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Frauen haben nie genug Schuhe. Rote Pumps mit leicht verruchtem Touch sollten es diesmal sein. Die würden am besten zum neuen Kostüm passen, deshalb war ein Besuch in meinem Lieblingsschuhgeschäft auf dem Kiez angesagt. Die Verkäuferin hat ein Herz für Vielprobiererinnen, holt mit Engelsgeduld neue Modelle und ihre Beratung ist einzigartig. Damit sie mich sofort als Stammkundin identifizieren konnte, zog ich die Pumps vom letzten Einkauf an und machte mich auf den Weg. Allein natürlich, denn ein exakt durchgeplanter Schuhkauf ist nichts für männliche Begleitung.
Der Tag war wundervoll, meine Laune hervorragend und die Aussicht auf neue Lieblingsschuhe, die ich heute sicher finden würde, beflügelte mich. Um mir den Stress der Parkplatzsuche zu ersparen, wählte ich öffentliche Verkehrsmittel. An der S-Bahnstation Reeperbahn stieg ich aus und ging zum Ausgang in Richtung Nobistor. Die Sonne kitzelte mich an der Nase und ich trippelte los in Richtung meines fest ins Auge gefassten Einkaufsziels.
Da passierte es. Ein unbedachter Moment, ein Augenblick der Unkonzentration und ich erwischte mit dem Absatz meines rechten Heels eine Lücke zwischen Kanaldeckel und Pflastersteinen und knickte um. Wie ein Dolch rammte sich der Schmerz in meinen Knöchel. Ich biss auf die Lippen, um nicht vor Schmerz zu schreien. Einbeinig stehend, mit den Pumps in der Hand, strich ich über den Knöchel. Gerade mal mit den Zehen des bestrumpften Fußes den Boden berührend, war ich nicht in der Lage, den Fuß komplett aufzusetzen, da ich sonst vor Schmerz ohnmächtig geworden wäre. Auftreten war, trotz mehrfachen Ausprobierens, unmöglich.
Den klappernd näher kommenden Einkaufswagen nahm ich kaum wahr. Die Frau, die ihn schob, hielt vor mir an. Sie nahm meine Hand, legte die Hand auf den Griff des Einkaufswagens und sagte:
„Festhalten!“ Sie bückte sich, ergriff meinen Knöchel, der sich anschickte eine blau gefärbte Beule in Hühnereigröße zu bekommen, betastete den Schaden vorsichtig und meinte:
„Sieht böse aus, muss man kühlen. Halt Dich am Wagen fest, wir setzen uns erstmal da drüben hin.“ Mit diesen Worten führte sie mich bis zum Biergarten des Restaurants „Schweinske“ und wir setzten uns. Den mit lauter leeren Pfandflaschen gefüllten Einkaufswagen schob sie so zur Seite, dass sie ihn immer im Blick hatte. Ein Kellner kam, begrüßte uns freundlich.
„Na, Lola, heute als Samariter unterwegs?“ feixte er mit der Frau, die er offensichtlich zu kennen schien.
„De Deern hat sich den Knöchel verknackst, die sind heute keine Stöckels mehr gewöhnt, bring ma Eis im Plastikbeutel, das muss gekühlt werden“ sagte sie mit Hamburger Slang in der Stimme.
„Bitte bringen Sie auch zwei Kaffee für uns mit“ ergänzte ich den Wunsch.
„Meiner aber wie immer, frisch gezapft mit Schaum“ rief sie lachend dem Kellner hinterher. Kurz darauf erschien der Kellner wieder, auf dem Tablett ein frisch gezapftes Bier und ein Kaffee. Er grinste, als er mir den Kaffee und der Dame das Bier hinstellte. Den Beutel mit Eis legte er auf den Tisch. Meine Begleiterin ergriff mein Bein, legte es auf einen weiteren Stuhl, packte eine Serviette auf meinen Köchel und legte den Eisbeutel darauf. Das tat gut.
„Na denn ma’ Prost“. Sie nahm sich das Bier, hielt das Glas gegen die Sonne, blinzelte mich an und leerte das Glas bis zur Hälfte. Ich nippte an meinem Kaffee. Erst jetzt nutzte ich die Gelegenheit, die Frau näher zu betrachten. Sie war meiner Schätzung nach über siebzig Jahre alt, hatte weiße, strähnige Haare, die zu einem Knoten zusammengesteckt waren und sie war stark geschminkt. Ihre saubere, aber augenfällig schon ältere Kleidung ließ darauf schließen, dass es ihr finanziell nicht besonders gut ging. Ihre Schuhe waren ziemlich abgetragen und die Laufmaschen an ihren Strümpfen sprachen Bände. Sie wirkte nicht gerade wie eine Pennerin, allerdings weckte ihr frühnachmittäglicher Biergenuss indes bei mir doch den Verdacht, sie könnte eine sein. Da sie mir geholfen hat, wollte ich meine Neugier zügeln und stellte diskret keinerlei Fragen, sondern bedankte mich für ihre Hilfe.
„Deern, mit gefallenen Mädchen auf der Reeperbahn kenn ich mich aus“ sagte sie lachend. Humor hatte sie offensichtlich.
„Wohnen sie in der Nähe?“ platzte es dann doch aus mir heraus. Diese weibliche Neugier, ich hätte mir auf die Zunge beißen sollen.
„Jo, inne Erichstrasse. Is nich’ grad die beste Gegend, aber wenn Du von Hartz IV leben musst, dann is’ da nich’ mehr drin“ erzählte sie freimütig. „Deshalb verdien’ ich mir auch immer paar Kröten dazu, sammel’ hier die Pfandflaschen ein, die besoffene Touristen liegen lassen und bring sie wech.“ Mit diesen Worten warf sie kontrollierend einen Blick auf ihren Einkaufswagen. „Mein ganzes Leben wohn’ ich schon auf `m Kiez, die Lola kennt hier jeder“ ergänzte sie ihre Erzählung.
„Wenn mein Urgroßvater mit seinen Kumpels nich’ die Dänen vermoppelt hätte, würden hier heute alle dänisch sprechen! Jo, das wissen viele nich’ , das war mal Dänemark hier.“
„Hier?“ fragte ich erstaunt und zeigte auf die Reeperbahn.
„Neeeee, die Reeperbahn nich’, die war Niemandsland. Altona mein ich, Altona war Dänemark! Altona war sogar die zweitgrößte Stadt von Dänemark.“ Mit diesen Worten schnappte sie ihr Bierglas und leerte es.
„Kannst Dir noch leisten, mir noch eins zu spendieren?“ fragte sie mit treuherzigem Augenaufschlag. Ich bestellte ein zweites Bier. Zum einen schmerzte mein Fuß zum Weiterlaufen zu sehr und zum anderen interessierten mich ihre Erzählungen. Oder war ich hier einer „Spökenkiekerin“ aufgesessen, wie die Hamburger einen Geschichtenerzähler nennen?
„An den Düppeler Schanzen ha’m die sich gekloppt, der deutsche Bund und die Österreicher gegen die Dänen. Und die Dänen ha’m verlor’n! Das war so 1864 oder so, mein Uropa war auf jeden Fall dabei, das weiß ich ganz genau. Mein Uropa war noch Reepschläger und weil in Hamburch Zunftzwang war und in Altona nich’, wohnte der in Altona. Und im Niemandsland ha’m die Reepschlägers gearbeitet und ihre Reeperbahnen aufgebaut, deswegen heißt das hier überhaupt so, da hat man Taue für die Schiffe gedreht und hier war Wiese und genuch Platz für die Reeperbahnen“ Der Kellner brachte das zweite Bier. Ein kräftiger Schluck, ein interessierter Blick von mir und sie erzählte weiter.
„Denn ha’m die das Land aufgeteilt, die Preussen kriegten Schleswig und die Österreicher kriegten Holstein und so kam Altona zu Österreich, bis auf die Reeperbahn, die war noch immer Niemandsland“
„Altona war Österreich?“ fragte ich völlig überrascht und spätestens hier hielt ich sie für eine Spökenkiekerin, die meine Naivität dazu ausnutzen wollte, sich den Nachmittag frei halten zu lassen. Ich zahle ihr Bier, sie erzählt mir Geschichten, so stellte sie sich das wohl vor. Aber sie brachte ihre Erzählungen so glaubwürdig, dass ich weiter zuhören wollte.
„Bis der olle Bismarck kam und verhandelt hat. Was sollten auch die Österreicher mit Altona? Ist verdammt weit von Wien bis an die Elbe. Und so wurde, ich glaub das war 1868, dann Altona preussisch, aber da war die Reeperbahn immer noch Niemandsland. Hinterm Nobistor war Preussen und hinterm Millerntor war Hamburch! Dazwischen war nix. Am Millerntor steht heute noch eins der kleinen Grenzhäuser, geh mal vorbei, kannst Du Dir mal angucken!“ Ein weiterer Schluck Gerstensaft floss durch ihre Kehle.
„Der olle Bismarck hat auch dafür gesorgt, dass die Hamburger ihren Freihafen haben. Der war schon gut, der olle Bismarck und schlau war der auch, deswegen ha’m die Hamburger ihm ja auch ein Denkmal gesetzt. Die Reeperbahn war sozusagen gesetzlos, weil sie niemand gehörte und deshalb haben sich dann Gaukler und Spielmannsleute hier angesiedelt, oder was denkst Du, warum der Platz an der Reeperbahn heute Spielbudenplatz heißt?“ Sie lachte mich an und ich glaubte ihr tatsächlich. Ihre Erzählungen waren so spannend, dass ich sie fragte, ob sie mit mir im Schweinske etwas essen möchte, da ich sehr gespannt darauf war, was sie mir noch berichten würde. Sie nahm dankend an.
„1870 ist dann mein Opa geboren worden, in Altona natürlich, wo sonst? Mein Opa wurde auch Reepschläger und hat seine Braut in Altona gefunden. Dann kam 1900 mein Papa zur Welt, der wurde Seemann. In jedem Hafen ´ne Braut, aber seine Frau suchte er sich in Altona. Der brachte gutes Geld heim und so konnten die zwei es sich leisten, in ´ne schöne Wohnung auf ’n Pinnasberg zu ziehen, hier gleich umme Ecke und da wurde ich auch geboren.
Meine Mutter war viel alleine und hat dann aus Einsamkeit gesoffen, denn mein Vater war ja nie da. Ich hab das dann mit der Schule auch nich’ so genau genommen und so bin ich irgendwann auf ’n Strich gegangen und inne Herbertstraße gelandet. Hab Dir ja vorhin schon erklärt, dass ich mich mit gefallenen Mädchen auskenne. “ Sie leerte ihr zweites Glas und wir bestellten etwas zu essen.
„Ich hab 1952 noch Hans Albers persönlich >Auf der Reeperbahn nachts um halb eins< singen hören und als die Beatles zehn Jahre später in Hamburg gespielt haben, war ich auch dabei“. Mein Mund ging vor Staunen kaum noch zu. Eine Zeitzeugin hat mir der Zufall da gebracht. Eine, die in Hamburg die Beatles erlebt hat.
Meine Schuhe hatte ich längst vergessen, ich brannte darauf, mehr von ihr zu erfahren. Unser Essen kam und ich spendierte für sie ein drittes Bier und den „Lütten“ um den sie mich bat sowie für mich ein Mineralwasser. Sie schaut mich mitleidig an, als ich ihr mit dem Wasserglas zuprostete und sie kippte schnell den „Lütten“ herunter, einen eisgekühlten Korn.
„Später hab ich dann im >Kolibri< als Bardame gearbeitet, da gab das noch ’ne richtige Liveshow auf der Bühne. Gibt ’s heute nur noch im >Safari< auf der >Großen Freiheit<. Das waren noch Zeiten, da gab ’s noch keinen Penny oder Lidl auf der Reeperbahn. Da waren noch kleine Tante-Emma-Läden, wo man das Nötigste einkaufen konnte. Kleine Bars waren da und keine so großen Diskotheken wie heute. Da hatte die Reeperbahn noch Atmosphäre. Touristen gab es hier schon immer, aber die Leute wurden noch nicht in Bussen angekarrt und Nutten waren auch noch älter als heute die jungen Deerns, die sich zwischen McDonalds und Davidswache die Füße platt stehen.“ Sie trank ihr drittes Bier in einem Zug.
„Tja und irgendwann war ich zu alt für ’s Geschäft und dann hab ich gemerkt, dass ich nix gespart hatte in den guten Zeiten. Ging ja auch gar nicht, hatte ’ne Tochter, die sollte es mal besser haben als ich. Da hab ich für gesorgt, die hat tatsächlich Abitur gemacht und studiert, wohnt heute in Berlin und kommt mich nur selten besuchen“. Bei diesen Worten wischte sie sich eine kleine Träne aus dem Auge und ich fühlte mich auf einmal dazu gedrängt, ihre Hand zu halten. Sie schaute mich an und sagte:
„Ich sollt nich’ soviel snacken und Du wirst heut auch keine Schuhe mehr kaufen“.
„Nein, sicher nicht“ sagte ich nachdenklich und bemerkte, dass meine Schmerzen schon erheblich nachgelassen hatten. Ich rief den Kellner zum Zahlen, zückte mein Handy und rief die Taxizentrale an.
Lola brachte mich mit Hilfe ihres Einkaufswagens zum Taxi, ich humpelte noch heftig. Zum Abschied drückte ich sie und bedankte mich.
„Ich heiße Luise“ sagte sie zu mir, als sie mir beim Abschied die Hand gab. Sie schob mit ihrem Einkaufswagen davon und sang leise vor sich hin:
„Zwischen Altona und Batavia fährt kein Bus und keine Bahn, zwischen Altona und Batavia liegt der große Ozean“.


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Texte: Veröffentlicht unter: ISBN-Nr. 978-3-86850-450-7 Tredition-Verlag, Hamburg Sammelband "Kurioses aus meinem Bundesland" © für Text und Titelbild bei der Autorin Nachdruck, auch auszugsweise, ohne Genehmigung des Verlages nicht gestattet.
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2009

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