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Es war einmal vor vielen hundert Jahren eine alte Frau, die lebte in einer kleinen Holzhütte am Fuße des Süllbergs, nahe der Elbe. Die alte Frau lebte davon, Kräuter zu sammeln, allerlei Heilmittel daraus herzustellen um Kranken zu helfen und sie von ihren Plagen zu heilen. Außerdem hatte sie die Gabe, bereits an den Augen zu erkennen, was den Kranken fehlte. Die brachte ihr den Namen „die Hexe vom Süllberg“ ein. Waren die Kranken genesen, so wurde sie meist mit Lebensmitteln oder auch mal mit Stoffen beschenkt. Sie hatte Kontakt zu den Fischern des Dorfes, mit denen sie Kräutertees gegen Tran tauschte, um daraus Salben zu fertigen. Jeden Tag sammelte die Frau Kräuter, bevorzugt in den Mooren des Klövensteens, eines Marschgebietes westlich der Elbe. Nahm ein Fischer sie mit auf die vorgelagerte kahlblanke Landzunge der Elbe, so sammelte sie auch dort besonderte Kräuter, die nur auf dem leicht salzigen Sandboden der Elbinsel wuchsen. Auch auf dem Süllberg, der komplett aus Sand bestand, wurde sie immer fündig. Ihre Heilkunst wurde von Generation zu Generation vererbt und sie hatte alle Rezepte im Kopf.
An ihre Tür konnte jeder klopfen und war er auch noch so arm. Tat ihr jemand besonders leid, so beherbergte sie ihn auch mal in ihren bescheidenen Verhältnissen und pflegte ihn gesund. Es gab kaum eine Krankheit, die sie noch nicht mit Kräutern behandelt hatte und ihr Erfolg bei der Heilung brachte ihr einen Ruf weit über die Grenzen der Hammaburg hinaus ein. Ein Fußweg von mehreren Stunden trennte sie von der Hammaburg, in der Bischof Ansgar seinen Sitz hatte
An einem sehr stürmischen Abend klopfte es wild an Ihre Tür. Sie öffnete zögernd. Zwei Männer hatten sich zu ihr begeben, die einen dritten Mann auf einer Trage zu ihr brachten. Er fieberte. Die Männer redeten wild auf sie ein, in einer Sprache, die sie nicht verstand. Ihrer Kleidung nach waren sie Männer der brandschatzenden Wikinger, die immer wieder den Weg über die Elbe in Richtung Hammaburg einschlugen. Sie kümmerte sich nicht um das wilde Gerede, sondern deutete den Männern den Weg in die beheizte Stube.
Sie sah sich den Mann genau an. Sie drückte auf die einzelnen Organe und als sie ihm auf die Mitte seines Bauches drückte, schrie er laut vor Schmerz. Sie deutete den Begleitern, auf ihren bescheidenen Sitzmöglichkeiten Platz zu nehmen. Dann nahm sie verschiedene getrocknete Kräuter aus ihren Tontöpfen, legte sie in eine Kanne und begoß sie mit heißem Wasser, daß sie zuvor auf ihrem Herd bereitet hatte. Sie stampfte mehrere Kräuter in einer Schüssel zu Brei, begoß sie mit warmem Tran und fertigte daraus eine Salbe, die sie dem armen, geplagten Patienten warm auf den Bauch rieb. Als sie ihren Kräutertee ebenfalls fertiggestellt hatte, gab sie dem Kranken davon und deutete den begleitenden Männern, daß der Kranke nun schlafen müsse und sie am morgigen Tag wiederkommen sollten. Das war nur mit mehreren Handzeichen möglich, aber die Männer verstanden, verließen ihre Hütte, begaben sich zu ihren Booten und fuhren über die Elbe zur "blanken Näs", der kahlen Landzunge. Die Alte wachte die ganze Nacht neben dem schlafenden Kranken und legte zusätzlich kalte Wickel auf seine erhitzte Stirn. Irgendwann schlief auch sie auf ihrem kargen Holzstuhl ein.
Als sie am Morgen erwachte, war das Fieber des Kranken zurückgegangen. Sie freute sich, daß ihre Heilkräuter ihre Wirkung gezeigt hatten und als der Kranke erwachte, sprach auch er in einer ihr nicht verständlichen Sprache auf sie ein.
Es dauerte nicht lange und die Männer, die ihn gebracht hatten, erschienen wieder an ihrer Hütte. Sie waren hocherfreut, ihren Kumpan erwacht und vom Fieber befreit aufzufinden. Sie redeten wie wild auf die Alte ein, doch sie verstand ob der fremden Sprache nichts. Die alte Frau bereitete noch ein Frühstück für den Kranken, den sie über Nacht behandelt hatte und der aß mit großem Appetit. Als die Begleiter dies sahen, strahlten sie die Alte an und redeten weiter mit unverständlichen Worten auf sie ein. Sie verstand Brocken wie: Blanke und Näsa und der alten Frau wurde klar, daß sie aufgrund der Handzeichen meinten, ihr Boot würde auf der kahlen Landzunge liegen. Dann kam immer wieder das Wort: "Trolle" und sie hatte keine Ahnung, was die Männer damit meinten. Sie nahmen ihren Gefährten mit sich und deuteten ihr, daß sie wiederkommen würden.
Ein paar Tage später erschienen die Männer wieder bei ihr und diesmal fassten sie die Alte an der Hand, um ihr zu deuten, daß sie mit ihnen gehen sollte. Sie tat es, hatte sie doch keine Angst, daß ihr etwas angetan würde, dafür waren die Männer zu freundlich. Die Männer zogen sie auf den Süllberg hinauf, setzen sich auf der Spitze des Berges hin und begannen mit schauerlichen Gesängen. Nach wenigen Minuten krabbelten aus allen Sandlöchern des Süllberges kleine Trolle. Sie stellten sich vor den Männern auf und fielen in die schauerlichen Gesänge ein. Die Männer deuteten auf die Trolle und gestikulierten der Alten, daß die Trolle mit ihnen auf den Booten über das Wasser gekommen sind und nun auf dem Süllberg bleiben wollten. Die Alte nahm dies erstaunt zur Kenntnis. Nie zuvor hatte sie einen Troll gesehen. Sie waren klein, putzig und klug.
Die alte Frau wollte ihren Ohren nicht trauen, als einer der Trolle sie auf der ihr eigenen Sprache ansprach. Es gefiele ihnen an der Elbe und der Süllberg sei ideal zum Wohnen. Sie wollen bleiben. Und sie bedankten sich überschwänglich bei der Alten, daß sie einem Wikinger das Leben gerettet hätte und nun hätte sie bei den Trollen einen Wunsch frei. Sie solle sich aber gut überlegen, was sie sich wünschen würde, denn nach Erfüllung des Wunsches blieben die Trolle für sie wieder unsichtbar. Die alte Kräutersammlerin nahm dies alles zur Kenntnis und fragte noch die Trolle, wie sie sich denn bemerkbar machen sollte, da sie ja nicht wisse, wo die Trolle wohnen. Da schenkte ein Troll ihr eine Trommel. Sie sollte mit der Trommel auf die Spitze des Süllbergs wandern, die Trommel schlagen und einer der Trolle würde die Töne hören und zu ihr kommen. Mit diesem Wissen und der unendlichen Dankbarkeit der Trolle verließ die Alte den Süllberg und kehrte zu ihrer Hütte zurück.
Eines Tages klopfte es sehr energisch an der Holztür ihrer Hütte. Ein Bote des Bischofs hatte sich zur Hütte am Fuße des Süllbergs begeben um die alte Frau schnellstmöglich in die Hammaburg zu holen. Bischof Ansgar war von einer Krankheit befallen, die bisher kein Medicus seines Umfeldes heilen konnte.
Die alte Frau packte ein Bündel mit allen Kräutern, die sie frisch gesammelt und getrocknet hatte, beisammen, dazu etwas Schweineschmalz, Tran und diverse andere Ingredienzien, die sie für die Zubereitung ihrer Heilmittel brauchte. Schnell war sie abmarschbereit. Der Bote brachte sie zu einem Boot an der Elbe. Eilig war das Segel gehisst und es ging Richtung Hammaburg. Am Ufer angekommen, achtete die alte Kräuterhexe, den Namen hatten ihr bereits die Hammaburger verpasst, stets darauf, daß ihr Bündel nicht verlorenging.
Sie stapfte den Boten des Bischofs hinterher, bis diese sie zu Bischof Ansgar brachten. Er sah elend aus, über und über mit dicken Pusteln übersät. Leicht fiebrig war er auch und seine Haut sah gerötet aus. Sie hatte so etwas schon einmal gesehen und war sich sicher, die richtigen Heilkräuter dabeizuhaben. Sie mischte einen Tee und eine Salbe und an einer besonders wild befallenen Stelle machte sie einen Kräuterumschlag. Sie wachte an Bischof Ansgars Bett. Er schlief nach dem Prozedere auch ein, aber als er erwachte, war das Fieber schlimmer und die Pusteln hatten sich nicht einen Deut gebessert. Die Alte war ratlos. Die Boten vom Bischof beschworen sie, ihr Möglichstes zu tun. Aber die Alte hatte keine Idee, wie sie dem Bischof noch helfen sollte, wenn ihre besten Kräuter versagten..
Da fielen ihr die Trolle wieder ein. Sie sagte den Boten, daß sie noch weitere Kräuter holen müsse, die sie allerdings nur bei Nacht auf dem Süllberg sammeln könne. Die Boten gingen mit ihr widerwillig zum Anleger und brachten die Hexe mit dem Boot zurück.
Sie ging zu ihrer Hütte, holte die Trommel hervor, die ihr seinerzeit geschenkt worden war und bestieg die Spitze des Süllbergs. Sie setzte sich und begann einige Male die Trommel zu schlagen, aber es geschah nichts. In immer schnellerer Tonfolge entlockte sie der Trommel eine rythmische Melodie. Die Trommel war nun laut auf dem Süllberg zu hören, da tauchten auf einmal aus allen Ecken die Trolle auf. Die Trolle sahen die Traurigkeit in den Augen der Kräuterfrau und fragten sie, ob sie ihr helfen könnten. Der freie Wunsch wurde nun geäußert, indem die Alte die Trolle fragte, ob sie denn keine Idee hätten, wie man Bischof Ansgar von seiner Krankheit heilen könne. Die Trolle ließen sich genau beschreiben, an was der Bischof erkrankt war. Dann zogen sie die Kräuterfrau mit sich. Sie führten sie zu einem im Mondschein silbrig glänzenden Strauch und erklärten ihr, daß hier die Lösung ihres Problems wachsen würde. Die Alte pflückte die Blätter des Strauches und die Trolle sagten ihr, daß sie daraus einen Brei stampfen sollte und diesen auf die Pusteln auftragen muß. Die Kräuterfrau pflückte reichlich von den Blättern des Strauches, bedankte sich bei den Trollen und begab sich wieder bergab in Richtung Elbe.
Schon bald tauchte das Boot auf, daß sie zu Sonnenaufgang zurück zu Bischof Ansgar bringen sollte. Das auflaufende Wasser der Elbe half dem Boot den Weg schnell zu bewältigen und so war die Kräuterfrau schon bald wieder am Bett des Kranken.
Sie tat, wie ihr die Trolle geheißen hatten, legte viele der Strauchblätter in eine Schüssel und stampfte daraus einen grünen Brei. Diesen verteilte sie auf dem Körper des Bischofs und er empfand sofort Erleichterung und die Pusteln brannten nicht mehr. Mehr und mehr ließ die Röte der Haut nach und der Bischof fühlte sich zusehends besser. Die Prozedur wurde mehrfach wiederholt und schon am Abend waren auf der Haut des Bischofs kaum noch Pusteln zu sehen. Er fühlte sich wunderbar, bedankte sich bei ihr und überhäufte sie mit Geschenken.
Die Trolle wurden weder von der alten Kräuterhexe, noch von sonst irgend jemand je wieder auf dem Süllberg gesehen. Der Sage nach helfen sie noch heute, wenn jemand in Not ist oder sie spielen den Blankenesern auch den einen oder anderen Streich. Die Samen der Kräuterhexe sind aufgegangen. In Baur`s Park und auf dem Süllberg finden sich noch heute seltene Kräuter und die Blankeneser fragen sich, wie sie dort hingekommen sind.

Impressum

Texte: Veröffentlicht im Sperling-Verlag, Nürnberg im Märchen-Sammelband: "Zauberhafte Herzen" ISBN - 978-3-942104-00-5 Erscheinungstermin: 24.11.2009 Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. © Alle Rechte, auch für das Titelbild, bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2009

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