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Der Dünne stand vor dem Bett. Er war geradezu erbärmlich dünn; sein Körper mehr ein senkrechter Strich, sein Kopf zwei eckige Klammern, dazwischen Bindestrich, Komma und zwei herrenlose Punkte. Im Bindestrich glomm eine Zigarette. Die Haut des Dünnen war von der Farbe alten Käses und dem Geruch einer Tabakfabrik. Unter seinem Hemd lugte der Rand eines Nikotinpflasters hervor. Die Innentasche seiner Windjacke war ausgebeult, in seiner Hand hielt er eine entkorkte Flasche Selektion “S”

Spätburgunder.
Das Halogenlicht der Nachttischlampe trennte das Schlafzimmer in zwei Hälften. Die eine Hälfte enthielt waschmittelweiß beleuchtete Möbel im Stil eines Haus-und-Heim-Abonnenten. Die Lampe selbst – zwei dicke Chromstangen auf einer runden Basis – stand auf einem niedrigen Tisch aus Rosenholz, daneben ein viereckiger Teller, ein altmodischer Wecker und ein halbvolles Glas Wasser. Der Teller war voller Krümel und Butterflecken. Das Bett war ein Ungetüm aus vergoldeten Stahlstreben, Königinnengröße. Die andere Seite des Bettes – die andere Hälfte des Zimmers – verbarg sich in Schatten, die wie zum Ausgleich der grellen Lampe besonders undurchdringlich waren. Die Grenze zwischen Licht und Schatten war der Dicke, ein Koloss bei Tag und jetzt, bei Nacht, ein platter Kugelfisch in Seide. Er schnarchte.
Der Dünne betrachtete den Dicken. Er hatte ihm die Satinbettwäsche vom Körper gezogen. Anschließend hatte er erst seine Arme, dann die Beine ans Bett gefesselt, sodass der Dicke jetzt alle Viere von sich streckte wie ein totes Nilpferd. Der Dünne sah vom Dicken zur Lampe und schüttelte den Kopf, als wundere er sich, wie man in dieser Helligkeit schlafen könne. Dann machte er sich daran, den Dicken zu wecken. Er hielt den Arm mit der Weinflasche direkt über das Bett. Langsam, fast genießerisch, drehte er die Flasche seitwärts, bis die ersten Tropfen fielen. Dann kippte er sie aus. Der Duft von Pinot Noir mischte sich mit dem Gestank des Dünnen. Dieser Geruch – und der nasse Schlafanzug – weckten den Dicken. Er blinzelte gegen Müdigkeit und Licht an.
Die Stimme des Dünnen zeugte von durchzechten Nächten und Nikotinsucht. »Sie grunzen wie ein Schwein, wenn Sie schlafen.«
Der Dicke riss die Augen auf. Er musterte seinen Besucher tonlos, zog wie zum Test an den Fesseln, blickte zwischen der Weinflasche und der sich unter ihm ausbreitenden Lache hin und her. Er sagte ruhig, aber mit einer Stimme, die nie den Stimmbruch durchlaufen zu haben schien: »Hätten Sie nicht Wasser nehmen können?«
Der Dünne zog an seiner Zigarette und fuhr fort, als habe der Dicke nichts gesagt: »Kein Wunder bei all dem Fett. Eher schon, dass Sie überhaupt noch atmen können.«
»Sie werden mich sofort losbinden«, verlangte der Dicke.
»Oder was?«
Der Dicke zerrte erneut und erfolglos an den Fesseln. Der Dünne ließ die Weinflasche zu Boden fallen und setzte sich auf die Bettkante. Sein Gewicht konnte die Matratze nicht eindrücken. Unter dem Dicken hatte sie eine tiefe Kuhle geformt.
»Nehmen Sie sich einfach, was Sie wollen. Die wertvollsten Dinge gehören ohnehin meiner Exfrau.«
Eine Seite des Bindestrichmunds hob sich. »Exfrau ist klar. Wer würde mit so einem Schwabbel schon ficken wollen?«
»Sie taugen auch höchstens als Model für Anatomiestudenten.«
Der Dünne gestikulierte mit seiner Zigarette. Asche regnete auf den weingetränkten Dicken. »Vergessen Sie nicht, wer hier gefesselt ist.«
»Ersparen Sie mir diese Kindergartenlogik. Sagen Sie mir, was Sie wollen, oder – verdünnisieren sie sich.«
Der Dünne sprang auf. »Sie sind wirklich genau so ein Arschloch, wie ich gedacht habe.« Er ließ die Zigarette zu Boden fallen und trat sie auf dem Teppichboden aus. »Das macht es nur leichter.«
»Oho«, machte der Dicke. Der Dünne griff in seine Brusttasche und holte eine alte Ausgabe des Kuriers hervor, in die etwas eingewickelt war. Der Dicke griente. »Habe ich schon wieder den Redaktionsschluss verpasst? Hätten Sie nicht einfach anrufen können?«
Der Dünne entrollte die Zeitung. Darin lag ein Küchenbeil mit Elfenbeingriff. Er hielt es ehrfürchtig empor. Das Licht glitt in leichten Wellenlinien über die lasergeschliffene Klinge. »Ein Ginshu 1630 X. Das teuerste Küchenbeil der Welt. Man merkt nicht einmal, ob man Fleisch oder Knochen schneidet.«
Der Dicke klang eher entrüstet denn verängstigt. »Sie wollen mich doch nicht etwa massakrieren?«
»Haben Sie Angst? Der unvergleichliche und Normalsterblichen überlegene Martin Wiener? Der selbst schon unzählige Menschen auf dem Gewissen hat?«
»Was reden Sie denn da? Ich bin kein Mörder.«
»Ich auch nicht, Herr Wiener.«
»Hergottnochmal«, sagte der Dicke, »langsam verliere ich die Geduld mit Ihnen.«
Der Dünne bleckte seine gelben Zähne. »Ich möchte Ihnen nur einen Wunsch erfüllen.«
»Ich bin mir sicher, dass ich mir keine SM-Spiele mit einem Axtmörder gewünscht habe, vielen Dank.«
Der Dünne packte Wieners Kragen und riss ihn gegen den Widerstand der Fesseln hoch. Wiener quiekte und wand sich in Griff und Tabakgeruch. Der Dünne war ihm jetzt Nase an Nase. Er spie jedes Wort wie einen eigenen Satz. »Ich. bin. kein. Mörder!«
Er ließ den Dicken los, dann hob er das Beil auf, das zu Boden gefallen war, und legte es auf den Nachttisch.
»Also gut, kein Mörder«, japste Wiener. »Wir sind also beide unschuldig.«
»Unschuldig? Sie?« Mit einem Kopfschütteln nahm der Dünne die Zeitung in die Hand und schlug sie auf.
»Was kommt jetzt?«
»Jetzt lese ich Ihnen etwas vor.« Es war die Kolumne des Dicken: Wiener Schmäh

. »›Ein Fressen für die Möwen‹«, las der Dünne mit verstellter Stimme. »›Der Goldene Anker hat einen neuen Koch. Jedenfalls erzählt man sich das.‹«
Der Dicke glotzte. Für einen Moment verließ ihn die Kraft, sein Kopf sackte aufs Bett, platschte in die Lache aus Rotwein zurück, in der er lag. »Sie sind das.« Er zog an seinen Fesseln – umsonst.
Der Dünne las sich in Fahrt. »›Ich persönlich glaube den Gerüchten nicht. Das gefüllte Schweinefilet in Burgunder, das ich dort gestern herunterwürgte, wäre nicht einmal einem polnischen Rattenfänger derart misslungen. Peter Schnitzler – wenn es ihn gibt – soll ein richtiger Koch sein.‹«
»Hören Sie – es war doch nur eine Kolumne. Machen Sie jetzt keine Dummheit.«
Der Dünne – Peter Schnitzler – sprach nur energischer. »›Sollte jedoch tatsächlich jemand in der Küche gestanden haben, so empfehle ich einerseits dem Betreiber des unerklärlicherweise gut besuchten Ankers, den Berufsverbrecher Schnitzler tüchtig kielzuholen, und andererseits der Michelin-Gesellschaft, endlich negative Sterne zu vergeben.‹«
Die Fesseln des Dicken spannten sich, als dieser ungeahnte Kräfte aufbot, aber sie hielten. »Bitte. Ich schreibe einen Widerruf. Ich schreibe eine Empfehlung. Ich schreibe, was Sie wollen.«
Schnitzler ließ sich nicht beirren. »›Tatsächlich mundete mir das Gericht auf dem Rückweg durch den Mund in die Toilettenschüssel besser als beim ersten Mal.‹«
Der Dicke schüttelte mit dem Kopf, als wolle er einen bösen Traum vertreiben. Sein nasses Haar spritzte Wein zu beiden Seiten. Seine Augen schwammen in Tränen. Seine Stimme krächzte. »Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte–«
»Hören Sie auf zu flennen!« Peter Schnitzler betrachtete den Dicken mit neuem Ekel, als werde ihm allein vom Anblick schlecht. Er packte das Beil und hielt es in Feldherrengeste voraus. Die Klinge blitzte. Wiener sackte zusammen, kraftlos, luftlos. Seine Blase entleerte sich. Urin mischte sich mit Spätburgunder und erschuf ein harziges, scharfes Aroma. Der Dünne las ruhiger als zuvor, schmeckte jedes Wort genüsslich ab.
»›Peter Schnitzlers Essen – ich verwende diesen Begriff im weitesten Sinn – ist ein trefflicher Test für Schiffbrüchige. Selbst auf einer einsamen Insel fände kein Bissen seinen Weg in meinen Magen.‹«
Der Dicke schluchzte. Der Dünne lächelte. Dann las er den Schluss.
»›Eher würde ich meine eigenen Finger essen.‹«

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.12.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Friedrich Ani

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