Der Pilot des Wega-Kampfschiffes der Delta-Klasse starrte gebannt auf den Monitor vor sich. Friedlich sah der Raumsektor vor ihm aus. Verdammt friedlich. Viel zu friedlich für seinen Geschmack. Zwar waren jede Menge Schiffe hier unterwegs, immerhin handelte es sich um einen dicht besiedelten Sektor, aber von seinen Verfolgern weit und breit keine Spur!
Auch das Radar zeigte nichts Verdächtiges. Dabei hatte er sie vor wenigen Minuten noch gesehen! Einen kleinen, wendigen aber schwer bewaffneten Kreuzer der ersianischen Flotte und ein gigantisches Schlachtschiff der Polygonier, blutrünstigen, nur auf Kampf und Vernichtung orientierten Raumpiraten!
Er hatte das Gefühl, für einen Moment nicht aufgepasst zu haben, bevor die beiden fremden Schiffe vom Radarschirm verschwanden. Wo können sie sich in diesem Sektor verstecken? Der Polygonier konnte vielleicht eine Tarnmöglichkeit haben, um nicht von einem normalen Radar erkannt zu werden. So genau kannte er die technischen Möglichkeiten dieser Klasse nicht. Aber der Ersianer musste zu finden sein!
Vorsichtig steuerte der Pilot sein Schiff durch den Raumsektor. Er gab Befehl, alle Geschütze feuerbereit zu machen. Sollte einer der Gegner auftauchen, musste er sofort reagieren können.
Dann tippte er auf seiner Konsole einen kurzen Befehl ein und rief sich damit die Karte des Raumsektors auf den Bildschirm. Sorgfältig verglich er sie mit der Anzeige des Radars. An der Stelle, wo er die beiden Verfolger letztmalig gesehen zu haben glaubte, gab es nur wenige Flugbewegungen im Raum. Ein großer rotglänzender, aber unbewohnbarer Planet, in dessen Orbit eine Raumwerft und eine andere Werkanlage kreisten. Von denen ging wohl keine Gefahr aus.
Einen Moment hatte er den Gedanken, dass die Verfolger auf dem Planeten gelandet sein könnten. Aber das wäre sinnlos gewesen, hätte es ihm doch die Chance gegeben zu fliehen. Und das würden sie bestimmt nicht zulassen. Nicht dieses Mal!
Obwohl er das Gefühl nicht los wurde, dass ihm Gefahr drohte, beschloss er, sich diese Gegend des Sektors näher anzusehen. Da hier nur wenige Raumschiffe unterwegs waren, würde er seine Gegner rechtzeitig ausmachen und zur Not rechtzeitig fliehen können, denn in unmittelbarer Nähe der Raumwerft befand sich auch das Aldebaraner Sprungtor dieses Systems. Vorsichtshalber gab er schon mal die Daten für einen Notsprung in ein anderes System in die Konsole ein.
Während er auf den Planten zuflog, nahm er aus den Augenwinkeln ein blinkendes Aufleuchten an der Raumwerft wahr. Das zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Langsam öffnete sich das Gate des Hangars. Es war nichts zu sehen. Die Schleuse war dunkel. Wahrscheinlich war das Schiff noch im Hangar.
Aber dann schoss es urplötzlich aus der Schwärze der Schleuse. Aus allen Rohren feuernd, donnerte der ersianische Kreuzer auf ihn zu. Verfluchter Mist! Eher der Pilot den Feuerbefehl geben konnte, wurde sein Schiff mehrfach getroffen. Wütend drehte er dem Feind die andere Seite zu und feuerte alle Waffen auf ihn ab. Die Geschosse schlugen ein und machten das gegnerische Schiff sofort manövrierunfähig. Bloß gut, dass sein Schiff eine gute Panzerung und stärke Waffen als dieser Gegner hatte, frohlockte er.
Doch dann sah er ein riesiges Loch in der Bordwand der Ersianer aufklaffen. Eine mächtige Laserkanone musste ihn getroffen haben. Das war das Ende des Schiffes. Über die Interkom-Anlage vernahm er den wütenden und entsetzten Aufschrei dessen Piloten, dann brach das kleine Schiff in der Mitte auseinander. Zwei weitere Laserstrahlen zerfetzten es gänzlich.
Dann erst wurde dem Piloten des Wega-Kampfschiffes klar, was das bedeute. Entsetzt blickte er auf den Radarschirm. Direkt hinter sich nahm er jetzt die riesigen Umrisse des polygonischen Kampfschiffes wahr. Ihm wurde klar, dass auch er keine Chance mehr hatte. Die diesem Gegner zugewandte Bordseite war durch den Treffer des ersianischen Gegners beschädigt und die Bewaffnung kaum noch zu gebrauchen. Die Waffen der anderen Bordseite mussten erst neu geladen werden. Und ehe er sein Schiff in eine günstige Angriffsposition gebracht hätte… Er startete die Triebwerke und versuchte in Richtung Sprungtor zu fliehen. Gerade wollte er die Sprungtaste mit den eingespeicherten Koordinaten drücken, als er die Stimme des Piloten des polygonischen Schiffes in seinem Interkom vernahm. „Lass es sein, Art, du weißt dass das zwecklos ist. Du bist hinüber!“ In diesem Augenblick trafen die Strahlen der drei riesigen Laserkanonen sein Kampfschiff und verwandelten es in einen kleinen Haufen glühenden Raumschrott.
Sekunden später war das Bild auf dem Monitor der normalen Kommunikationsoberfläche gewichen und die Bilder von Paul und Jerome erschienen darauf. Der erstere blickte auffällig wütend und sein Gesicht hatte eine leichte Zornesröte angenommen. Der andere grinste selbstgefällig. „Na, hab‘ ich euch mal wieder plattgemacht? Ihr werdet es wohl nie lernen!“ „Du Verräter“, knurrte Paul ihn an. „Du hast gesagt, wir arbeiten zusammen und stellen ihm eine Falle! Und der Erste, den du abknallst bin ich!“ Jerome zuckte grinsend die Schultern. „Ergab sich halt so. Du hast ihm die eine Seite kampfunfähig gemacht und er dreht die auch
noch die andere hin und feuert sie ab! Art, wie blöd kann man sein? Das war einfach perfekt. Du konntest mir nicht mehr gefährlich werden, also hab‘ ich erst mal Paul ausgeschaltet – leichtes Spiel übrigens bei diesem ersianischen Billigkreuzer – Tja, und du warst ja kein Problem mehr!“
„Ich kenn mich mit ersianischen Schiffen nun mal am Besten aus“ maulte Paul. „Naja, theoretisch vielleicht“ entgegnete Jerome. „Und du Art bist nicht so ganz bei der Sache gewesen, was?“ fragte er dann. „Hast ganz schön geträumt. Aber du wärst gar nicht mehr rausgekommen, weißt du? Es war mir klar, dass du wieder abhauen würdest. Deswegen habe ich einen unaufmerksamen Moment von dir genutzt und habe erst zwischen diesem schönen großen Planeten und dem Sprungtor auf dich gewartet. Aber als du deine geschätzte Aufmerksamkeit dann auf Pauls Versteck gerichtet hast, war alles noch viel einfacher, mein Freund.“
„Naja“, gab Art unwillig zu, „ich kann eben nur noch an meine Frau und die beiden Kinder denken. Seit sie weg sind, kann ich mich nicht mehr aufs Spielen konzentrieren.“ „Ich habe immer gedacht, dass dich deine Familie gar nicht so sehr interessiert“, meinte Paul. Art zuckte die Schultern. „Das hab‘ ich mir auch immer eingeredet. Aber manchmal merkt man erst, was Etwas einem Wert war, wenn man es nicht mehr hat.“ Jerome grinste. „Oh, jetzt wird er philosophisch, Paul. Wer weiß, ob das gut für ihn ist.“
Art schüttelte ärgerlich den Kopf. „Ich hab‘ halt in den letzten Tagen viel nachgedacht. Und wenn ich die Chance hätte, würde ich vielleicht auch Einiges anders machen.“ „Nun, nicht jeder, der eine zweite Chance verdient, hat auch eine“, meinte Jerome lakonisch. Paul, der seinen beiden Freunden bisher schweigend zugehört hatte, sah auf einmal sehr nachdenklich aus. „Vielleicht doch“, sagte er dann. Als er auf seinem Bildschirm allerdings die fragenden Gesichter seiner Freunde sah, winkte er ab. „Nichts für ungut, aber ich muss noch arbeiten. Bis demnächst!“ Dann verschwand sein Bild von den Monitoren der anderen Beiden.
Zwei Stunden später, es war inzwischen kurz nach neun Uhr abends, saß Art im Restaurant in der 135. Etage des Wohnkomplexes. Er hatte einen Tisch für zwei Personen an einem der riesigen Panoramafenster genommen und sein Blick schweifte über das Lichtermeer der Großstadt. Das ständige Funkeln und Glitzern in allen Farben der aufwendig gestalteten Reklameelemente an und auf den Wohnkomplexen faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Dann fiel sein Blick auf den Sternenhimmel über der Stadt. Die kleinen weißen Lichtpunkte waren bei Weitem nicht so aufregend wie die Lichter der Stadt fand er. Aber irgendwo da draußen, wischen diesen winzigen Lichtern, waren jetzt auch seine beiden Kinder und Jessie.
Sie war jetzt über eine Woche unterwegs in eine unbekannte, gefahrvolle Zukunft. Art hasste sie dafür, dass sie ihren, seinen, Kindern das antat. Nach dem Abklingen der ersten Wutanfälle und tagelangem Grübeln war er zu der Erkenntnis gekommen, dass er nichts dagegen machen konnte und sich irgendwann mit der Situation würde abfinden müssen. Aber eigentlich wollte und konnte er das nicht.
Mechanisch gab er einen Befehl in die in den Tisch eingelassene elektronische Speisekarte ein und kurz darauf stellte ein Servierrobot ein Glas mit einem dunklen, nach starkem Alkohol riechenden Getränk vor ihm ab und entfernte sich wieder.
Art hatte das Glas gerade in die Hand genommen und zu den Lippen geführt, als eine verführerische und belustigt klingende Frauenstimme ihn aus seinen Grübeleien riss. „Das ist typisch Art Karas: Sich betrinken ohne auf seinen Gast zu warten!“ Fast hätte Art sein Getränk verschüttet, so erschrocken war er.
„Mensch Pat“, rief er und stellte mit zittriger Hand sein Glas auf den Tisch. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“ „Das kommt davon, wenn man auf eine Frau wartet und an eine Andere denkt“, meinte Patricia nun offen lächelnd. „Woher weißt du…?“ Fragte Art. „Ist ja nicht schwer zu erraten, Art.“ Ohne auf seine Aufforderung zu warten, nahm sie am Tisch Platz. „Und außerdem: Man sieht euch Männern einfach immer an, was ihr gerade denkt!“ Sie legte den Kopf etwas auf die Seite und sah Art lächelnd an.
Sie sieht einfach umwerfend aus, dachte Art, während er zusah, wie sie ebenfalls eine Bestellung eingab. Sie trug eine gelbe Tunika mit roten Rändern und einen breiten roten Gürtel. Die Kleidung bildete einen perfekten Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Und die silberne Spange, die ihr langes schwarzes Haar zusammenhielt, machte ihr Äußeres perfekt. Patricia war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt und schlanker als die meisten Frauen die er kannte, aber längst nicht so dünn wie Jessica. Über seine Gefühle für sie war er sich jedoch noch nicht im Klaren. Seit jener ersten Nacht vor über einer Woche, nach der sie in der Frühe, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verschwunden war, hatte er sie nur einmal angerufen. Das war gestern gewesen, nachdem er etwas zur Ruhe gekommen war. Er wollte, er musste mit jemandem, musste mit ihr, über das Erlebte sprechen. Bei Paul und Jerome hatte er nicht das Gefühl gehabt, verstanden zu werden. Nach der Nacht mit Patricia hatte er irgendwie gespürt, dass sie ihn ohne viele Worte verstand und er mit ihr über einfach Alles reden konnte. Darum hatte er sie um dieses Treffen gebeten. Sie hatte, ohne ihn etwas zu Fragen, ohne eine Erklärung zu verlangen, sofort zugesagt.
Jetzt, als sie ihm gegenübersaß, hatte er aber nicht das Gefühl, mit ihr reden zu wollen. Es war etwas Anderes, das er jetzt dringend wollte und unbedingt brauchte. Für was noch reden?
Ändern würde das sowieso nichts mehr. Pat war das beste Beispiel dafür, dass es noch andere Frauen als Jessie gab und die Zukunft nicht nur Schlechtes für ihn bereit hielt. Und was die Kinder betraf… Irgendwann würde er vielleicht auch das vergessen können.
Patricia hatte sich, nun ebenfalls mit einem Glas in der Hand, zurückgelehnt und betrachtete Art, der völlig in seine Gedanken versunkenen war. Bereits bei ihrem ersten Treffen hatte sie das Gefühl gehabt, diesen Mann schon ewig zu kennen. Er war nicht viel älter als sie, vielleicht Anfang vierzig und schwergewichtig wie fast alle Menschen. Aber irgendwie hielt er sich gut und war ein angenehmer Gesprächspartner. Im Gegensatz zu vielen Menschen, die Pat kannte, merkte man ihm an, dass er nachdachte, bevor er etwas sagte. Und er hatte etwas ganz Besonderes, das sie aber noch nicht genau definieren konnte. Irgendwie strahlte er Wärme und Zärtlichkeit aus. Etwas, das sie dringend brauchte. Deshalb hatte sie auch auf seinen Anruf hin sofort zugesagt. Aber als sie vorhin das Restaurant betreten hatte und ihn so sitzen sah, verbreitete er aber auch eine tiefe Traurigkeit und das Gefühl einer verlorenen Liebe. Sie hätte auf ihr Gefühl hören sollen, dachte sie, und nicht gleich wieder so flapsig sein müssen. Aber dagegen konnte sie nichts tun. So war sie nun mal.
„Was möchtest du essen, Pat?“ Hörte sie Art dann fragen und an seiner Betonung erkannte sie, dass er vorher schon etwas gesagt haben musste, das sie gar nicht wahrgenommen hatte. „Oh, ich … äh, ich weiß nicht. Vielleicht dasselbe wie du“, sagte sie leicht irritiert. „Okay.“ Art lächelte sie jetzt an und tippte auf der Bestellkarte herum.
Als der Servierrobot herangefahren kam und die Platten mit dem Abendessen vor ihnen ablud, hätte sie sich ohrfeigen können. Zwei Wochen würde sie wieder Tag für Tag Stunden ihrer knapp bemessenen Freizeit auf dem Laufband verbringen müssen, um einigermaßen ihre Figur zu halten!
Während des Essens plauderte Art freundlich und teilweise ziemlich anzüglich mit ihr, so dass sie schon jetzt wusste, wie der Abend wieder enden würde. Und irgendwie hatte sie auch nichts dagegen. Andererseits spürte sie immer noch, dass ihn etwas bedrückte.
Als sie ihn darauf ansprach, ging er mit einem leichten Scherz darüber hinweg und bestellte noch einen Drink. Nun gut, dachte Pat, wenn er nicht darüber reden will! Als er sie später wie erwartet zu sich einlud, schüttelte Patricia den Kopf und sagte sanft: „Nein, Art, diesmal gehen wir zu mir.“
Als Art am nächsten Mittag in seine Wohnung zurückkam, zeigte ein blinkendes Licht an der Multimediakonsole einen während seiner Abwesenheit eingegangenen Anruf an. Gut gelaunt ließ er sich in das Sitzpolster sinken, lehnte sich zurück und zog die Beine an. Die vergangene Nacht war einfach fantastisch gewesen. Pat wohnte nur dreiundzwanzig Stockwerke unter ihm. Ihre Wohnung war viel gemütlicher eingerichtet als seine. Die Illusionsfliesen, die er sich nur im Sanitärbereich hatte anbringen lassen, fanden sich bei ihr an allen Wänden. Damit konnte sie auch ihren Wohnbereich in alle erdenklichen Landschaften und Räume verwandeln. Hatte bestimmt eine Menge Geld gekostet!
Als er heute Morgen in ihrem weichen, kuschligen Bett wach wurde, stand Pat an einem seltsam anmutenden Gerät in einer Ecke ihrer Wohnung, hantierte und klapperte dort mit irgendwelchem Geschirr herum und ein verführerischer Duft durchzog den ganzen Raum. Als er sie gefragt hatte, was sie dort mache, hatte sie ihm geantwortet: „Frühstück für uns natürlich!“ Er hatte sie völlig verwirrt angesehen und glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Du bereitest selbst Essen zu?“ Hatte er sie ungläubig gefragt. Sie hatte sich umgedreht und ihn strahlend angelacht. „Klar, das ist das schönste Hobby, das ich mir vorstellen kann! Mit den eigenen Händen etwas Schönes erschaffen!“ Art hatte den Kopf geschüttelt und sich einmal mehr über diese Frau gewundert. Den aufkommenden Gedanken, dass Pat und Jessie doch nicht so verschieden waren, wie er gedacht hatte, schob er schnell beiseite, als Pat ihm einen Teller mit dem lecker duftenden Essen servierte.
Während er diesen Gedanken noch nachhing, nahm er die Fernbedienung vom Tisch und schaltete die Konsole ein. Mit einem heftigen Knistern und Flackern baute sich das dreidimensionale Bild Paul Hartmanns auf. Ich muss diese verdammte Konsole überholen lassen, dachte Paul, oder besser gleich eine Neue kaufen. „Hallo Art“, meldete sich Paul, „ich wollte dir sagen, dass es vielleicht doch eine Möglichkeit gibt, dein Problem zu lösen. Übrigens: Du solltest mal wieder nach Angelcity fahren. Die Gary-Wineman-Bar hat die besten Drinks, die du dir vorstellen kannst! Ich bin auch oft dort.“ Was war das? Hatte das verzerrte Bild Pauls ihm gerade zugezwinkert? „So, das wollte ich dir nur noch sagen. Also bis morgen!“ Damit erlosch das Bild.
Art fühlte sich von Paul auf den Arm genommen. Was sollte das bedeuten? Er kannte weder Angelcity, noch besagte Bar. Und was wollte Paul dort? Wo der lebte, wusste Art zwar nicht mehr so genau, aber es war auf alle Fälle nicht in Angelcity! Und wieso ‚Bis morgen‘? Sie waren erst für Übermorgen zum nächsten Spiel verabredet. Bei dem angesprochenen Problem konnte es sich nur die jene zweite Chance handeln. Warum aber hatte Paul nicht gesagt, was er wollte?
Er hörte sich die Nachricht noch einmal an. Rätselspiele waren gar nicht sein Ding. Bei ihm musste alles klar geregelt und strukturiert sein. Dann erkannte er meist auch die Logik hinter einem Problem. Aber das hier?
Art überlegte, ob er Pat um Hilfe bitten sollte. Aber das würde bedeuten, dass er nun doch mit ihr über die ganze Geschichte reden müsste. Nach der letzten Nacht wollte er das aber auf keinen Fall mehr. Er brauchte sie so wie sie war, unbeschwert und liebevoll. Er wollte sie nicht in die Sache mit Jessica hineinziehen, da er Pat inzwischen soweit zu kennen glaubte, dass sie seine Probleme zu den ihren machen würde, wenn er ihr davon erzählte. Aber dann wäre sie nicht mehr in der Lage, sich ihm sorglos und unbefangen hinzugeben wenn er sie brauchte. Außerdem müsste er ihr dann von seinen zwiespältigen Gefühlen Jessica gegenüber berichten. Das würde ihr wahrscheinlich gar nicht gefallen und vielleicht würde sie daraufhin sogar diese Affäre beenden. Er würde zwar in diesem Fall sicher schnell eine andere Frau finden, die ihn auf andere Gedanken bringen würde, aber irgendwie fühlte er sich in Patricias Gegenwart so wohl wie schon lange nicht mehr.
Als er nach stundenlangem Grübeln immer noch nicht weiter gekommen war, wählte er schließlich doch ihre Nummer. Nur wenige Minuten später saß Pat ihm gegenüber und hörte sich Pauls Nachricht mit geschlossenen Augen an.
„Klar ist, dass du nach Angelcity fahren sollst“, sagte Pat dann nachdenklich. Art nickte. „Aber warum? Warum Angelcity, Pat?“ Sie sah ihn an. „Das weiß ich nicht. Aber da er diese Bar erwähnt, sollst du wahrscheinlich genau dorthin fahren.“ Art stand auf und lief im Zimmer hin und her. „Was hat ein Barbesuch mit der Lösung eines Problems zu tun? Naja, ich meine, dass ich auch hier eine Bar finde, in der ich meine Probleme im Alkohol ertränken kann.“ Patricia musste lachen. „So ist das sicher nicht gemeint, Art.“ Sie dachte einen Moment lang nach. Dann fragte sie: „Du hast doch gesagt, dass Paul ebenfalls nicht in Angelcity wohnt, stimmt‘s?“ Als Art nickte, stellte sie fest: „Dann ist er also bestimmt nicht so oft dort wie er behauptet.“ Dann fiel ihr etwas ein. Nachdenklich sagte sie: „Im übertragenen Sinn könnte sein Satz allerdings bedeuten, dass du ihn dort treffen kannst!“
Sie schwiegen eine Weile. Dann sprang Pat von ihrem Sitz auf, lief auf Art zu und nahm seine Hände. „Art, ich glaube, ich weiß, was Paul dir sagen wollte: Du sollst nach Angelcity in die Gary-Wineman-Bar fahren und dich dort mit ihm treffen. Und zwar morgen! Vermutlich zu der Uhrzeit, zu der ihr euch immer zum Spielen verabredet.“
„Und warum sagt er das dann nicht so Pat? Warum tut er so geheimnisvoll?“
Sie überlegte. „Das weiß ich auch nicht. Ich befürchte aber, dass es nicht ganz legal ist, was er da vorhat.“
„Soll ich mich darauf einlassen? Illegale Geschäfte sind nicht mein Fall, weißt du?“ Er sah Patricia an und sie erkannte eine nicht geringe Spur Angst in seinem Blick.
„Ich kann es dir nicht sagen, Art. Das musst du selbst entscheiden.“ Sie sah das Flackern in seinen Augen jetzt deutlicher. „Es kommt vielleicht auf das Problem an, um das es geht“, setzte sie dann hinzu.
Das hatte er befürchtet! Wenn er ihren Rat wollt, musste er sie einweihen. Art seufzte tief, ging zu Sitzecke hinüber und ließ sich wieder in die Polster sinken. Leicht schlug er mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. „Setz dich zu mir, Pat“, sagte er leise. „Ich muss dir was erzählen!“
Am nächsten Morgen wurde Art von einer lauten Stimme aufgeschreckt. „Es ist sechs Uhr dreißig morgens. Sie wollten geweckt werden, Herr Karas! Es ist sechs Uhr …“ Art fuchtelte wild mit einer Hand in der Luft herum. „Wie spielen jetzt fünf Minuten Musik und melden uns erneut Herr Karas.“ Sagte die Stimme und ging in sanfte, aber rhythmische Musik über.
Art grollte innerlich. Es war schon ewig her, dass er sich das letzte Mal hatte wecken lassen. Patricia hatte ihm angeboten, ihn nach Angelcity zu begleiten. Für sie sei es nichts Neues, den Wohnkomplex zu verlassen, hatte sie gesagt. Aber sie hatte es abgelehnt, bei ihm zu schlafen. Sie wollten sich um acht Uhr in der Eingangshalle des Gebäudes treffen.
Nach dem dritten Weckruf schleppte Art sich in das Bad.
Patricia stand in der Eingangshalle und schien interessiert die Auslagen des dortigen Schmuckgeschäftes zu betrachten. Sie sieht verdammt gut aus, ging es Art durch den Kopf. Diesmal trug sie einen hellen beigefarbenen Rock, die entsprechende Jacke dazu und gleichfarbige, flache Schuhe. Ihr langes Haar hatte sie mit einem roten, golddurchwirkten Band zu einem Pferdeschwanz gebändigt. Eine altmodische Frisur, aber bei ihr sah es einfach nur toll aus.
Bevor er ihr einen Kuss geben konnte, reichte sie ihm die Hand. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen!“ begrüßte sie ihn. Art verzog das Gesicht. „So gut wie gar nicht. Und dann das zeitige Aufstehen – das bin ich gar nicht gewöhnt.“ Er seufzte tief. „Na, ich hoffe, dass ich auf der Fahrt noch etwas Schlafen kann.“ Patricia nickte ihm, wie stets freundlich lächelnd, zu. „Ich denke schon. Wir werden ja über acht Stunden unterwegs sein.“ Art schüttelte den Kopf. „Ich frage mich immer noch, was das soll!“ Er wollte sich zum Gleiter-Terminal des
Wohnkomplexes begeben, aber Pat hielt ihn am Arm zurück. „Nein. Mein Gleiter steht vor der Tür. Ich fliege selbst!“ Art sah sie völlig erstaunt an, folgte ihr aber nach draußen. Obwohl es noch früh am Morgen war, blendete die Sonne und spiegelte sich in den Glasfassaden der riesigen Gebäude.
Direkt vor dem Wohnkomplex stand Patricia silberblauer Alpha-Gleiter. Ein hypermoderner Viersitzer mit allem nur erdenklichen Komfort. Wieder staunte Art nicht schlecht. Schon in ihrer Wohnung war ihm aufgefallen, dass sie noch wesentlich luxuriöser lebte als er. Er fragte sich, womit sie so viel Geld verdiente.
Er hatte sich kaum in den weichgepolsterten Ledersitz sinken lassen, als sich der Gleiter schon mit einem sanften, kaum hörbaren Brummen in die Luft erhob. Pat ließ das Fluggerät bis zu Dachkante des Gebäudes aufsteigen und gab die Geschwindigkeitsbegrenzung in das Terminal vor ihr ein. Höher als die höchsten Gebäude durfte sie innerhalb der Stadt nicht fliegen, dafür in dieser Höhe aber am festgesetzten Limit. „Wenn du Musik hören oder was ansehen willst, das Mediaterminal ist zwischen den beiden Sitzen!“ Sagte Patricia gut gelaunt und lehnte sich zurück, eine Hand am Steuer des Gleiters lassend.
Art schüttelte den Kopf. „Jetzt noch nicht“, meinte er. „Sag mal, warum wolltest du keinen öffentlichen Gleiter nehmen?“ Pat sah kurz zu ihm hinüber. „Zum Einen weil die lahmen Dinger ja noch zwei drei Stunden mehr brauchen wie meiner“, sagte sie, „und zum Anderen weil jeder Flug genauestens aufgezeichnet wird.“ „Wie, jeder Flug wird aufgezeichnet?“ wollte Art wissen. „Na, wenn du einen öffentlichen Gleiter benutzt, aktivierst du ihn doch mit deiner Kennkarte, stimmt‘s?“ Art nickte. „Siehst du, deine Daten werden auf einem Chip im Gleiter gespeichert. Ebenso alle Daten zur Flugstrecke, Geschwindigkeiten, Personenanzahl im Cockpit, Aufenthalte und so weiter.“ „Und für was soll das gut sein?“ Unterbrach Art sie. „Ach Art, ich weiß ja nicht, wann du das letzte Mal geflogen bist, aber Unfälle passieren auch heute noch und nicht Jeder verhält sich danach so wie es sein sollte. Außerdem gibt es viele Menschen, die öffentliche Gleiter für krumme Geschäfte benutzen. Und vielleicht will irgendjemand auch nur wissen, wann du wo gewesen bist.“ Art sah aus dem Fenster. „Das habe ich nicht gewusst.“ Sagte er leise. Patricia lachte laut auf. „Das weiß auch fast kein Mensch Art, und es kümmert auch keinen!“ „Manchmal hilft es, dass die Menschen so sorglos geworden sind.“ Setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
Während er an die glänzenden Fassaden entlang auf die schon deutlich näher gerückten Berge sah, grübelte er über diese Worte nach.
Stunden später, sie hatten die Stadt und auch die Bergkette längst hinter sich gelassen, Pat hatte den Gleiter für den höheren Luftraum angemeldet und war mit Höchstgeschwindigkeit gen Westen über Wälder und ein riesiges Gewässer geflogen, landeten sie auf einer mit Gras bewachsenen Ebene, auf der nur wenige, dafür aber gigantische Bäume Schatten spendeten. „Ich brauch‘ mal ´ne Pause.“ Sagte sie. „Lass uns auch was essen.“ Sie entnahm einem Fach hinter Arts Sitz einen mittelgroßen Kunststoffbehälter. Dann stieg sie aus und ging zu einem in der Nähe stehenden Baum hinüber. Art folgte ihr. Einen so gewaltigen Baum hatte Art noch nie zuvor gesehen. Es hätte vielleicht zehn oder mehr Männer gebraucht um ihn zu umfassen.
Sie setzten sich, an den Stamm des Baumes gelehnt, im Schatten seiner breiten Krone, ins Gras. Pat breitete ein weißes Tuch vor ihnen aus und entnahm dem Behälter verschiedene Speisen, die Art noch nie gesehen hatte. „Hast du das alles selbst gemacht?“ Fragte er sie und Pat nickte. „Hab‘ die halbe Nacht an Herd und Tisch zugebracht, mein Lieber!“ Gestand sie. Er kaute genüsslich an einem mit einer dicken Scheibe Fleisch und verschiedenen Früchten belegtem Brot. „Wo kriegt man sowas her?“ Wollte er wissen. Patricia lachte. „Ach, es gibt schon noch Läden in der Stadt, die frische Waren verkaufen! Man muss sie nur kennen. Und übrigens“, setzte sie kurz darauf hinzu, „ist ja auch nicht alles, was in unseren Restaurants angeboten wird, künstlich. Nur ist es meist nicht so aufwendig zubereitet, als wenn man es selbst macht!“
Jetzt nickte Art und ließ seinen Blick über die weite Ebene schweifen. Am Horizont zeichnete sich wieder eine gewaltige Bergkette ab, noch viel höher und ausgedehnter, als die, die sie vorhin überflogen hatten. „Wo sind wir hier überhaupt?“ Wollte er wissen. „Es ist wunderschön hier!“ „Die Gegend nennt sich Lost-Trees-Internationalpark. Eine der wenigen Gegenden die nicht bebaut werden dürfen.“ Erklärte Pat. „Die wenigen noch stehenden Bäume sollen erhalten und wenn möglich wieder vermehrt werden.“ Sie blickte sich um und dann zu Art. „Kannst du dir vorstellen, dass hier diese Ebene noch vor wenigen Jahrhunderten ein riesiger Wald war? Ein Wald ausschließlich aus solchen Bäumen wie dieser, an dem wir hier sitzen?“ Art sah sie erstaunt an. „Was ist passiert?“ Fragte er. „Nun, ein Stück weiter westlich hat man begonnen, eine große Stadt zu bauen. Als man anfing, den Wald zu roden, merkte man bald, dass den Bäumen trotz modernster Technik nur schwer beizukommen war. Die meisten von ihnen waren zwei bis dreitausend Jahre alt und hatten schon Einiges überstanden. Also hat man sich irgendwann auf das älteste, aber effektivste Mittel gegen Holz besonnen: Feuer. Doch die Brandrodung war so effektiv, dass sie schon bald nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen war. Wochenlang hat die Ebene in Flammen gestanden. Nur diese wenigen Bäume haben den Brand überstanden. Die bereits im Entstehen begriffene Stadt wurde ebenfalls ein Opfer der Flammen. Mehrere Hundert Bauarbeiter sind von der Flammenwand eingeschlossen wurden und konnten nicht gerettet werden.“ Art sah sich noch einmal um und ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Wenn man das weiß, ist es hier längst nicht mehr so schön.“ Meinte er nachdenklich. „Dann ist es eher … bedrückend!“
Patricia ließ ihren Blick über die weite Ebene schweifen. „Genau deswegen darf diese Gegend nicht bebaut werden, Art. Wer hierher kommt, soll sich klar darüber werden, was der Mensch angerichtet hat auf diesem Planeten und auch heute noch anrichtet.“ Sie schwieg einen Moment und sagte dann: „Es gibt viel zu wenig Menschen, die sich dagegen wehren und diese wenigen flüchten dann auch meistens noch.“
Es dauerte eine Weile, bis Art begriff, was sie damit meinte. „Du bist auch eine von diesen, diesen …“ Er wagte nicht es auszusprechen. Nicht gegenüber Pat. „Freaks, sag‘ es ruhig.“ Meinte Pat sanft lächelnd, den Blick in die Ferne gerichtet. „Nein, dazu habe ich mich viel zu sehr an das bequeme, luxuriöse Leben in den Städten gewöhnt. Aber ich bin in einer solchen Kommune geboren und aufgewachsen. Und ich achte diese Leute eben immer noch.“
Sie drehte sich wieder zu Art um. „Komm, lass uns zusammenpacken und weiterfliegen. Wir haben noch ein paar Stunden vor uns!“
Während der nächsten zwei, drei Stunden Flug war Pat noch schweigsamer als sonst. Art hatte irgendwie das Gefühl, sie ärgere sich, etwas über sich preisgegeben zu haben.
Schon längst war die Landschaft wieder großen Städten gewichen und sie flogen meist an der Oberkante riesiger Wohn- oder Bürobauten entlang. Schier endlos reihten sich Glas- und Stahlkolosse aneinander. Zwischen den einzelnen Städten lagen meist nur die gigantischen Gebirgszüge oder große Seen.
Als sie Angelcity erreichten, war es Nachmittag. Nach den Anweisungen des Auto-Navigators lenkte Pat den Gleiter durch die engen Häuserschluchten. Sie flog jetzt langsam und in Höhe der 10. Etage der Wohn- und Bürokomplexe. Art hatte den Eindruck, die Stadt nie verlassen zu haben, obwohl er noch nie in seinem Leben so weit weg von zu Hause gewesen war.
Kurz vor Sechzehn Uhr musste Pat den Gleiter nach unten auf die Fahrbahn für bodengebundene Fortbewegungsmittel ziehen. Hier unten erweckten die Gebäude den Eindruck als seien sie tausende Jahre alt. Dunkler Stein und Türen die aussahen, als wären sie aus Holz. Kleine, verstaubte Fenster durch die man kaum in Innere der Bar sehen konnte. Dann glitt plötzlich ein Teil der Fassade zu Seite und gab eine schmale, dunkle Öffnung frei. Durch diese lenkte Patricia den Gleiter in das Gebäude hinein und sofort schloss sich die
Wand wieder hinter ihnen. Jetzt flammten helle Lichter auf und Art sah, dass sie sich in einem nicht sehr großen, doppelstöckigen Hangar befanden. Etwa fünfzehn Gleiter unterschiedlichen Typs parkten bereits hier und noch zehn hätten bestimmt Platz gehabt.
Nachdem sie ausgestiegen waren, begaben sie sich zu einer extra angestrahlten Tür und betraten die Gary-Wineman-Bar.
Die Bar war die älteste und teuerste ihrer Art in ganz Angelcity. Decken- und Wandtäfelungen, die Theke und sämtliche Möbel waren aus tiefschwarzem Holz. Echtem Holz! Hinter der Theke befand sich ein riesiges Regal voller Flaschen in verschiedensten Formen und Farben, manche mit bunten Etiketten, andere ohne irgendeine Kennzeichnung. Wahrscheinlich kannte nur der Barkeeper, der so alt wie die Bar selbst zu sein schien, deren Inhalt. Das hoffte Paul Hartmann wenigstens. Tiefhängende, breite Lampenschirme über den Tischen verteilten grünlichgelbes Licht sanft im Raum, sorgten für eine angenehme, entspannte Atmosphäre.
Er hatte sich an einen Tisch für vier Personen in einer kleine Nische im Hintergrund des Raumes gesetzt und musterte die anderen Gäste. Geschäftsleute aus der Stadt oder der Umgebung, Banker und Firmenbosse, dachte er. Die Bar galt als Geheimtipp für Liebhaber alten Weins und echten Rums. Beides konnte und wollte sich kaum noch ein Mensch leisten.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen die er kannte verabscheute Paul Hartmann die bequeme, aber sterile Atmosphäre in den Wohnkomplexen und hatte sich deshalb auch eine Wohnung in einer der winzig kleinen Sattelitenstädte von Angelcity, etwa eine Flugstunde von hier, gemietet. Er hatte keine Familie, gönnte sich nicht viel Freizeit und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens er auf Arbeit. Danach ging er oft ein Stück zu Fuß und gab einen Großteil seines Verdienstes in einer der Bars der Stadt aus. Die Gary Wineman konnte er sich allerdings nur zwei, drei Mal im Jahr leisten.
Gerade stellte brachte der Barmann ein großes langstieliges Glas mit rubinrotem Wein vor ihn auf den Tisch, als Art Karas mit seiner Begleiterin den Raum betrat. Er erkannte ihn sofort, obwohl er sein Gesicht bisher ja nur auf dem Computermonitor gesehen hatte. Dass er nicht allein gekommen war, ärgerte Paul. Dieser Umstand konnte die ganze Unterhaltung gegenstandslos machen. Was er Art vorzuschlagen hatte, war nicht für fremde Ohren bestimmt und konnte ihn mehr als nur seinen Job kosten! Doch noch während er überlegte, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte, hatte Art ihn erkannt und kam auf ihn zu.
Paul stemmte seinen schweren Körper hoch und streckte Art die Hand entgegen. „Schön dich auch in der realistischen Welt kennenzulernen!“ Scherzte er. Dann sah er zu Patricia und gab
auch ihr die Hand. „Hat sich dein Problem damit erledigt?“ Fragte er Art und ließ sich wieder auf die hölzerne Bank sinken. Dann musste er sich ein Grinsen verkneifen, als Arts Minenspiel zwischen Verwirrung und Verlegenheit wechselte.
Nachdem auch Pat und Art sich gesetzt hatten, winkte Paul dem alten Barkeeper und der brachte kurz darauf zwei Gläser mit dem gleichen Inhalt, wie auch ihm zuvor. Art machte einen unbeholfenen Versuch, Patricia vorzustellen und Paul musste nun wirklich lachen. „Lass es gut sein, Art. Ist mir auch egal, was ihr miteinander habt oder nicht. Für mich ist nur wichtig, ob ich ihr absolut vertrauen kann!“ Art nickte. „Ich denke schon“, meinte er dann. Patrica stand auf. „Ich kann auch draußen warten, meine Herren!“ sagte sie, leicht genervt. Paul schüttelte den Kopf und griff nach ihrer Hand. „So war das nicht gemeint!“ Beschwichtigte er. „Setz‘ dich wieder hin, Patricia. Es ist nur so: Was ich Art vorzuschlagen habe ist …“ Er überlegte einen Moment und setzte dann hinzu: „nicht legal. Überhaupt nicht legal. Es kann uns alle viele Jahre unseres Lebens kosten. Vielleicht auch alle, die wir noch haben!“
Patricia setzte sich. „Du meinst …“ begann sie. „Die Regierung von Ers hat es nicht gern, wenn man ihre geheimsten Daten und Programme an Unbeteiligte weitergibt!“ beendete Paul den Satz.
Hat der auch schon den neuen Begriff Ers für unsere Erde in seinen Sprachgebrauch übernommen! Dachte Pat. Seit etwa zehn Jahren war das der amtliche, aus dem Wortschatz der Aldebaraner übernommene, Begriff für den Planeten. Aus den Menschen waren damit Ersianer geworden. Aber kaum einer gebrauchte diese Begriffe. Außer vielleicht … Mitarbeiter von Ämtern und Behörden!
Sie sah zu Art hinüber und überlegte, ob der sich mit dem Gesetz anlegen würde. In diesem Moment hob Paul sein Glas. „Lasst uns erst mal darauf anstoßen, dass wir uns kennengelernt haben und alle unsere Wünsche stets in Erfüllung gehen!“ sagte er. Glockenhell klangen die Gläser und Paul stellte mit Erstaunen fest, wie langsam und kennerhaft Patrica den Wein genoss. Noch mehr staunte er als die hübsche Frau nach dem ersten Schluck meinte: „Gute Wahl, Paul. Tiefroter Burgund, Jahrgang 62!“ Es war ihm irgendwie peinlich als Patricia laut auflachte und alle Gäste zu ihnen hinübersahen. Sein Erstaunen musste ihm deutlich anzusehen gewesen sein. „Ich bin auf dem Land aufgewachsen.“ Sagte sie, immer noch lachend. „Wir haben dort selbst Wein angebaut. Nicht so gute Sorten allerdings.“ Nachdem Paul seine Fassung wiedergewonnen hatte meinte er kopfschüttelnd: „Ich hätte nie erwartet, mal einen anderen Menschen zu treffen, der außerhalb der großen Städte aufgewachsen ist.“
Während die beiden in ein längeres Gespräch verfielen, nippte Art ab und zu an seinem Wein. Er konnte nichts Angenehmes daran finden. Das Getränk brannte auf der Zunge und hatte einen bitteren Nachgeschmack. Auch die Umgebung gefiel ihm überhaupt nicht. Außerdem hatte er die ganze Zeit Bedenken, dass der Stuhl unter seinem Gewicht zusammenbrechen könnte.
Er war so in Gedanken, dass er aufschreckte, als ihm bewusst wurde, dass Pat und Paul ihr Gespräch beendet oder unterbrochen hatten und ihn beide anstarrten. „Ob du es wirklich für notwendig hältst, noch einmal mit deiner Frau zu sprechen beziehungsweise sie zur Umkehr zu bewegen, wollte ich wissen.“ Sagte Paul. Art sah ihn und Pat nicht an, sondern starrte auf die Tischplatte, als ob er in der Maserung des Tisches nach einer Antwort suche.
„Darüber habe ich fast die ganze Nacht nachgedacht.“ Meinte er schließlich leise. „Ich denke nicht, dass Jessie umkehren wird. Wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, setzt sie das auch durch. Wenn ihr es Spaß macht, auf einem fremden Planeten Siedler zu spielen und eine Welt neu aufzubauen, so ist das ihre Sache. Aber die Kinder soll sie mir geben! Ich habe mich total überfahren lassen, als ich den Wisch mit der Abtretung des Sorgerechts unterschrieben habe. Ich sehe nicht ein, wieso sie im Recht sein soll! Ja, ich hätte mich eher um das Sorgerecht kümmern sollen, das ist wahr. Und ich hätte mich auch mehr um die Kinder kümmern müssen. Aber das kann ihr doch nicht das Recht geben, meine Kinder auf eine andere Welt zu entführen! Ich liebe sie doch!“ Er schluckte heftig, den Tränen nahe.
„Die Kinder haben mit der Zustimmung der obersten Jugendbehörde die Genehmigung für die Kolonisierung erhalten.“ Meinte Paul, „Und mit deiner Unterschrift hast du nur freiwillig bestätigt, was die Familienrichter sowieso entschieden hätten!“
„Wenn ich doch nur noch einmal mit ihr reden könnte! Wenigstens könnte ich ihr sagen, wie schlecht ich mich fühle und wie leid es mir tut!“
„Und du siehst eine Möglichkeit?“ unterbrach Pat Arts Gejammer und sah zu Paul hinüber. Der nickte und fragte leise: „Wie viel würdest du dafür riskieren, Art? Deinen Job und vielleicht sogar dein Leben aufs Spiel setzen?“
Art sah auf. In seinen Augen glitzerte es feucht. „Ich würde alles tun, um noch mal mit ihr und den Kindern sprechen zu können!“
Paul blickte von ihm zu Patricia und zurück. „Überleg dir gut, was du dir wünschst“, meinte er, „es könnte in Erfüllung gehen!“ Dann lehnte er sich vor und flüsterte beinahe als er sagte: „Du nimmst dir ein schnelles Raumschiff und fliegst ihnen hinterher!“
Art sah in verständnislos an und Pat meinte kopfschüttelnd: „He Jungs, ihr seid hier nicht in einem eurer Spiele! Was soll das also Paul? Niemand weiß, wohin die AURORA 4 unterwegs ist und welchen Weg sie durch das Universum nimmt, wie soll er ihr da folgen können?“
Paul stützte den Kopf in beide Hände und sah ihr tief in die Augen. „Niemand weiß das, Patricia. Außer den Leuten, die das Unternehmen bis ins Detail geplant haben, denke ich.“
Pat kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und beugte sich ebenfalls vor. „Du willst damit sagen …“, begann sie. Paul nickte bedächtig. „Ich arbeite bei der Ersianischen Kolonisierungsbehörde“ Er deutete mit dem Kopf zum Fenster. „Vier Blocks weiter liegt die Zentrale der EKB. Ich bin für die Planung bestimmter Abläufe an Bord der Kolonieschiffe zuständig.“
Pat und Art blickten sich kurz an. Dann fragte Art: „Und du weißt, welchen Weg die AURORA 4 nimmt und wohin sie fliegt? Welchen Planeten sie besiedeln soll?“
„Zumindest könnte ich diese Angaben, wenn auch nicht ohne Risiko, besorgen.“ Sagte Paul leise.
„Und was nutzt das?“ fragte Pat. „Die AURORA 4 hat bereits einige Tage Vorsprung und ehe er sich ein Schiff besorgt und sich entsprechend vorbereitet hat ist sie längst verschwunden!“ Art nickte. „Stimmt. So ohne Weiteres kann man ja nicht zum Raumhafen gehen und ein Schiff mieten. Und völlig untrainiert“, er sah an sich hinunter, „übersteht man so eine Reise vielleicht auch gar nicht.“
Paul lächelte. „Ihr habt völlig Recht“, meinte er, „aber ihr habt genügend Zeit. Mindestens einen Monat, denke ich.“
Die beiden sahen ihn verständnislos an. Paul blickte zu Art. „Was weißt du über Aldebaraner Sprungtore?“ fragte er ihn. Art zuckte mit den Schultern. „Sie verbinden verschiedene Universen miteinander“, begann er stockend. „Beim Anflug auf das Tor gibt man die Koordinaten des nächsten Systems ein und taucht dann kurze Zeit später dort auf.“ Richtig überzeugt klang er aber nicht und Paul Hartmann schüttelte auch gleich den Kopf. „Das ist vielleicht in unseren Spielen so. Aber die Realität ist etwas anders.“ Er zog die drei Weingläser etwas weiter in die Mitte des Tisches. „Das ist System A“ sagte er und deute auf sein Glas, dann auf die anderen Beiden. „Das ist System B und dieses stellt System C dar. Noch kann man nicht wie im Spiel bestimmen, zu welchem Tor man gelangen will. Die Alebaraner arbeiten daran, aber das ist noch Zukunftsmusik.“ Dann erklärte er, während er abwechselnd auf die Gläser wies: „System A hat ein Sprungtor. Dieses verbindet es mit System B. Das wiederum hat zwei Sprungtore. Das eine, das es mit A verbindet und ein anderes, das es mit System C verbindet. Fragt mich aber nicht, wie der Sprung selbst
funktioniert! Soweit reicht mein technisches Verständnis dann doch nicht. Der Flug der AURORA 4 geht also folgendermaßen vonstatten: Sie fliegt relativ langsam, also mehrere Wochen, durch unser Sonnensystem zum Tor nach B, springt dann hinüber, fliegt langsam zum Tor nach C. Das dauert wieder Wochen. Dann der Sprung nach C und so weiter bis sie an den Rand des bisher verbundenen Universums kommt. Dort werden alle Besatzungsmitglieder und Siedler in Tiefschlaf versetzt und das Schiff fliegt automatisch Jahrzehnte oder länger weiter, bis es den Bestimmungsplaneten erreicht hat. Soweit klar?“
Art und Pat nickten. „Mal angenommen“, setzte Paul fort, „es gäbe eine Möglichkeit, durch ein weiteres Tor, direkt von A nach C zu gelangen?“ Er sah die beiden erwartungsvoll an.
„Man würde die AURORA 4 überholen!“ Sagten Beide wie aus einem Mund und Paul nickte lächelnd.
„Aber warum fliegt die AURORA 4 dann nicht diese Strecke?“ Wollte Art wissen. Paul hob beide Hände und sah ihn ernst an. „Dieses Tor ist streng geheim. Es darf nur in absoluten Ausnahmefällen genutzt werden.“
„Und es gibt so ein Tor auf dem Weg zur Wega?“ wollte Patricia wissen.
„Zwei genaugenommen!“ antwortete Paul. „Art könnte, wenn er in vier Wochen mit einem schnellen Schiff starten würde, gut und gerne sechs Wochen vor der AURORA 4 dort sein, Sie wird dort noch einmal an der Raumwerft andocken, Treibstoff aufnehmen und ein letztes Mal Kontakt mit der EKB herstellen ehe sie in die Schlafphase eintritt.“
„Die Raumwerft im Wega-System wäre also der einzig mögliche Treffpunkt?“ Fragte Art und Paul nickte.
„Und du könntest uns die vorgesehene Reiseroute der AURORA 4 geben beziehungsweise uns sagen, welchen Weg wir nehmen müssten?“ Fragte Pat und Art sah sie erstaunt an. Paul lehnte sich zurück und sagte: „Ja. Aber nicht hier und nicht heute!“
Auf Pauls Vorschlag hin waren sie nicht am selben Abend zurück geflogen. Nachdem sie noch eine Weile über Belangloses gesprochen hatten, mieteten sie im selben Gebäude, in dem sich auch die Bar befand, eine komfortable Gästewohnung.
Inzwischen war es dunkel geworden. Kaum dass sie die Wohnung betreten hatte, ließ Art sich in die Sitzecke sinken. Er wusste nicht, ob die heftigen Kopfschmerzen von dem ungewohnten Wein, von der angespannten Gesprächsatmosphäre oder von den wirren Gedanken kamen, die ihn seit Stunden nicht mehr losließen.
Mit einem vielversprechenden Blick war Patricia kurz darauf in der Waschzelle verschwunden. Art war ihr nicht gefolgt. Er konnte es nicht definieren, aber irgendetwas hielt ihn davon ab und verdarb ihm die Lust.
Schließlich stand er auf und trat an die Fensterfront. Die Wohnung lag in der 125. Etage, gewährte aber nur einen Blick auf die gegenüberliegenden Häuser. Faszinierend war, dass sich die Fassaden der Gebäude in einem ständigen Farbenspiel befanden. Langsam wechselten sie von Gelb über Grün und Blau zu Rot. So etwas hatte Art noch nicht gesehen. Während er hinüber starrte, bemerkte er, dass sich in einem Abstand von vielleicht zwei Metern eine weitere, kaum erkennbare, Glasfront befand. Er suchte und fand dann einen Mechanismus mit dem sich eine Scheibe des Fensters öffnen und beiseite schieben ließ. Vor dem Fenster lag ein breiter, etwa mannshoch verglaster, Sims.
Er trat hinaus und atmete die frische Nachtluft ein. Soweit Art sehen konnte, verlief der Sims an der gesamten Gebäudefassade entlang. Als er ganz nach vorn an die Glasscheiben trat, konnte er kilometerweit die Straße in beide Richtungen entlang sehen. Ein sinnbetörendes Spiel von Farben und Formen kompletter Fassaden und gigantischer Werbemittel so weit das Auge reichte. Diese Stadt war um so vieles moderner und beeindruckender als alles was er kannte!
„Einfach bezaubernd, oder?“ Vernahm er in diesem Moment Patricias Stimme hinter sich. Er drehte sich zu ihr um und was er sah verschlug ihm den Atem. Vor dem schwach gelblichen Licht, das aus dem Wohnbereich drang, getaucht in den grünlichen Schimmer der Fassade gegenüber, stand sie in der Tür, nur bekleidet mit einem hauchzarten aber nicht ganz durchsichtigem, knöchellangem Gewand. Die dunkle Haut ihres Gesichts und ihrer nackten Arme schimmerte im grünen Licht wie reine Bronze. Ihr langes Haar fiel ihr locker auf die Schultern und ihre Augen blitzten so schelmisch, dass er sich der Doppeldeutigkeit ihrer Worte bewusst wurde.
Während Art sie immer noch sprachlos anstarrte, trat sie neben ihn und lehnte ihre Stirn an die Scheibe. Sie richtete den Blick nach unten, wo er sich mit den nach und nach schwächer werdenden Farben in unendlicher Dunkelheit verlor. Schweigend standen sie eine Weile nebeneinander ohne sich zu berühren. Dann fragte Art: „Hast du das wirklich so gemeint vorhin, dass du mitfliegen würdest?“ Patricia rührte sich nicht und es dauerte einen Augenblick bis sie leise und stockend sagte: „Ich würde dich begleiten, wo immer du hingehst, Art.“ Als er nichts darauf antwortete, setzte sie hinzu: „Aber sag mir: Warum willst du diese Reise wirklich auf dich nehmen? Warum willst du wirklich dein bequemes, gutes Leben aufs Spiel setzen, Art? Nur um ein paar Worte mit einer Frau zu wechseln, die du nicht
liebst und die du nie zurückbekommen wirst? Daran, dass sie dir eure Kinder überlässt, wirst du doch selbst nicht glauben, oder?“
Fast unmerklich schüttelte Art den Kopf. Im Gegensatz zu ihr blickte er nach oben, wo sich das Grün jetzt fast vollständig in ein helles, leuchtendes Blau verwandelt hatte. „Ich weiß es selbst nicht, Pat.“ Meinte er nachdenklich. „Ich weiß nur, dass ich es tun muss. Irgendwie habe ich das Gefühl, mein Leben zerbricht gerade in tausend Stücke und ich habe keine andere Wahl, als die Scherben aufsammeln zu müssen. Ich könnte es mir nie verzeihen, es nicht versucht zu haben.“
Patricia löste sich von der Scheibe und trat wieder einen Schritt zurück. Sie strich ihr Haar aus dem Gesicht und sagte leise: „Komm, lass uns ein Stück gehen.“ Art blickte sie an. „Wohin gehen, Pat?“ Sie wies mit dem Kopf die Fassade entlang. „Einfach immer gerade aus.“
Schweigend gingen sie im Spiel der Farben nebeneinander her. Die meisten Wohnungen an denen sie vorbeikamen waren unbeleuchtet oder die Fenster verdunkelt. Am Ende des Wohnkomplexes angekommen stellten sie fest, dass der Sims um das gesamte Gebäude herumlief. Sie sahen sich stumm an und setzte ihren Weg fort. An dieser Seite grenzte das Gebäude an einen großen Park und die gegenüberliegenden Häuser wichen in weite Ferne zurück. Tief unter ihnen erstreckte sich die dunkle, nur von wenigen Lichtern unterbrochene Fläche der Parkanlage.
Nach vorn blickend sahen sie, dass die Häuser in dieser Richtung niedriger, und weniger farbenprächtig gestaltet waren. Auf den Dächern blinkten altmodische Reklametafeln und teilweise waren auf den Häusern kunstvolle Gärten angelegt, die von Laternen oder Leuchtbändern erhellt wurden. Dahinter blickten sie auf das breite schwarze Band des Flusses, über den sich die große, rote und hell erleuchtete Stahlbrücke, das Wahrzeichen der Stadt seit mehr als zweitausend Jahren, spannte. Über all dem breitete sich der schwarze, sternenklare Nachthimmel aus.
Sie hatten die ihrer Wohnung gegenüberliegende Seite des Blocks erreicht. Der Blick über die alte Stadt war einfach phantastisch! Die Dächer der höchsten Gebäude lagen hier mindestens fünfundzwanzig Stockwerke unter ihnen. Nur vereinzelt brannte Licht in den Fenstern. Die gesamte Uferpromenade des Flusses dagegen war hell erleuchtet und zog sich quer durch die Stadt soweit man sehen konnte. Einzelne große Villen schmiegten sich, in verschiedenen Farben angestrahlt, an die steilen Berghänge jenseits des Flusses.
Stumm nahm Patricia Arts Hand. Als der sich ihr zuwandte bemerkte er, dass der Sims sich hier nach hinten zu einer breiten Terrasse erweiterte. Zwischen einzelnen Büschen, die von unten her schwach beleuchtet wurden, standen Bänke und ein kleiner Pavillon.
Art zog sie sanft zu einer der Bänke. Als sie sich setzten und er einen Arm um ihre Schulter legte, spürte er die Kühle ihrer Haut. Erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, wie dünn sie bekleidet war. Deutlich zeichneten sich die Konturen ihres Körpers unter dem dünnen Stoff ab. Dennoch wandte er, sie etwas fester an sich ziehend, den Blick von ihr ab und starrte in die dunkle Nacht hinaus.
Pat nahm seine Nähe und Wärme dankbar an, schmiegte sich eng an ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter.
Dann sagte sie, als ob sie ihr Gespräch gerade eben und nicht schon vor einer halben Stunde unterbrochen hatten: „Vielleicht solltest du die Scherben lieber beseitigen lassen und völlig neu anfangen.“
Sein Blick hing wie gebannt am Sternenhimmel, als er leise sagte: „Hinter mir soll niemand aufräumen müssen, Pat. Ich habe mein Leben selbst zerstört und muss nun auch allein wieder Ordnung machen. Das bin ich den Kindern und vor allem Jessie schuldig.“ Pat bemerkte wie er mit den Tränen kämpfte, als er weitersprach. „Zehn Jahre lang ist sie für mich dagewesen, hat fast alles aufgegeben, was ihr wichtig war nur um immer für mich da zu sein. Wenn wir zusammen waren, war alles einfach wunderbar. Ich habe mich um nichts kümmern müssen, hab nur an meine Arbeit und mein Vergnügen gedacht. Irgendwann war ihr das einfach zu wenig. Als sie vor sechs Jahren mit diesem, diesem …“ Ihm fehlten die Worte. Dann sagte er: „… Caspar aufs Land gezogen ist, war ich völlig am Boden zerstört. Und ich glaube, ich habe mich bis heute nicht davon erholt. Am Anfang ist sie ja noch mit den Kindern vorbeigekommen. Auch mal ein paar Tage geblieben. Aber wir sind uns immer fremder geworden. Sie sprach von Dingen, von denen ich keine Ahnung hatte, machte sich über alles lustig, was mir gefiel und kam dann immer seltener mit. Irgendwann kam sie dann gar nicht mehr mit rauf, setzte die Kinder einfach unten ab und verschwand.“
„Und die Kinder?“ fragte Pat ohne sich zu rühren. Art zuckte die Schultern. „Was sollte ich ihnen geben? Sie redeten genauso merkwürdig wie ihre Mutter. Wenn sie bei mir waren, ein oder zweimal im Jahr, waren sie die meiste Zeit in der Kinderbetreuung des Wohnkomplexes. Da hatten sie wenigstens andere Kinder zum Spielen! Ich war nie ein guter Vater für sie, da hat Jessie vollkommen Recht!“
Patricia löste sich aus seinem Arm und wandte sich ihm zu. „Und das willst du ihnen nun sagen, Art Karas? Dass du alles falsch gemacht hast und sie trotzdem zu dir zurückkommen sollen?“
Er schüttelte heftig den Kopf und barg sein Gesicht in den Händen. Jetzt weinte er wirklich. „Ich habe lange … nachgedacht über … das Alles.“ Er schluckte mehrmals heftig. Dann
wurde seine Stimme wieder fester. „Und ich weiß jetzt, dass sie Recht hatte. Als sie damals ausgezogen ist lag ein Zettel neben der Mediakonsole. ‚Dieses Leben ist keins‘ stand darauf. Nichts weiter. Ich hab‘s nicht verstanden, Pat. Bis letzte Nacht. Jetzt weiß ich, was sie meint: Leben ist - Etwas verändern, nie zur Ruhe kommen. Nicht, keine Probleme zu haben, sondern welche zu lösen. Oder es wenigstens versuchen!“
Pat schwieg eine Weile und sagte dann: „Du willst die Scherben deines Lebens also nicht etwa aufheben ums es wieder zu reparieren, sondern …“ Er sah sie jetzt an und nickte. „Um sie neu zusammenzusetzen, Pat. Um mit den gleichen Teilen etwas Neues gestalten!“
Patricia stand auf und ging bis an die gläserne Brüstung heran. Lange stand sie dort und sah in die Tiefe.
Erst wagte Art es nicht, zu ihr hinüber zu gehen. Er betrachte ihre kaum verhüllte Gestalt und glaubte einen Augenblick lang, ihren warmen, weichen Körper neben sich zu spüren. Dann sah er einen Moment lang das weiche, breite Bett in der Wohnung auf der anderen Seite des Hauses vor sich. Aber er wusste auch, dass diese Bilder nicht zueinander passten.
Schließlich trat er dann doch hinter sie und nahm sie in die Arme. Patricia hob den Kopf und lehnte sich zurück. Ihr Haar roch verführerisch und er vergrub sein Gesicht darin. Dann löste er die Umarmung, fasste Pat an den Schultern und drehte sie vorsichtig zu sich um. Sie blickte ihm ins Gesicht und trotz des schwachen Lichtes erkannte er die Tränenspuren auf ihren Wangen. „Du liebst sie. Immer noch“, sagte sie leise.
Art sah an ihr vorbei in das Dunkel der Nacht. „Erst jetzt, glaube ich.“
Zwei Wochen später hätte Art sich dafür ohrfeigen können, auf Pauls Vorschlag eingegangen zu sein.
Er schnaufte und fluchte vor sich hin, während der Schweiß ihm in Strömen den Körper herab lief. Das Laufband schien immer schneller zu werden und mehr als einmal hatte er das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dazu kam diese unmögliche Umgebung! Das Trainingsprogramm der letzten drei Tage hatte ihn an einem Meer entlang, durch einen herbstlichen Wald und über schmale Pfade im Hochgebirge geführt. Aber wer rannte schon quer durch eine Wüste? In der Trainingskabine herrschte eine unmenschliche Hitze und das tückische Band führte ihn die Sanddünen herauf, auf deren Kamm entlang, wieder hinab und wieder hinauf.
Sein Herz raste und seine Lungen brannten. Mehr als einmal geriet er in die Versuchung, den Notausknopf zur sofortigen Beendigung des Programms zu betätigen. Aber dann dachte er jedesmal daran, was Pat zu Beginn des Trainings gesagt hatte: „Wenn du das
Trainingsprogramm einmal abbrichst, ist das verständlich. Zumindest am Anfang. Wenn du es aber ein zweites Mal abbrichst, kannst du dein Vorhaben vergessen!“
Pat. Sie war reservierter geworden seit der Nacht in Angelcity. Stiller. Nicht unnahbar oder abweisend, wie er befürchtet hatte. Aber doch irgendwie anders. Jedenfalls half sie ihm, wo sie konnte. Zwar sei es generell auch mit seinem bisherigen Körpergewicht möglich, einen Raumflug anzutreten, hatte sie gesagt, aber je mehr Pfunde er bis zum Start abnehmen könne, desto geringer sei die Gefahr eines gesundheitlichen Problems im All. Und schließlich wolle er ja nicht den ganzen Flug über mit einem Medirobot verbunden sein.
Also hatte er sich darauf eingelassen, dass sie seine Ernährung und sein Trainingsprogramm bestimmte. Seit diesem Abend war er nicht ein einziges Mal mehr zum Essen im Restaurant gewesen. Stattdessen schwitzte er auf dem Laufband und im Dampfbad, stemmte Gewichte und quälte sich bei jeder Menge anderer Übungen und Simulationen. Nach drei Tagen hatte er das Programm zum ersten Mal abgebrochen.
Endlich tauchten zwischen den Dünen die Silhouetten mehrerer Palmen auf. Einige Schritte später erkannte er die Wasserstelle und daneben, irgendwie deplatziert fand er, ein golden leuchtendes Tor – das Trainingsziel!
Kaum hatte er das Tor passiert, als das Laufband stetig langsamer wurde. Beinahe hätte Art sich erschöpft fallen lassen. Seine Sachen klebten am Körper und auch sein Haar war triefend nass, als sei er schwimmen und nicht laufen gewesen. Bloß gut, dass Pat mich so nicht sehen kann, dachte er. Dann öffnete sich die Tür der Trainingskabine und Art trat in den Aufenthaltsraum des Fitnessbereiches. Drei Schritte bis zur Duschzelle! Er konnte sie kaum noch gehen.
Pat saß in einem Korbstuhl neben der Eingangstür und beobachtete ihn. Art hatte sie nicht bemerkt. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie hatte ihm vor zwei Wochen nicht zugetraut, dass er ihr Programm durchhielt. Er war unglaublich eisern bei der Sache.
Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie eingestehen, dass sie ihm mehr zum Selbstzweck denn seiner Gesundheit zuliebe Angst vor medizinischen Problemen im All gemacht hatte. Art sah bereits jetzt, nach zwei Wochen, wesentlich besser aus als früher. Und wenn er so weitermachte, konnte er es zum Abflugtermin zu einem richtig gutaussehenden, durchtrainierten Körper gebracht haben.
Ein leises Summen ertönte in ihrem rechten Ohr. Pat drückte einen Knopf an ihrem Gürtel.
„Gut dass du dich meldet, Jayden. Ich brauche deine Hilfe! … Wie? … Ein paar Monate denke ich. ... Das erkläre ich dir lieber persönlich! … Was? Ja doch. … Ich hab‘ einem Freund versprochen ihm zu helfen. … Hör auf, Jay. Du weißt, dass du mir … Nein, ich will
dir nicht drohen. … Komm schon, du bist der beste Pilot, den ich kenne! … Du kommst vorbei? … Okay, wir sehen uns dann morgen! Ich verlass mich auf dich. … Bis dahin!“
Sie deaktivierte den Minikom und lehnte sich zurück. Damit war so gut wie Alles vorbereitet. Die Anspannung der letzten Tage schien von ihr abzufallen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Jayden ihnen helfen würde.
„Hey, Pat!“ Begrüßte Art sie freundlich. Sie hatte sein Kommen gar nicht bemerkt. „Was machst du denn hier?“
In der himmelblauen Tunika mit dem goldfarbenen Gürtel sah er richtig gut aus, fand Patricia. Eigentlich schade, dass er sich für seine Familie entschieden hatte.
„Ich wollte dich abholen“, sagte sie dann. „Wir müssen etwas zu besprechen. Gehen wir am Besten in den Park hinüber.“
Kurz darauf verließen sie den Gebäudekomplex und gingen auf die andere Straßenseite. Nachdem sie zwei große Wohnblöcke hinter sich gelassen hatten, betraten sie durch ein altmodisches eisernes Tor eine kleine Parkanlage. Art erinnerte sich daran ganz früher, als Jamie und Janine noch winzig klein gewesen waren, ein paar Mal mit ihnen hier gewesen zu sein.
Um diese Zeit war die Anlage so gut wie menschenleer. Eine Weile gingen Art und Patricia im Schatten der Bäume schweigend nebeneinander her.
Dann fragte Pat unvermittelt, ob er seinen Plan noch immer in die Tat umsetzen wolle. Er sah sie nur fragend an und sie winkte ab. „Ja, natürlich! Wie kann ich nur fragen? Du quälst dich ja jeden Tag dafür.“ Sie sah an ihm vorbei und setzte leise hinzu: „Ich bin nur gespannt, ob sich das am Ende tatsächlich lohnt.“
Nach ein paar Schritten blieb sie dann stehen und stellte sich ihm in den Weg. Sie sah ihm ins Gesicht und sagte: „Ich habe vorhin gerade mit einem … nun ja, einem Freund telefoniert. Wir treffen uns morgen Nachmittag und wenn er auf meinen Vorschlag eingeht, haben wir ein schnelles Schiff und können vielleicht schon nächste Woche aufbrechen.“
„Du willst wirklich noch mitkommen?“ Fragte Art und versuchte, ihrem Blick auszuweichen. Patricia zuckte die Schultern und meinte leise: „Ich hab’s dir nun mal versprochen, Art.“
„Willst du uns selbst fliegen?“ Fragte Art und Pat nickte. „Ja klar. Ich hab in meiner Jugend als Jägerpilotin bei der erisanischen Flotte gedient und hab‘ unter anderem ein Praktikum auf einem aldebaranischen Schlachtschiff gemacht!“ Art starrte sie ungläubig an. „Wirklich?“ Pat nickte, musste dann aber laut lachen. „Natürlich nicht! Das war ‘n Scherz, Art. Nein. Jayden ist ein erstklassiger Pilot und ich will ihn überzeugen, dass er uns mit seinem Schiff
mitnimmt. Ich hoffe nur, die NIGHTOWL ist für Reisen ans Ende des bekannten Universums tauglich. Soweit ich weiß, hat Jayden zwar schon Reisen durch Sprungtore mit dem Schiff gemacht, aber so lange und so weit war er noch nicht unterwegs, glaube ich zumindest.“
Sie gingen langsam weiter und setzten sich am Ufer eines kleinen, künstlich angelegten, Teiches auf eine Bank. Gerne hätte Art seinen Arm um Pats Schultern gelegt, wagte es aber nicht. Stattdessen blickte er unverwandt auf die kleine Wasserfläche vor ihnen und fragte dann: „Wie erklärt Jayden seiner Besatzung diese Reise? Er kann doch nicht sagen, dass es einen, naja einen privaten Grund hat? Und wer finanziert überhaupt das Ganze? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Eigentlich müsste ich ja … aber das kann ich ja gar nicht. Ich hab‘ hier was ins Rollen gebracht, was eigentlich gar nicht durchführbar ist, oder?“
Pat wandte ihm ihr Gesicht zu. Da Art immer noch nach vorn starrte, bemerkte er ihr leicht spöttisches Lächeln nicht. Ernst sagte sie: „Noch kannst du zurück, Art. Wir können hierbleiben und die ganze Geschichte vergessen. Noch ist nichts passiert. Deshalb hat Paul die Unterlagen auch noch nicht weitergegeben. Und Eines ist auch klar“, sie stand auf, trat an das Ufer des Teichs, nahm einen großen, flachen Stein vom Boden auf und warf ihn mit einer geschickten Bewegung über das Wasser. Art sah wie der Stein auf der Wasseroberfläche aufschlug, aber nicht versank sondern weitersprang. Nach sechs Sprüngen landete er am andern Ufer. „Wenn wir die Erde mit der NIGHTOWL verlassen, dann ist es für lange Zeit. Vielleicht sogar für immer.“ Sie drehte sich um und sah Art an. „Dir ist ja bewusst, was wir aufs Spiel setzen. Aber nicht nur das. Du und ich müssen auch unser gesamtes Vermögen einbringen und Jayden seinen gesamten Besitz: sein Raumschiff!“ Sie lächelte sanft und sagte dann: „Falls wir je hierher zurückkehren, Art, werden wir höchstwahrscheinlich völlig mittellos sein und am Rand der Gesellschaft stehen. Aber auch da lässt sich leben.“
Art stand auf und trat auf sie zu. „In einer der Kommunen auf dem Land, ja. Aber dann, dann..“
„Können wir uns auch gleich auf einem der neu besiedelten Planeten niederlassen.“ Ergänzte Patricia. „Aber es gibt auch eine andere Lösung.“
Als Art sie fragend ansah, sagte sie: „Egal wie es ausgeht, ob du Jessie und die Kinder mit zurück bringst oder nicht: Die Story lässt sich mehr als nur gut verkaufen.“
Art sah sie fassungslos an und griff dann nach ihren Schultern. Er drückte fester zu, als ihm bewusst war und fragte: „Was hast du vor Pat?“
Sie befreite sich nicht aus seinem Griff und sah zu ihm auf. Mit fester Stimme sagte sie: „Ich habe mir alle Medienrechte an der Geschichte gesichert, ohne den Hintergrund zu verraten.“ Sie schloss für einen Moment die Augen und sah ihn dann wieder an. Leiser und mit nicht
mehr ganz so fester Stimme setzte sie hinzu: „Ich bin Journalistin, Art. Mit menschlichen Schicksalen verdiene ich mein Geld.“
Er ließ sie los und die Hände sinken. Dann drehte er sich um, ging einen Schritt von ihr weg und fragte: „Und Jayden?“
Wie durch einen dichten Nebel vernahm er ihre Worte: „Wird wegen Schmuggel und Piraterie von den Behörden gesucht. Eine ständige Besatzung hat er nicht. Nur wenige Menschen außer mir kennen seine wahre Identität. Er ist meine Kontaktperson zur Unterwelt und kann gar nicht anders, als uns zu helfen.“
Sie einfach stehenlassend ging Art auf den Ausgang des Parks zu. Er hörte noch wie sie ihm nachrief: „Wenn du dabei bleibst, sei morgen Nachmittag gegen drei wieder hier, Art!“ Dann wurde die Stille des Parks durch den alltäglichen Lärm der Straße abgelöst.
Als Art sich am folgenden Nachmittag auf den Weg zum Park machte, waren sein Ärger und seine Enttäuschung schon fast verflogen. Er hatte noch am gleichen Abend Paul Hartmann angerufen und ihm alles erzählt. Dabei hatte er mehrmals fast die Nerven verloren. Nur mit Mühe hatte er sich beherrschen können. Paul hatte sich alles mit sehr ernster Miene angehört und dann ruhig gesagt: „Ich weiß nicht was du hast, Art. Diese Frau versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, dir zu helfen. Du solltest ihr entweder vertrauen oder dein Vorhaben gleich aufgeben!“
Trotzdem fühlte Art sich verraten und missbraucht. Und dass Pat um seinetwillen einen anderen Menschen erpressen wollte, fand er mindestens genauso schlimm. Darum zögerte er auch einen Moment, ehe er das alte Eisentor durchquerte.
Langsam näherte er sich dann dem kleinen Teich. An dessen Ufer standen, völlig in ihr Gespräch vertieft, Patricia und Paul.
„… sollte um drei bei mir sein, ist aber nicht gekommen!“ Sagte Pat gerade, als Art hinter sie trat. „Die Daten gebe ich aber nur ihm, dass musst du verstehen. Art und du könnt ohne ihn sowieso nichts damit anfangen.“ Meinte Paul schulterzuckend. Dann bemerkte er Art und reichte ihm die Hand. „Hallo, Art! Du hast dich also entschieden?“ Art schwieg einen Moment und sah Pat an, die sich ihm ebenfalls zugewandt hatte. Er glaubte, in ihren großen, dunklen Augen ein kurzes Aufblitzten zu erkennen.
„Ich weiß, was ihr für mich riskieren wollt und ich bin euch sehr dankbar dafür. Aber ich kann auch nicht zurück. Es wird meine einzige Chance sein, noch mal von vorn anzufangen. Und wie auch immer dieses Abenteuer ausgeht: Es wird einen neuen Anfang geben müssen!“
Patricia steckte ihm lächelnd ihre Hand entgegen. „Ich bin dabei. Vielleicht ist es auch für mich eine Chance, neu zu beginnen.“ Art nahm ihre Hand und drückte sie. Dann sah er Paul fragend an. Der schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich bleibe hier. Es könnte sein, dass ihr meine Hilfe braucht wenn ihr unterwegs seid. Und nur hier kann ich euch wirklich helfen. Vorausgesetzt“, er unterbrach sich kurz, “vorausgesetzt in der Behörde bekommt niemand etwas mit.“
„Unser Verschwinden wird niemanden beunruhigen, Paul. Und falls alles wie geplant läuft, egal ob wir zurückkehren oder nicht, wird es die Behörde auch nicht interessieren.“ Pat legte ihm eine Hand auf die Schulter und nickte zuversichtlich.
Paul legte den Kopf leicht schrägt und meinte: „Es sei denn, ihr bringt Jessica und die Kinder wieder mit hier her und du veröffentlichst die Story!“
„Wir bringen sie nicht mit zurück, Paul!“ Meinte Art sehr leise. Der Angesprochene und Pat sahen ihn erstaunt an. „Ich kehre nicht mehr hierher zurück. Entweder gelingt es mir irgendwie, bei meiner Familie zu bleiben oder … ich weiß es nicht. Du kannst ja jederzeit zurück fliegen.“ Sagte er an Patricia gewandt. „Aber ich bitte dich, die Geschichte nicht zu verkaufen, damit Paul nicht in Verdacht gerät.“
Pat nickte. „Geht in Ordnung, Art.“ Dann sah sie Paul an. „Zumindest ziehe ich dich nicht mit hinein. Versprochen!“ Sagte sie und gab ihm die Hand.
„Dann wünsche ich euch viel Glück!“ Meinte dieser lächelnd. „Jetzt fehlt nur noch euer Pilot. Ich hoffe, er hat euch nicht sitzenlassen.“
Jayden Romanescu flog in geringer Höhe über der Fahrbahn für straßengebundene Beförderungsmittel auf den Wohnkomplex zu in welchem Patricia wohnte. Immer wieder blickte er auf den Heckmonitor. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass er verfolgt wurde. Deswegen war er auch schon einige Umwege geflogen und etwas in Zeitverzug geraten.
Mit einer schnellen Handbewegung riss er den kleinen schwarzen Alpha-Gleiter in eine Seitenstraße, zwei Blocks bevor er sein Ziel erreicht hatte. Als sich kurz vor ihm das Hangartor eines Freizeit- und Erholungskomplexes einladend öffnete, zog er blitzschnell hinein ohne auf den erschreckend lauten Alarmsignal des Gleiters zu achten, der gerade den Hangar verließ.
Er parkte seinen Gleiter auf einem dunklen Stellplatz an der hinteren Wand, sprang aus der Kabine und öffnete eine Stahltür in der Wand. Durch das Treppenhaus, das aussah, als hätte es jahrelang keines Menschen Fuß mehr betreten, stieg er in die zweite Etage hinauf. Dann
lief er mehrere Gänge und an unzähligen Türen entlang, bis er wieder zur Vorderseite des Gebäudes kam.
Er blickte durch die Scheiben auf die Fahrbahn, hielt sich aber von diesen fern, obwohl ihm bewusst war, dass man ihn von der Straße aus gar nicht sehen konnte.
Nachdem er eine ganze Weile aufmerksam die Umgebung beobachtet hatte, aber nichts Verdächtiges feststellen konnte, begab er sich ins Foyer des Gebäudes und verließ es zu Fuß.
Langsam näherte er sich dem Wohnkomplex. Da fiel ihm ein schnittiger hellgüner Gleiter auf, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Der Pilot lehnte scheinbar gelangweilt an der Seite und beobachtete den Eingang des Gebäudes.
„Verfluchter Mist“, knurrte Jayden, „haben sie mich doch am Arsch!“ Irgendwer musste ihn verraten haben. Und sie mussten gewusst haben, zu wem er wollte! Hatte ihn ein Mitglied seiner letzten Crew verraten oder hatten sie Patricias Kom angezapft? Wie auch immer, der hellgrüne Gleiter gehörte definitiv der Staatspolizei.
Dann bog er zwischen den Wohnblöcken ab und ging langsam weiter. Er strich sich über seinen dunkelblonden Oberlippenbart und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Patricia über Minikom anzurufen erschien ihm zu gefährlich. Was hatte die gewiefte Journalistin ihm gestern gesagt? Er solle um drei bei ihr sein. Ein Freund brauche Hilfe. Sein Können als Pilot wäre gefragt. Im Laufe der letzten Jahre hatte er schon einige Aufträge für Patricia ausgeführt. Nicht ganz freiwillig, aber auch nicht gerade ungern. Er mochte diese gutaussehende, sympathische Frau. Und er wusste, dass sie klug genug war, solche Aufträge nicht in ihrer eigenen Wohnung zu besprechen. Dann lächelte er. Er ahnte, wo er sie finden würde!
Auf weiteren Umwegen und seine Umgebung aufmerksam beobachtet, betrat er den Park durch einen Nebeneingang. Jetzt lief er etwas schneller. Er konnte sich jetzt sicher sein, dass er nicht mehr verfolgt wurde.
Patricia stand, in ein Gespräch mit zwei Männern, die ihm den Rücken zukehrten, vertieft am Ufer des kleinen Teiches.
Er war fast bei der kleinen Gruppe angelangt, als Patricia ihn erkannte und fröhlich auflachte. „Aha, spät kommt er, aber er kommt. Hallo, Jay!“
Die beiden Männer drehten sich ebenfalls zu ihm um und Pat sah, wie sich in den Gesichtern aller drei Männer Verblüffung und grenzenloses Erstaunen abzeichneten.
Art war der erste, der seine Sprache wiederfand. „Hallo, Jerome“, sagte er fassungslos.
ENDE
des zweiten Teils
Texte: Alle Rechte, auch die zum Titelbild, liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2010
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