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Das sanfte Fallbeil

Ein ehrwürdiger Glanz strahlte schon immer über den uralten Mauern des wichtigsten Gebäudes zu Kleinkirchen. Alles, was in dieser Kleinstadt nach amtlichen Tun verlangte, wurde hinter diesen Türen erledigt. Da gab es notarielle Angelegenheiten, Geburts-und Sterbefälle, gerichtliche Streitigkeiten, Vermählungen und natürlich Verurteilungen - ja, auch in Kleinkirchen. Plötzliche Stille legte sich über Saal 213, als ein grauhaariger Mann mit dunkler Hornbrille und in langem Gewand würdevoll den Raum betrat. Fast körperlich spürte Axel die Autorität, die von diesem Mann ausging. Niemals hätte er sich das träumen lassen! Doch irgendwann musste es ihn ja mal erwischen. Axel war kein ängstlicher Typ. Er war mehr ein Draufgänger, ein schwarzgelockter, kräftiger junger Mann, dem die ganze Welt zu Füßen lag, wenigstens bis vor kurzem noch. Es kümmerte ihn einen Dreck, was morgen war, darüber konnten sich andere Gedanken machen. Aber jetzt? dachte Axel. Konzentriert sah er auf die dunkle Hornbrille, in deren Gläsern sich das hereinfallende Sonnenlicht spiegelte. Er sah in dieses, mit schwachen Furchen durchzogene Gesicht jenes Mannes und er sah die blassen breiten Lippen, die unaufhörlich sich bewegten. Jedes einzelne Wort durchbohrte Axel wie eine messerscharfe Pfeilspitze, und jedes mal, wenn er versuchte seine Nervosität zu verstecken, gluckste es dumpf aus seinem Hals. Dabei konnte er nicht einmal behaupten, dass ihm ein einziger Satz wirklich haften geblieben wäre, obgleich er doch wusste, weshalb er heute hier stand. Das war´s, dachte Axel wieder, aus und vorbei. Schuldig kam er sich vor. Schuldig, weil er es getan hatte, gänzlich gegen seine Art. Er hatte es doch immer verstanden, sich rechtzeitig aus der Affäre zu ziehen, das Schwierige den anderen zu überlassen. Aber bei Christin? überlegte er. Mitgegangen, mitgefangen, fiel ihm eine uralte Weisheit ein. Zögernd schaute er sie an. Ebenso gefasst stand Christin neben ihm und folgte den Worten. Das schnelle Auf-und Abschlagen ihrer Wimpern verriet ihm sofort, dass ihre scheinbare Gelassenheit nur gespielt war. Ja, dachte Axel, du kennst das Urteil. Wir beide kennen es. Sonnenlicht blitzte durch die grauweißen Wolken des morgendlichen Himmels und fiel mit einem kräftigen Strahl durch die großen, bogenförmigen Fenster des Saales. Dies erhellte Christins Gesicht noch einmal, so dass das zarte Rot ihrer Wangen verblasste. Ihre Haut zeigte dabei eine unglaubliche Zartheit und mit jedem Atemzug, den sie tat, erzitterte das Nass in ihren Augenwinkeln. Wieder fragte sich Axel, warum es passierte, weshalb ihn Christin nur soweit hatte bringen können, auch wenn sie nun genauso dafür büßen musste. Es war ihm plötzlich klar, dass er ein Urteil zu erwarten hatte, welches den Rest seines jungen Lebens auf dramatische Weise verändern würde. Jetzt, genau in diesem Augenblick, erkannte er das, doch für Reue war es zu spät. Alle waren heute hier. Der ganze Raum schwieg in friedvoller Andacht. Nur ein verlegenes Schnäuzen war aus den hinteren Reihen zu hören. Schüchtern blickte Axel über seine Schulter. Seine Mutter schien diese Angelegenheit am meisten zu ergreifen. Sie saß in der vorderen Reihe, gleich neben Christins Eltern und tupfte andauernd mit dem Taschentuch an ihren Augen. Der Rest der Leute wirkte allerdings eher gelassen, da sie ja wussten, dass der sonst so gewiefte Axel Beierlein nun doch seine gerechte Strafe erfahren würde. Gleich, dachte Axel. Nun sah er wieder den Grauhaarigen an, der noch immer redete. Dann sah er zu Christin, die es anscheinend kaum erwarten konnte, bis der letzte Satz verklungen war. Er sah auf seine schwarzglänzenden Lederschuhe, unter deren Sohlen ein weinroter Teppichboden sich ausbreitete, und er sah auf seine zitternden Hände, die beinah leblos herab hingen. Das Sonnenlicht verschwand wieder hinter den Wolken, der Grauhaarige hörte auf zu reden und sah Axel mit strengem Blick an. Er musste es wohl schon einmal gesagt haben, denn ein tiefes Schnaufen hatte dies verraten, und noch einmal, wiederholte er die Worte: ,,Wollen Sie, Axel Beierlein, die hier anwesende Christin Fröse, lieben und ehren? In guten, wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet? So antworten Sie mit ja.”

Zeit der Freundschaft



Aber in Wahrheit gibt es immer Gründe, weshalb Dinge geschehen. Und sei es nur das Ereignis eines vom Septemberwind gelösten Ahornblattes, das anspruchslos zu Boden sinkt, während vielleicht ein junges Mädchen auf dem Bordstein des Gehweges sitzt und zu sieht, wie der nahende Herbst sein Spiel treibt, oder auch, wie die Zeit sich ihrer Ereignisse bedient. Dem Mädchen eine Schuld zu zusprechen wäre zwecklos. Denn dies war ein Tag wie jeder andere, als sie so dasaß und nichts erwartete, und als sich alles änderte. Ein Junge, der im Nachbarhaus wohnte, hatte das Mädchen lange Zeit beobachtet. Obwohl er das Mädchen gut kannte, brauchte es seinen ganzen Mut um hinüber zu gehen, wo das Mädchen saß. Er zauderte, er überlegte. Aber letztlich ging er doch, denn er sah nur das Mädchen.
,,Hallo”, grüßte sie der Junge. ,,Hallo”, erwiderte das Mädchen. ,,Na, Freundin”, sagte der Junge. Er nannte sie immer so, obgleich er noch nichts über Freundschaft wusste. Er war sich auch nie sicher, ob sie denn wirklich seine Freundin sei. Und umgekehrt war es dasselbe, nur ahnte das der Junge nicht. ,,Na, Freund”, sagte das Mädchen. Er nahm neben ihr Platz. Der Bordstein war wenig erwärmt von der Septembersonne und allzu lange dürfte er das auch nicht aushalten, dachte der Junge. Doch wenn es meiner Freundin nichts ausmacht, sagte er sich, dann halte ich es aus. Und er hielt es aus. Der Junge mochte seine Freundin. Jetzt sah er sie an und fand, dass ihr langes, dunkelbraunes Haar ganz gut zu ihrem Gesicht passte. Und er fand auch, dass ihr Gesicht zu der cremefarbenen Bluse passte und ihre Hände, die klein und weich waren, passten am allerbesten zu ihr. Aber er sagte es nicht. Er wusste ja nicht, ob sie wirklich seine Freundin ist und es wäre vielleicht dumm, solche Gedanken auszusprechen. Das Mädchen bemerkte, dass der Junge sie ansah. Gerade jetzt wandt' er sein.pausbackiges Gesicht ab. Sie fand, dass er ein netter Bursche ist, wenn er sie so ansah. Dann hatte das Grau seiner Augen etwas Liebevolles und der blasse, breite Mund verlor mit einmal seine trotzige Ausstrahlung. Und überhaupt, mochte sie es, wenn er so neben ihr saß. Doch das Mädchen sagte es ihm nicht, weil sie dachte, dass es darüber nichts zu sagen gibt. So saßen sie stumm nebeneinander - die Freundin mit aufgestütztem Kinn in der Hand und der Freund mit wachem Blick.Wenn die Wolken das Sonnenlicht freigaben, war es recht angenehm und der Wind war dann weniger kühl. Auf der anderen Seite, wo beide hinüber sahen, standen eine Menge Leute vor einem mehrstöckigem Gebäude. Sie trugen alle feierliche Kleidung und unterhielten sich. Von dem Bordstein aus, wo der Junge und das Mädchen saßen, sahen die Leute sehr klein aus. Es hatte aus der Ferne den Anschein, als wären die Erwachsenen da drüben eine fahrlässige Zusammenrottung verschiedenster Sorten von Zinnsoldaten. Und der Junge lächelte zuerst, als er darüber nachdachte, und das Mädchen, weil es von seinem Lächeln berührt war, lachte auch. Eigentlich lachten beide oft auf diese Art, und es reichte dann aus, dass es so war.
Das Treiben vor dem großen Gebäude nahm sichtlich zu. Aus der Entfernung sah es nun wie ein Hühnerhaufen aus, in dessen Mitte etwas Essbares geworfen wurde und sogleich versammelte sich die Schar darum. Es war aber nur ein Fotograf, der zu solchen Anlässen meist anwesend ist. Nach einer Zeit beruhigte sich die Menge auch, da noch ein paar Wichtigkeiten fehlten. Eine dieser Wichtigkeiten saß neben dem Jungen. Und dem Jungen wurde nun bange, da er doch wusste, dass seine Freundin gehen würde. Er fragte sich erneut, ob sie denn wirklich seine Freundin sei und er betete zu irgendwas, dass sie nicht gehen möge. Er spürte, dass es nie wieder so sein wird, wie es jetzt ist. Das Mädchen stand auf, während sie sich noch einmal umsah. Sie ging hinüber zu den Leuten, wo sie mit Zuckertüte unter dem Arm, einer Schultasche und dem feierlich, niedlichen Gesicht fotografiert wurde.
Der Junge stand auch auf. Er fand es reichlich doof, dass fünfjährige noch nicht eingeschult werden. Und es verging ein ganzes Jahr, bis dem Jungen diese Ehre zu Teil wurde. Und es war wieder ein warmer Septemberwind, der durch die ersten gelbgefärbten Ahornblätter fuhr. Der Junge saß nun allein auf dem Bordstein des Gehweges. Mit all seinem Nichtwissen, dass jede Zeit ihre Ereignisse hat, obschon er heimlich fürchtete, dass es so ist, weil er noch einmal gedanklich zurück ging zu der Zeit, als das Mädchen tatsächlich seine Freundin war.

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Tag der Veröffentlichung: 29.09.2008

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