Perizad hockte mit angezogenen Knien vor dem Eingang des Zeltes und genoss in vollen Zügen die Kühle der Abendluft. Nur noch wenige Minuten und die eisige Kälte der Nacht würde über die Wüste hereinbrechen. Das Märchen vom Wasser des Lebens
Die junge Frau ließ ihren Blick über die wenigen Zelte schweifen und lauschte. Hatte da ein Pferd gewiehert? Kam endlich einer der Reiter zurück? Sie schüttelte den Kopf. Nein, da war Nichts außer dem leichten Pfeifen des Windes.
Bis vor wenigen Tagen noch hatte sie ihr Leben als Kinderfrau des kleinen Prinzen im Palast des Kalifen als das größte Glück im Leben angesehen und nun verfluchte sie es.
Seit Jahren führte Kalif Harun einen erbitterten Krieg. Bis an die Mauern seiner Stadt waren die Feinde vorgedrungen. Die Armee des Kalifen war zum Glück gerade rechtzeitig eingetroffen, um die Stadt vor der Einnahme und der endgültigen Niederlage zu bewahren.
Als seine Krieger die letzten Feinde in die Wüste jagten, hatte der Kalif beschlossen, sich der Verfolgung mit einem Teil des Hofstaates anzuschließen um das Ende des Krieges aus nächster Nähe mit zu erleben.
Doch als sei Allah auf der Seite seiner Feinde, verdunkelte sich am zweiten Tag in der Wüste der Himmel und ein Sandsturm brach los, wie ihn auch die Erfahrensten unter den Leuten des Kalifen noch nie erlebt hatten.
Tagelang tobte der Sturm, trennte sie vom Rest des Heeres und nahm ihnen jede Orientierung. Als der Sturm sich legte, stellten sie fest, dass auch ihre Führer die Gelegenheit genutzt hatten zu fliehen oder allesamt umgekommen waren.
Einen Tag später war Tahir, der Sohn des Kalifen, von einem Skorpion gestochen worden und lag seit dem in einem heftigen Fieber. Der Leibarzt des Kalifen tat alles in seinen Kräften stehende, um den Jungen am Leben zu erhalten. Aber es schien vergebens.
Als ein leichter Windhauch an Perizads Gewand zog, stand sie auf, zog ihren Umhang fester um die Schultern und stampfte missmutig mit einem Fuß auf den Boden. Feiner Sand drang unter ihre Kleider und hinter den Schleier.
Sie hasste den Wind!
Sie hasste den Sand!
Sie hasste die Wüste!
Als sie wenig später das von nur zwei Öllampen erhellte Zelt wieder betrat, nahm sie zuerst die massige Gestalt des Kalifen war, der auf seinem Diwan hockte, die Hände vor das Gesicht geschlagen.
Der Leibarzt saß immer noch neben dem Lager des kleinen Tahir und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Könnt ihr nichts mehr für ihn tun?“ Fragte Kalif Harun mit bebender Stimme.
„Mit dem Gift würde ich fertig werden, Gebieter, aber wir haben kein Wasser mehr!“ Antworte der Arzt leise. „Nicht nur der Junge wird sterben, Herr – aber er zuerst.“
Der Kalif sprang auf, verschränkte die Arme vor der Brust und rief: „Schickt Reiter aus! Sie müssen Wasser finden! Sofort!“
„Verzeiht Gebieter“, sagte Perizad und verneigte sich tief, „es sind keine Reiter mehr im Lager. Ihr habt alle bereits vor Tagen ausgesandt.“ Sie seufzte. Zuletzt war der junge Reyhan aufgebrochen, fast selbst ein Kind noch. Aber keiner war zurückgekehrt.
Der Kalif nickte stumm und ließ sich zurück auf sein Lager sinken. Dann vergrub er wieder das Gesicht in den Händen und rührte sich nicht mehr.
Der Arzt zog sich in den Hintergrund des Zeltes zurück und ließ sich ebenfalls auf sein Lager sinken.
Statt seiner nahm nun Perizad den Platz an der Seite Tahirs ein. Trotz der beginnenden Kühle im Zelt glühte sein Gesicht. Doch sein schmaler, kleiner Körper zitterte heftig. Perizad zog eine dünne Decke über den Jungen und steckte sie unter seinem Leib fest. Tahir öffnete die Augen und sah Perizad an.
„Erkennst du mich, Tahir?“ Fragte sie. Nur ein leichtes Nicken kam als Antwort. Dann wollte der Junge etwas sagen und die junge Frau musste sich ganz dicht zu ihm herunterbeugen um ihn zu verstehen.
„Ein Märchen, Perziad. Erzähl mir ein Märchen. Bitte!“ Perizad erschauerte. Noch nie hatte der junge Prinz „Bitte“ zu ihr gesagt!
Sie überlegte kurz, nahm seine Hand, die ebenfalls wie Wüstensand am Tage glühte, und begann zu erzählen:
Von seiner siebenten Reise brachte Sindbad der Seefahrer seine wunderschöne Frau Farida mit nach Bagdad. Sie lebten glücklich in seinem großen Haus und bald schon gebar Farida ihm einen kleinen Sohn, den sie Ataallah nannten.
Die Jahre gingen ins Land und Sindbad sorgte als Kaufmann dafür, dass es seiner Familie an nichts fehlte.
Doch wie es so zugeht in der Welt, waren ihm nicht alle Menschen wohl gesonnen. Unter den Kaufleuten Bagdads gab es einen Mann namens Numair der ihm seinen Erfolg, seinen Wohlstand und wohl auch seine hübsche junge Frau neidete.
Eines Tages beschloss Numair, Sindbad zu töten. Er lud ihn in sein Haus ein und bewirtete ihn mit vergifteten Feigen.
Bereits am Abend lag der große Sindbad im Sterben. Unter Krämpfen und starken Schmerzen nahm er Abschied von Frau und Kind. Farida weinte bittere Tränen und hielt verzweifelt seine Hand. „Können wir denn nicht mehr für Vater tun?“ Wollte Ataallah wissen. Seine Mutter seufzte tief und meinte, wohl nur das Wasser des Lebens könne ihn noch vor dem Tode bewahren. „In meiner Heimat sagen die Menschen der Brunnen, aus dem das Wasser des Lebens fließe, befinde auf einem hohen, steilen Berg im Hofe eines geheimnisvollen Schlosses. Nur sei es bisher noch keinem Menschen gelungen, den Berg zu ersteigen und das Schloss zu betreten. Wo sich dieser Berg aber befindet, konnte mir niemand sagen.“
Ataallah bat daraufhin seine Mutter, das Wasser des Lebens holen zu dürfen. Da er es sich gar nicht ausreden ließ, erlaubte sie es dann endlich auch.
Der Junge packte schnell ein paar Sachen zusammen, küsste Mutter und Vater und machte sich auf den Weg.
Als erstes musste er die große heiße Wüste durchqueren. Ataallah wusste selbst nicht wie, aber seine Füße trugen ihn immer weiter und weiter. Mitten in der Wüste bemerkte er auf einmal zwischen all dem gelben Sand einen großen, dunkelbraunen Fleck. Als der Junge sich ihm näherte, sah er, dass es sich um einen riesigen Vogel handelte. Das muss der Vogel Rokh sein, von dem Vater mir erzählt hat, dachte Ataallah. Er ging vorsichtig nah an das Tier heran und plötzlich öffnete der Vogel seine großen schwarzen Augen. Mit leiser Stimme sagte er, dass er zu weit von seinem heimischen Nest abgekommen sei und sich verirrt habe. Ataallah erkannte, dass es sich um einen ganz jungen Vogel Rokh handelte, der jetzt kraftlos und völlig erschöpft vor ihm im Wüstensand lag.
Mitleidig öffnete der Junge seine Tasche und suchte die letzten Stücke trockenes Obst hervor. Mit diesen fütterte er den riesigen Vogel und flößte ihm auch noch einen Schluck Wasser aus seinem Trinkschlauch in den Schnabel.
Während der Vogel Rokh sich kurz darauf erhob und mit gewaltigen Flügelschlägen in den Himmel stieg rief er Ataallah zu: „Mein wahrer Name ist Shatrevar! Erinnere dich, wenn du einmal in großer Not bist, und ich werde dir helfen, so wie du mir geholfen hast!“
Sein Vater hatte Ataallah zwar immer wieder vom Meer erzählt, aber so richtig hatte er es sich nie vorstellen können. Als der Junge nun das Ende der Wüste erreicht hatte, kam er an den endlosen Strand des Meeres. Ihm fielen vor Staunen bald die Augen aus dem Kopf, denn so viel Wasser hatte er noch nie gesehen!
Wie er so in Gedanken den Strand entlangwanderte, trat er auf einmal in eine kleine Wasserlache. Und als er nach unten blickte, nahm er ein winziges Fischlein wahr, das zappelnd in der Pfütze lag. Ataallah bückte sich, nahm den kleinen Fisch in die Hand und warf ihn zurück in das Meer.
Plötzlich wuchs der Fisch zu gewaltiger Größe an und ehe er untertauchte, meinte der Junge im Rauschen der Wellen eine Stimme zu hören, die sagte: „Wer in den Spiegel sieht, dem wird die Wahrheit gezeigt. Wer reinen Herzens ist, erkennt sie auch.“
Irgendwann erreichte Ataallah schließlich einen riesigen Olivenhain. Der erstreckte sich soweit das Auge des Jungen blicken konnte. Inzwischen war sein Hunger gewaltig geworden, denn sein letztes Obst hatte er ja schon vor langer Zeit dem Vogel Rokh gegeben.
Aber der Olivenhain war von einer Mauer umgeben, die so hoch war, wie Ataallah selbst. Doch die Mauer schien nicht aus Lehm oder Steinen zu bestehen, sondern aus schillernden Schuppen. Da begriff Ataallah, dass der Hain vom Drachen Thu’ban bewacht wurde, von dem seine Mutter ihm erzählt hatte. Er beschloss, solange zu laufen, bis er den Kopf des Drachen fand, um ihn um zu bitten, ihm Durchgang zu gewähren.
Lange bevor er dort angekommen war, hörte er ein lautes Heulen und Wimmern. Das Gesicht des Drachen war schrecklich verquollen und seine Augen voller Tränen. Er habe die schlimmsten Zahnschmerzen der Welt, erklärte Thu’ban. „Hilf mir, Ataallah, und reiße mir den faulenden Zahn aus dem Rachen!“ Bat ihn der Drachen.
Ataallah fürchtete sich schrecklich davor, in das riesige Mal Thu‘bans greifen zu müssen, denn zu leicht könnte er seinen Arm verlieren oder mit Haut und Haar gefressen werden. Dann aber käme für seinen Vater jede Hilfe zu spät. Trotzdem nahm er schließlich seinen Gürtel, knotete ihn am bösen Zahn des Drachen fest und zog ihn mit einem heftigen Ruck heraus.
Dafür gewährte ihm Thu’ban den Durchgang durch den Olivenhain. „Unter der Bedingung aber“, sagte der Drache, „dass du keine einzige Frucht von den Bäumen essen darfst. Vom letzten Baum allerdings sollst du drei Oliven pflücken und mit diesen die linke Tür ölen.“ Obwohl Ataallah nicht verstand, was der Drache damit meinte, tat er wie geheißen.
Völlig erschöpft kam Ataallah schließlich an einen Berg, der so hoch war, dass sein Gipfel in den Wolken verschwand. Der Junge fühlte, dass dies der Berg sein musste, auf dessen Gipfel das Wasser des Lebens zu finden sei. Doch wie sollte er hinaufkommen? Kein Weg und kein Steg führten nach oben. Der schwarze Fels war glatt und ohne Vorsprünge oder Risse an denen er hätte nach oben klettern können. Völlig verzweifelt und entkräftet schlug er mit seinen Fäusten an den Stein und rief: „Shatrevar, große Vogel Rokh, hilf mir bitte, wie ich dir geholfen habe!“
Er vernahm ein gewaltiges Rauschen und wenig später wurde er von großen Klauen gepackt und nach oben getragen.
Der riesige Vogel setzte ihn auf dem Gipfel des Berges ab. „Meine Schuld sollte damit beglichen sein. Lebe wohl, Ataallah, wir sehen uns bestimmt nie wieder!“ Mit diesen Worten entschwand er nach unten in die Wolken.
Hier oben strahlte die Sonne noch gleißender und unbarmherziger als in der Wüste. Ataallah schleppte sich stundenlang über heißen, schwarzen Stein und kam endlich an das von einer hohen Mauer umgebene Schloss.
Er fand den Eingang, doch versperrten drei Tore seinen Weg. Soviel er auch klopfte und an den Klinken rüttelte, keine der Türen öffnete sich für ihn. Schließlich fiel ihm der Rat des Drachen Thu’ban ein. Er nahm die drei Oliven aus der Tasche und zerdrückte sie an den Angeln des linken Tores. Wie von Zauberhand sprang es sogleich auf und der Junge gelangte in den weiten Hof des Schlosses. An der Wand des Schlosses fand er drei Brunnen vor, deren Wasser in große steinerne Schalen sprudelte.
Wie sollte er nur den mit dem Wasser des Lebens herausfinden? Er beschloss, von jedem der Brunnen einen Schluck zu nehmen und zu sehen, was passieren würde. Als er sich über den ersten beugte, erschaute er sein Spiegelbild im Wasser. Dann begann das Bild langsam zu zerfließen und am Boden des Brunnens erblickte er einen bleichen Totenschädel. Ataallah schrak entsetzt zurück. Dies schien nicht das Wasser des Lebens zu sein!
Als er in den zweiten Brunnen blickte, gewahrte er irgendwann den Basar von Bagdad in seiner ganzen Pracht und Lebensfreude auf dem Grund. Das könnte wohl ein Symbol des Lebens sein, dachte der Junge.
Doch als er in den dritten Brunnen schaute, spiegelte sich nicht sein Gesicht darin, sondern das lächelnde und junge Gesicht seines Vaters erschien ihm. Das musste der richtige Brunnen sein!
Ataallah füllte seinen Trinkschlauch mit dem Wasser aus diesem Brunnen. Ob er sich etwas in dem prächtigen Schloss umsehen könnte, bevor er sich auf den Heimweg machte? Bestimmt gäbe es da wundersame Dinge zu sehen, dachte Ataallah. Vielleicht wartete auch eine wunderschöne Prinzessin auf Erlösung. Doch gerade als der Junge das Schloss betreten wollte, machte sich wieder seine Erschöpfung bemerkbar und so beschloss er zur Stärkung einen Schluck aus dem mittleren der drei Brunnen zu nehmen.
Mit beiden Händen schöpfte er etwas Wassers aus dem Brunnen. Doch sobald das kühle Nass seine Lippen benetzte, dreht sich alles um ihn herum und ihm wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er wieder zu sich kam, stand er mitten auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt Bagdad, nur wenige Schritte vom Haus seiner Eltern entfernt. Gerade noch rechtzeitig konnte er am Lager seines Vaters niederknien und ihm das Wasser des Lebens reichen.
Sindbad war bald wieder genesen und lebte noch viele Jahre glücklich und gesund mit seiner geliebten Farida und Ataallah, seinem tapferen Sohn.
Numair aber verschwand aus der Stadt und niemand hat ihn jemals wieder dort gesehen. Es geht die Rede unter den Menschen, der Thu’ban hätte ihn geholt.
Nachdem Perizad ihre Erzählung beendet hatte, merkte sie, dass Tahirs Hand kühler geworden war. Als sie ihm ins Gesicht sah, stellte sie fest, dass auch daraus die Hitze verschwunden war. Ein glückliches Lächeln wollte sich auf ihrem Gesicht ausbreiten, als Tahirs kleine Hand aus ihrer rutschte und kraftlos zu Boden fiel.
Perizad schrie leise auf und Tränen flossen über ihre Wangen. Stumm trat der Leibarzt zu ihnen und Kalif Harun sank neben seinem Sohn auf die Knie. Lange versuchte der Arzt umsonst, Lebenszeichen zu finden. Dann schüttelte er den Kopf.
In diesem Augenblick wurde der Vorhang des Zelteinganges bei Seite gezogen und der junge Reyhan taumelte herein. Bevor er am Lager des Prinzen ohnmächtig zu Boden sank, reichte er Perizad einen prall gefüllten Wasserschlauch. Vorsichtig öffnete sie Tahirs Mund und goss etwas Wasser hinein.
„Das Wasser des Lebens, mein Prinz“, flüsterte sie. „Trinkt!“ Wasser floss aus den Mundwinkeln des Jungen auf das Lager und Perizad schluchzte laut auf. „Bitte trink, Tahir!“ Flehte sie. Nach einer schier endlos erscheinenden Zeit ging ein sanftes Beben durch den Körper des Jungen. Er schluckte heftig und trank dann langsam und gehorsam von dem Wasser, das Perizad ihm nach und nach einflößte.
Reyhan hatte keine Oase gesucht, wie der Kalif ihm aufgetragen hatte, sondern den Weg zurück zur Stadt. Er hatte ihn gefunden und so konnten sie alle, nachdem sie sich etwas erholt hatten, dorthin zurückkehren..
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Märchen ist Teil der Kurzgeschichtenausschreibung "Märchen aus 1001 Nacht"
vom 25.11.2010 bis 06.11.2011