme der Elfe. „Wir sollten hier rasten. Das ist die einzige Möglichkeit bis heute Abend.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie zu der Quelle hinüber, legt ihr Gepäck ab und lässt sich ins Gras sinken.
Sie zieht ihre Stiefel aus und hält ihre zierlichen Füße in das eiskalte Wasser. Ularik muss lächeln. „In Ordnung, machen wir eine kurze Rast.“ Dann legt auch er sein Bündel ab und wirft den Umhang von den Schultern. Er lehnt seinen Stab an deinen Felsen und setzt sich neben die Elfe. Er schließt die Augen und genießt die wärmenden Sonnenstrahlen.
Rysgar, der selbst beim Ablegen seines Gepäcks die Axt nicht losgelassen hat, wendet sich wieder dem Waldrand zu. „Mal sehen, ob ich uns was Essbares für heute Abend erlegen kann“, knurrt er und verschwindet.
Ar’nehâli schüttelt lächelnd den Kopf. „Im Wald fühlt sich Rysgar wohler, als im hellen Sonnenschein, glaube ich.“
„Ist ja auch verständlich. Karishvari lieben ihre eisigen und kalten Berge über alles“ murmelt der Magier, ohne die Augen zu öffnen.
Eine Weile herrscht tiefes Schweigen. Die Pon’jevâla mustert Ularik unverwandt. Er ist jünger, als er sich gibt, denkt sie. Oder zumindest sieht es so aus. Und so entspannt wie in diesem Moment hat sie ihn noch nie gesehen. In den letzten Tagen hat sie oft darüber nachgedacht, warum sie ausgerechnet sofort auf Ularik vom Eulenstein gekommen ist, als sie nach einem Weg gesucht hatte, Dánilo und den Menschen seines Dorfes zu helfen. Als sie sich damals kennengelernt haben, war er nicht sonderlich sympathisch gewesen. Irgendwie unnahbar und zu ernst. Und auch seit ihrer Abreise aus Hamira ist er, außer vor zwei Tagen, während der Rast am Hellenbach stets wortkarg und angespannt gewesen. Außerdem scheint er ständig über irgendetwas nachzugrübeln. Sie lässt ihre Blicke über sein junges, hübsches Gesicht und die nackten Oberarme gleiten. Sie muss lächeln. Kein Wunder, dass Demjéla so von ihm schwärmt. Das Mädchen kann seine Gefühle für den jungen Magier vor ihr nicht verbergen.
„Was ist das denn?“ Die Stimme der jungen Gauklerin reißt Ar’nehâli aus ihren Gedanken. Sie blickt zu Demjéla hinüber, die wenige Schritte von ihr entfernt auf dem Rücken liegt, den Kopf auf ihr Bündel gebettet, und in den Himmel starrt.
Die Augen der Schattenelfe folgen dem Blick des Mädchens und weiten sich vor Entsetzen. Über ihnen, genau über der Mitte der Lichtung, schwebt ein seltsames Wesen am Himmel. Viel zu hoch ist es, um Details erkennen zu können. Aber dass es kein Vogel ist, erkennt die Elfe sofort. Lange Beine hat es, breite und lange Schwingen und einen kleinen, runden Kopf ohne Schnabel.
Mit einer einzigen Bewegung greift die Pon’jevala nach Köcher und Bogen und springt auf. Doch ehe sie einen Pfeil auflegen kann, steht der Magier neben ihr, packt ihren Arm und sagt leise: „Nein, es hat uns nichts getan. Kommt schnell in den Wald!“ Damit greift er nach seinem und Rysgars Bündel und läuft in Richtung Waldrand. Doch er ist noch keine zwei Schritt gekommen und Demjéla hat sich noch nicht einmal aufgerichtet, als das helle Sirren der Bogensehne erklingt.
Wütend fährt er herum und blickt in die dunklen großen Augen Ar’nehâlis. „Das“ sagt diese mit eisiger Stimme und zeigt auf das Wesen, das in diesem Augenblick inmitten der Wiese aufschlägt, „das ist nichts natürliches, Magier!“
Er holt tief Luft, antwortet aber nicht. Mit festen Schritten tritt er an den gefallenen Körper heran. Die beiden Frauen folgen ihm. Ularik kniet neben dem Wesen nieder und zieht ihm den Pfeil der Schattenelfe aus der Brust. Seine andere Hand streicht über das Gesicht des toten Wesens und schließt die schönen, nussbraunen, großen Augen. Dann dreht er sich um und blickt den beiden Frauen ins Gesicht. Blankes und grenzenloses Entsetzen zeichnet sich auf beiden ab. Als erste fasst sich Ar’nehâli. „Das ist unmöglich“ flüstert sie und sinkt neben Ularik auf ein Knie. Ihre Finger gleiten durch die weichen, blauen Federn der Schwingen, die zwischen ihren Flügeln sanft knistern.
„Ein Mensch!“ ächzt die junge Gauklerin und schlägt die Hände vor der Mund. Die Pon’jevala schüttelt stumm den Kopf. Sie blickt auf die beiden Beine des Wesen, die in abgetragenen, ausgeblichenen, ehemals dunkelbraunen, Hosen stecken, aber in Krallen, ähnlich denen der großen Adler, enden.
„Ein Wesen aus der Unterwelt“ sagt sie und ihre sonst so helle, klare Stimme klingt jetzt rau und spröde. „Oder ein Bastard des Schwarzen!“
Der Magier wirft ihr einen erstaunten Blick zu und sagt leise, während er mit dem Kopf auf das seltsame Wesen deutet und dann die beiden Frauen nacheinander ansieht: „Ich glaube, ihr habt beide irgendwie Recht.“
In diesem Moment tritt Rysgar hinter sie. „Hier, zwei Hasen zum Abendbrot!“ sagt er und wirft zwei Fellbündel auf den Boden. Demjéla schafft es gerade noch sich abzuwenden, ehe sie sich auf den Boden erbricht.

Am Abend schlagen sie ihr Lager auf einer winzigen Lichtung tief im Schattenwald auf. Sie haben den Rastplatz in nördlicher Richtung verlassen und den Schattenbach hinter sich gelassen, nachdem sie einen kleinen Scheiterhaufen errichtet und den Körper dieses seltsamen Wesens verbrannt haben. Der Wald ist seither unwegsamer und sumpfiger geworden und nur Ar’nehâli findet einen Weg hindurch. Sie geht jetzt fast ununterbrochen an der Spitze und kämpft den anderen den Weg frei. Nur selten lässt sie sich von Rysgar helfen. Gesprochen haben sie seit dem Mittag noch weniger als in den Tagen zuvor. Selbst die sonst so muntere Demjéla bringt kaum noch ein Wort über die Lippen.
Von den beiden Hasen, die Rysgar über dem kleines Lagerfeuer in der Mitte der Lichtung gebraten hat, haben alle nur wenige Bissen genommen. „Nicht nur das Reden ist ihnen vergangen“ sagt der Karishvare leise zu Ularik und deutet mit dem Kopf hinüber, zu den beiden Frauen, die sich bereits in ihre Decken gerollt haben und wenige Schritte neben dem Feuer versuchen, Schlaf zu finden.
Der Magier blickt ins Feuer, als er sagt: „Schlaf ist genauso wichtig, wie Essen, Rysgar. Wer weiß, wann wir wieder dazu kommen. Und du leg dich jetzt auch hin, ich übernehme die erste Wache.“
Doch der Mann aus den eisigen Bergen schüttelt den Kopf. „Damit du mich wieder schlafen lässt, Magier, wie gestern Nacht? Habt ihr die kleine Gauklerin etwa auch schlafen lassen, du und diese“, er spuckt in den Sand, „Elfe?“
Ularik nickt. Dann sieht er dem Hünen ins Gesicht. „Ich kann sowieso nicht schlafen, Rysgar“, sagt er. „Und zügle deinen Hass auf die Pon’jevala. Ich weiß, dass ihr euch mit den Eiselfen überhaupt nicht versteht, aber glaube mir: Die Kar’jevala sind nicht zu vergleichen mit ihren Brüdern und Schwestern der Auen und Wälder.“
„Mit Schattenelfen schon!“ knurrt der Karishvare. Ularik schüttelt den Kopf. „Schattenelfen werden sie nur genannt, weil sie ihren Lebensmittelpunkt im Schattenwald und den Sümpfen Pondarions gefunden haben. Es sind ganz normale Auenelfen.“
„Für mich nicht.“ Rysgar schneidet sich eine Keule von dem über dem Feuer schon halb verbrannten Hasen ab. „Was war das übrigens für ein Ding heute Mittag der draußen?“ Er deutet mit dem Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen sind.
„Ich weiß es nicht“ sagt Ularik und starrt wieder in die Flammen.
„Das ist nicht wahr.“ Der Karishvare kaut eine Weile auf dem zähen Fleisch herum und als Ularik schweigt, setzt er hinzu: „Den Frauen kannst du viel erzählen, Magister. Aber du weißt mehr als du sagst.“
Jetzt sieht Ularik ihm tief in die Augen und flüstert: „Ich weiß gar nichts, Rysgar. Aber ich habe eine Ahnung. Erst nur ganz tief in mir drin. Aber seit heute Mittag ist es mehr als eine leise Ahnung. Ich kann nur hoffen, und zu allen Göttern beten, dass sie nicht zutrifft.“ Er blickt kurz zu den Frauen hinüber und fügt noch leiser hinzu: „Wenn es stimmt, was ich denke, wären wir besser nicht von zu Hause fortgegangen.“
„Du hast Angst“ stellt der Karishvare tonlos fest und nachdenklich nickt Ularik. „Aber nicht vor der Zukunft, mein Freund, sondern vor der Vergangenheit. Davor, dass sie mich eingeholt hat.“
„Sprich darüber.“
„Nein!“ Der Magier schüttelt den Kopf. „Noch nicht. Erst, wenn die Zeit gekommen ist.“ Mit einem Zweig stochert er in der Glut herum, bis das Feuer wieder hell aufflammt. „Und nun geh‘ schlafen. Wir alle werden deine Kräfte bald brauchen, fürchte ich. Ich wecke dich wirklich, Rysgar, denn auch meine Energie muss ich schonen.“
Der Hüne nickt. „Denk‘ dran, Magister“ sagt er und zieht sich auf sein Lager zurück, während Ularik den Umhang fest um sich zieht und den Mâg’or griffbereit über seine Beine legt. Der Kristall am oberen Ende des Stabes schimmert sanft im flackernden Licht des Feuers. Die Finger des Magiers gleiten sacht über die Runen, die in den Stab eingearbeitet sind. „Farone les oligante a farone onles multione.“ Ihm ist nicht bewusst, dass er die Worte der alten Sprache in die Stille der Nacht hinein spricht.
„Alles ist vereinbar und alles kann jedes sein“ wiederholt eine andere Stimme seine Worte so leise, dass er es nicht hören kann. „Was bedeutet das?“
„Wir werden es bald erfahren“, wispert eine andere Stimme zurück. „Aber ich glaube, die Antwort wird uns nicht gefallen.“ Und dann, nach einer kurzen Pause: „Woher kennst du die Worte der alten Sprache?“
Schweigen breitet sich aus über dem Lager, nur das Knistern des Feuers ist zu hören.

Am Abend des nächsten Tages erreichen sie die Sümpfe von Pondorion. Die Sonne steht schon sehr tief über dem Wald, als sich der plötzlich lichtet. Ein dunkelbrauner Teppich aus Moosen und Gräsern, der sich bis zum fernen Horizont vor ihnen ausdehnt, scheint auf einer flachen, schmutzigen Wasserschicht zu schwimmen. Dazwischen recken einige niedrige Sträucher und kleine, zerzaust aussehende Bäume, ihre dürren Äste in die Luft. Immer wieder bilden sich an den Stellen, an denen das Wasser nicht von Pflanzen bedeckt ist, große Blasen, die mit lauten schmatzenden Geräuschen zerplatzen. Ein unheimliches Summen und Sirren tönt durch den Abend. Über all dem liegt ein ekelerregender, faulig riechender Dunst, der ihnen den Atem verschlägt.
Mit einer lässigen Bewegung steckt Ar‘nehâli ihren Säbel in die Scheide zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Fragend blickt sie Ularik an. „Übernachten wir am Waldrand oder gehen wir noch ein Stück?“
Er zuckt die Schultern. „Wie weit kommen wir heute noch?“
Die Schattenelfe weist in nördliche Richtung. „Siehst du da hinten den Hügel? Bei den drei Bäumen? Dort habe ich ein paar Vorräte gelagert und es gibt auch eine kleine Hütte. Wir müssen uns aber beeilen, ehe es dunkel wird.“
Der Magier sieht die Erschöpfung in den Gesichtern der Anderen. Nicht einmal an Rysgar sind die letzten Tage spurlos vorbeigegangen. Doch dann nickt er. „Vielleicht ist es ganz gut, ein Dach über dem Kopf zu haben.“
„Vor allem vier Wände um sich herum“, sagt die Pon‘jevala mit einem seltsamen Lächeln. „Folgt mir und bleibt genau in meiner Spur. Ein Schritt daneben könnte euer Ende sein!“ Sie wartet nicht auf eine Antwort und stapft in den Sumpf. Prompt versinkt sie bis über die Knöchel im Morast.
Jeder Schritt wird zur Qual. Mit Mühe nur ziehen sie die Füße aus dem Schlamm, der sie mit aller Kraft festzuhalten scheint. Ularik hat das Gefühl, den Hügel niemals bis zum Einbruch der Dunkelheit erreichen zu können.
Doch sie schaffen es gerade so. Der Hügel ist höher und breiter als es den Anschein hatte und die Hütte ein aus starken Balken vor ewigen Zeiten gezimmerter Bau. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt, doch als Ar‘nehâli die Tür aufstößt, quietscht diese nicht einmal in den Angeln.
Nur wenig später verbreitet eine kleine Laterne spärlich Licht. Der Raum ist geräumig und trocken, ein roh zusammengezimmerter Tisch steht an der einen Seite, eine schmale Bank davor und an jeder Stirnseite ein grober Schemel. Auf der anderen Seite eine große Truhe und daneben eine schmale Bettstatt mit einer Schütte Stroh darauf. Doch das Beste: in die hintere Wand ist ein großer Kamin eingelassen, in dem schon bald ein helles Feuer brennt. Neben dem Kamin befindet sich eine niedrige Holztür.
„Den kleinen Raum dahinter habe ich noch mal abgeteilt“, erklärt sie. „Ein Teil dient als Vorratslager und der andere Teil“, sie sieht verlegen auf den Boden, „naja, damit ihr nachts nicht raus müsst.“ Dann sieht sie Demjéla an. „Eigentlich war das mal die Schlafkammer, aber ich wusste ja nicht, dass ich mal Gäste mit her bringe.“
„Du wohnst hier?“ Die Stimme des Karishvaren klingt nicht sonderlich überrascht. Die Elfe lacht leise. „Nein, Rysgar. Aber ich bin oft in den Sümpfen unterwegs. Es ist schön hier, doch manchmal wird man von der einbrechenden Dunkelheit, Nebel oder Gewittern überrascht. Darum habe ich mir, wo immer sich Gelegenheit bot, Rastpunkte eingerichtet. So komfortabel wie das hier“, sie macht eine umfassende Handbewegung, „sind sie aber nicht.“
Nur wenig später sitzen sie um den Tisch herum und löffeln eine kräftige Suppe aus dem Kessel, den Ar’nehâli gleich nach ihrer Ankunft über das Feuer gehängt hat.
Nach einer Weile lässt Ularik den Löffel sinken und sieht die Pon‘jevala lange an. „Wie weit ist es noch, Ar‘nehâli?“
Die Angesprochene zuckt die Schultern. „Keine Ahnung, aber wenn ich mit meiner Vermutung, dass sich das Versteck des Schwarzen Magiers in der Nähe von Drohan befindet, müssten wir in den nächsten beiden Tagen darauf stoßen. Wenn nicht, liegt es irgendwo im Sumpf und dann könnten wir gut drei Monde brauchen.“
Ularik nickt langsam und Rysgar unterdrückt mit Mühe einen derben Fluch. Demjela hat nur kurz aufgeblickt und isst nun weiter.
„Wenn sich die Monster Drohan als Ziel gesucht haben, muss ihr Versteck hier in der Nähe sein“, erklärt Ar‘nehâli. „Sie werden nicht ewig fliegen, um Beute zu machen. Und als Unterschlupf kommen nur zwei Objekte in Frage: Das alte Dorf, dieses müssten wir morgen Abend erreichen oder der zerbrochene Turm. Bis dahin brauchen wir vom Dorf aus noch mal einen halben Tag.“
„Dorf, Turm, das klingt ja als wäre die Gegend hier dicht besiedelt und nicht etwa ein riesiges, stinkendes Sumpfgelände, wie ich noch keines gesehen habe“, knurrt der Karishvare.
Die Pon‘jevala lächelt. „Vor Ewigkeiten war das hier auch noch kein Sumpf, Rysgar. Es erstreckte sich ein riesiger, flacher See, soweit man blicken konnte. Die Hügel, die du gesehen hast, und auf so einem steht ja auch diese Hütte, waren früher einmal kleine Inseln. Es gab kleine Ansiedlungen oder einzelne Gehöfte, je nachdem wie groß die Insel war. Und als der See mehr und mehr zu versumpfen begann, zogen die Menschen fort. Ihre Häuser aber zerfielen in den Jahrhunderten zu Staub. Bis auf ein paar Wenige, deren Ruinen man hier und dort noch findet.“
„Zwei Tage als höchstens noch“, murmelt Ularik vor sich hin.
„Wenn die Gerüchte um den Magier stimmen“, sagt die Pon‘javala düster.
„Was soll das heißen?“ Die Fäuste des Karishvaren krachen auf den Tisch, so dass der Kessel ein Stück in die Höhe springt und Demjéla erschrocken zusammenzuckt. Rysgar richtet sich auf, stützt sich auf die Tischplatte und beugt sich zu Ar‘nehâli hinüber, die ihm gegenüber sitzt. „Willst du damit sagen, du hast keine Ahnung, ob es diesen Magier überhaupt gibt?“
Die Pon‘jevala bleibt sitzen und blickt dem Hünen fest in die Augen. „Ich habe nie behauptet, dass es einen Magier gibt, Rysgar. Ich habe auch in Hamira immer nur von Gerüchten gesprochen. An die Existenz der Monster habe ich aber immer geglaubt. Und du hast ja mit eigenen Augen gesehen, dass es sie gibt. Die Frage ist, wo sie ihren Unterschlupf haben oder wo sich dieses Tor zur Unterwelt, oder was immer es ist, sich befindet.“
Die sonst so harten, kalten Augen des Karishvaren funkeln und er setzt zu harschen Widerworten an, als Ularik leise und betont sagt: „Es gibt den Magier, denn diese Wesen sind keine Geschöpfe der Unterwelt, Ausgeburten des Schwarzen Gottes oder so etwas. Sie wurden durch einen Menschen erschaffen. Und jetzt setz dich wieder hin, Rysgar. Es ist an der Zeit, euch zu erzählen, was ich weiß. Vielleicht ist morgen Abend schon keine Zeit mehr dazu.“
Während die Anderen ihn mit großen Augen ansehen, steht er auf und geht zum Kamin hinüber. Er lehnt sich dagegen, so als ob er die seinen Körper durchfließende Wärme nötig hätte, um über das zu sprechen, was ihn seit Hamira quält.
„Ihr habt schon von der Magierburg in Darrenberg gehört?“ fragt er, aber nur die beiden Frauen nicken zustimmend. „Darrenberg in Tiri Geol ist bekannt für die größte und beste Magierschule Galâriens. Ich habe dort meine Ausbildung begonnen.“ Er lächelt versonnen und blickt zur Decke, als ob sich die Vergangenheit an den rußgeschwärzten Balken ablesen ließe. „Halbe Kinder waren wir noch und lauschten den Worten der grauen, erfahrenen Magier. Der beliebteste war Eric von Drohan. Ja“, er sah die Anderen nur kurz an, „seine Vorfahren stammten aus dieser Gegend hier. Aber bis vor wenigen Tage habe ich nichts von der Existenz eines Ortes mit dem Namen Drohan gewusst. Nun, Eric von Drohan war ein uralter, gebrechlicher Mann, aber er war brillant. Allerdings wurde er als ziemlich verschroben angesehen, angesichts der Theorien, die er vertrat. Er forschte und experimentierte noch immer, um seine Thesen zu beweisen, und das obwohl seine magische Energie schon lange aufgebraucht war. Deshalb suchte er sich stets Adepten, der ihm dabei zu Hand gingen.
Zwei, nein drei Jahre, nachdem ich meine Ausbildung angefangen hatte, verließ sein bisheriger Helfer die Schule und er war gezwungen, sich einen neuen Adepten zu suchen. Wir waren drei, die sich um dieses Amt bewarben, hofften wir doch, in der praktischen Arbeit mit Magister Eric schneller zum Ziel zu kommen, als mit langweiligen Studien. Ehe er sich entschied, arbeitete er mit uns dreien. Neben mir war da Jerémias von Eisenthal, ein stiller, blasser Junge aus reichem Elternhaus. Sein Vater war der bekannteste Magier Tiri Geols seiner Zeit. Und ein anderer Junge, an dessen Namen ich mich aber nicht mehr entsinnen kann, solange ich auch in den letzten Tagen auch darüber nachgegrübelt habe. Auch er stammte aus einer alten Magierfamilie, die aber wohl kurz vor dem Ruin stand. Eines Tages brannte dann das Anwesen der Familie nieder und seine Eltern kamen dabei ums Leben. Da er keine weiteren Verwandten hatte, musste er die Magierburg verlassen.“
„Weil er seine Studiengebühren nicht mehr bezahlen konnte?“ fällt Demjéla dem Magier ins Wort. Der blickt zu ihr hinüber und nickt. „Wie gesagt, die Magierburg von Darrenberg ist eine sehr exklusive Schule.“
„Weißt du, was aus ihm geworden ist?“ Ihre Stimme zittert vor Aufregung, doch Ularik bemerkt es nicht.
„Nein. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Aber ich befürchte, dass er es ist, dem wir morgen oder übermorgen gegenüberstehen.“
Die Gauklerin kneift die Augen zusammen und fixiert den Magier, doch ehe sie etwas sagen kann, fragt Ar‘nehâli: „Wieso?“
„Nun“, Ularik beginnt, in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen, „An dem Tag, da wir drei das erste Mal in den Räumen Eric von Drohans waren, fiel uns ein gewaltiges, uraltes Buch auf, das auf einem Stehpult mitten im Raum aufgeschlagen da lag. Wir warfen eine Blick hinein und da waren sie: Genau solche Kreaturen, wie Ar’nehâli in Hamira beschrieb.“ Ularik vom Eulenstein unterbricht sich und blickt in die erstaunten Gesichter seine Zuhörer. Zufrieden lächelnd setzt er fort: „Bei dem Buch handelte es sich um den Codex Borealis von Magister Harun el Han’dra, einem der ersten Magier Galâriens. Geschrieben war es in der alten Sprache, die heute nur noch Magier und ein paar Elfen lesen oder gar sprechen können. Dieses Buch war verboten, da es eben jene Theorien enthielt, die Eric von Drohan sein Leben lang zu beweisen suchte.“
„Was waren das für Theorien?“ Ar’nehâli beugt sich etwas nach vorn und Ularik kann das Feuer in ihren Augen sehen.
„Nun, Harun el Han’dra vertrat darin die Auffassung, das jedes Wesen, auch jede Pflanze und sogar jedes Ding aus winzigen Teilen besteht, die man nicht sehen kann und die er als Informationen bezeichnet. Er war der Meinung, dass diese Informationen von Lebewesen jeweils zur Hälfte an die Nachkommen weitergegeben werden, weshalb Kinder ihren Eltern zum Beispiel immer ähnlich sehen. Diese Informationen, schrieb Harun el Han’dra, müsse man nur voneinander trennen und mit Informationen eines anderen Wesens oder Objektes wieder verbinden, um völlig neue oder verbesserte Wesen entstehen zu lassen.“
„Fliegende Menschen zum Beispiel“. Rysgar und schüttelte den Kopf.
„Du hast gesehen, dass Harun el Han’dra vielleicht Recht behalten hat.“ Der Magier bleibt stehen und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Aber wie kann man etwas trennen, das man gar nicht sehen kann?“ Demjéla sieht den Magier zweifelnd an.
„Genau das hat sich Eric von Drohan sein ganzes Leben lang gefragt. Er war der Meinung, die Antwort stehe im Codex Borealis, man müsse sie nur finden.“
„Und, hat er?“ Rysgars Frage scheint einen Moment im Raum zu stehen, ehe Ularik ihn ansieht und sagt: „Nein, mein Freund, das hat er nicht. Nach seinem Tode, etwa ein Jahr nachdem wir unsere Studien bei ihm begonnen hatten, starb er und der Codex wurde auf Weisung der Schulleitung verbrannt.“
„Aber wie es aussieht, muss jemand die Studien fortgesetzt haben“, Demjéla ist aufgestanden und geht jetzt ebenfalls unruhig auf und ab. „Ob es ein weiteres Exemplar des Buches gegeben hat?“
Ularik sieht sie an und wundert sich über die Auffassungsgabe des Mädchens. Dann nickt er. „Das war eben unsere Aufgabe. Eric von Drohan hatte genau das vorausgesehen und uns drei damit beauftragt, das Buch Wort für Wort abzuschreiben und die Bilder genauestens abzuzeichnen. Wir waren gerade fertig damit, als Jerémias und ich erfuhren, dass unser Studienfreund die Magierburg verlassen hatte. Mit ihm war auch die Kopie des Codex Borealis verschwunden und nur wenige Tage später starb Magister Eric von Drohan.“
„Deshalb glaubst du, euer Studienfreund hat die Forschungen von Drohans im Geheimen fortgesetzt und die Lösung zur Erschaffung neuer Kreaturen gefunden.“ Die junge Gauklerin bleibt vor Ularik stehen und sieht ihm fest in die Augen. Ehe er antworten kann fragt sie: „Und was ist aus Jerémias von Eisenthal geworden?“
Vertraulich legt Ularik der jungen Frau beide Hände auf die Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Wir haben zusammen zu Ende studiert, haben uns später noch einige Male getroffen. Er hat damals versucht, in Rostorien eine eigene Magieschule aufzumachen, hatte damit aber keinen Erfolg. Dann ist er fortgezogen und ich habe seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Er wäre uns bestimmt eine große Hilfe gewesen.“
Demjéla schließt die Augen und schiebt vorsichtig seine Hände von seinen Schultern. Einen Augenblick nur hält sie sie in ihren Händen, dann wendet sie sich um. „Wir sollten versuchen, endlich einmal auszuschlafen, denn wir sollten ausgeruht sein, falls es morgen schon zum Kampf kommt.“ Sie sagt es leise in den Raum hinein und jetzt merkt jeder, dass ihre Stimme bebt und sie sich nur mühsam beherrscht.

Grau und düster erhebt sich der alte Turm aus dem Sumpf. Es ist früh am Morgen und die stinkenden Nebelschwaden, die über die feuchte Landschaft wabern, bewirken, dass er über dem Boden zu schweben scheint. Der bestialische Gestank in der Luft nimmt ihnen den Atem. Immer wieder durchdringen grässliche Schreie die Stille.
Mit einer kurzen Rast in der Nacht sind sie ohne Unterbrechung bis direkt an den Turm gezogen. Auf Ulariks Vorschlag hin haben sie den Umweg über das ehemalige Dorf verzichtet. Ularik war sich sicher gewesen, den Magier des Schwarzen hier zu finden, denn bei dem halb zerfallenen Turm muss es sich um den ehemaligen Sitz derer von Drohan handeln.
Sie hatten sich hinter einem kleinen Hügel in einer Gruppe verkrüppelter Bäume niedergelassen und beratschlagt, wie weiter vorzugehen sei. Während sie noch sprachen, hatte Demjéla ihr Bündel aufgerollt und mehrere seltsame Werkzeuge entnommen. Über die Hände zog sie zwei eigenartige breite Lederschlaufen, an denen spitze Haken befestigt waren. Vorher hatte sie ähnliche Lederbänder, allerdings mit kurzen Eisenspitzen an ihren Schuhen befestigt.
„Was machst du da?“ hatte Ularik sie gefragt.
„Ich denke, ihr braucht einen Kundschafter“, hatte die Gauklerin geantwortet. „Ich steige außen am Turm hinauf und schaue mich mal um. Ein Magier der fliegende Wesen erschafft wird keinen Gedanken daran verschwenden, dass Gefahr von oben droht.“
Ularik hatte genickt und einen Augenblick später war das Mädchen im Nebel verschwunden.
Seit dem warteten sie. Ewigkeiten schienen vergangen zu sein. Ularik wurde langsam unruhig. Vielleicht sollten sie aufbrechen. Wer konnte wissen, was der jungen Gauklerin zugestoßen war?
„Sie kommt zurück“ flüstert Ar‘nehâli in diesem Augenblick. Vorsichtig hebt der Magier den Kopf. „Wo ist sie?“ fragt er, nachdem er angespannt zum Turm hinüber gestarrt hat und nichts erkennen kann.
Die Pon‘jevala, die im Schatten der Bäume kaum zu erkennen ist und mit ihnen zu verschmelzen scheint, sagt leise und ihrer Stimme klingt Belustigung mit: „Du siehst sie noch nicht, Ularik. Sie ist noch im Turm. Und: Sie war nie in Gefahr, wenn dich das beruhigt.“
„Woher …“ sie das wissen kann, will er fragen doch dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. „Du warst die ganze Zeit mit ihr verbunden.“ Er ist mehr erleichtert als erstaunt.
„Ich habe gefühlt, was sie gefühlt hat und gesehen, was sie gesehen hat.“ Langsam tritt die Elfe aus dem Schatten der Bäume und gleitet neben Ularik und Rysgar hinter den Felsbrocken und wirft dem Magier einen vielsagenden Blick zu. Der spürt, wie gegen seinen Willen Hitze in ihm aufsteigt.
„Sie darf es aber nicht erfahren, versprecht mir das.“
Die beiden Männer nicken, dann breitet sich wieder Schweigen aus.
Nur wenig später hockt sich Demjéla neben sie. Ihr Gesicht ist beinahe so grau wie Rysgars und sie zittert leicht. Aber nur wenige Augenblicke braucht sie, um sich zu sammeln und zur Ruhe zu kommen, dann berichtet sie:
„Von dem Anwesen sind noch der Turm und das große Haupthaus vorhanden. Beide sind ziemlich stark zerstört, aber der Keller des Hauses und die beiden unteren Etagen des Turmes sind noch nutzbar. Der Magier hat seine Wohnung im unteren Stockwerk des Turmes eingerichtet. Darüber befindet sich das Labor. Er ist mit irgendwelchen Experimenten beschäftigt. Im Turm selbst habe ich weder Monster noch andere Personen gesehen.
Dann bin ich in das Haupthaus hinüber. Dort im Keller ist ein furchtbares Verließ eingerichtet. In eisernen Käfigen werden Menschen gefangen gehalten. Frauen, Männer, Elfen und auch ein paar Kinder. Erst habe ich auch hier keine Monster gesehen. Dann fand ich eine versteckte Treppe, die noch weiter nach unten führt. Und dort unten sind sie.“ Sie bricht ab und wischt sich über die Augen, ehe sie zögernd weiterspricht: „Solche Monster, wie Ar‘nehâli sie Hamira beschrieben hat, aber auch andere und eines, wie das, was sie vom Himmel geholt hat. Aber dieses hier ist eindeutig eine Frau.“ Sie unterbricht sich wieder. „oder war es, oder…“ Ihr fehlen die Worte. „Aber das ist noch nicht alles. Da unten liegen noch jede Menge…“ Ein dumpfes Keuchen entringt sich ihrer Brust und bei jedem Wort würgend bringt sie noch hervor: „Leichen … Kadaver … verwest … angefressen … Monster … Menschen.“ Dann sinkt sie weinend in sich zusammen.
Ar’nehâli legt ihr die Hand auf den Kopf und die Männer nehmen ein sanftes hellrotes Leuchten unter ihrer Handfläche wahr. Tonlos bewegen sich die Lippen der Elfe und kurz darauf hebt Demjéla den Kopf und lächelt schwach. „Danke“ flüstert sie.
„Hat dich wer gesehen?“ erkundigt sich der Magier voller Unruhe. Die Gauklerin schüttelt den Kopf und sagt leise: „Wenn ich nicht gesehen werden will, sieht mich keiner, glaub‘ mir.“
Dann erhebt sich Ularik. „Warten wir nicht länger. Bereiten wir dem ein Ende!“ Er stützt sich auf seinen Mâg‘or und blickt Rysgar und Ar’nehâli an. „Ihr beide nehmt euch die Keller vor. Ich kümmere mich um den Magier. Und du“, er sieht zu Demjéla hinunter, „du bleibst am besten hier. Deine Aufgabe hast du erfüllt. Jetzt ist es an uns.“
Doch die junge Gauklerin widerspricht. „Ich komme mit dir, vielleicht kann ich dir helfen.“ Ohne eine Antwort Ulariks abzuwarten, zieht sie aus ihrem Bündel zwei sichelförmige Klingen, deren Griffe mit ähnlichen Schlaufen versehen sind wie ihre Steigeisen, die sie jetzt auf das Bündel wirft, ehe sie sich erhebt und sich neben ihn stellt.
„Zariobanas“ staunt der Magier. „Du beherrschst den Klingentanz?“
„Willst du es ausprobieren?“ herausfordernd sieht die junge Gauklerin ihn an. Auf ihrem Gesicht liegt eine Ernsthaftigkeit und Ruhe, wie er sie noch nie bei ihr gesehen hat.
Während er abwinkt, zieht Ar‘nehâli prüfend den schmalen Säbel aus der Scheide. Die Klinge blitzt auf in der Sonne, die gerade eben die Wolkendecke durchbricht. Während sie ein paar Worte murmelt und ihn dann zurücksteckt, um nach ihrem Bogen zu greifen, fragt Rysgar: „Wie kommst du eigentlich zu diesem Säbel, Elfe? Das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen. Ihr führt doch sonst eher ein Schwert als solch eine Waffe?“
Die Pon’jevala wirft ihm einen stechenden Blick zu. „Ein Gordensäbel ist es. Das Geschenk eines Freundes, dem ich leider nicht mehr helfen konnte. Eine lange Geschichte. Ich erzähl‘ sie dir wenn wir das hier hinter uns gebracht haben.“
Der Hüne zuckt die Schultern und greift nach seiner Axt. Aus seinem Gepäck zieht er noch einen armlangen Eisenstab, den er sich hinten in den Gürtel steckt. Dann marschiert er ohne ein weiteres Wort in Richtung des Turmes und die anderen folgen ihm.
Vor der imposanten Eingangstür bleiben sie noch einmal stehen. „Wenn wir die Gefangenen befreit haben und mit den Monstern fertig sind, kommen wir euch zu Hilfe.“ Der Karishvare hebt seine Axt über den Kopf und stürmt nach diesen Worten zum Haus hinüber. Er ist so schnell, dass Ar’nehâli ihm kaum folgen kann.
Als der Magier die Tür des Turmes aufstoßen will, hält Demjéla kurz zurück. „Gleich rechter Hand geht eine schmale Treppe auf eine Art Galerie hinauf. Sie führt aber auch weiter in die zweite Etage. Ich werde diesen Weg nehmen und du die Haupttreppe. Dann haben wir ihn, egal wo er sich gerade befindet, zwischen uns.“
„In Ordnung. Er rechnet bestimmt nicht damit, von zwei Seiten angegriffen zu werden. Aber versprich mir eines: So lange es irgendwie geht, hältst du dich zurück und greifst nicht ein.“
Die Gauklerin legt den Kopf auf die Seite und blickt Ularik abschätzend an. „Du brauchst keine Angst um mich zu haben. Ich habe schon einige Kämpfe bestreiten müssen in meinem Leben.“
„Ich habe keine Angst“, braust der Magier auf, besinnt sich dann aber und sagt leiser: „Doch, Demjéla, ich habe Angst um dich. Denn“, er sucht nach Worten, „dieser Kampf wird schwerer als alle, die du bisher bestehen musstest.“ Dann wendet er sich abrupt der Tür zu und sieht das sanfte Lächeln nicht, das über das Gesicht der jungen Frau huscht. Sie weiß, dass er nicht die ganze Wahrheit gesagt hat.
Vorsichtig drückt Ularik die Klinke herunter, doch die Tür ist verschlossen. Er blickt Demjéla fragend an, doch die zuckt nur die Schultern und lächelt. Doch als sie sieht das der Magier die Finger lockert um einen Öffnungszauber anzuwenden, hebt sie die Hand und flüstert: „Spar deine Energie, Magier. Ich weiß was Besseres!“ Sie lässt die beiden Klingen los, die dann lose an ihren Handgelenken hängen und zieht einen dünnen Draht aus einer Tasche ihres Gewandes.
Nur einen Augenblick später lässt sich die Tür öffnen. Der Raum dahinter ist in Dämmerung gehüllt. Nur durch einen winzigen Spalt zwischen den Vorhängen fällt etwas Sonnenlicht hinein. Ularik Blick gleitet über den spärlich möblierten Raum, in dem absolutes Chaos zu herrschen scheint. In den Ecken stapeln sich Bücher, auf fast allen Möbeln liegen, achtlos hingeworfen, Kleidungsstücke und Decken, die Wände sind über und über mit Skizzen und Notizen bedeckt und Papier bedeckt in Dutzenden loser Blätter den Fussboden.
Als er sich noch einmal nach Demjéla umsieht, muss er feststellen, dass diese bereits verschwunden ist. Er selbst hat die schmale Treppe gleich neben dem Eingang gar nicht wahrgenommen.
Leise steigt er die breite Haupttreppe hinauf ins Obergeschoss. Hier erhellen mehrere Fackeln den kreisrunden Raum, in dem eine nahezu sterile Ordnung zu herrschen scheint. Etwa in der Mitte wird der Raum durch eine Art hüfthohe Barriere geteilt. Auf dieser steht eine große Zahl, teils flache, teils hohe röhrenartige, mit Flüssigkeiten gefüllte Behälter. Auch hier bedecken Zeichnungen und Skizzen die Wände, aber nicht oberflächlich und hastig dahin gekritzelt, wie unten sondern sauber gezeichnet und beschriftet. Er erkennt Bilder von Flügeln, Klauen und Zähnen, aber es sind auch Zeichnungen darunter, die er nicht deuten kann. Verschlungene Linien und Symbole sind darauf zu sehen und immer wieder Listen und Tabellen mit fremden Zeichen, wie er sie bisher nur einmal gesehen hat: im Codex Borealis.
An einem großen Arbeitstisch hinter der Barriere steht, mit dem Rücken zu Ularik, eine Gestalt, in den dunklen Umhang der Magier gehüllt und auf dem Tisch glaubt er ein großes, geschwänztes Tier zu erkennen, dass aber keinen Kopf besitzt. Und dennoch scheint es zu leben! Die Flanken des Tieres beben, wie unter heftigen Atemzügen. Dann erkennt Ularik, dass die Gliedmaßen des Tieres mit einer großen Apparatur verbunden sind, die an der Wand des Turmes befestigt ist und aus ähnlichen gläsernen Behältern besteht, wie sie auf der hölzernen Barriere stehen. Im größten der Behälter scheint sich Blut zu befinden, das aus dem Körper des Tieres heraus geleitet und, nachdem es durch andere Behälter geflossen ist, zurück in diesen geführt wird. Aus den anderen Behältnissen fließen derweil verschiedene Flüssigkeiten in das Blut hinein.
Geschockt starrt Ularik auf die Szene, die sich da vor ihm abspielt. Dann bemerkt er, rechts vom Arbeitstisch, ein Stehpult, auf dem ein Buch liegt, dass er auf den ersten Blick erkennt.
Er schließt die Augen und atmet tief durch. Dann packt er den Mâg‘or mit beiden Händen und leitet einen starken Energiestrom hinein. Langsam beginnt der Kristall in sanftem Licht zu strahlen. Er richtet ihn auf den fremden Magier, doch ehe er den Energiestrom aussenden kann, dreht der Fremde sich um und sagt: „Du doch nicht, Ularik vom Eulenstein. Niemals würdest du mich hinterrücks ermorden!“ Sein Gesicht ist unter der Kapuze des Umhangs verborgen, doch seine Stimme jagt Ularik einen eisigen Hauch über den Rücken und im gleichen Augenblick erlischt das Licht im Kristall seines Stabes.
„Du hast es also geschafft“, sagt Ularik und seine Stimme bebt, „du hast dem Codex seine Geheimnisse entrissen.“
„Ich war immer davon überzeugt, dass ich es schaffen werde, das weißt du.“ Der Fremde greift jetzt nach seinem Mâg’or, der an den großen Tisch gelehnt neben ihm steht. Aus dunklem, fast schwarzem Holz ist er, eine kunstvoll geschnitzte Schlange scheint sich um ihn herum zu winden und in seine Spitze ist ein prächtiger blutroter Rubin eingearbeitet. „Das Schwierigste war dabei, dass dem alten Harun el Han’dra zwei kleine Fehler unterlaufen sind. Vielleicht sogar absichtlich, da bin ich mir noch nicht ganz schlüssig“ meint der unheimliche Magier und macht einen Schritt auf Ularik zu. „Aber nachdem ich diese herausgefunden und verbessert hatte, war es gar nicht mal so schwer. Kraft hat es mich aber dennoch gekostet.“ Bei diesen Worten greift er mit der freien Hand nach der Kapuze und schiebt sie langsam zurück.
Ein tiefes Keuchen entringt sich Ulariks Brust. Das Gesicht des Mannes ist alt, sehr alt. Von tiefen Runzeln zerfurcht und von einem Kranz weißer Haare umrahmt. Haare, die vor wenigen Jahren noch flammend rot gewesen sind.
„Man muss Opfer bringen können, wenn man sich unsterblich machen will.“ Wie durch einen dicken Vorhang dringen seine Worte in Ulariks Bewusstsein. „Aber ich bin bereit, den Ruhm mit dir zu teilen, Ularik. Immer noch, doch deine Freunde werden dieses Gemäuer nicht mehr lebend verlassen können.“ Er stößt ein kurzes, heisereres Lachen aus. „Schließlich können wir ihre Informationen nur zu gut für neue Experimente gebrauchen!“
„Woher weißt du …“
Wieder lacht der Andere. „Meine Geschöpfe haben euch bereits im Schattenwald ausgemacht, mein Freund. Eines hat sich leider etwas daneben benommen, aber das habt ihr ja beseitigt.“ Er zuckt die Schultern. „Ich glaube, er wollte euch warnen.“ Setzt er nach einer kurzen Pause leise hinzu. „So ganz vollkommen sind sie eben noch nicht.“
Ularik vom Eulenstein sieht dem Anderen jetzt tief in die Augen. Sie leuchten noch genauso fanatisch wie auf der Magierburg, denkt er und sagt dann mit fester Stimme: „Wir werden dich aufhalten, Jerémias. Dein letzter Tag hat begonnen.“
Das raue Lachen ist jetzt noch lauter als zuvor. Unheimlich hallt es von den Wänden wieder. „Was glaubst du, wer du bist, Ularik vom Eulenstein? Du willst es mit mir aufnehmen? Dir versagt die magische Energie ja schon den Dienst, wenn du meine Stimme hörst.“
Ularik tritt jetzt ebenfalls einen Schritt nach vorn. „Meine Gefährten werden deine paar Bestien in dem Keller da drüben jetzt schon vernichtet haben und auf dem Weg hierher sein. Sie werden dich nicht verschonen.“
„Die paar Bestien, ja? Ihr habt ja keine Ahnung, mein Freund. Tief unter der Erde lauert meine Armee! Glaub‘ mir, deine Freunde haben keine Chance. Wenn du dich mir anschließt, können wir bald über ganz Galârien herrschen, Ularik.“ “
Ehe Ularik etwas erwidern kann, vernimmt er den Wutschrei Demjélas. Die kleine Gauklerin stürzt sich todesmutig von hinten auf den Magier. Ihre Klingen wirbeln durch die Luft. Doch noch bevor sie Jerémias erreicht, dreht der sich um, der Stein in seinem Mâg’or leuchtet grell auf und mit einer schnellen Bewegung seines Stabes wischt er die junge Frau zur Seite, als ob er ein Stück Papier vom Schreibpult schiebt. Mit einem lauten Stöhnen kracht sie an die Wand und sinkt zusammen.
„Und jetzt zu dir!“ Er dreht sich zu Ularik um und fragt: „Willst du nun mit mir zusammenarbeiten oder nicht? Noch hast du die Wahl.“ Mit Erstaunen sieht er, wie der Kristall an Ulariks Stab plötzlich aufleuchtet.
„Niemals!“ Außer sich vor Wut und angespornt von der Sorge um Demjéla hat Ularik fast seine gesamte noch verbliebene Energie gebündelt und ehe Jerémias von Eisenthal sich besinnt, jagt ihm ein heller Strahl entgegen. Er trifft den Magier unvorbereitet und mit voller Wucht in die Brust und schleudert ihn zurück. Keuchend taumelt er gegen den Arbeitstisch und die Wucht des Aufpralls reißt diesen um. Das kopflose Tier rollt herunter und die Verbindungen zu der Apparatur reißen, worauf ein Gemisch aus Blut und anderen Flüssigkeiten sich auf den Boden ergießt und der Körper mit ein paar heftigen Zuckungen verendet. Ob der gepeinigte Aufschrei von Eisenthals dem seltsamen Wesen, seinen Apparaten oder seinen eigenen Schmerzen gilt, wird Ularik nie erfahren. Mit einem Satz springt er über die hölzerne Barriere, die die beiden Magier bis jetzt noch getrennt hat. Dann schlägt er seinen Stab dem ehemaligen Freund über den Kopf. Aus einer Platzwunde läuft Blut. Doch Jerémias von Eisenthal lacht schon wieder. „Was war das denn? Wolltest du mich erschlagen, ja? Nicht mal dafür reicht deine Kraft, Ularik.“
Betroffen weicht Ularik einen Schritt zurück. In das blutverschmierte Gesicht von Jerémias von Eisenthal tritt ein hämisches Grinsen. „Jetzt werden wir sehen, für wen der letzte Tag angebrochen ist, mein Freund“ sagt er und der Rubin in seinem Mâg’or flammt auf. Eine heiße, zuckende Flamme bricht daraus hervor und frisst sich in Ulariks Brust.
Das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen entringt ihm einen grellen Schrei. Er sieht noch, wie Jerémias zu im tritt und sich über ihn beugt. „Das war’s dann wohl für unsere Freundschaft!“ Die Stimme des ehemaligen Freundes nimmt er kaum noch wahr, sieht aber, wie der plötzlich einen Schritt zurückweicht und entsetzt auf einen Punkt hinter Ularik blickt. Dann stürzt sich ein fremder jungen Mann auf den Magier. In seiner Hand hält er einen armlangen Stab, den er Jerémias mit wirbelnden Schlägen vor die Brust und auf die Handgelenke schlägt, so dass der seinen Mâg’or fallen lässt.
Plötzlich fühlt Ularik eine eisige Kälte in sich aufsteigen und sein Blick beginnt sich zu trüben. Er versucht, die Augen offenzuhalten, doch er ahnt, dass er sich bereits auf dem Weg zu dem schwarzen Gott befindet, dessen Namen man nicht ausspricht. Seine Sinne beginnen sich zu verwirren, denn plötzlich sieht er Demjéla neben sich stehen, deren Lippen Worte formen, die er nicht mehr versteht. Sie bewegt ihre Finger auf eine Art und Weise, die ihm bekannt vorkommen und dann glaubt er, ein helles grünes Licht zu sehen. Das Licht kommt aus den Händen der Gauklerin und fliegt auf ihn zu. Das ist das Letzte, was er sieht, ehe er vollends in die warme Dunkelheit sinkt.
Irgendwann kommt ein seltsam bekanntes Gesicht aus der Dunkelheit auf ihn zu. Er fragt sich, wer ihn hier in Goróns Reich begrüßen kommt. Mühsam versucht er sich zu erinnern. Es ist das Gesicht einer Frau. Nicht Demjéla, allen Göttern sei Dank! Er versucht, sich zu erinnern, doch es fällt schwer, sehr schwer.
Dann spricht die Frau zu ihm und er erkennt ihre Stimme. „Bleib ruhig liegen, Ularik. Alles ist gut. Wir haben ihn besiegt. Und dich bringen wir auch wieder auf die Beine.“
Die Schattenelfe. Ar’nehâli. Ist sie etwas auch …? Aber dann wird ihm bewusst, was sie gesagt hat. Er versucht, zu antworten, aber es gelingt ihm nicht.
„Noch nicht, Ularik“, sagt die Elfe. „Ein paar Stunden Ruhe musst du dir noch gönnen.“ Während er die Augen schließt, spürt er ihre Hände auf seiner nackten Brust und wie ein neuer Energiestrom in ihn hineinfließt. Ruhig wird er und müde.

Helles Sonnenlicht blendet ihn. Er fühlt sich schwach und erschöpft, aber er weiß jetzt, dass er lebt. Sein Blick schweift durch den Raum. Er befindet sich im Erdgeschoss des Turmes und liegt auf einem weichen, sauberen Bett. Mühsam versucht er sich aufzurichten, doch eine Hand hält ihn sanft zurück. „Warte, ich hole Ar’nehâli“. Es ist die Stimme der jungen Gauklerin.
Nur Augenblicke später taucht das Gesicht der Pon’jevala wieder über ihm auf. „Na, bist du wieder bei uns?“ fragt sie und ein trauriges Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. Er nickt schwach und setzt sich auf. Ar’nehâli hilft ihm dabei. „Jerémias?“ Seine Stimme klingt wie brechendes Holz. Die Elfe reicht ihm einen Becher und flößt ihm etwas Flüssigkeit ein. „Lebt nicht mehr“, sagt sie dann.
„Ar’nehali kam gerade rechtzeitig und hat ihn mit ihrem Säbel zum Schwarzen befördert, wo er hingehört!“ Ein junger Mann erscheint neben der Pon’jevala und Ularik erinnert sich, ihn gesehen zu haben, kurz bevor er das Bewusstsein verlor. Die Elfe wirft dem Fremden einen liebevollen Blick zu und meint dann, zu Ularik gewandt: „Das ist Dánilo. Mein Freund aus Drohan.“
„Wohl mehr als nur ein Freund.“ Jetzt steht auch Demjéla neben dem Bett und Ularik bemerkt staunend, dass sich das Gesicht der Pon’jevala mit einer leichten Röte überzieht.
Dann sieht der Magier sich um. „Rysgar?“ Stille breitet sich aus und er sieht, wie sich alle drei Gesichter schlagartig verdüstern. In Demjélas Augen blinken Tränen.
„Er hat uns den Rücken gedeckt“, sagt Dánilo dann. „Ar’nehali und er kamen in das Verließ gestürzt, und noch während er die Gittertüren aus den Angeln riss um uns zu befreien, brach die Horde der Bestien aus der Tiefe hervor. Ar’nehali versuchte, die Monster niederzustrecken, aber sie hatte nicht genügend Pfeile.“
„Wir haben gleich alles ergriffen, was irgendwie als Waffe dienen konnte und uns verteidigt“, fällt ihr jetzt wieder Dánilo ins Wort. „Aber es waren zu viele. Dann hat der Hüne mir plötzlich sein Jam‘kar in die Hand gedrückt und gebrüllt, wir sollten uns alle hinausscheren, und dann, dann…“
„Dann hat er seine Axt wirbeln lassen, wie ich es noch nie gesehen habe.“ Ar‘nehâli kämpft mit sich, setzt dann aber fort. „Er hat uns keine Wahl gelassen. Regelrecht hinausgetrieben hat er uns. Und dann hat er begonnen, mit der Axt auf die Säule mitten im Raum einzuschlagen. Da erst habe ich begriffen, was er vorhatte.“
„Es war die einzige Möglichkeit, die Bestien aufzuhalten.“ Im Gegensatz zur Stimme der Pon’jevala klingt die Dánilos fest und stark. „Wir waren kaum draußen, nur eines dieser Monster konnte uns noch folgen, da krachte das ganze Haus in sich zusammen.“
„Rysgar hat sich für uns geopfert.“ Demjéla spricht leise und mit tränenerstickter Stimme. „Ar’nehâli hat das letzte entkommende Monster erschlagen während Dánilo uns zu Hilfe gekommen ist.“
„Die Menschen?“ fragt Ularik leise.
Dánilo schließt kurz die Augen und antwortet dann: „Viele sind von den Bestien da unten noch zerrissen worden und die, die überlebten, sind in die Sümpfe geflüchtet. Ich hoffe, dass sie es in ihre Dörfer schaffen werden.“
Dann sieht die Pon’jevala ihre Gefährten an. „Er muss jetzt noch etwas schlafen. Wir bleiben noch eine Nacht hier und morgen früh brechen wir auf.“

Am Abend des nächsten Tages sitzen sie auf einem Steg am Ufer des Sees in Drohan und blicken in Richtung der Sümpfe, über denen noch immer eine schwarze Rauchfahne weht. Brandgeruch treibt zu ihnen herüber.
Ar'nehâli, die sich in die Arme Dánilos schmiegt, fragt leise: "Warum bist du eigentlich noch mal zurück und hast den Turm in Brand gesteckt?"
Der Magier, sichtlich geschwächt und noch immer leichenblass, sagt stockend, als müsse er bei jedem Wort neu über eine Antwort nachdenken: "Von diesem Turm soll nie wieder eine Gefahr für das Land hier ausgehen. Das Labor und vor allem der Codex Borealis mussten vernichtet werden. Soll sich die Natur nun zurückerobern, was ihr gehört."
In das Schweigen hinein, das sich nach diesen Worten ausbreitet, fragt Dánilo nach einer Weile: "Ihr wollt morgen schon aufbrechen?"
Ularik sieht Demjéla an und die junge Frau nickt ernst. "Ich halte das nicht für gut" sagt Ar'nehâli dann. "Bis Ularik wieder hergestellt ist, können Monde vergehen. Natürlich kann ich euch Kräuter und Tränke mit auf den Weg geben, aber seine Kraft wird nicht reichen und auf magische Energie wird er noch länger verzichten müssen."
Demjéla antwortet an seiner Stelle. "Wir schaffen das schon, Ar'nehâli. Außerhalb der Sümpfe und des Schattenwaldes droht uns keine Gefahr. Wenn ihr uns zwei gute Pferde überlasst, sind wir in ein paar Tagen wieder bewohnten Gebieten, wo wir jederzeit Unterkunft und Hilfe finden können."
Die Schattenelfe zuckt die Schultern und wendet ihr Gesicht Dánilo zu. "Wir können ihnen nur unsere Gastfreundschaft anbieten, aufhalten können wir sie nicht, denke ich." Der junge Mann nickt und sagt ernst: "Wir begleiten euch auch gern bis zu dem Gehöft, wo ihr die Pferde aus Hamira untergestellt habt."
Doch die Beiden schütteln gleichzeitig die Köpfe. "Wir danken euch", sagt Ularik mit schwacher Stimme, "aber das wird nicht nötig sein. Wir stehen so schon tief in eurer Schuld." Er blickt die Pon'jevala an und setzt mit einem leichten Lächeln hinzu: "Jetzt hast du mir schon zum zweiten Mal das Leben gerettet, und wieder wird es an mir sein, eine Schuld zu begleichen."
Lange blickt Ar'nehâli ihn schweigend an, dann schaut sie in Demjélas Augen und diese nickt, kaum merklich. Und während die Sonne untergeht und den Horizont in blutrotem Glanz erstrahlen lässt, sagt die Schattenelfe leise: "Ich wäre dieses Mal zu spät gekommen, Ularik. Dein Leben verdankst du einer Anderen."
Verwirrt starrt der Magier sie an. "Aber, du", und während Ar'nehâli den Kopf schüttelt, schießen Bilder durch seinen Kopf, die er bereits vergessen hatte. Er sieht jetzt die junge Gauklerin an, die neben ihm sitzt und seinen Blick erwidert. Er greift ihre Hände und zieht sie vor sein Gesicht. "Deine Hände", sagt er und ringt um Fassung. "Licht habe ich gesehen, heilende Energie. Aber wie um Alles in der Welt ... ?" Er sieht das Mädchen fragend an.
Sie lächelt schwach und zuckt mit den Schultern. "Ich hab' dir doch schon in Hamira gesagt, dass ich auch etwas Magie beherrsche."
Verständnislos schüttelt der Magier den Kopf. "Ich verstehe das nicht" stammelt er. Sie atmet tief durch und fragt dann: "Sagt dir der Name Herrenberg etwas? Dánilo Herrenberg?"
Ularik nickt. Irgendwann hat er diesen Namen schon einmal gehört. Aber wann? Und Wo? Und plötzlich fällt es ihm ein. Alles ist auf einmal klar, und deutlich ziehen Bilder aus der Vergangenheit an ihm vorbei. Er blickt von Demjéla zu den anderen Beiden und dann wieder in das Gesicht der jungen Gauklerin. Er weiß jetzt, was ihm an ihrem Gesicht, ihrem Lächeln, so vertraut vorkam, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen.
„Dánilo Herrenberg. Das ist der Name, der mir letztens nicht eingefallen ist", sagt er leise. "Er war der Dritte im Bunde mit Jerémias und mir. Ihn hatte ich erwartet, dort zu treffen." Sein Blick geht hinüber über den Sumpf, wo der Rauch fast nicht mehr zu erkennen ist bei der herabsinkenden Dunkelheit.
"Mein vollständiger Name ist Demjéla Herrenberg", sagt die Gauklerin und zieht Ulariks Hände in ihren Schoß, während sie ihn ansieht. „Dánilo ist mein großer Bruder. Auch ich hatte gehofft, in hier zu finden." Sie blickt hinüber zu dem jungen Mann und Ar'nehâli. "Aber leider war er es nicht." Als sie zurück zu Ularik schaut, blitzen ihre Augen feucht. Sie wischt die Tränen mit einer Hand weg und spricht dann weiter: "Wir entstammen dem ältesten Magiergeschlecht Zarkistans. Ich war noch ein kleines Kind, als mein Bruder das Studium an der Magierburg von Darrenberg aufgenommen hat. Aber immer, wenn er zu Hause war, hat er mir etwas beigebracht. An deinen Namen kann ich mich gut erinnern, denn Dánilo hat oft von dir erzählt. Eines Tages, ich war am nahen Fluss spielen", sie unterbricht sich und blickt zum Dorf hinüber, von wo helles Lachen und das Weinen eines kleinen Kindes herüberdringt, "brach plötzlich ein Feuer in unserem Anwesen aus. Unsere Eltern sind beide darin ums Leben gekommen. Bis heute kann mir niemand sagen, wie dieser Brand entstanden ist." Als Ularik wieder nach ihren Händen greift, lehnt sie ihren Kopf an seine Schulter. "Wir hatten keine Verwandten, die für die Studiengebühren aufkommen konnten, also musste Dánilo die Magierburg verlassen. Bei Nachbarn, die mich aufgenommen hatten, wartete ich auf ihn. Aber er ist nie nach Hause gekommen. Irgendwann bin ich dann weggelaufen und seitdem bin ich auf der Suche nach ihm."
Ein leises Schluchzen entringt sich ihr und der Magier nimmt sie sanft in die Arme. "Du hast keinen Hinweis, was aus ihm geworden ist oder wo es ihn hin verschlagen hat?" Ein heftiges Kopfschütteln ist ihre Antwort.
Schweigen breitet sich aus zwischen den Freunden und nur wenig später gehen sie langsam hinüber zu den Hütten. Hand in Hand. Dánilo und Ar'nehâli. Ularik und Demjéla.


PROLOG



Fünf Tage später erreichen Ularik vom Eulenstein und Demjéla Herrenberg das kleine Gehöft am Rande der Rosto LaI. Ihr erster Weg führt sie in den Stall. Erschöpft aber glücklich, schmiegt sich die junge Frau an ihren geliebten Arajo. Das Pferd wiehert begeistert und stupst seine Nase immer wieder an ihren Hals.
Während der Bauer sich um die beiden Pferde kümmert, bringt Ularik, den die Tränke und Salben der Pon’jevala wenigstens körperlich bei Kräften gehalten haben, ihr Gepäck hinauf in die Kammer, wo sie heute übernachten werden. Dort öffnet er seine Satteltasche und blickt nachdenklich auf ein großes, rechteckiges, in dunkelblaues Tuch gehülltes, Bündel. Beinahe zärtlich streicht seine Hand darüber.
Als er Demjélas Schritte auf der Treppe vernimmt, schlägt er hastig die Klappe der Tasche zu und verschließt sie mit zitternden Händen.
Gerade, als er sich aufrichtet, betritt die junge Frau den Raum. Sie läuft auf ihn zu und schmiegt sich in seine Arme. Er sieht in ihre Augen und streicht mit beiden Händen durch ihr langes, seidiges Haar. Sanft drückt er sie an sich. Und während er die Wärme ihres Körpers in sich aufnimmt, fragt er sich, wie sie reagieren wird, wenn sie jemals erfährt, was er da in seiner Tasche mit sich führt und ob sie verstehen wird, warum er es mitgenommen hat.
Alles ist vereinbar und alles kann jedes sein, denkt er. Aber wieso hatte Jerémias den Codex Borealis und wo ist Demjélas Bruder? Vielleicht finden sie irgendwann eine Antwort auf ihre Fragen.


ANHANG



Galârien
ist eine Welt ähnlich der unseren, doch auch völlig anders. Sie besteht aus sieben landschaftlich und klimatisch völlig verschiedenen Zonen. Jedes dieser Gebiete wird von Menschen und anderen Geschöpfen bewohnt.
In Galârien werden acht Götter verehrt, von denen in jedem Gebiet und eine andere als Hauptgottheit angesehen wird.
Im Folgenden sind einige in der Geschichte vorkommende Begriffe erklärt. Eine vollständige Übersicht ist in Arbeit.

Balog
ein Längenmaß, entspricht 1.800 m

Gorden
ein Reitervolk der großen Steppe im Süden Galâriens

Hamira
Hauptstadt Galâriens, im Süden Rostoriens gelegen

Jam’kar
armlange Stabwaffe der Karishvari, ein Eisenstab in dessen beiden Enden scharfe Klingen verborgen sind

Jant
ein Längenmaß, entspricht 180 cm

Karishvari
Die Karishvaren leben in Familienverbänden oder kleinen Weilern weit verstreut in den Karishbergen hoch im Norden Galâriens. Sie meiden den Kontakt zu anderen Menschen und ganz besonders zu Elfen.

Kar’jevala
Eis-Elfen des Karishgebirges, das robusteste und einfachste Elfenvolk Galâriens, kaum ein Volk wird in Galârien mehr verachtet


Mâg’or
Kampfstab der Magier, etwa 1,80m lang, aus biegsamen Holz mit einem Eisenkern. Der Mâg’or ist in der Lage, die magischen Kräfte seines Besitzers zu bündeln und zu beschleunigen

Mart
ein Längenmaß, entspricht 60 cm

Pondarion
flaches, feuchtes Gebiet im Osten, mit vielen Seen und weiten, unwegsamen Sümpfen

Pon‘jevala
Schattenelfen, ursprünglich Auenelfen Pondarions, die sich ihren Lebensmittelpunkt in den Sümpfen und im Schattenwald gesucht haben

Rosto Lal
die weite Heide Rostoriens verdankt ihrem Namen den roten Blüten der Gräser

Rostoriens
im Zentrum Galâriens gelegen, hier gibt es die größte Konzentration von Städten und Menschen. Es ist gekennzeichnet von Hügeln und Heideland

Tiri Geol
große fruchtbare Ebene westlich von Rostorien, die Menschen hier leben hauptsächlich von
Ackerbau und Viehzucht

Zariobanas
zwei sichelförmige Klingen, die an den Handgelenken befestigt werden, hauptsächlich in Zarkistan gebräuchlich. Die Kampftechnik erinnert an einen schnellen, wirbelnden Tanz

Zarkistan
Landschaft zwischen den Karishbergen und Rostorien, vorrangig Mittelgebirge, hier sind der Bergbau und die großen Schmieden Galâriens angesiedelt

Impressum

Texte: Matthias Günther
Bildmaterialien: Matthias Günther
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Geschichten aus Galârien erscheinen in loser Folge. Sie sind in sich abgeschlossen und stehen in keiner zeitlichen Reihenfolge. Am Ende des Buches befindet sich ein kurzer Anhang mit Erklärungen einzelner Begriffe.

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