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Das gemeine Glück

Es ist nicht mehr dasselbe, wenn Mike Meyer jetzt grundlos so die Straße lang geht. Denn er schaut nicht mehr nach den nackten Beinen der Frauen und erfreut sich dabei an ihren Hüftschwung. Und vielleicht hatte Mike Meyer auch so manch frivolen Gedanken bei seinen Betrachtungen gehabt. Aber Schluss und vorbei. Solche Sachen tut er nicht mehr. Seit jenem Septembertag nicht mehr. Damals nämlich war ihm das Glück auf absonderliche Weise widerfahren - auf eine ganz absonderliche.

Auch damals ging er so die Straße lang. Allerdings nicht grundlos, und Mike Meyer ging leichten Schrittes und pfiff eine Meleodie durch die Zähne und freute sich dabei wie ein Schuljunge auf die zu erwartende Begegnung mit Agathe Kleber.
Agathe Kleber war seine erste heimliche Geliebte. Als Mike Meyer die hübsche Dunkelhaarige damals kennen lernte, lud er sie spontan auf einen Kaffee ein und erzählte ihr dabei so einiges, und Agahte muss wohl geglaubt haben, sie hat es mit einem echten Gentlemen, der ihr jeden Wunsch von den Augen abliest. Und genau das mochte Mike Meyer so an Agathe: Ihre bewundernswerte Naivität. Zudem besaß Agathe noch ein paar Vorzüge, wie er jungen Frauen um die Zwanzig oft eigen ist. Sie war bildhübsch und hatte einen tollen Körper. Ihre Brüste waren fest und rund und sie hatte den aufregendsten Hüftschwung weit und breit. Ganz ehrlich, Mike Meyer begehrte Agathes Vorzüge, wie halt Männer begehren, die so um die Fünfzig sind. Einen kleinen Wermutstropfen hatte die Liaison mit Agathe aber. Da gab es noch Karin. Zwar dachte Mike Meyer an jenem Tag, als er so leichten Schrittes die Straße lang ging, nicht an Karin, aber dennoch war die dunkelblonde Verkaufsstellenleiterin, mit den Lachfalten im Gesicht und der noch immer tauglichen Bikinifigur in Mike Meyers Gedanken allgegenwärtig. Immerhin hieß sie nicht grundlos Karin Meyer und sie teilte nicht aus purer Abenteuerlust das Bett mit ihm, und das seit dreiundzwanzig Ehejahren.
Doch Schluss mit Gegenwart und Vernunft. Mike Meyer war verliebt. Also bog er nach rechts, wo der Gehweg in einer belebten Einkaufsstraße mündete. Noch etwa hundert Schritte, dann war er beim Eiscafé ´´Capri´´. Die milde Luft und der frühherbstliche Sonnenschein dürfte ´ne Menge Leute auf die Terrasse gelockt haben, überlegte Mike Meyer. Gleich darauf dachte er an Agathe und hoffte innigst, dass sie nicht allzu unpünktlich ist. Wer weiß, überlegte er weiter, vielleicht trägt Agathe das schicke Kurze und dazu das Oberteil mit den tollen Ausschnitt. Bei dem Gedanken fing es allmählich an wie wild in seiner Brust zu pochen. Es war ein wahnsinnig irres Gefühl. Wiedersehensfreude paarte sich in seinem Kopf mit lustvollen Gedanken. Mein Gott, dachte er, wie lange hast du so was nicht mehr erlebt?
Vor lauter Glück verharrte Mike Meyer einen Augenblick. Er blieb stehen und erfreute sich des glücklichen Gefühls. Allerdings muss dieser abprute Halt sowie die Berührung seiner Hand an die Brust einen gefährlichen Eindruck auf einige der vorbeigehenden Passanten gemacht haben. Obgleich Mike Meyer noch eine sportliche Erscheinung war, dessen gealterte Gesichtszüge hervorragend mit dem grauen Haaransatz harmonierten, sah es zumindest für eine Passantin jetzt so aus, als würde sich der in die Jahre gekommene Mann dort nicht grundlos gerade ans Herz fassen.
"Ist Ihnen nicht gut?" fragte jene Frau besorgt, die sich ihm unbemerkt geähert hatte.
"Wie?" entgegnete Mike Meyer verstört. Doch eine Sekunde später hatte er begriffen und ließ schnell die Rechte von seiner Herzgegend sinken. Er setzte ein breites Lächeln auf, so dass selbst die Alte sehen sollte, wie verliebt er heute ist.
"Damit ist nicht zu spaßen", fuhr die Alte unbeirrt fort.
"Nein, nein", wehrte er ab, ,,es ist nichts mit dem Herzen." Doch kaum die Worte ausgesprochen, da fiel ihm ein, dass es ja doch etwas mit seinem Herzen zu tun hatte, nur eben auf viel beschwingtere Weise. Daher setzte er lächelnd hinzu: "Obwohl, ein wenig Herzschmerz ist schon dabei."
"Guter Gott!" rief die Alte laut. Ein paar Leute begannen sich nach Mike Meyer und der Alten umzudrehen.
"Nicht doch", beschwichtigte er.
"Doch, doch!" fuhr sie ihn an. Mit einmal wich der Frau die Altersgebrechlichkeit aus Gesicht und untersetztem Körper. Sie sah jetzt böse aus, wie Mike Meyer fand, und ihre noch eben hellen Augen blickten ihn entschlossen und dunkel an. "Mein guter Mann", setzte die Alte in gleicher Lautstärke hinzu, ,,da kann es sehr schnell mit ihnen vorbei sein."
Noch mehr Leute drehten sich im Vorübergehen um. Einige blieben kurz stehen und begannen ebenfalls besorgt dreinzublicken.
"Und jetzt schön gleichmäßig atmen und am besten an gar nichts denken", befahl die Alte streng. "Legen Sie sich erstmal hin. Ein Krankenwagen wird dann schon kommen und dann wird alles wieder gut."
"Ich soll was?" entrüstete sich Mike Meyer. Doch weiter als mit jener Frage kam er nicht. Plötzlich gesellte sich ein gepflegt aussehender Herr im Tweedsakko hinzu. "Was ist denn hier los?" fragte der Schönling gleich. Sein Aftershave waberte durch die laue Luft und die dienstbeflissene Körperhaltung sowie der forschende Blick, der Mike Meyer unversehens in die Augen traf, verliehen den Mann im Tweedsakko eine unglaublich ärztliche Aura.
Mike Meyer, noch des hier offensichtlichen Irrtums gewiss, schmunzelte und begann nur zögerlich die Lippen für eine Erklärung zu formen, da fiel ihm schon die Alte ins unausgesprochene Wort: "Ach Gott", wimmerte sie dem Mann mit der ärztlichen Aura zu, ,,bei meinem Edwin war´s doch dasselbe. Zuerst nur ein leichtes Herzdrücken. Dann der Schlaganfall. Und ein Jahr später lag er unter der Erde."
"Sie haben Herzbeschwereden?" fragte der vermeintliche Arzt.
"Aber nein", erklärte Mike Meyer.
"Dann setzen Sie sich mal", befahl der Halbmediziner. "Hier, setzen Sie sich auf den Schaufenstersims. Was Besseres kann ich Ihnen im Moment nicht bieten. Nun machen Sie schon, und sein Sie nicht so ein Idiot. Bei einem Mann in ihrem Alter können solche Sachen schon mal passieren."
Noch eher Mike Meyer begriff, umklammerte die kräftige Hand des jungen Mannes seine Schulter und drückte den gesamten Körper sanft aber beherzt auf den Schaufenstersims. So saß Mike Meyer nun angelehnt an einer großen Glasscheibe, verstört und hilflos und irgendwie allein.
Von drinnen, durch das Schaufensterglas auf die Straße blickend, bohrte sich ein schmales junges Gesicht zwischen Regenmänteln und Lammfelljacken hindurch. Die Inhaberin der Boutique fuchtelte wild mit den Händen. Irgendwie schien sie auch noch was zu sagen. Wenig später verschwand ihr Gesicht und sie trat hinaus auf die Straße. "Ich habe alles genau gesehen", rief sie gleich aus. Schnellen Schrittes bewegte sie sich zu dem Tweedsakkoträger und der alten Frau. "Plötzlich blieb er stehen und fasste sich ans Herz", erklärte sie aufgeregt.
"Und, haben Sie einen Arzt gerufen?" fragte der Parfümierte.
"Nein, wozu denn? Die ätere Dame kam ja hinzu und da dachte ich, es wird sich schon alles regeln."
"Was soll sich denn da regeln?" keifte die Alte augenblicklich los.
"Bitte, meine Damen", beruhigte der Schönling beide Generationen gleich.
"Und er wäre beinahe zusammengeklappt", ereiferte sich nun eine neue Stimme. Eine etwa dreißigjährige Frau, die ihr Kleinkind im Kinderwagen mitführte, näherte sich.
"Und an der alten Frau musste er sich auch festhalten, damit er nicht auf die Straße stürzt", ergänzte ein junger Bursche, der wohl schon länger auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf einer der Holzbänke gesessen haben muss. Dann waren die beiden neuen Passanten zeitgleich bei der alten Frau, der Boutiquinhaberin und dem Halbmediziner angelangt. Die alte Frau überlegte noch, doch fiel ihr beim besten Willen nicht ein, dass der Herzinfarktgefährdete sich bei ihr festhalten musste. "Nur gut, dass ich zufällig zur Stelle war", ließ die Alte dennoch verlauten. "Er hätte ja einfach stürzen und sich sonstwas tun können."
Alle fünf nickten kummervoll.
"Sind Sie Arzt?" wollte die Frau mit Kleinkind nun von dem Halbmediziner wissen. Komischerweise funkelten ihre Augen bei der Frage und es schien für einen Augenblick auch gar nicht mehr um einen kranken Mann zu gehen, der hier vor nicht allzu langer Zeit beinah einem Herzversagen erlag.
"Nein, nein", wehrte der Schönling geschmeichelt ab.
"Oh", gab die Frau überrascht zurück. Dann trat sie zwei Schritte seitwärts und zu der Boutiquinhaberin.
"Hat schon jemand ´nen Krankenwagen gerufen?" fragte der junge Bursche.
Keiner sagte was.
Also fasste der Bursche in die Hosentasche und holte sein Mobiltelefon hervor.
Mike Meyer saß derweil auf dem Schaufenstersims. Er sah noch immer entspannt aus. Gut, ein bisschen verwirrt auch. Was nur passiert? überlegte er. Bin ich schon alt? Kann es denn sein, dass mein Körper mir nicht mehr gehorchen will? Immerhin, 52 Jahre und noch nie gesundheitliche Probleme gehabt. Irgendwann fängt es wohl an. Wie bei Vater, der seinen ersten und letzten Herzinfarkt mit 63 erlebte. Oder Cousin Albert. Hat sich all seine Krankheiten für´s Lebensende aufgespart. Was für´n trübseliges Lebensende, dachte Mike Meyer. Und mit einmal kam ihm der Gedanke, dass jenes abprute Ableben ein möglicherweise genetischer Defekt sein kann. Eine Laune der Natur, die seither durch die Ahnenreihe seiner männlichen Verwandschaft grast. Wie ein roter Faden, der Tod und Verderben bringt. Denn auch seinen Großvater überraschte es ganz plötzlich. Und dessen Vater, obgleich eine Gewehrkugel hier einen gewichtigeren Grund spielte. Aber egal, am Ende starben sie alle schnell und unverhofft. Schnell und unverhofft. Schnell und unverhofft. Mike Meyer fühlte plötzlich eine Leere in sich, die alles Gerede um ihn herum nur noch wie ein unscharfes Echo erklingen ließ.
Seltsam, dachte er, und musste sich vom Schaufenstersims erheben, obgleich er nicht ganz sicher war, tatsächlich allein weiter zu gehen.
"Da!" rief die alte Frau. Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Mike Meyer.
Die anderen vier blickten ebenfalls zu dem Mann am Schaufenster. Nur das Kleinkind in seinem Kinderwagen blieb unbeeindruckt.
"Was machen Sie denn da?" rief der Halbmediziner Mike Meyer zu.
"Um Himmels Willen", ereiferte sich die Frau mit Kind.
"Nun helft ihm doch mal einer", zischte die Boutiqueinhaberin.
"Der Krankenwagen kommt gleich", erklärte der junge Bursche gelassen.
Mike Meyer zweifelte noch, ob seines frühen Ablebens. Aber irgendwie schmeichelte ihm auch die Fürsorge wildfremder Menschen. Doch dann überlegte er wieder, was sei, wenn er heute stürbe? Mitten auf dem Asphalt. Schnell und unverhofft. Er fasste sich ans Herz. Keinerlei Drücken oder andere Warnsignale. Langsam ging er weiter. Wer konnte ihm schon sagen, ob sein Bewusstsein noch richtig funktioniert, überlegte er. Möglicherweise gaukelte es ihm nur die Unbeschwertheit des Daseins vor. Und ohne es zu ahnen, versagen dir deine inneren Organe Stück um Stück den Dienst. Mike Meyer blieb stehen und blickte in den wolkenlosen, blauen Himmel. Es war schön, dass alles ein letztes Mal erleben zu dürfen.
Der Halbmediziner war zu ihm geeilt und griff Mike Meyer stützend unter dessen linken Arm. "Machen Sie keine Dummheiten", sagte er freundschaftlich. "Setzen Sie sich wieder. Es wird gleich Hilfe da sein. Geht es denn noch eine Weile?"
Mike Meyer blickte den Schönling an. "Mir geht es prima." Leider fehlte seinem Argument ein wenig die Schärfe.
"Also gut", sagte der Schönling, ,,gehen wir ein paar Schritte. Da vorne ist eine Eisdiele und auf der Terrasse sind noch Plätze frei. Dort können Sie sich ausruhen."
Beide gingen die mit Menschen überfüllte Straße entlang. Die meisten der Leute sahen sich nach Mike Meyer und seinem Helfer um. Dann hatten sie die Eisdiele erreicht. Beinah schleppend nahmen beide die steinernen Stufen, gingen noch ein Stück und nahmen an einen der runden Kunststofftische in jeweils einen der Kunststoffstühle platz.
Mike Meyer musste sich jetzt erholen. Nur wovon, dass war ihm selbst nicht ganz klar. Und so saß er da und glaubte auf einmal das Surren himmlischer Eintracht zu hören. Ein wahrhaft schönes Geräusch, das in jedem Menschen wie eine innere Stimme vorhanden ist und dass die nahende Stunde ankündigt. So oder so ähnlich hatte das Mike Meyer mal in einem dünnen Buch gelesen. Es ging um Nahtoderlebnisse. Doch als er wieder aufblickte, da war die Straßenkehrmaschine schon viel zu nah, als das aus einem Nahtoderlebnis etwas hätte werden können. Nur allmählich flaute das Tosen wieder ab, und geplatzt war sein Traum von der himmlischen Eintracht.
"Mike!" durchbrach eine ihm bekannte Stimme die wiederkehrenden Alltagsgeräusche.
Als Mike Meyer um sich blickte, sah er Agathe Kleber von einem der Nebentische aufspringen. Zu seiner Freude trug Agathe hautenge Jeans und dazu das Oberteil mit den tollen Ausschnitt.
"Agathe!" entfuhr es dem Schönling, als die hübsche Dunkelhaarige am Tisch der beiden stand.
"Daniel!" sagte Agathe ebenso überrascht.
"Wie?" fragte Mike Meyer.
"Ähm", machte Agathe.
"Ihr beide kennt euch?" fragte Mike Meyer.
Der Schönling sah Agathe an. Dann Mike Meyer. Dann wieder Agathe. "Ihr beide kennt euch auch?"
"Ähm", erklärte Agathe wieder. Sie setzte ihr lieblichstes Lächeln auf und begann auch irgendwie mit den Hüften zu wippen, so dass die Peinlichkeit der Situation in eine erotische Grundstimmung umschlug, in der beide Männeraugen verfielen. Dann setzte sich Agathe an den Tisch. Aber noch immer war sie Mittelpunkt des Geschehens. Also zwirbelte sie mit dem Zeigefinger in ihrem kurzen, gewellten Haar herum. Nun sah sie wirklich unschuldig aus. "Und woher kennt ihr beide euch?" fragte sie dann.
"Er hat Herzprobleme", gab Daniel kurz zurück und deutete mit einer Kopfbewegung auf Mike Meyer.
"Mir ist nur nicht gut", stammelte Mike Meyer, aber war sich dessen immer noch nicht sicher.
"Herzprobleme?" fragte Agathe erschrocken.
"Bin ich dir vielleicht jetzt nicht mehr gut genug?" entgegnete Mike Meyer schnippisch.
"Was soll das denn heißen?" fragte Daniel hellhörig.
Agathe senkte den Blick zur Tischplatte.
Daniel sah Mike Meyer scharf an.
Dieser blickte ebenso scharf zurück. "Wir haben uns vor einer Woche kennen gelernt und lieben uns nunmal", erklärte Mike Meyer.
"Ach", sagte Daniel. Nach einer Pause setzte er hinzu: "Und wir haben uns vor anderthalb Jahren kennen gelernt. Agathe gestand mir also schon viel früher ihre Liebe."
"Ach", sagte Mike Meyer.
"Also das wird mir jetzt zuviel", mischte sich Agathe ein. Sie blickte abwechselnd und noch unentschlossen beide Männer an. Gleich darauf begann sie mit weinerlicher Stimme: "Aber ich wollte das doch alles nicht."
"Ach ja?" unkte Daniel.
"Ja", beteuerte Agathe. "Es ist doch nur...Er hat es doch jetzt nicht so leicht und am Strand von Ibiza war ich auch noch nie und das Silberkettchen ist doch ein Freundschaftsgeschenk von ihm und der Gebrauchtwagen, wenn ich die Fahrprüfung schaffe und der Urlaub in Venedig und das schicke Kleid von ´´Trend&Fashion´´und...
"Genug!" unterbrach Daniel barsch. "Ibiza? Gebrauchtwagen? Urlaub in Venedig?"
"Naja", schluchzte Agathe, ,,er hat so oft von seinen Reisen erzählt. Und dass er froh ist, ein ehrliches Mädchen wie mich kennen gelernt zu haben. Eine, die ihn nicht gleich ausnutzt, wie die anderen Frauen. Und er ist doch jetzt so einsam. Weil seine Frau doch vor einem Jahr verstorben ist. Und weil er so allein ist, könnte ich doch als Begleitung mit auf seinen Geschäftsreisen. Und vielleicht ist auch ein Urlaub drin. Und ´nen Gebrauchten spendiert er mir auch, wenn ich mit der Prüfung fertig bin. Weil ich mich nämlich gar nicht so dämlich anstelle, wie du immer sagst, Daniel." Ihr Redeschwall war beendet. Agathe sah erschöpft und erleichtert zugleich aus.
"Und das hast du dem alten Bock einfach so geglaubt", schnaubte Daniel und sah dabei Mike Meyer verächtlich an.
Dieser glaubte nun tatsächlich, ein Drücken in der Brust zu spüren.
"Und überhaupt", fuhr Daniel in scharfem Ton fort, ,,solltest du dich heute nicht um die Stelle als Kassiererin bewerben anstatt hier auf der Terrasse zu flanieren?"
"Oh, oh", machte Agathe. Ihrer gedrückten Stimmung mischte sich etwas Hoffnungsvolles bei."Hab´ ich", sagte sie aufgeregt. "Schon heute Vormittag. Stell dir vor, die haben mich genommen. Die Verkaufsstellenleiterin war total nett. Und weil ich doch jetzt den Job habe, da wollte ich heute und hier das alles mit Mike auch beeneden. Jetzt habe ich doch keine Zeit mehr zum reisen und mein eigenes Geld verdiene ich auch. Also spar´ ich mir den Gebrauchten selbst zusammen. Tut mir ehrlich leid, Mike." Agathe sah Mike Meyer umsorgt an. "Auch wenn du sonst keinen Menschen mehr auf der Welt hast, ich bleibe bei Daniel."
Mike Meyer war mittlerweile vor Scham tief in seinen Plastikstuhl gesunken. Wenigstens glaubt Agathe, dass der ganze Reise-und Sterbequatsch ernst von mir gemeint war, dachte er. Und Daniel? Der hat dich gleich durchschaut, noch ehe Agathe aufgehört hatte zu erzählen. Meine Fresse, wie blöd kann es denn noch laufen?
"Und die Meyer will sich auch noch mit mir treffen", hörte Mike Meyer Agathe triumphieren. Irgendwie überkam ihn ein seltsames Gefühl.
"Wer ist die Meyer?" hakte Daniel nach.
"Karin Meyer", klärte Agathe auf, und Mike Meyer wurde plötzlich schwindelig. ,,Sie ist die Verkaufsstellenleiterin. Sie guckt sich die Bewerber mit an und entscheidet, ob die Stelle dann vergeben wird. Karin und ich, wir verstanden uns gleich auf den ersten Blick. Komisch, wie Telepathie war das."

Von nicht allzu weiter Ferne jaulte eine Sirene. Der Krankenwagen bog mit quietschenden Reifen in die Einkaufsstraße ein.

"Das merkt man", sagte Daniel, ,,wenn du sie jetzt schon beim Vornamen nennst."
"Ja", fuhr Agathe aufgelöst fort, ,,wie zwei Freundinnen waren wir gleich. Sie will auch noch hier vorbeikommen und einiges bereden und mir ´nen Prosecco auf den neuen Job ausgeben."
Und endlich war sie da! Diese Ruhe. Mein Gott, was für eine herrliche Ruhe. Mike Meyer blieb still. Er hatte einfach damit aufgehört, sich um sein Leben zu scheren. So war es auch besser. Und nichts mehr war wichtig. Und es war auch gar nicht schlimm, als er so dasaß und seine Ehefrau die steinernen Stufen herauf kommen sah.
"Agathe!" rief Karin Meyer, als sie ihre neue Freundin erblickte.

Der Krankenwagen hielt und um die Fahrerkabine rankten sich eine kleine alte Frau, eine Boutiqueinhaberin, eine andere Frau mit Kinderwagen und ein gelangweilt blickender Bursche. Jeder deutete auf seine Weise in Richtung des Eiscafés und machte eine wichtige Miene dazu.

"Mike?" sagte Karin Meyer überrascht, als sie bei den dreien am Tisch stand.
Mike Meyer blickte seine Frau träge an. Agathe wird es sich mit ihrer neuen Freundin wohl kaum verscherzen, überlegte er. Also wird sie die Situation aufklären, genau wie sie es bei Daniel getan hat.
Doch noch eher Agathe damit begann, eilten zwei Sanitäter mit leerer Trage zu dem Eiscafé. Mike Meyer rang sich noch ein Lächeln ab. Denn irgendwie war er jetzt glücklich, während er bewusstlos zusammen sank, seine erste und wirkliche Herzattacke gerade erleben zu dürfen.


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Tag der Veröffentlichung: 09.10.2008

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