Cover


Ein herbstlicher Regenschauer zieht durch die Kleinstadt an der Küste. Heftiger Wind treibt die dicken, grauen Wolken vor sich her. Die großen Segelschiffe im Hafen schaukeln knarrend auf und ab. In den Gassen am Hafen ist fast kein Mensch zu sehen und nur wenn sich die Tür der verkommenen Spelunke direkt am Kai öffnet, um einen betrunken Gast in das unwirtliche Wetter hinaus torkeln zu lassen, dringt grölender Gesang und Gelächter in den grauen Herbstabend.
In einem großen Backsteinhaus ganz in der Nähe des Hafens sitzt eine Horde Kinder auf dem Fußboden vor dem Kamin, in dem ein lustiges Feuer prasselt, und lauscht den Geschichten eines alten Mannes. Dieser sitzt in einem schweren Ohrensessel vor dem Kamin, die Beine dennoch in eine alte, zerschlissenen Wolldecke gehüllt, einer auf der Nase geklemmten Brille mit dicken Gläsern und einem großen schweren Buch auf dem Schoß.
Bei seinen Worten „…und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch immer glücklich und zufrieden!“ weicht der gespannte, bei so manchem Kind angsterfüllte Blick, einem glücklichen Lächeln auf den Gesichtern der Kinder.
„So Kinnings, das war’s für heute!“ Sagt der alte Mann, klappt das Buch zu und stützt die Hände auf die Lehnen des Sessels, um sich zu erheben. „Ihr geht jetzt artig nach Hause und ich brau mir einen steifen Grog!“
Die Kinder reden aufgeregt durcheinander. Einige wenden sich bereits zur Tür, andere wollen den Alten zu einer weiteren Geschichte überreden. Der alte Mann bleibt konsequent. „Ihr könnt gerne morgen wieder kommen, Kinder, aber jetzt geht’s erst mal nach Hause! Eure Eltern warten bestimmt schon.“ „Na und?“ Maulen einige der Kinder. „Wir können schon selbst auf uns aufpassen und wissen, wann wir nach Hause müssen. Die können ruhig noch etwas länger warten!“
Der Alte schüttelt den Kopf und seine langen, schlohweißen Haare umwehen sein Gesicht. Er weist ihnen eindeutig die Tür, als plötzlich ein Windstoß so heftig am Fenster rüttelt, dass es beinahe aufspringt. Gleichzeitig donnert ein Regenguss vom Himmel herunter, dass man das gegenüberliege Haus nicht mehr erkennen kann. Eine wahre Sintflut bricht über die kleine Stadt herein.
„Gut, bei diesem Wetter kann ich euch nicht nach Hause schicken“, meint der Alte nachdenklich, „also leistet mir noch etwas Gesellschaft.“
Wieder setzen sich die Kinder im Halbkreis um den Sessel des alten Geschichtenerzählers. Einige von ihnen werfen jetzt aber immer wieder ängstliche Blicke zum Fenster, an dem immer noch der Wind rüttelt und an dem ganze Sturzbäche hinab laufen.
„Erzähl uns noch eine Geschichte, Wilhelm!“ Fordert Hannes, ein etwa zehnjähriger Junge, der Älteste unter den Kindern und ihr Wortführer. „Oh ja!“ „Noch eine Geschichte!“ immer mehr Kinder fallen in die Rufe ein.
Schließlich nickt der alte Wilhelm. „Na gut, Kinnings. Was wollt ihr den für eine Geschichte hören?“ Laut rufen die Kinder durcheinander. Alle Märchen und Geschichten, die ihnen gerade einfallen. Schließlich ist es Hannes der sagt: „Eine Piratengeschichte! Erzähl‘ uns eine Piratengeschichte, Wilhelm!“
Der Alte überlegt eine Weile, nickt dann und drückt Hannes das alte Märchenbuch in die Hand. „Leg es auf seinen Platz, mein Junge“, sagt er zu ihm, „hier stehen solche Geschichten nicht drin!“ Während Hannes mit dem Buch zum Tisch hinübergeht, stützt Wilhelm den Kopf in die Hände und denkt nach.
„Nun denn, eine Piratengeschichte“ sagt er und beginnt mit leiser, nachdenklicher Stimme zu erzählen.

„Vor vielen, vielen Jahren lebte in einer kleinen Stadt am Meer ein Junge. Ungefähr so alt wie du Hannes, war er. Und dieser Junge träumte davon, einmal zur See zu fahren und ein berühmter Kapitän zu werden. Ein Piratenkapitän genau genommen. Geschichten über berühmte Piraten zu hören, waren seine liebste Beschäftigung. Stundenlang saß er in der Hafenkneipe und hörte den Seeleuten zu, die dort ihr Garn sponnen.
Sehr zum Leidwesen seines Vaters übrigens. Dieser besaß ein großes, in allen Städten an der Küste bekanntes Handelshaus. Seinem brillanten Verstand und natürlich auch etwas Glück war es zu verdanken, dass seine Warenladungen stets gut geplant und pünktlich am Zielort eintrafen. Noch nie hatte er eines seiner Handelsschiffe im Sturm oder an Piraten, die zu dieser Zeit noch auf allen sieben Meeren ihr Unwesen trieben, verloren. Sein größter Wunsch war es, das sein Sohn in seine Fußstapfen treten und eines Tages das Handelshaus übernehmen würde.
Nur leider hatte dieser Sohn daran überhaupt kein Interesse. Er sann stundenlang darüber nach, wie er diesem Schicksal entfliehen könnte. Da aber sein Vater hartnäckig blieb und beschlossen hatte, ihn bald als Schreiber in sein Kontor aufzunehmen, damit er mit dem Geschäft vertraut wurde, hasste der Junge ihn regelrecht. Deshalb, und nur deshalb, wollte er Piratenkapitän werden. Er träumte Tag und Nacht davon, mit einem schnellen, stark bewaffneten Schiff die Handelsschiffe seines Vaters anzugreifen und auf den Grund des Ozeans zu schicken.
Nun, es war ein Herbstabend wie heute, nur nicht so nass und stürmisch, als er einen Plan fasste. Am nächsten Morgen sollte eine Galeone seines Vaters beladen mit Stoffen und Kisten voller Dörrfisch nach Kopenhagen auslaufen. Der Junge schlich sich also aus dem Haus und lief zum Lagerhaus im Hafen. Er hatte in den letzten Tagen alles ausgekundschaftet und war sich ziemlich sicher, dass ihn niemand entdecken würde. Nachdem er mühsam eine Kiste Dörrfisch geöffnet hatte, warf er fast alle Fische ins Meer. Die Wellen würden sie ins Meer hinaus treiben und die Möwen würden sich freuen. Dann kletterte er in die Kiste und verschloss sie so gut es eben ging, indem er solange an dem Deckel der Kiste schob und zerrte, bis sich die Nägel wieder in die Löcher ziehen ließen.
Zeitig am nächsten Morgen kamen die Dockarbeiter und brachten die Kiste zusammen mit den anderen Waren in den Laderaum der Galeone. Wenig später lief das Schiff aus.
Der Junge lag in seiner Kiste, knabberte an dem Fisch und grübelte darüber nach, wie er in Kopenhagen jemanden finden konnte, der ihm zur Bekanntschaft mit einem Piratenkapitän verhelfen konnte, bei dem er dann anheuern würde.“

Der Alte unterbricht sich und winkt einem kleinen, blonden Mädchen. Das versteht sofort, läuft in die Küche und kommt kurz darauf mit einem Glas Wasser zurück.
Während der alte Wilhelm trinkt, starren die Kinder ihn gebannt an. „Hat er einen Piratenkapitän gefunden?“ Fragt eines der Kinder, ein kleiner Junge, vielleicht vier oder fünf Jahre alt.
Wilhelm nickt. „Oh ja, Klaas, viel früher als erwartet und er war nicht gerade erfreut darüber.“ Er nimmt noch einen Schluck aus dem Glas und erzählt dann weiter:

„Das Schiff war seit vielen Stunden auf See. Die war rau geworden und die Galeone neigte sich auf und ab, nach rechts und nach links. Das schlug dem Jungen ziemlich auf den Magen. Er kämpfte aber tapfer dagegen an und versuchte, sich nicht zu übergeben. Dazu kam ein fürchterlicher Durst, ausgelöst durch den vielen Dörrfisch, den er gegessen hatte. Am liebsten wäre er aus seiner Kiste gekrochen und an Deck gegangen. Er war sich ziemlich sicher, dass man wegen ihm nicht umkehren würde. Aber er war sich auch bewusst, dass er dann irgendwann zu seinem Vater zurückkehren musste und streng für dieses Abenteuer bestraft werden würde. Schon öfter hatte er für viel leichtere Vergehen ordentlich Prügel einstecken müssen.
Plötzlich zuckte er zusammen. Auf dem sonst so stillen Schiff wurde es auf einmal laut. Die Schritte vieler Füße waren zu hören. Es klang, als ob alle Matrosen an Bord sinnlos hin- und herlaufen würden. Dann gellten Schreie wild durcheinander und plötzlich erschütterte ein Donner das Schiff, wie der Junge noch nie in seinem Leben einen gehört hatte. Die Galeone wurde heftig auf die Backbordseite geworfen und weitere Donnerschläge folgten. Nach jedem Donner schleuderte es die Galeone, und jetzt auch die Kiste, in der der Junge lag, zur Seite. In die letzten Donnerschläge hatten sich andere Geräusch gemischt: Das Splittern von Holz und schrille Schreie, wie sie der Junge ebenfalls noch nie gehört hatte und die er sein Leben lang nie mehr vergessen würde.
Er zitterte am ganzen Körper. Die Übelkeit war wie weggeblasen. Dafür hatte er das Gefühl, beim nächsten Donner in die Hose machen zu müssen. Eine unbeschreibliche Angst hatte ihn ergriffen. Was ging da draußen bloß vor?
Eine Ewigkeit später verstummten die Donnerschläge und kurz darauf hörte er ein lautes Knirschen und Scharren, als ob man zwei Holzstücke aneinander reiben würde. Die Schreie draußen wurden noch lauter und er hatte das Gefühl, viel mehr Stimmen als vorher zu vernehmen. Und fast im gleichen Augenblick wurden die Geräusche noch grässlicher. Metall schlug in heftiger Folge auf Metall. Die Schreie wurden wieder schriller und grauenvoller und ein seltsamer Geruch lag plötzlich in der Luft.
Und so langsam dämmerte dem Jungen, was da draußen vor sich ging! Wie oft hatte er davon geträumt, mit einem Piratenschiff ein Handelsschiff seines Vaters zu überfallen? So hatte er sich das allerdings nicht vorgestellt!
Der Junge hatte keine Vorstellung davon, wie lange der Lärm da draußen anhielt. Ängstlich krallten sich seine Fingernägel in das Holz der Kiste und langsam begannen, so sehr er sich auch bemühte dagegen anzukämpfen, Tränen in seine Augen zu steigen. Noch einmal erscholl auf Deck ein tosender Schrei aus dutzenden Kehlen, dann war es still.
Doch nicht lange, denn bald darauf polterten schwere Schritte die Treppe hinunter in den Laderaum. Der Junge in seiner Kiste wagte kaum zu atmen. Gebannt lauschte er auf die Geräusche. Mindestens drei Personen waren es, die den Raum durchsuchten. ‚Hoho, feinstes Tuch – jede Menge!‘ Hörte er dann aus einer entfernten Ecke eine tiefe Stimme, die irgendeinen fremden Akzent hatte.
‚Und jede Menge Kisten!‘ Drang eine andere Stimme an sein Ohr. ‚Lass uns sehen, was drin ist! ‘ Forderte eine Dritte, die rau und heiser klang. Dann war das Splittern von Holz zu hören. Wieder und wieder und der Junge musste sich auf die Finger beißen um vor Angst nicht aufzuschreien. Wenn sie ihn finden würden, wäre sein Tod bestimmt besiegelt! ‚Trockenfisch. Trockenfisch, und wieder Trockenfisch! ‘ Sagte die tiefe Stimme und die Raue antworte: ‚Schmeißt das Zeug ins Meer! Das bringt so gut wie keinen Gewinn! Oder versenkt das Zeug mitsamt dem Kahn, ist mir egal! Aber ich denke, zehn Kisten solltet ihr an Bord der MEERMAID bringen. Damit können wir ein paar Wochen länger draußen bleiben! ‘ ‚Aye, Käpt’n!‘ Erwiderte die tiefe Stimme und die mit dem fremdländischen Klang mischte sich ein. ‚Ich gehe ein paar Männer holen! ‘ Schritte entfernten sich und dem Jungen wurde jetzt richtig schlecht vor Angst. Entweder sie würden ihn an Bord des Piratenschiffes bringen und dann irgendwann entdecken oder er würde ins Meer geworfen oder mit dem Schiff zusammen versenkt werden. Wie es auch ausgehen mochte, sein Leben war verwirkt!“

Der alte Wilhelm verstummt und sieht die Kinder der Reihe nach an. In allen Augen ist Angespanntheit und Angst zu sehen und in einigen stehen Tränen, die im Schein des Kaminfeuers wie kleine Edelsteine glitzern. Und das nicht nur in Mädchenaugen. Wilhelm blickt zum Fenster. Draußen ist es dunkel geworden und der Sturm scheint sich gelegt zu haben. Nur der Regen strömt nach wie vor hernieder, als seien sämtliche Himmelsschleusen geöffnet wurden.
In diesem Augenblick sind schwere Schritte in der Diele zu hören. Kurz darauf wird die Stubentür geöffnet und ein Mann mittleren Alters, in gutes Tuch gekleidet, betritt das Zimmer. „Guten Abend, Vater“, grüßt er freundlich, „ich wollte nur mal nach dir sehen!“ „Schön, dass du kommst, Franz“, sagt der alte Wilhelm und weist auf einem Stuhl am Tisch. „Da kannst du dann die Kinder nach Hause bringen, wenn sich das Wetter etwas beruhigt hat.“ Der Mann nickt und nimmt Platz. „Ihre Eltern werden sich schon große Sorgen machen, glaube ich.“ Wilhelm lächelt, nimmt seine Brille ab und putzt sie mit einem Zipfel der Decke. „Im Moment sind sie hier besser aufgehoben als draußen, denke ich.“
Da unterbricht Hannes die Unterhaltung der beiden Männer. „Wie geht die Geschichte weiter, Wilhelm?“ Fragt er. Andere Kinder fragen daraufhin wild durcheinander: „Haben die Piraten den Jungen gefunden?“ „Ist er im Meer ertrunken?“ „Hat er sich retten können?“ „Hat er überlebt?“ „Wie geht die Geschichte weiter?“
Der Alte klemmt seine Brille bedächtig wieder auf die Nase und nickt nachdenklich. „Nun, Kinder, er ist nicht mit dem Schiff untergegangen und wurde nicht mit seiner Kiste ins Meer geworfen. Aber noch ist die Geschichte nicht zu Ende.“
Jetzt lehnt sich auch Franz auf seinem Stuhl zurück, legt ein Bein über das andere und sieht seinen Vater gespannt an als dieser wieder zu erzählen beginnt:

„Mehrere Männer betraten wenige Augenblicke später den Laderaum der Galeone. ‚Zuerst die Stoffballen dahinten‘, sagte der Mann mit der tiefen Stimme. ‚und dann noch zehn von den Kisten hier vorn.‘ Er schlug mit der flachen Hand auf die Kiste, in welcher der verängstigte Junge hockte. Der hörte den klatschenden Schlag auf den Deckel seiner Kiste und zuckte noch mehr zusammen. Seine Hände wurden feucht und er hatte das Gefühl, eine starke Hand würde seinen Hals zusammendrücken. ‚Dann wird der Kahn versenkt. Piet wird sich freuen, wieder eine große Handelsgaleone auf den Grund des Meeres schicken zu können! ‘ Ein tiefes, grollendes Lachen folgte. ‚Aber erst will ich mal sehen, ob hier wirklich nur alles voller Fisch ist! ‘ Während der Junge auf das Splittern des Holzes über seinem Kopf hörte, presste er die Hände zwischen seine Beine um sich nicht in die Hosen zu machen. ‚Vielleicht ist … doch noch … was anderes … hier drin … versteckt! ‘ Die Anstrengung beim Aufhebeln des Kistendeckels war dem Mann anzumerken. Dann löste sich mit einem leisen Knall der Deckel und ein breites, vernarbtes Gesicht mit einem wilden Bart und wirrem dunklen Haupthaar starrte auf den Jungen hinab.
‚Das gibt’s doch nicht! ‘ Ungläubig glotzte der Pirat in die Kiste. ‚Ein blinder Passagier! Ich werde dich …‘ Er packte den Jungen an den Haaren und zerrte ihn aus der Kiste. Mit der freien Hand zog er einen Dolch aus dem Gürtel und hielt ihm den Jungen an den Hals. ‚Stopp, Klaas! ‘ war plötzlich die raue, heißere Stimme von vorhin aus Richtung der Treppe zu hören. ‚Bring den Bengel an Bord der MEERMAID! Aufknüpfen können wir ihn später auch noch. ‘
‚Aye, Käpt’n! ‘ knurrte der bärtige Pirat und zerrte den Jungen zur Treppe. Das lange Hocken in der Kiste und die Angst hatten seine Beine weich wie Pudding gemacht und er konnte keine einzige Stufe nach oben steigen. Der Pirat stieß und zerrte ihn vorwärts und der Junge fiel ein paar Mal auf die Knie, ehe sie das Deck erreichten.
Auf das, was ihn auf dem Deck der Galeone erwartet, war er in keinster Weise vorbereitet. Die Masten des Schiffes lagen zersplittert und kreuz und quer herum. Zwischen ihnen und in einem unsäglichen Gewirr der zerrissenen Takelage lagen jede Menge menschliche Körper, denen zum Teil die Köpfe oder Gliedmaßen fehlten. Das ganze Deck war blutüberströmt. Sein Blick fiel auf einen einzelnen Arm und einen kopflosen Rumpf, aus dessen aufgeschlitzten Bauch die Eingeweide auf das Deck quollen. Ein unbeschreiblicher, ekelerregender Geruch lag über allem und der Junge konnte seinen Körper nun nicht mehr kontrollieren. Er stürzte auf die Knie und noch ehe er sich mit den Händen abfangen konnte, erbrach er seinen gesamten Mageninhalt auf das Deck. Wieder und wieder schien sich sein Magen umzudrehen und sein Blick wurde von einem schier undurchdringlichen Tränenschleier getrübt. Nebenbei nahm er wahr, dass er sich nun doch in die Hose machte. Er hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren.
Dann riss ihn der bärtige Pirat wieder etwas hoch und schleifte ihn, da ein Gehen dem Jungen nicht mehr möglich war, über das blutverschmierte Deck und eine breite Planke an Bord des Piratenschiffes.
Dort band er ihn aufrecht stehend am Hauptmast fest. Dem Jungen fiel der Kopf auf die Brust und die wohltuende Dunkelheit einer Ohnmacht umgab ihn.
Ein Schwall kalten Wassers brachte ihn wieder zu Bewusstsein. Es schien Mittag zu sein, denn die Sonne stand hoch am Himmel.
Der bärtige Pirat, der ihn hierher geschleppt hatte, ließ soeben den Eimer sinken. Neben ihm stand der Kapitän des Piratenschiffes, den der Junge im Laderaum der Galeone nur kurz gesehen hatte. Er war groß und breitschultrig, hatte langes, rotes Haar und einen fein gestutzten Vollbart. Seine Kleider waren aus den feinsten Stoffen gefertigt und seine Füße steckten in weichen, gelben Lederstiefeln.
Er war jung, höchstens fünfunddreißig Jahre alt, und sah überhaupt nicht brutal aus.
‚Wer bist du? Und warum hast du dich an Bord dieser Galeone geschlichen? ‘ Fragte er den Jungen. Die raue und heisere Stimme klang leise und gefährlich. Der Junge überlegte kurz, ob er schweigen, lügen oder die Wahrheit sagen sollte. Dann entschied er sich für das Letztere. Mit tränenerstickter Stimme und gesenktem Kopf erzählte er von seinem Vater und von seinem Wunsch, Piratenkapitän zu werden.
Erst als er geendet hatte, blickte er den Kapitän wieder an. Ein breites Lächeln lag auf dessen Gesicht. ‚Piratenkapitän willst du also werden, mein Junge. Vielleicht lässt sich da ja was machen. Ich brauche immer gute Leute. ‘ Dann verschwand das Lächeln mit einem Schlag aus seinem Gesicht. ‚Ich hab‘ da aber eine bessere Idee, glaub‘ ich. ‘ Meinte er. ‚Ich lasse deinen Vater einen schönen Gruß von dir ausrichten und bitte ihn um ein schönes Lösegeld – vielleicht will er dich ja gerne zurückhaben. Wenn nicht, können wir ja immer noch über eine Karriere als Piratenkapitän nachdenken. ‘ Er rieb sich mit der rechten Hand über das Kinn. ‚Dann kannst du ja dein Lösegeld für mich abarbeiten, Bengel! ‘
Der Piratenkapitän griff an seinen rechten Stiefel und hielt unvermittelt einen langen, schmalen Dolch in der Hand. Seine Hand näherte sich blitzartig dem Gesicht des Jungen und der spürte plötzlich einen glühenden Schmerz an der linken Seite seines Gesichts. Eine heiße Flüssigkeit lief seinen Kopf herunter und in seinen Kragen hinein. Schreien konnte er erst als er sah, was der Kapitän dann in seiner Hand hielt. Er hatte ihm ein Ohr abgeschnitten!
Das bluttriefende Ohr des Jungen übergab er dem bärtigen Piraten neben sich. ‚Schick das mit freundlichen Grüßen an seinen Vater und mach einen Treffpunkt aus. Du weißt schon, wo. ‘ Sagte er, drehte sich um und ging zum Heck des Schiffes, die blutige Hand wischte er im Gehen an seiner Hose ab. Dann drehte er sich noch einmal um und rief dem Piraten zu: ‚Und bind dem Jungen einen Fetzen um den Kopf, oder willst du tagelang das Deck schrubben? ‘ Damit verschwand er in seiner Kajüte.“

Einige Kinder haben entsetzt die Hände vor den Mund geschlagen und starren den Alten mit großen Augen an. Jetzt weinen fast alle. Auch in den Augen von Franz blinkt es verdächtig feucht auf. Er erhebt sich und sagt: „Ich gehe in die Küche und mach dir dein Abendessen, Vater. Dann kannst du essen, während ich die Kinder nach Hause bringe. Ich weiß zwar nicht, ob sich ausgerechnet diese Geschichte als Gute-Nacht-Geschichte eignet …“ Der alte Wilhelm hebt die Hände. „Sie wollten eine Piratengeschichte hören. Und eine andere kenne ich nicht!“ Dann blickt er die Kinder an, nickt bedächtig mit dem Kopf und setzt seine Geschichte fort:

„Nun, das Ende der Geschichte ist schnell erzählt, Kinder. Die MEERMAID segelte einige Tage gen Osten, bis sie in einer kleinen Bucht vor Anker ging. Hier wollte der Kapitän auf das Handelsschiff warten, das das Lösungsgeld bringen würde. Der Junge stand die ganze Zeit an den Mast gefesselt, in sengender Sonne, in der Kühle der Nacht, bei Wind und Regen. Irgendwann hörte der Schmerz in seinem Kopf auf zu Pochen. Das Blut war mit dem Streifen Stoff, den der Pirat ihn um seinen Kopf gebunden hatte, zu einer harten Schale verkrustet. Nur hin und wieder hielt man ihm einen Becher Wasser an den Mund oder stopfte ihm ein Stück Dürrfisch in den Mund.
Dann, eines Abends, kam eine große schnelle Fleute in Sicht. Der Junge erkannte sie als eines der Handelsschiffe seines Vaters. Der Piratenkapitän rief seine Männer an Deck. Alle standen, bis an die Zähne bewaffnet auf dem Hinterschiff, als die Fleute längsseits ging. Als Erster betrat der Vater des Jungen mit einer großen, hölzernen Schatulle das Deck des Piratenschiffes. Den Mann neben seinem Vater kannte der Junge nicht. Er war hochgewachsen, mir einem glattrasierten Gesicht. Der Piratenkapitän ging auf die beiden zu und nahm mit einem dämonischen Grinsen im Gesicht die Schatulle entgegen. Kaum hielt er sie in den Händen, verbeugte sich der große Mann neben dem Vater des Jungen mit einer Hand auf dem Rücken vor dem Piratenkapitän, was irgendwie seltsam aussah. Als er sich wieder aufrichtete, hielt einen Degen in der Hand, der vorher hinter seinem Rücken verborgen gewesen war. Ehe irgendjemand an Bord reagieren konnte, stieß er den Degen in den Hals des Piratenkapitäns. Noch während dieser mit erstaunt blickenden Augen zu Boden sank, erhoben sich, hinter dem Schanzkleid der Fleute verborgene, Männer mit Musketen und feuerten die auf die am Heck versammelten Piraten ab. Diese stürmten mit erhobenen Waffen auf die beiden Männer zu, aber ehe sie diese erreichten, quollen aus der Luke im Deck der Fleute eine Unmenge von Soldaten und strömten an Bord der MEERMAID.
An den Mast des Schiffes gefesselt erlebte der Junge die zweite Schlacht in seinem Leben. Und diese war nicht weniger blutig und grausam als die vorherige. Doch die Piraten waren gegen die Überzahl an Soldaten machtlos und keiner blieb am Leben.
Als Säbelhiebe später seine Fesseln durchtrennten, sank er, wieder einer Ohnmacht nahe und wieder tränenüberströmt, in die Arme seines Vaters.“

Der alte Wilhelm schlägt sanft mit den Händen auf die Armlehnen seines Sessels. „So Kinder, das war’s. Meine Piratengeschichte ist zu Ende!“ In der Stube ist es inzwischen so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. In diese Stille hinein sagt der Alte: „Hört ihr, der Regen hat aufgehört! Franz wird euch gleich nach Hause begleiten. Zieht in der Diele derweil schon mal eure Mäntel an.“
Die Kinder erheben sich und einer nach dem Anderen verlässt still und nachdenklich das Zimmer. Ein Mädchen dreht sich in der Tür noch einmal um und fragt: „Und was ist aus dem Jungen geworden?“
Franz, der gerade mit einem Tablett, auf dem das Abendessen für seinen Vater steht, aus der Küche kommt, sieht diesen und das Mädchen kurz an und sagt dann: „Er ist mit seinem Vater nach Hause gesegelt, hat viele Jahre im Kontor seines Vaters gearbeitet und später das Handelshaus übernommen und zu großem Ruhm geführt!“
Sein Vater nickt und während das letzte Kind das Zimmer verlässt, erhebt sich Wilhelm und geht zum Tisch hinüber, auf dem Franz das Essen bereit gestellt hat.
Franz streicht seinem Vater das lange weiße Haar aus dem Gesicht und küsst ihn liebevoll auf die linke Gesichtshälfte, wo statt einem Ohr nur eine Narbe zu sehen ist.


Impressum

Texte: Alle Personen und Begebenheiten sind frei erfunden.
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Bann der Piraten" bei BookRix vom 20.09. - 20.10.2010

Nächste Seite
Seite 1 /