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Es war elf Uhr morgens als Art Karas erwachte. Er drehte sich schwerfällig auf die Seite und taste auf der anderen Bettseite herum. „Pat?“ murmelte er schlaftrunken. „Oh man, Pat“ stöhnte er, als er merkte dass da niemand war. „Konntest du nicht noch etwas bleiben, Patricia?“
Er hatte die dunkelhäutige Schönheit mit den großen Augen gestern Abend in einer Bar kennengelernt und nach wenigen lustvollen Blicken und ein paar flotten Sprüchen war sie nur zu gern bereit gewesen, mit zu ihm zu kommen.
Die Nacht war schöner geworden, als er vorher gehofft hatte. Und im Stillen hatte er darauf vertraut, heute morgen nach dem Aufwachen noch etwas verwöhnt zu werden.
Wenigstens sagten ihm ein paar lange schwarze Haare auf dem Kopfkissen, dass er nicht geträumt hatte.
Er schwang die Beine aus dem Bett und erhob sich langsam. Auf dem Bettrand sitzend sah er sich um. Das Zimmer sah aus wie immer und wie jedes, das er kannte. Ein riesiges Panoramafenster an der einen Wand, das aber tagsüber meist abgedunkelt blieb, denn das grelle Sonnenlicht hätte die Atmosphäre des Zimmers zerstört. Eine bequeme Sitzecke mit Multifunktionskonsole füllte den größten Teil des Zimmers aus. An der anderen Wand, genau gegenüber seinem Bett, befand sich sein Arbeitsplatz. Ein sehr bequemer Sessel vor einem großen Pult, in dessen Oberfläche verschiedene Computer und Tastaturen eingelassen war. An der Wand darüber ein riesiger Bildschirm. Der Bildschirmschoner lief und zeigte eine fremde Planetenoberfläche, auf der Menschen herumliefen und mit altertümlichen Werkzeugen kleine Häuser bauten.
Art stand langsam auf und begab sich zur Waschzelle. Nachdem die Tür hinter ihm sich leise surrend geschlossen hatte, gab er auf einem Display neben der Tür einige Angaben ein. Daraufhin erklang angenehme leise Musik, in die sich seltsame Tierstimmen mischten. Die Beleuchtung schaltete sich ein und nahm eine warme, gelbliche Farbe an. Auch die Temperatur wurde angenehm warm. An den Wänden wandelten sich die bisher weißen Fliesen in sattes Grün und zeigten allmählich eine detailgetreue Landschaft. Hohe Bäume, von denen Lianen bis zum Boden hingen, dichte Farne und tropische Büsche am Boden. Die Fußbodenfliesen hatten die Farbe und die Temperatur warmen Lehms angenommen. „Im Wald der Mayas“. Das war Art‘s Lieblingsdekoration für das morgendliche Bad.
Inzwischen hatte sich auch das Badebecken in der Ecke des kleinen Raumes gefüllt. Art ließ sich langsam hinein sinken und genoss die Wärme, den Duft und die Stimmung. Ab und zu richtete er sich in dem Becken etwas auf und betätigte einen kaum sichtbaren Knopf an der Wand, worauf ein sanfter Schauer kühlen Wassers aus der Decke über seinen Körper rann.
Als er dem Becken entstieg, setzte er sich in die Nische daneben und sofort begann ihn ein sanfter, warmer Luftstrom von allen Seiten zu umfließen.
Nachdem er sich so hatte trocknen lassen, öffnete er eine kaum sichtbare Tür seitlich an der Wand und entnahm aus dem dahinter befindlichen Schrank neue Unterwäsche und einen leichten, weißen Anzug.
Mit einem Druck auf das Display neben der Tür löschte er alle Lichter, Töne und Illusionen und verließ den Raum.
Jetzt würde er ins Café hinunter fahren und erst einmal ein ausgiebiges Frühstück einnehmen.
Doch gerade als er das Zimmer verlassen wollte erklang eine leise Melodie und eine Taste an der Multifunktionskonsole blinkte. In der Hoffnung es sei Patricia, die sich für ihren so zeitigen Aufbruch entschuldigen und sich noch einmal mit ihm verabreden wolle, ging er hinüber und betätigte die leuchtende Taste.
Die Luft über der Konsole schien für einen Moment zu flimmern, dann erschien das dreidimensionale Bild einer jungen Frau mit langen roten Haaren und wunderschönen braunen Augen. Verdutzt und etwas verärgert starrte Art auf die Frau an. „Jessie? Was willst du?“ Jessica Karas sah auch nicht gerade begeistert aus, als sie ihrem Ex-Ehemann ins Gesicht sah. „Entschuldige, Art, dass ich dich so früh störe. Wie ich dich kenne, hast du noch nicht mal gefrühstückt.“ Art nickte instinktiv. „Aber ich muss unbedingt mit dir reden. Ich würde heute Nachmittag gerne bei dir vorbeikommen.“
„Ich weiß nicht, Jessie“, Art schüttelte den Kopf. „Eigentlich bin ich heute mit Paul und Jerome zum Spielen verabredet. Du weißt schon: Fight on – der große Showdown!“
„Ihr und eure dämlichen Computerspiele!“ Jessies Unmut war ihr anzusehen. „Könnt ihr das nicht auf etwas später verschieben? Ich muss unbedingt mit dir reden. Es ist wichtig, sehr wichtig. Und: Es ist unaufschiebbar. Es muss heute sein, Art. Bitte, gib mir eine Chance!“
Sie sah ihn mit ihren großen braunen Rehaugen an und Art wusste sofort, dass er das Spiel absagen würde. Er hasste diese Frau. Ein solcher Blick von ihr und er war ihr verfallen. Schon immer und immer, immer wieder. Es hatte nichts genutzt, dass sie mit diesem Bio-Freak abgehauen war, dass sie die beiden Kinder mitgenommen hatte, dass sie die Kinder kaum zweimal im Jahr zu ihm ließ. Nichts von ihren Gemeinheiten änderte etwas daran, dass er verfallen war.
„Okay, Jessie“, meinte er dann, „komm gegen drei zu mir. Bringst du wenigstens die Kinder mit? Ich würde sie so gern mal wieder sehen.“ Jessica sah auf einmal selbst etwas traurig aus. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Ihre roten Haare wehten leicht um ihren Kopf. „Nein, Art. Das geht nicht. Ich muss etwas mit dir besprechen, das sie zwar betrifft, von dem sie aber noch nichts wissen sollen. Aber Caspar wird mitkommen.“
Jetzt wurde es Art zu viel. „Nichts da, Jessie! Diesen Freak möchte ich hier nicht sehen, dass weißt du!“ Jessica war anzumerken, wie sie sich zur Ruhe zwang. „Dieser Freak, Art, ist mein Lebenspartner! Und er wird mich begleiten. Überall hin, wenn es sein muss. Nicht wie du, der ständig nur zu Hause hockt, vor seinen Rechnern und Konsolen! Der seit Jahren keinen Schritt mehr vor das Haus gesetzt hat! Der nur in seiner Illusion lebt!“ Sie hatte sich nun doch in Rage geredet. „Ach vergiss es“, sagte sie dann. „Caspar wartet eben unten im Wagen auf mich, wenn du ihn partout nicht sehen willst. Ich muss jedenfalls mit die reden.“ Nach diesen Worten trennte sie die Verbindung und das Bild erlosch.
Art Karas kochte innerlich. Diese Biest hatte seinen ganzen Tagesablauf durcheinander gebracht. Das war etwas, das er überhaupt nicht leiden konnte. Unruhe, Unordnung und Unvorhergesehenes. Nur beim Spielen, da war das was Anderes. Sonst wäre es ja langweilig.

Ein paar Minuten später erreichte Art den Frühstücksraum im Café des Wohnkomplexes. Es war inzwischen kurz nach zwölf Uhr. Um diese Zeit war schon fast kein anderer Bewohner mehr hier. Nur an einem Tisch in der Ecke saßen zwei ältere Frauen, die sich die Zeit bis zum Mittagessen mit einem großen Eisbecher vertrieben.
Art suchte sich einen kleinen Tisch am Fenster und gab auf der elektronischen Speisekarte seine Wünsche für das Frühstück ein. Während er auf den Servierrobot wartete, sah er aus dem Fenster. Aber der Ausblick war nicht besonders. Das Café lag in der 30. Etage des Wohnkomplexes und damit zu hoch, um von den Vorgängen unten auf der Straße etwas mitzubekommen. Winzig kleine Wagen drängten sich aneinander vorbei und die wenigen Leute, die sich zu Fuß von den am Straßenrad geparkten Wagen zu den Eingängen der Häuser begaben, war kaum etwas zu erkennen. Vom Restaurant, in dem man mittags oder abends speisen konnte, hatte man wenigstens einen Blick über die Dächer der Stadt. Das lag aber auch in der 135. Etage! An einem klaren Abend konnte man sogar die Bergketten am Horizont erkennen. Art hatte schon gewusst, warum er seine Wohnung im höchsten Gebäude seines Stadtviertels genommen hatte.
Der Robot kam heran gerollt und stellte das Tablett mit dem Frühstück auf dem Tisch ab. Dann zog er sich ins Lager zurück.
Art Karas begann zu frühstücken. Doch statt sich wie gewohnt, zurückzulehnen und den Begin des Tages zu genießen, kam ihm wieder und wieder Jessica in den Sinn. Was hatte sie bloß dazu bewogen, aus diesem Wohnkomplex auszuziehen? Gut, es war etwas teuer hier. Aber dafür hatte man jeden nur erdenklichen Luxus. Die Wohnräume waren mit der neuesten Technologie ausgestattet, der Service schnell und diskret. In diesem Gebäude gab es alles, was man brauchte. Gaststätten und Bars, Spielhallen, Shoppingmeilen, Friseurgeschäfte, Kinderbetreuung, Innen- und Außenbadeanlagen und so weiter und so fort. Man brauchte den Wohnkomplex tatsächlich sein Leben lang nicht verlassen.
Und sie war mit diesem Bio-Freak abgehauen. Irgendwohin aufs Land gezogen. Hatte sich einer dieser blöden Freakshows angeschlossen, die ihre Nahrung selbst anbauten und ihre Kinder den ganzen Tag im Freien spielen ließen, wo sie allen möglichen Gefahren ausgesetzt waren! Ihre Kinder? Unsere Kinder, dachte er. Wie er den zwölfjährigen Jamie und die achtjährige Janine vermisste! Und wie sehr er bedauerte, dass sie unter solchen Bedingungen aufwachsen mussten! Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren sie kaum wiederzuerkennen gewesen, so schmal waren sie geworden. Er hatte noch nie in seinem Leben so dünne Kinder gesehen. In seinem Innersten war er überzeugt davon, dass sie in weniger als einem Jahr verhungert sein würden. Es sei denn, Jessie würde endlich zur Vernunft kommen und zu ihm zurückkehren. Oder sie gab die Kinder zu ihm. Das wäre bestimmt besser für sie. Vielleicht könnte er heute ja mit ihr darüber reden. Kurz nachdem sie ausgezogen war, hatte er mal versuchen wollen, mit einer richterlichen Anordnung die Kids zu sich zu holen. Er hatte es dann aber gelassen, da die Gerichte für solche innerfamiliären Fälle ja sowieso ewig brauchen und es nicht gesagt war, ob sich überhaupt jemand damit beschäftigen würde. Vielleicht hätte er aber auf die Gefahren für die Kinder in dieser Umgebung hinweisen sollen. Naja, jetzt war es wahrscheinlich eh zu spät. Und mit Behörden rumzustreiten würde nur wieder Unruhe in sein Leben bringen.
Sein Blick fiel auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Zwölf Uhr dreiunddreißig. Wenn Jessie gegen drei bei ihm sein wollte, musste er langsam mal an seine Arbeit gehen. Viel Zeit blieb dafür heute nicht, denn vor dem Treffen mit ihr musste er ja wenigstens noch Mittag essen und noch mal ins Bad.

Kurz darauf saß er an seinem Arbeitsplatz in seiner Wohnung und fuhr die Rechner hoch. Wie gewohnt, meldete sich zuerst der Nachrichtenkanal. Auf dem Bildschirm war das weite Areal des Raumflughafens Porto Solaris zu sehen. Im Hintergrund ein gigantisches Raumschiff. Die hübsche Frau im Vordergrund kannte er von anderen Sendungen. „…steht der Start der AURORA 4 kurz bevor.“ Sagte sie gerade. „Wieder werden…“ „… etwa 2.500 Menschen die Erde verlassen und einer neuen Heimat entgegenfliegen, bla, bla, bla“, ergänzte Art den Satz, den er in den letzten Tagen schon mehrere dutzend Mal gehört hatte, und schaltete den Nachrichtenkanal weg.
Dann loggte er sich auf seiner Arbeitsebene ein. Auf dem Monitor an der Wand war jetzt ein ähnliches Bild wie vorhin zu sehen. Ein riesiges Raumschiff auf der Startrampe, dahinter ein weiter Sternenhimmel. Untermalt von sphärischen Klängen erschien jetzt die Aufschrift „Besiedlung des Universums 5“ auf dem Bildschirm. Art begann zu Spielen.
Er hatte es geschafft! Als Einem von ganz Wenigen war es dem gelernten Programmierer gelungen, eine Anstellung als professioneller Spiele-Tester bei einer der größten Softwarefirmen zu bekommen. Dadurch hatte er sein Hobby zu Beruf gemacht. Jessie hat das überhaupt nicht gepasst. Schon wieder spukte ihm diese Frau im Kopf herum! Dabei musste er sich auf seine Arbeit konzentrieren.
Bei „Besiedlung des Universums 5“ handelte es sich um eine Aufbausimulation mit aktuellem Hintergrund. Seit vielen Jahrhunderten war die Erdbevölkerung ständig gewachsen und obwohl fast alle Städte der Welt nur noch aus gigantischen Wohnanlagen, die sich weit in den Himmel reckten, bestanden, war nicht genügend Platz mehr für alle Menschen auf dem Planeten. Die Raumfahrt war bereits weit fortgeschritten und auch der Kontakt zu einigen wenigen interstellaren Lebensformen war bereits hergestellt. So hatten die Menschen damit begonnen, im gesamten Universum nach Planeten zu suchen, die sie besiedeln konnten. Fast jedes Jahr startete jetzt ein sogenanntes Kolonieschiff ins All. Bis an die Grenzen des schon besiedelten Raumes ging es mit Hilfe der durch die befreundeten Aldebaraner installierten Sprungtore relativ schnell. Doch dann kam die Weite, die Unendlichkeit. Hier wurden dann die Menschen an Bord in speziellen Tiefschlafkammern über Jahrzehnte oder länger am Leben erhalten, ohne das sie erwähnenswert alterten. Erst kurz vor dem Eintauchen in die Atmosphäre des einprogrammierten Planeten wurden sie durch die Automatik des Schiffes geweckt. Von da an waren sie auf sich selbst gestellt.
Und hier setzte das Spiel an. Man hatte immer 2.500 Personen zur Verfügung. Männer, Frauen und Kinder aller Altersstufen und mit unterschiedlichen Voraussetzungen konnten eingesetzt und ausgebildet werden. Das Schwierige war, dass man am Anfang nur wenige Spezialisten hatte und jede einzelne Figur auch noch einen ganz persönlichen Charakter verpasst bekommen hatte. Es konnte also passieren, dass zum Beispiel der einzige Holzfäller an Bord ein total faules Stück war und den halben Tag lieber in der Sonne lag, als seine Arbeit zu verrichten. Wie soll man da schnell genug Hütten bauen können? Man musste sich eben was einfallen lassen, um den Holzfäller motivieren, richtig!
Aber selbst wenn man die Arbeitsabläufe und den Aufbau der ersten Siedlung schnell genug in den Griff bekam, gab es fast immer Probleme mit dem Zusammenleben der Siedler. Man musste seine Augen überall haben, sonst hatte sich irgendwann die ganze Mannschaft ausgerottet oder war verhungert. Auch die Gefahr, von wilden Tieren oder feindlichen Raumfahrern angegriffen zu werden, oder durch Naturkatastrophen vernichtet zu werden, bestand permanent. Und dann hieß es einfach: „GAME OVER!“
Was Art in der Wirklichkeit für völlig hirnrissig hielt (Wie konnte man sich freiwillig für zig Jahre konservieren lassen, nur um dann mit primitivsten Mitteln Unterkünfte zu bauen und Nahrung zu erzeugen um irgendwie dahin zu vegetieren?) machte ihm im Spiel richtig Spaß. Es war einfacher als zu programmieren, aber wenigstens musste man dabei noch etwas nachdenken.
Fast zwei Stunden hatte er weder an Pat noch an Jessie oder die Kinder gedacht. Dann war Zeit zum Mittagessen.
Er loggte sich aus. Seinen Testbericht würde er heute Abend schreiben. Aber zuerst musste er mal das virtuelle Treffen mit Paul und Jerome absagen! Die würden nicht gerade begeistert sein. Aber sicher fanden sie für heute mal einen anderen Partner im Netz.

Er schaffte es gerade so, sein Essen hinunterzuschlingen, zu baden und sich umzuziehen, bis Jessie sich über die Sprechanlage am Eingang meldete.
Er empfing sie in einem strahlend blauen, samtweichen Hausanzug, dessen Aufschläge und Säume mit einer schmalen goldenen Borte verziert waren.
Jessica sah, obwohl sie ungeschminkt war, einfach umwerfend aus! Die langen roten Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten und über die Schulter gelegt. Sie trug eine dunkelrote Tunika mit silbernem Besatz und einer ebenfalls silberfarbenen Spange auf der Brust. An den Füßen trug sie – nichts?! Sie war barfuß. Wie konnte sich ein Mensch so aus dem Haus trauen? Hatte sie jetzt völlig den Verstand verloren?
„Hallo, Jessie“, sagte er und wies mit der Hand einladend auf die Sitzecke. „Hi“, sagte sie, „schön dich zu sehen.“ Dann nahmen beide Platz und Art entnahm einem in die Wand eingelassenen Kühlschrankfach zwei Getränke. „Bitte“, sagte er und stellte ein Glas vor ihr ab. Sie lächelte ihn an und nahm das Glas. Sie roch an dem Getränk, verzog ein wenig angewidert das Gesicht, hob es ihm aber entgegen und sagte: „Na dann: Prost, Art! Auf deine Gesundheit!“ Irgendwie klang es spöttisch, dachte er.
„Was siehst du mich so an?“ fragte Jessica nach einer Weile, in der sie sich über Belangloses unterhalten hatten.
„Du siehst wunderschön aus. Aber irgendwie“, er suchte nach Worten, „irgendwie ungesund.“ Jessie lachte. „Ungesund? Ich hab‘ zwanzig Kilo abgenommen, seit ich das letzte Mal hier war!“ Er erschrak. „Du bist krank, Jessie, stimmt’s? Darüber willst du mit mir reden. Was dann mit den Kindern sein wird, wenn du …“ Er brach plötzlich ab. Jessica schüttelte den Kopf und lacht immer noch. „Krank? So ein Unsinn! Ich hab’ mich noch nie in meinem Leben besser gefühlt, Art. Ihr seid krank, Art. Ihr alle hier in eurem Wohnkomplex, in eurer Stadt, auf eurem Planeten!“ Sie machte eine kurze Pause und wurde dann auf einmal ernst. „Aber du hast Recht, genau das ist es, worüber ich mit dir reden wollte.“
Er sah sie verständnislos an, stellte sein Glas auf den Tisch. „Was ist los, Jessie? Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Nein, du kannst mir nicht helfen, Art. Oder besser gesagt: Doch, denn mit deinem Einverständnis geht das Ganze unproblematischer und ich könnte es viel ruhiger angehen.“
„Was, Jessie, was?“
Sie holte tief Luft und stellte hier halb gelehrtes Glas ebenfalls auf dem Tisch ab. Ihr Blick wurde unruhig und ihre Stimme zitterte leicht. Das kannte Art überhaupt nicht von ihr. Aber viel schlimmer war, was sie sagte.
„Du hast die Nachrichten gehört, Art?“ fragte sie. „Die von der AURORA 4?“
„Klar“, Art wies mit dem Kopf auf den Monitor. „Diese Verrückten, die sich freiwillig einfrieren und an den Rand des Universums fliegen lassen, wo sie dann …“
Jessie unterbrach ihn. „Ich gehöre dazu, Art. Zu diesen Verrückten.“
Er konnte es nicht fassen. „Was sagst du da? Du willst weg von hier? Irgendwohin, wo du alles mit primitiven Werkzeugen bauen musst, wo du dein Essen selber …“ hier brach er wieder ab. Seine Ex-Ehefrau baute ja bereits seit sechs Jahren ihr Essen selbst an und der Bio-Freak an ihrer Seite hatte bestimmt auch schon mal Holz gefällt oder so.
Jessie nickte. „Ganz genau. Du hast verstanden, Art. Für uns wird es nichts Besonderes sein. Wir bereiten uns seit Jahren darauf vor. Jetzt endlich haben wir die Bordkarten für ein Kolonieschiff bekommen.“
Auf einmal wurde Art bewusst, was sie da gesagt hatte. „Du hast das von Anfang an so gewollt? Du bist zu diesen Bio-Idioten gegangen, weil du wegfliegen wolltest? Du hast mich im Stich gelassen, weil es dich langweilt, hier einer normalen Arbeit nachzugehen?“
„Normale Arbeit?“ fragte Jessica. „Wann gab’s hier zuletzt richtige Arbeit? Irgendwelche Maschinen zu programmieren, Spiele zu testen oder Speisepläne für die Automatenküche zu erstellen, kann einen doch nicht befriedigen, Art.“ Sie sah ihn an. „Seht euch doch nur an. Alle so dick, dass ihr euch kaum ins Bad oder ins Café schleppen könnt. Monströse Betten und Schreibtischstühle. Sitzecken, in denen man eher liegt, als sitzt“ Sie klopfte mit der Hand auf das Polster neben sich. „Ihr ernährt euch von irgendwelchen Chemikalien, die nur annähernd an Essen erinnern. Ihr wisst nicht, wie frische Luft riecht, weil ihr nie rauskommt, aus euren Wohnkomplexen. Die Sonne seht ihr nur durch eure Glasfenster.“ Sie nickte. „Das ist vielleicht das einzige Gute an eurem Leben. Denn draußen ist die Sonne gefährlich geworden. Irgendwann wird sich niemand mehr ungeschützt draußen aufhalten können.“ Während Art sie immer noch völlig fassungslos anstarrte, sprach sie weiter. „Dort, wo wir jetzt hinfliegen, wird alles ganz anders sein. Man kann Tag und Nacht unter freiem Himmel verbringen, man kann essen, was wirklich noch schmeckt. Man kann in Waldseen baden und richtige Tiere sehen.“
„Man kann furchtbar krank werden!“ das war der einzige Einwand der Art einfiel. Jetzt musste Jessie ein wenig lächeln. „Ja Art, man kann schrecklich krank werden. Und da ist es gut wenn man eine Ärztin dabei hat.“ Er sah sie an. „Ich habe damals Medizin studiert, als wir uns kennengelernt haben, weißt du noch? Doch eigentlich habe ich nur gelernt, Maschinen zu programmieren, die uns am Leben erhalten.“ Sie lehnte sich in die Polster zurück und sah ihn weiter unverwandt an. „Inzwischen habe ich gelernt, wieder Medizin aus Pflanzen herzustellen. Sicher, alles kann man damit nicht heilen. Aber eine Menge moderne Geräte und Medikamente werden wir ja auch mitnehmen. Wir fliegen ja nicht los wie diese tumben Gestalten in deinen blöden Spielen!“
„Na gut, ich hab’s verstanden.“ Art langte sich ein neues Glas aus dem Fach in der Wand. Er bot Jessie kein neues an, da es ja noch halb voll vor ihr stand. „Wann bringst du mir die Kinder her. Wenn ich richtig gehört habe, startet die AURORA 4 morgen Abend. Du hättest sie doch gleich mitbringen können.“ Jetzt war es Jessica, die völlig verblüfft drein sah. „Es wird nicht ganz einfach sein für mich“, sagte Art, „aber ich krieg sie schon irgendwie kurzfristig unter in der Kinderbetreuung. Enttäuscht werden sie aber schon sein, wenn du sie jetzt im Stich lässt, wie du es vorher mit mir getan hast.“
Jessica stand auf und sah Art von oben herab an. „Du hast nichts verstanden, Art Karas“, sagte sie leise, „gar nichts.“ Und nach einer kurzen Pause: „Die Kinder kommen mit uns mit. Ich lasse sie auf gar keinen Fall hier auf diesem Planeten. Und schon gar nicht bei dir!“
Jetzt erst begriff er. Er wurde kreidebleich. Dann wutrot. Als er das Glas auf den Tisch stellen wollte, zitterte er so, dass es umfiel. Die kalte, gelbe Flüssigkeit lief über den in die Polster und den Fußboden. Aber dafür hatte er keinen Blick.
So schnell es sein massiger Körper zuließ, sprang er auf. „Das tust du mir nicht an, Jessica Karas“, schrie er sie an, „das nicht auch noch! Es war schon schlimm genug, dass du mich hast sitzen lassen, damals. Aber wenn du jetzt gehst und …“ Er verschluckte sich fast vor Hass und Wut. „Und auch noch die Kinder mitnimmst auf dieses … Schiff, dann, dann …“ Wieder brach er ab, diesmal den Tränen nahe. „Dann siehst du deine Kinder niemals wieder!“ vollendete Jessie den Satz.
Sein gewaltiger Körper bebte vor Wut, vor Entsetzen und vor Schmerz. „Ich hasse dich, Jessie!“ stieß er, mühsam beherrscht, hervor. Er ging ein paar Schritte auf und ab, während Jessica, die Ruhe selbst scheinbar, am Tisch stehenblieb.
„Das geht ja gar nicht.“ Sagte er dann. „Du kannst die Kinder gar nicht so einfach mitnehmen. Schließlich sind es ja auch meine Kinder. Ich habe ein Mitspracherecht!“
„Siehst du Art“, sagte sie, „genau deswegen bin ich hier.“ Sie entnahm einer kleinen Handtasche, die er bisher gar nicht bewusst wahrgenommen hatte, ein zusammengefaltetes Schriftstück und reichte es ihm.
„Was soll das sein, Jessie?“ fragte er, während er es entgegennahm.
„Lies es doch einfach, Art“, sagte sie, „und unterschreib‘ es bitte.“
Er überflog das Geschriebene und seine Hände fingen wieder an zu zittern. „Das kann nicht dein Ernst sein“, sagte er leise. Und dann schrie er sie an: „Niemals, hörst du? Niemals werde ich das unterschreiben! Das ist, das ist…“. Ihm fehlten die Worte. „Damit überträgst du das Erziehungsrecht für die Kinder alleine mir.“ Jessie nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du setzt nur das in Recht und Gesetz um, was du sowieso schon sechs Jahre, sechs lange Jahre getan hast, Art Karas!“
„Ich habe es nie freiwillig getan, Jessica!“ schrie er und sein Gesicht verzerrte sich. „Du hast mir die Kinder weggenommen damals und mir nie mehr die Möglichkeit gegeben, mich um sie zu kümmern!“ Wutentbrannt warf er den Zettel auf den Tisch. „Das stimmt so nicht ganz, mein lieber Art“, sagte sie. „Du hast es nicht einmal versucht, das Sorgerecht zu bekommen. Du hast zwar mal davon gesprochen, die Gerichte anrufen zu wollen, aber getan hast du’s nicht! Ob du eine Chance gehabt hättest, weiß ich nicht. Vielleicht sogar ganz gute, denn du lebst ja perfekt nach den Normen dieser Gesellschaft, während ich nur die Sonderbare, die Aussteigerin war, mit der man nichts zu tun haben wollte. Vielleicht hätte das deiner Klage sogar einen Sonderstatus eingeräumt – aber du warst ja viel zu faul und viel zu träge dazu. Außerdem hätten dich die Kinder doch eh‘ nur gestört!“
Während der letzten Worte war sie immer lauter geworden und jetzt standen sich die beiden ganz dicht gegenüber.
Art tobte innerlich. Die Adern an seinen Schläfen schwollen an und Schweiß perlte ihm von der Stirn in die Augen. „Ich bring‘ dich um, du Miststück!“ schnaufte er und wollte sich mit ausgestreckten Armen auf sie stürzen.
„Das würde ich an ihrer Stelle nicht tun, Mister Karas!“ erklang eine Stimme von der Tür her. Art wandte sich blitzschnell um. Das konnte nur der Bio-Mann Caspar sein, der ja angeblich im Wagen warten sollte. Wie war der hier hineingekommen? Dann erkannte Art, dass neben Caspar ein Wachmann des Wohnkomplexes stand, den Elektroschocker in seine Richtung haltend.
In diesem Moment wich alle Energie aus Art. Mit einem Plumps landete er auf dem Polster der Sitzecke, das noch nass von dem vorhin verschütteten Getränk war. „Ich versteh das nicht“, schluchzte er laut vor sich hin. „Ich versteh das nicht. Das darf sie doch gar nicht von mir verlangen! Oder?“ wandte er sich an den Mann vom Sicherheitsdienst.
Statt dessen antworte Caspar, der zu Jessica getreten war und den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. „Doch, Art, das darf sie! Du hast dich über fünf Jahre nicht um die Kinder bemüht, du hast über fünf Jahre kein Interesse an ihnen gezeigt. Sie haben in all den Jahren nicht eine Einladung zu dir erhalten, keinen Anruf von dir bekommen, kein einziges Geschenk zum Geburtstag oder anderen Anlässen erhalten und“ er machte ein kurze Pause, „und du hast länger als fünf Jahre keinen Unterhalt für die Kinder bezahlt!“ Er zog aus einer altertümlichen Aktentasche, die unter seinem Arm klemmte, ein Schreiben hervor. „Das ist eine Urkunde des hiesigen Gerichts, die uns ebendies bescheinigt und dir nahelegt, das Sorgerecht für beide Kinder alleine Jessica zu übertragen, da es sonst zu einer Verhandlung kommen muss, bei der das Urteil ziemlich eindeutig ausfallen wird!“
Er reichte Art das Papier. Mit fliegenden Händen nahm der es entgegen und starrte aus tränennassen Augen verständnislos darauf. „Und wenn ich nicht unterschreibe?“ fragte er und sah hilflos zu dem anderen Stück Papier, das noch immer auf dem Tisch lag.
„Ich habe mir die Urkunde vorhin angesehen“, sagte der Wachmann da. „Es hat keine aufschiebende Wirkung. Die beiden können morgen ohne Weiteres mit den Kindern in das Raumschiff steigen und abfliegen. Dagegen können sie nichts tun, Art. Die Verhandlung findet dann später statt.“
„Und wenn dann doch für mich entschieden wird, weil ich der bessere Vater wäre?“ fragte Art kleinlaut. „Nun“, sagte der Wachmann, „diese Frage können sie sich selbst beantworten! Sie könnten mit einer winzigen Chance vielleicht Recht bekommen, aber am Ergebnis würde das nichts ändern!“
„Ich sehe meine Kinder also niemals wieder?“ Art schluckte schwer und ließ den Kopf auf die feuchte Tischplatte sinken. Stumm weinend sah er nicht, wie die drei anderen Person nickten.

Sie ließen ihm Zeit.
Nach minutenlangen Schweigen, dass nur hin und wieder durch tiefe Schluchzer Arts unterbrochen wurde, stand dieser auf und taumelte zum Arbeitspult hinüber. Mit einem Stift in der Hand kam er zurück, ließ sich wieder in die Polster fallen und setzte mit zittrigen Fingern seine Unterschrift unter das Blatt Papier. Dann schob er es Jessica zu warf sich stumm mit dem Gesicht voran in die Sitzecke.
Als er sich wieder beruhigt hatte, waren die Anderen gegangen.
Er verspürte nicht die geringste Lust, zum Abendessen zu gehen. Um die trüben Gedanken zu vertreiben, setzte er sich an sein Arbeitspult und loggte sich ins System ein. Er rief „Besiedlung des Universums 5“ auf und begann ein neues Spiel. Die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag spielte er.
Ohne Pause.
Ohne zu Essen.
Ohne zu Trinken.
Ohne ein Bad zu nehmen.
Das Spiel lief diesmal einzigartig. Die Punktezahlen stiegen auf Rekordwerte. So hatte er noch nie gespielt! Dann, gegen Abend geschah die Katastrophe. Unter seinen Siedlern brach eine schwere Epidemie aus, die immer mehr Kolonisten dahinraffte. Fieberhaft überlegte er, was zu tun sei. Und schließlich bemerkte er seinen Fehler: Unter all seinen Spezialisten war kein einziger Arzt, keine einzige Ärztin! Es war keine an Bord gewesen und er hatte einfach vergessen, eine auszubilden!
Nur wenige Spielminuten blieben ihm noch, bis die gehasste Schrift auf dem Bildschirm erschien:

„GAME OVER!“

Impressum

Texte: Alle Rechte, auch die zum Titelbild, liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Wettbewerbsbeitrag zur Sci-Fi-Woche von BookRix vom 20.-27. Juli 2010

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