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Es war einmal ein kleines Mädchen, das Gaby genannt wurde. Gaby lebte mit ihrer Mutti und Großvater Hannes in einem kleinen Haus am Rande eines Dorfes und gleich hinter dem Haus begann der Wald.
Manchmal ärgerte sie sich darüber, dass sie weiter als die anderen Kinder zur Schule oder in den kleinen Laden im Dorf laufen musste, aber im Winter war es einfach schön, so nah am Wald zu wohnen. Oft kamen die Tiere des Waldes ganz nah an das Haus heran, weil Gabys Mutti immer etwas Futter bereitlegte, wenn der Schnee sehr hoch lag.
Und außerdem war ganz in der Nähe ein kleiner Hang, auf dem Gaby den ganzen Tag lang rodeln gehen konnte und sich dann gleich in der Stube aufwärmen und Opas tollen Kakao trinken konnte, ohne einen weiten Heimweg zu haben wie die anderen Kinder.
Eines Tages, es hatte die ganze Nacht geschneit, beschloss Gaby, einen Schneemann zu bauen. Ganz alleine rollte sie wunderschöne Schneekugeln und Opa Hannes half ihr nur beim Aufeinandersetzen der Kugeln. Er borgte dem Schneemann auch eine schöne alte Mütze und hob Gaby hoch, damit sie Augen und Mund aus kleinen Holzstückchen, die sie gesammelt hatte, anbringen konnte.
Die Mutti schenkte ihr eine dicke, rote Mohrrübe als Nase und half Gaby, sie im Gesicht des Schneemanns fest zu drücken.
Dann betrachtete Gaby stolz ihren schönen großen Schneemann und als sie das Lachen der anderen Kinder, das vom Rodelhang herüber schallte, hörte, lief sie ganz schnell ins Haus, um ihren Schlitten zu holen.
Als sie später nach Hause kam, hörte sie ein lautes Krächzen und Schäckern. Auf den Schultern ihres Schneemanns saßen ein Rabe und eine Elster. Diese veranstalteten den ganzen Krach. Sie hatten ihr Gefieder aufgeplustert und schüttelten die Köpfe. Gaby hatte Angst, dass die beiden Vögel ihrem Schneemann etwas tun könnten und lief ganz schnell auf ihn zu und rief: „Lasst ja meinen schönen Schneemann in Ruhe, ihr dummen Vögel!“ Dann erschrak sie darüber, denn so etwas Gemeines hatte sie noch nie gesagt und eigentlich liebte sie ja alle Tiere, auch den Raben und die Elster. Die beiden aber hörten sofort auf zu Krächzen und flogen ganz schnell davon.
Als Gaby vor dem Schneemann stand, sah sie unter seinen Augen lauter kleine blinkende Eiskugeln. Sie fragte erstaunt: „Warum weinst du denn, lieber Schneemann?“
Und auf einmal vernahm sie eine leise, ganz zart klirrende Stimme, die sagte: „Ich habe mich so gefreut, dass du mich gebaut hast, dass ich versucht habe, ein kleines Liedchen zu singen. Dann aber sind die beiden schwarzen Vögel gekommen und haben sich über mich lustig gemacht. Sie haben gesagt, ich hätte gar keine richtige Stimme und könne überhaupt nicht singen. Und dann haben sie nur gelacht und gelacht und gar nicht wieder aufgehört, bis du gekommen bist.“
„Das war aber gemein von den Beiden“, sagte Gaby. Sie umarmte den Schneemann, so gut sie konnte um ihn zu trösten. Dann beschloss sie, ihrem Freund zu helfen.
Inzwischen war es schon dunkel geworden und Gaby musste ins Haus. Ihre Mutti stand in der Küche und bereitete das Abendessen vor.
„Der Schneemann möchte gerne eine schöne, laute Stimme haben und den Vögeln zeigen, dass er richtig schön singen kann“, sagte Gaby, nachdem sie ihrer Mutti die ganze Geschichte erzählt hatte.
Daraufhin wischte sich die Mutti die Hände an ihrer Schürze ab und sah Gaby kopfschüttelnd an. Sie nahm das Kind in den Arm und sagte sanft: „Weißt du Gaby, Schneemänner haben gar keine Stimme oder vielleicht nur eine ganz, ganz leise. Daran kann man nichts ändern. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu schweigen. So ist das eben. Und wenn dein Schneemann dafür ausgelacht wird, so sind die beiden Vögel zwar gemein, aber damit muss er eben leben.“
Gaby wurde sehr traurig und beinahe hätte sie angefangen zu weinen. Sie nahm sich aber ganz fest zusammen und löste sich aus den Armen ihrer Mutti. Dann nickte sie. „Ist gut, ich werde es ihm so sagen“, meinte sie dann und lief aus der Küche.
Sie ging hinunter in den Keller, wo Opa Hannes eine kleine Werkstatt hatte, wo er fast jeden Abend stand und irgendetwas bastelte. Mal ein Spielzeug, mal was für den Haushalt oder er reparierte irgendwelche Sachen.
Als Gaby eintrat, legte er eine große Feile aus der Hand und hockte sich vor das Mädchen hin. „Na, Gaby, was hast du für Kummer?“ fragte er sie.
Sie erzählte auch ihm die ganze Geschichte und was die Mutti dazu gesagt hatte. Der Opa sah sie lange an und nickte dann. „Die Mutti hat schon Recht, Gaby“, sagte er dann. „Aber sag‘ deinem Schneemann auch, dass fast Alles möglich ist, wenn man es sich nur ganz toll wünscht und wenn man ganz fest daran glaubt, dass es gelingen kann.“ Dann strich er Gaby über das Haar und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Gaby lief daraufhin wieder nach oben, nahm schnell ihre Jacke vom Haken, zog sie an und lief noch einmal hinaus.
Sie schmiegte sich an ihren Schneemann und erzählte ihm, was die Mutti und der Opa ihr gesagt hatten.
Während sie so beieinander standen uns sich keinen Rat wussten, wurde es immer kälter und plötzlich hörten sie ein Raunen und Pfeifen und eine raue Stimme sagte: „Ich würde euch so gerne helfen, aber leider weiß auch ich nicht, wie.“
„Wer bist du?“ fragten Gaby und der Schneemann mit seiner leisen Stimme wie aus einem Mund. „Ich bin der eisige Wind“, sagte die raue Stimme. „Ich höre euch schon den ganzen Tag zu und habe mich auch über den Raben und die Elster geärgert. Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich euch helfen kann.“
In diesem Moment rief die Mutti Gaby zum Abendessen und das Mädchen ließ den Schneemann mit dem eisigen Wind allein.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück kam die Mutti in Gabys Zimmer. „Weißt du“, sagte sie, ich habe mir überlegt, womit du deinem Schneemann vielleicht eine Freude machen kannst. Ich habe gestern Abend noch ein kleines Lied geschrieben, dass er auch mit seiner leisen Stimme singen kann. Die Noten und der Text stehen hier drauf.“ Sie reichte Gaby ein Blatt, das in einer Klarsichthülle steckte. „Und die gemeinen Vögel sollen sich nur nicht trauen, wieder darüber zu lachen, sonst gibt’s drei Tage kein Futter, kannst du ihnen sagen!“
Gaby strahlte und drückte die Mutti ganz fest. Gerade wollte sie in den Garten laufen und dem Schneemann das Liedchen bringen, als Opa Hannes aus dem Keller kam. In der Hand hielt er ein seltsames Gebilde. An einem Brett hatte er mehrere dünne Eisenröhrchen mit Fäden befestigt. „Das ist ein Glockenspiel“, sagte er fröhlich. „Ich habe es für deinen Schneemann gebastelt. Wenn er vielleicht auch nicht singen kann, so macht es ihm bestimmt Freude, Musik zu machen.“
Gaby war überglücklich. Sie lief hinaus und drückte dem Schneemann die Geschenke ihrer Mutti und ihres Opas in die Arme. Auch der Schneemann strahlte übers ganze runde Gesicht.
Dann stellte sich Gaby vor dem Schneemann auf und klatschte in die Hände. „Na komm schon“, rief sie, „versuch‘ es!“ Doch nichts geschah. Der Schneemann sah auf das Notenblatt und brachte doch keinen Ton über die Lippen.
Und genau in diesem Augenblick kamen der Rabe und die Elster angeflogen. Sie setzten sich wieder auf die Schultern des Schneemannes und fingen sofort wieder an, ihn auszulachen.
Gaby kämpfte mit den Tränen. Sie war zu traurig und wütend um irgendetwas zu sagen. Da hörte sie auf einmal die raue und pfeifende Stimme des eisigen Windes. „Sei nicht traurig, Gaby. Denen werden wir es zeigen!“
Damit pustete er sanft auf das Glockenspiel und die Eisenstücke schlugen aneinander. Es dauerte eine Weile, aber dann war ganz deutlich eine feine und sanfte Melodie zu hören.
Die beiden Vögel stellten sofort ihr Gelächter ein und starrten verdutzt auf den Schneemann und das sich leicht bewegende Glockenspiel. Und dann hörte Gaby plötzlich die zarte, kristallklare Stimme ihres Schneemanns, die den Text ihrer Mutti zu der Melodie sang. Sie war zwar immer noch leise, aber deutlich und klar zu hören.

Die beiden Vögel waren längst weggeflogen, als sich in die Stimme des Schneemanns auch die Stimmen von Gabys Mutti und Opa Hannes mischten. Gaby rannte zu ihrem Freund und drückte ihn. „Siehst, du“, flüsterte sie, „ich hab gewusst, dass wir es schaffen!“

Impressum

Texte: Matthias Günther
Bildmaterialien: Alaska1984
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Frau Gabriele

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