Vorwort
Die in diesem Buch vereinten Gedichte habe ich alle in den Jahren 1978 – 1982 geschrieben. Einer Zeit also, in der ich 16 - 20 Jahre alt war und wie jeder Mensch eine emotional sehr bewegte Zeit durchgemacht habe. Geprägt von der ersten großen Liebe, der ersten Begegnung mit Leid und Tod und dem ersten großen Selbstfindungsprozess.
Wer jetzt aber erwartet, wirklich große Gedichte vorzufinden, den muss ich enttäuschen. Ich habe nie wirklich gelernt, zu dichten. In dieser Zeit war ich begeisterte Leser moderner Lyrik, die ohne Reime und oft nur in Kleinbuchstaben daherkam. Das habe ich versucht, für mich zu entdecken und meine Gefühlswelt in diese Form zu bringen.
Wenn ich diese Gedichte jetzt öffentlich mache, dann weil ich denke, dass sie lange genug in einem alten Pappkarton rumgelegen haben, ohne zur Kenntnis genommen zu werden. Ich habe auch jetzt nicht mehr daran herum gefeilt, sondern sie so übernommen, wie ich sie damals aufgeschrieben habe. Höchstens ein paar kleine Rechtschreibfehler habe ich entsprechend den neuen Regeln verbessert.
Ursprünglich wollte ich zu den meisten Gedichten kurze Anmerkungen schreiben, um die Zusammenhänge zu erklären. Davon habe ich aber Abstand genommen, weil das zu umfangreich geworden wäre. Fragen beantworte ich selbstverständlich gerne.
Matthias Günther
24. Juli 2010
1978
Flucht und Einsamkeit
Nacht des Verlassenen
Laut hallen Schritte durch finst’re Gewölbe.
Still heißer Atem dunkle Nacht umfängt.
Wehe, Schritte! Unheimlich, laut und fern.
Heißes Gesicht, gepresste Hand lauschend angestrengt.
Graue Schatten an die Tapete zeichnet ein heller Stern.
Nie mehr erwachen, hinsinken in ewige Nacht!
Gequälter Schrei, Schweißperlen. Fern das Käuzchen.
Nie mehr ein Gesicht erfassen, dass ewig bleibt
Im gequälten Hirn – unauslöschbar fest!
Alles muss zu Ende sein. Nie mehr beginnen.
Heißer werdende Glut, Schatten weichen.
Zitternd noch erhobener Leib, unsagbar matt.
Gefurchtes, nasses Gesicht, fast wieder glatt.
Decken zerwühlt in grausamen Schmerzen,
nass von Tränen aus noch blutendem Herzen.
Und doch fast vergangen, vergessen, vorbei!
Weiterzieh’n wie ein Vogel - im Teufelskreis.
Die Wiese
(An einem Sonnenmorgen)
Spinnengeweb‘ in sengender Sonne.
Tausende Diamanten
Tausendmal schöner als in alten Spangen.
Spinnengeweb‘ und Tau.
Zaghaft taumelndes Geflatter
winziger Falter.
Unsagbar zart und herrlich.
Anmutig. Frei sein!
Falter im Sonnenlicht.
Blume traumhafter Schönheit.
Nur für diesen einen Tag geblüht.
Taub und stumm!
Zum Verwelken schon bereit.
Einheitliches Glitzern und Glänzen.
Wiese im Sonnenlicht.
Gänzlich unnahbar!
Unsagbar wunderbar!
Heller Glanz und alleine sein.
Herz und Ohren schließen.
Für alles.
Tief atmen, ohne Furcht.
Nicht schlafen, nur ruh’n.
Einfach liegen, nichts anderes tun.
Die Wiese
(In einer Regennacht)
Dichte feuchte Nebelschwaden
Von unzähligen Stichen
Im Spiel der Regentropfen
Zerissen.
Gras beugt sich dem Wind,
der stärkeren Macht.
Schwermütig sanft
Und oft aufbrausend, tobend
Grollt Donner durch die Nacht.
Regen kühlt die Stirn, das Haar.
Gras duftet, nass und glitschig,
worin das Haupt versinkt.
Im Regen ihre Stimme klingt.
Nass das Hemd, der Leib.
Glücklicher Verlierer sein.
Natur hat gewonnen die Macht
Über mich in dieser Nacht.
Ohne Hoffnung für mich.
Singen wollen und doch lauschen.
Fest am Boden gefesselt
Im Dunkel. Und doch:
Heute verloren, morgen gewinnen!
Morgen früh weicht der nächtliche Bann.
An meine Freundin Karola R
.
Zugvögel flogen vom Norden nach dem Süden.
Ihre Rufe erreicheten das Ohr des Müden.
Auch du gingst vom Norden nach dem Süden.
Auch deine Rufe erreichten das Ohr des Müden.
Müde, ständig nur herumzuzieh’n.
Müde, ein Zugvogel nur zu sein.
Müde, ständig nur zu hören.
Müde, ständig leichtes Glück zu zerstören.
Für alles zu müde. Will nun ruh’n.
Für einmal noch etwas nicht zu müde.
Doch dafür brauche ich dich!
Flucht und Einsamkeit
Er ringt nach Luft doch noch schneller wird sein Schritt.
Er eilet aus dem Hause fort und weiß nicht wohin.
Dann stürzt er nieder und zurück kehret sein Sinn.
Einfach nur vergessen wollte er.
Alleine nur, irgendwo ganz alleine sein.
Wohl, wohl ist er nun allein,
doch wollt‘ er niemals mehr hier her!
Es ist eine Stelle, die er wohl kennt.
Und ihm ist’s, als ob jemand leis‘ seinen Namen nennt.
Es kommen Träume und bringen Erinnerungen mit.
Taub und blind liegt er im Gras,
dort wo am Boden es zerdrückt,
weil erst gestern sie mit ihm dort saß.
Schwer schlägt das Herz in seiner Brust.
Ach, hätt‘ er, als der Traum begann,
doch das Ende bloß gewusst!
Will nun das alles nicht versteh’n,
meint, er wird verrückt.
Muss hoffen, die Enttäuschung wird vergeh’n.
Und voller Angst weiß er:
Es fängt bald wieder an!
Du sollst wissen
Du sollst wissen:
Ich seh‘ dich jede Nacht.
Im Traum.
Die Haar zerwühlt
vom Wind.
Deine Hand
streicht es glatt.
Den Kopf geneigt
auf die Schulter.
Und du lächelst.
Doch du sagt
kein Wort.
Ich seh‘ dich am Tag.
Manchmal.
Alles ist wie der Traum.
Nur
gilt dein Lächeln dann
einem anderen.
Nicht mehr mir
wie vor einem Jahr.
Ich habe gespürt,
damals,
dass du mich liebst.
Wenig Zeit hatten wir.
Zwischen damals und heute
für einander.
Für dich war es
zu wenig.
Ich hätte ruhig gewartet
auf dich.
Noch viel länger.
Doch dein Lächeln
gehört nicht mehr mir.
Darum träum‘ ich von dir
jede Nacht.
Freitags nach der Spätschicht
(für K. R.)
Ein Tag klingt aus.
Es war kein besonderer.
Natürlich werde ich ihn vergessen.
Werde vergessen, was ich mir gewünscht
dass ich wieder umsonst
gewartet hab
auf deinen brief.
dass die hände weh taten
vom bewegen der
heißen ventile des
großen kessels.
dass die augen brannten
und der hals,
als ob sie voll waren
vom methanoldampf.
dass das mittagessen
wieder nicht geschmeckt
dass auch heut‘
die mädchen wieder nett waren
und wir uns geholfen haben
bei zu schweren eimern
und produktionsaufgaben.
dass es wieder zehn prozent
abzug gegeben hat,
wegen arbeitsschutz natürlich.
dass die bahn nicht sofort
kam als ich
nach hause wollte,
und ich froh war darüber,
weil ich so noch reden
konnte mit ihr,
die ebenfalls froh war
nach hause zu kommen
nach drei wochen internat.
sie fährt noch in der nacht,
weil sie nicht warten will
auf den nächsten morgen.
den ich im bett
erleben werde.
mit stereomusik.
vielleicht einem buch
oder auch nur
träumend.
je nachdem wie ich
gerade laune habe.
denn dann wird
endlich wochenende sein.
Sonnabend.
Natürlich wird‘ ich
Nicht zu Hause bleiben.
Vielleicht ins Kino gehen,
vielleicht ein Gedicht schreiben.
Bestimmt auf Post von dir
Warten.
Dieser Morgen
Wird schöner sein
Als der Heutige.
Aber ich weiß: Ein Besonderer wird es nicht werden!
Ich werde ihn vergessen.
Warum?
Ich weiß es nicht.
Es ist eben so.
1979
Ein grauer Strich Vergangenheit
Epilog eines schweren Lebens
(zum Tode meiner lieben Oma)
Nun hast du diese Erde verlassen,
ist das Licht aus deinen Augen gegangen.
Und ich weiß nicht:
Wolltest du schon eher geh’n?
So lange war dein Blick schon stumpf,
fing auch die Pupille noch das Licht.
Und dein Ohr war nicht taub.
Der einst tröstende, gut Mund
Ist so lange schon stumm.
Hab‘ dich gar nicht anders mehr gekannt,
die vielen verflossenen Jahre.
Du warst mir nah – trotz allem.
Denn du warst Mensch
Und bleibst es für mich auch weiterhin.
Wie lang ist es her,
wie schön war es,
wie frei war ich und
wie Kind war ich
immer bei dir.
Hab noch nicht vergessen,
die sorgende Hand,
die mich führte
durch den Morgen meines Lebens.
Später dann tratst du zurück
Hinter andere, die mir wichtiger waren.
Von denen mich viele früher verließen als du.
Ich hab‘ dich nie vergessen,
wenn es dir vielleicht auch so schien.
Du hattest immer Sehnsucht nach mir.
Als wir uns sahen
vor Wochen zum letzten Mal,
vielleicht wußtest du schon
dass es Abschied für immer war.
Ich hab‘ es nicht mal geahnt!
Warum dieses Schicksal?
Warum gerade du?
Warum soviel Leid?
Das hast du nicht verdient!
So lange hast du dem Tod getrotzt.
So viele Jahre deines Lebens verlitten.
Wer weiß, was steht mir bevor,
wenn es mal soweit ist.
Ich will daran nicht denken.
Denn ich habe eine Aufgabe,
noch habe ich ein Ziel,
noch habe ich zu tun.
Noch werde ich gebraucht!
Du bist gegangen.
Konntest nicht mal Abschied nehmen
von uns.
Nur von dir und deiner Welt.
Und trotzdem und deshalb weiß ich nicht:
Wolltest du schon eher geh’n?
Vor der Madonna
(1. Fassung)
Wie du dich einfügst
in die Schönheit des Lichts
in diesem Saal,
wo der Mensch vergisst,
was er ist,
und nur sieht,
dass Schönheit nie vergeht!
Du fesselst meinen Blick
hältst ihn fern
von all dem anderen Schönen.
Versuche zu Lesen
im schwarzen Samt
deiner Augen.
Vielleicht sind sie auch blau.
Doch
ist das wichtig?
Hier, wo sich alles fügt
Der Macht des Glanzes
beben alle Linien und Formen
im Spiel der Farben.
Auch deine.
Nirgendwo
Bist du so schön gewesen.
Oder hab‘ ich das
nur nicht so geseh’n?
Und
hättest du in seiner Zeit gelebt,
bestimmt
hätte er dich gemalt.
An diesem Tag
Für Annette B. im Namen aller Freunde
An diesem Tag
wurde es dunkel in mir.
Ein Licht war verloschen,
das Jahre gebrannt
in meinem Herzen
und weiter lodert
in meinem Denken!
Denn
Ich kann nicht glauben
An das Leben
In jener anderen Welt.
Wo du jetzt bist,
da gibt es kein Leben mehr!
Warum
brechen Hoffnungen so schnell,
kann nur noch Trauer bleiben?
Und alles ohne einen Grund,
ohne Sinn!
Doch
ewig wird sein
was du gesagt,
was du gedacht,
was du gewünscht.
Ewig wird es sein.
Nicht nur in mir.
Du
warst mir eine
Freundin,
eine gute,
und das ist viel.
Denn
wie wenig Menschen
lernen es,
ein guter Freund zu sein.
Und das für so viele
In einem so kurzen Leben!
Wie
kann ich dir danken
dafür?
Für schöne Tage
und schwere Stunden,
für so viele Jahre?
Ich weiß,
das Licht,
welches erloschen ist
in meiner Brust
und weiterbrennt
in meinem Hirn
ist hell genug,
einen Weg mir zu weisen.
Abendsinnen
(1. Fassung)
Ein grauer Strich Vergangenheit
wirft auf den herbstroten Himmel
einen Schatten der Ahnung
seltsamer Furcht, trübsinniger Einsamkeit.
Unheimliches Schweigen stöhnt
aus zerfallenen Wänden
trostlosen Fensterhöhlen,
das den Liebenden alleine macht.
Voller angsterfüllter Verzweiflung
sich in die Ruhe werfend,
bringt auch die tönende Freundin
nur Perlen des Unglücks ans Licht.
Seine Erschütterung reicht aus
den traumlosen Schlaf zu zertrennen.
das jahr einer großen liebe
herbstbunter blätterregen der plötzlich begann,
ließ mich deine hände in stille finden.
noch angstvoll, voll böser ahnung die ich trug
erschien hoffnungslos wieder zu beginnen.
ich dankte nur dem einzigartigen kometen.
zweisame schritte wurden gedämpft so lange
von einem weißen teppich, den unser fuß berührt.
wie schnell er uns zu einander geführt!
es gab kein zeitgefühl, das in uns war,
lieben war ein wunsch, der immer blieb.
hände und gesichter, die sich fanden
zur alten liebeszeit trennte angst.
in uns blieb bis heute offen die frage,
aus welchem loch sie gekrochen kam,
eh‘ sie uns einschloss in sich.
feuchte graue morgen, grünes gras
das sich unter unseren füßen willig senkte,
von liebe angeheizte luft über uns,
und nach der ermattung bleibt ein nichts.
ich weiß, dass ich noch immer warten muss.
wenn schmutziges weiß von den dächern rinnt,
wenn ich meine schritte nicht mehr fühle,
bleischwere angst von meinen händen fällt,
dein gesicht mir völlig die lider schließt,
werd‘ ich sinken können in dich.
1980
Denn ich bin ein Teil der Erde
Frühling
Staunend
erhebt sich der Wind
Von seinem weißen Lager,
tritt die Sonne
einen Schritt näher zu uns.
Mit einem Schein Schüchternheit
greift der Vertraute deine Hand.
Euch
neigen die Blumen ihre Köpfe,
reichen einen Schoppen Nektar
voller Güte euch herauf.
Abendsinnen
(2. Fassung)
Welch grauer Strich Vergangenheit
wirft auf den herbstroten Himmel
einen Schatten der Ahnung?
Auch die tönende Freundin
bringt nur Perlen des Unglücks ans Licht,
wenn aus zerfallenden Wänden
und trostlosen Fensterhöhlen
angstvolles Schweigen bricht.
Den traumlosen Schlaf
trennt die Angst,
die den Liebenden alleine macht.
Vor der Madonna
(2. Fassung)
Unergründliche Tiefe
in lichtgefüllten Blicken,
in die wir uns senken
um uns zu erkennen.
Nie vergehende Schönheit
schließt uns ein in sich.
Zwecklos,
dagegen zu sein.
Dieser Macht fügt sich alles.
Außer einer HANDVOLL LIEBE.
Warschau-Okecie
(14. März 1980)
sie steht
mit blumen in den händen
am ende der rollbahn.
das blau des himmels
verbrennt,
erstickt im kerosingetränkten rauch
der wie ein banner unglück über denen schwebt,
die in freudvoller sehnsucht erwarteten,
was im bruchteil einer sekunde
ausgelöscht.
wunsch
flügel
wünsch ich deinen träumen,
die gefangen sind in dir.
mögen sie dich mit sich tragen,
wenn sie flieh’n zu mir
glück
die sonne fällt durch deine hände
in mein gesicht
mit geschlossenen augen
sehe ich deine liebe
in der die welt mein eigen wird.
die lippen öffnen den den mund voll luft nehmen
die nach deinem atem schmeckt
einen augenblick ruhe der zeit gönnen
und uns auch.
dann
einen windhauch im haar spüren und wissen
dass kein augenblick verweilt
die hände sich finden lassen wo sie woll’n
und geborgen sind.
deck über unser glück den mantel deines haar‘s
damit die wärme hält, solange wir es woll’n!
Variationen über eine neue Liebe
I
Mein Herz,
Staudamm im Fluss
Liebe,
auf das ich mich anfülle mit ihr,
erzeugt die Kraft,
die mich
ikarusgleich
alle Mahnungen vergessen lässt.
II
Abheben können
vom Boden des Alltäglichen!
Die Arbeit vergessen,
das Essen, den Schlaf –
Illusion im Raum
Phantasie!
III
Du,
Staubkorn im Universum
Liebe,
kreist in meinem Blut.
Du
schlägst den Puls in mir,
unter dessen Schlägen
ich mitunter zusammenzucke,
da ich sie schon einmal
so zu spüren glaubte.
aufbruch
in die ecke gestellt den traum vom schlagerstar.
den flieger, forscher, arzt verpackt in die schubfächer der zeit.
ein bild vom leben häng‘ ich an die wand.
die erinnerung hält mit genug vor augen die vergangenheit.
blind scheint der spiegel geworden zu sein.
wo sind der glanz der zukunft, die reinheit der linien des lebens,
die ich so oft darin gefunden habe?
blind scheint der spiegel geworden, ich such‘ sie vergebens.
einen weg suchend stehe ich hier.
zwischen dem wissen anderer und dem eigenen leben.
durcheinandergewirbelt vom wind, weil das fenster offen
und jemand die tür geöffnet um die klinke in meine hand zu geben.
ich greife danach, weil ich wissen will,
wer mir den weg zeigt und wohin ich gehen werde.
mit hocherhobenem kopf kann ich gehen,
denn ich bin ein teil der erde!
abend am strom
angezogen die knie
den kopf in die geschlossenen arme
gelegt
geborgen sein im eigenen schoss
aufnehmen mit jeder pore
die romatische stille
voller dankbarkeit
ausleben die minuten
denn
schließt du hier die augen
gibt die welt mehr farben dir
als die pupille fassen kann
königstein
schrieben jahrhunderte ihr gesicht
schlugen wunden ihr die nie vernarben
wie solche die geheilt
und sie schlug zurück
prägte jeder zeit ihr zeichen auf
steht wie von riesenhand
auf dem felsen fest gebannt
doch waren es nicht eher bauernhände
Ungezählt und ungekannt
von meistern gelenkt
voller hass und trotz und stolz
die ihr antlitz schufen
gierig streckte sie ihre krallen
nach des volkes reichtum aus
gefürchtet
gehasst
verflucht
verrufen
am liebsten verbrannt
hat die zeit sie überdauert
wir stehen und wir heben
unseren blick zu ihr
möchten zu gern wissen
ob in jahrhunderten
über uns sie noch künden wird
und wir wollen
unseren anteil daran haben
indem wir eingraben
unsere zeichen in ihre haut
erinnerung an s
.
einmal hat sie die hände mir gereicht
doch es graute ihr vielleicht
vor ihrem eignen mut der sie
hinabtrug so weit wie noch nie
voller schauder riss die hände
sie von mir zurück uns blieb am ende
nach der hoffnungszeit
nichts als kalte einsamkeit
trauer
(erinnerung an oma)
der wind streift durch das purpur des weines
der einem gitter gleich vor deinem fenster hängt
du kannst nicht fliehen vor der erinnerung
die sanft er hineinträgt zu dir
und sie behutsam in deine arme legt
damit sie sich umfängt wie eine freundin
das blasse gesicht löst aus einem hellen nebel sich
da du es siehst greifst du nach ihm voller angst
es noch einmal zu verlieren und für immer
dir schweigt die welt wenn die stimme dich umwallt
die dich getröstet und die du gebraucht zu jener zeit
die mancher heute schon vergessen will
als deine kindheit du mit ihr begrubst
hast du schon lange gewusst dass es zeit wird
wenn sie nicht noch länger leiden soll
keiner hat die tränen gesehen die dein herz geweint
und heute könntest du es herausschreien aus dir
was du damals tief in dir verborgen hast
prometheus
der das feuer der erde brachte
an den felsen gefesselt
mit dem adler auf der brust
(sieht der nicht wie ein geier aus)
reißt an der fessel seit ewigkeiten
an den ketten klebt sein blut
doch hat er einen arm bereits befreit
und mit geballter faust
schlägt er dem vogel ins gesicht
wird die letzte fessel fallen
dem peiniger er das rückrat bricht
bauernrauferei beim kartenspiel
(zu dem gleichnamigen bild von adrian brouwer)
in einer schenke
da lässt einer den biertopf zerschellen
auf dem bauernschädel des betrügers
während der dritte nach dem messer greift
die karten vergessend
das dünne bier
den sauren wein
alltagsgeschehen in das keiner sich einmischt
glaubwürdiges zeugnis
unserer vorfahren
ausgestellt vor drei jahrhunderten
merkt man nicht heute noch
mitunter
die vererbungstheorie
Elegie eines Einsamen
Und wieder versinkt die Zeit
im Labyrinth der Vergangenheit.
Wieder spüre ich die Macht
einer so lange vergessenen Nacht.
Zu tief drang ein Pfeil in mich ein
als das nur Narben geblieben sein.
Dies Blut wird nie gestillt,
wenn es auch zu vergessen gilt!
Die Zeit treibt mein Leben voran.
Ich halte Schritt so gut ich kann.
Nur selten geht mein Blick zurück.
War es nah, ist es noch fern – das Glück?
herbstphantasie
unter herbstblätter mischt der wind meine träume
treibt sie vor mir und der zeit dahin
kreiselndes farbenspiel im spiralentanz
ich stehe und sehe ihnen hinterher
griffe meine hand dazwischen existierte dieses spiel nicht mehr
blätterstaub senkte zu boden sich gleich bedrückender eleganz
und mir drängt sich die frage in den sinn
was ich würd ich würd ich sie bremsen wohl versäume
geborgenheit
(für gaby g.)
deine hände strahlen
die kerze
in meinen körper tief
umfängst du mich
geborgenheit
auf unseren wänden liegen
gestaltlose schatten
verwischen unsere spuren
verhängen unseren weg
lass uns die lider schließen
für einen augenblick
und alles vergessen
im augenblicklichen sein
in dem wir nur uns gehören
fahrt nach königstein
zurückgelehnt in die polster der plätze
wieder im endspurt erobert
stellen wir befriedigt fest
alles gepäck wohlverstaut zu haben
fast könnte man meinen
wir treten eine urlaubsreise an
im rythmus der schienenstöße
schlafen die gespräche ein
die gedanken schweigen nicht
und wir hängen ihnen nach
fragen bewegen uns die noch
unausgesprochen bleiben vorerst
da sie ja doch noch keiner
zu beantworten vermag
unbewusst warten wir
auf die fahrkartenkontrolle
die wieder einmal ausbleibt
man hat vertrauen scheint’s
oder es fehlt der reichsbahn an leuten
die landschaft verändert sich
hinterm fensterglas
langsam gewinnt die natur
über die kultur die oberhand
eine scheinbar unerschütterliche welt
drängt sich in unseren blick
nur wenn man genau hinsieht
erkennt man da und dort die ordnende hand
mitunter gelingt es mir
die landschaft mit den augen
des alten kaufmanns zu sehn
der mit seinem wagen ins böhmische zieht
oder mit denen des leibeigenen bauern
der sein armselig feld bestellt
mehr steine gedeih’n als kartoffeln
in der schweißgetränkten erde
und in den augen der freunde sehe ich
dass auch sie clio bereits umfangen hat
unsere gedanken kehren zum heute zurück
wenn wir voller ungeduld uns erheben
die mäntel nehmen das gepäck aufbürden
den bahnsteig betreten und auf den weg uns machen
ehrung
fünfeinhalb zeilen
gedruckte trauer
ein plasteblumengebinde
von der kollegen und der bgl
und später
ein pausenthema
auf seinem grab
ständig frische alpenveilchen
seine lieblingsblumen
überweht von einem hauch
letzter mütterlicher fürsorge
die birke
und als sie gelehnt an grauen putz über roten ziegeln die grüne krone
noch stand die birke mit ihrem zarten weißen stamm kaum befleckt
wunderte sich keiner dass sie da stand und spendete atem
in der giftigen luft dicht neben dem schornsten der raucht noch immer
und als sie da lag zerissen ihre lebensfasern von den zähnen der säge
ein haufen feuerholz auf dem grauen betonboden neben dem schornstein
da fragte sich mancher wie sie dahin gekommen war ins werk
und wie lange sie eingentlich gelebt in der vergifteten luft
An den Morgen
Reiß den blauen Vorhang beiseite
Morgen!
Ich geb‘ was drum, könnt‘ ich sein
wie du.
Stille in den Armen halten
vor dem Lärm des Tags.
Kraft und neues Woll’n verbreiten.
Voll des Reizes des Außergewöhnlichen,
des Alltäglichen sein!
Nicht so möcht‘ ich sein:
Unbeachtet zur Kenntnis
genommen werden!
Viola tricolor
oder: Neubeginn
(nach einer Novelle von Theodor Storm)
Halt Einzug,
Gegenwart,
in den Garten der Vergangenheit!
Warum
hat‘ ich Angst vor diesem Augenblick,
in dem
längst gebrochene Rosen
aufblüh’n
für Dich?
Beim Hinfall aller Werte
verlang‘ ich nun deine Hand.
Für die, die es brauchen
sei Mutter
und sei Frau!
abschied vom alten jahr
in kiefernadelduft und kerzenschein gehüllt
ein leeres glas
ein halb gefülltes
eine angebrochene flasche rotwein
verschwindet
ein jahr in die vergangenheit
es stößt das fenster auf
winkt
blickt nicht zurück
macht einen großen satz
verschwindet
rücksichtslos in die vergangenheit
dich zurücklassend einsam
hingesunken
auf das bett
den erstbesten stuhl
verschwinden
tage deines lebens in die vergangenheit
kiefernadelduft und kerzenschein
ein leeres glas
ein halb gefülltes
eine angebrochene flasche rotwein
vielleicht
kannst du was machen daraus
1981/82
Im Flügelschlag der Zeit
Abendsinnen
(3. Fassung)
Welch grauer Strich Vergangenheit
wirft auf den abendroten Himmel
einen Schatten Ahnung?
Freundin,
deine Nähe bringt ans Licht
zerfallende Wände,
trostlose Fensterhöhlen,
mein angstvolles Schweigen.
Traumlosen Schlaf
trennt Angst
die kalte Liebe bringt.
Ein Stückchen Rinde
(für Franziska)
Ein Stückchen Rinde vom Baum des Lebens,
liegst du in der Wiege deiner Zukunft.
Und in deinem unbeschwerten Lachen lese ich,
dass du die Kraft hast, in diese Welt zu treten.
Du bist es nicht, die angstvoll zurück will wo sie herkam.
Du bist es nicht, die das Glück der Eltern verflucht.
Du bist die Kraft und die Liebe, die du weitergeben sollst.
Du bist die Spur, der die Späteren folgen sollen.
eden
als der mensch den bannkreis erde durchbrach
starb in unseren gewissen der allmächtige gott
jetzt steh’n wir anfangs des wegs die hölle zu besiegen
denn dann erst könnte eden uns erblüh‘n
erkannt
es fällt von den schultern die angst
gedachte worte verlieren ihren sinn
gesprochene holt man nicht zurück
im licht der blitze sehe ich
den sinn der zeit
durchwachter nächte
gerungen um uns
die Tränen niedergekämpft
zumindest verborgen
und mit dem morgen
sehe ich unsere zukunft
denn wir haben uns erkannt
kurzurlaub
unter brückenbögen
atme ich mit der nacht
voller augenblicklicher heftigkeit
danach
fliehende sekunden festhalten woll’n
mit blicken und feuchten fingerspitzen
nach tagen
such‘ ich in nächtlicher kühle
deine spuren auf meiner haut
alexabend
der wind legt eine decke
fontänenschleiertropfen
über den staub
es pulst der abend durch mich
aus dem zarten gewebe
ein winziger stein legt sich
auf deinen hals
und leuchtet mit deinen augen
um die wette
einzelne bänke
noch liebeswarm und
hautfeucht
verkriechen sich in die geborgenheit
der alexnacht
Unterwegs
Find mich
im Flügelschlag der Zeit
dahingeweht.
Mit gefüllten blicken sehend
das gestern
ahnend nur die Zukunft.
Den Weg jetzt vorzeichnend
zugehend auf sie
im Feuer des Seins
härter werdend
doch nicht unempfindlich
für die Welt
weil ich sie spüren muss
um den richtigen Weg zu finden.
schwäche
morgens erwachen
nach nichtschlaf
mich findend
in deiner tiefe
ertrage ich schwäche
jetzt erst
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2010
Alle Rechte vorbehalten