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„Freispruch!“ hämmerte es in seinem Kopf.

„Im Namen des Volkes“. Dieser Satz legte sich wie dicke weiße Watte über seine Sinne und verwehrte ihm eine klare Sicht der Dinge.
Immer wieder hörte er in Gedanken die Vokabel: „Frei, frei, frei“ Es hatte sich gelohnt, den teuren Anwalt zu nehmen. Prof. Dr. Cerinara war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Strafverteidigung, erfahren und wortgewaltig. Sein Plädoyer war ausgefeilt bis ins kleinste Detail, sein Vortrag wechselnd vom monströsen Stimmvolumen zu flüsterndem, beschwörenden Tonfall. Was hatte er eigentlich gesagt? Alexander`s Kopf schwirrte, sein Kreislauf war kurz vor dem Kollaps und seine Glieder schmerzten. Er konnte sich nicht erinnern. Viele Male hatte er mit Dr. Cerinara die Verteidigungsstrategie durchgesprochen und nun konnte er sich nicht an die Worte erinnern, die ihm die Freiheit verschafft hatten.
Mit hängenden Schultern verließ er den Gerichtssaal. Sein Anwalt nahm schwungvoll den Aktenkoffer, legte ihm mit verbrüdernder Geste die Hand auf den Rücken und begleitete ihn hinaus.
Alexander war elend zumute. Der Ausdruck der Überlegenheit, der sich im Antlitz des Strafverteidigers widerspiegelte, verursachte bei Alexander Übelkeit.
Er war frei.

Gemeinsam verließen sie das Gericht. Der Anwalt strahlte ihn an, beglückwünschte mehr sich selbst, denn Alexander und wandte sich zum Gehen. Alexander hielt ihn nicht auf. Er wollte allein sein. Allein mit sich und seinen Gedanken. Kalter Schweiß lief ihm die linke Schläfe hinunter und seine Hände zitterten. Er stieg ins Taxi.
Er ließ sich zum Bootshaus am Fluss fahren, in dem er in den Monaten zuvor viele Stunden mit zermürbendem Nachdenken verbracht hatte. Die letzten Meter zum Bootshaus ging er zu Fuß, schaute weder rechts, noch links und wünschte sich inniglich, keinem Menschen zu begegnen. Hinter dem kleinen Fensterladen war der Schlüssel zum Bootshaus versteckt, den er vom rostigen Nagel abnahm und in seinen Händen wog. Nachdenklich ging er zur Tür und öffnete. Ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Er zog die Plane vom Boot, sprang hinein und machte das kleine Motorboot klar. Ein Fender hatte sich leicht verkeilt und er verließ noch einmal das Boot, um ihn zu lösen und ins Boot zu werfen. In der Kiste hinter den Netzen suchte er den Bootsschlüssel mit dem markanten, silberfarbenen Anhänger in Form eines Fisches. Den Anhänger bekam er als persönliches Geschenk des Pfarrers zum Geburtstag, als er zum dritten Mal in den Kirchenvorstand gewählt wurde.
„Ichthys“, der Fisch als Symbol der Christenheit, sollte ihm Schutz gewähren.
Er sprang zurück ins Boot, steckte den Schlüssel ins Schloss und startete den Motor. Sanft glitt er mit dem Boot den kleinen Seitenarm des Flusses entlang und streifte das Schilf. Seine Handlungen waren automatisiert, er dachte nichts. Frei. Wie war das alles nur gekommen, welche widrigen Umstände hatten ihn in diese Lage gebracht?
Er hatte schon bald den Fluss erreicht und erhöhte die Geschwindigkeit. Seltsam knirschend peitschte das Boot über die Wellen, hüpfend und mit Wucht wieder auf dem Wasser aufschlagend. Er musste das Steuer fest in die Hand nehmen, um den gewählten Kurs innerhalb der Wasserzeichen halten zu können.
Ab und zu, wenn der Bug sich aus den Fluten erhob und erneut auf die Wasseroberfläche klatschte, schloss er für eine Sekunde die Augen. Frei.
Was bedeutet es, ob ein Richter einen Angeklagten für schuldig hält oder nicht? Für Alexander bedeutete es nichts. Der Freispruch war offiziell und keiner konnte ihn mehr einer unsäglichen Tat beschuldigen. Frei. Unschuldig. Unschuldig?
Die Gischt spritzte so hoch, dass er Wassertropfen auf die Stirn bekam. Die Gutachter hatten ihn entlastet. Hochbezahlte Fachleute allesamt. Niemand konnte ihm einen Fehler nachweisen.
Wie viele Container der entgegenkommende Frachter wohl geladen hat? Wenig Tiefgang führte er. Die Krise trifft auch die Reeder, dachte er bei sich, man bemerkt es bereits. Der Flugzeugbau war durch die wirtschaftliche Lage auch nicht auf Rosen gebettet.
Viel hatte er in seiner Firma noch nicht von der Krise bemerkt, die Auftragslage war gut. Die Controller hatten zwar in einigen Sitzungen immer wieder warnende Reden geschwungen, aber letztendlich lief es immer auf die gleiche Aussage hinaus, dass kostensenkend gearbeitet werden muss.
Man hatte die Kosten gesenkt. Viele Flüge nach Fernost waren notwendig, um die Motorenteile billiger erstehen zu können, als vom bisherigen Lieferanten. Wer hatte sich jemals Gedanken gemacht, ob die Materialien der gleichen Belastung standhielten wie die zuvor verwendeten? Niemand. Frei. Unschuldig.
Als er die minderwertigen Teile zum Einbau freigegeben hat, konnte niemand ahnen, dass er damit für einige Menschen ihr Todesurteil unterschrieben hat. Maschinenbaustudium, promoviert mit „summa cum laude“, von der Uni im Senkrechtstart zu den besten Lehrmeistern, später hervorragender Konstrukteur in leitender Position, eine Bilderbuchkarriere.
Er hatte sich Gedanken gemacht und Zweifel angemeldet. Seine Labortests sprachen nicht die Sprache der Controller. Wider besseren Wissens hat er seine Zweifel von der Controllerseite in der Diskussion vernichten lassen, sich nicht durchgesetzt, nicht seinen Job riskieren wollen. Er hätte es wissen müssen.
Wie lange er genau fuhr, wusste er nicht, er drosselte die Geschwindigkeit und ließ sich von der starken Strömung des Flusses treiben. Vor seinem geistigen Auge erschienen die Bilder der schwarzen Sargschleifen mit goldener Schrift, der weinenden Angehörigen, der Kinder mit den großen, traurigen Augen, die kleine, buntbemalte Papierflugzeuge mit der Aufschrift: „Ich hab dich so lieb“ in die offenen Gräber warfen. Er hörte den Pfarrer wie durch einen Nebel die Grabrede halten.
Es war wenig Verkehr auf dem Fluss und das Platschen der Wellen an den Bootsrand mischte sich mit der innerlich gehörten Grabrede. Unschuldig. Jedenfalls offiziell. Er selbst war ein härterer Richter. Er verurteilte sich nicht nur, er verachtete sich. Wie viel lieber wäre es ihm gewesen, der Richter hätte ein hartes Urteil gesprochen. Ein Todesurteil wäre in seinen Augen die gerechte Strafe. Da fiel das milchige Licht des Mondes auf den silbernen Schlüsselanhänger und der silberne Fisch spiegelte das Mondlicht und malte kleine, leuchtende Fischlein an den Bootsrand.
Treiben lassen, vergessen, nichts fühlen. Sein Kopf drohte zu bersten, er fühlte nicht einmal, dass kleine Regentropfen fielen. Am Himmel stand mit höhnischem Grinsen der Mond. Die Grimasse des Mondes erinnerte ihn an den Blick des Staatsanwalts. Groß und drohend hing der Mond über ihm. Verzweiflung erfasste ihn, Mutlosigkeit, Trauer gemischt mit Selbstvorwürfen schlang sich um seinen Hals wie eine Schlinge und nahm ihm den Atem.
So konnte er nicht leben und so wollte er nicht leben. Er starrte lange auf die Wasseroberfläche, in der sich der grinsende Mond spiegelte. Seine Schuhe fanden kaum Halt auf der feuchten Reling, als er auf den Bootsrand kletterte.
In seinem Augenwinkel sah er noch das Mondlicht, dass vom Schlüsselanhänger direkt in sein Gesicht gelenkt wurde. Ein letztes Mal versuchte der Fisch seiner Beschützerfunktion nachzukommen. Vergeblich.
Als Alexander sprang, wusste er, dass die Strömung ihn mitreissen würde.

Er war frei.


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Texte: © Die Rechte für Titelbild und Text liegen bei der Autorin Coverfoto: Vollmond am Ufer der Schlei, Foto 7.8.2009, 22.00 Uhr
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2009

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