Langsam findet Anna ihre neue Heimat wunderschön. Die Kleinstadt bietet jeden Komfort und doch ein gewisses familiäres miteinander. Ihre Wohnung liegt nicht all zu weit von ihrem Arbeitsort entfernt; wenn sie wollte könnte sie sogar mit dem Fahrrad fahren. Die Menschen in Marnau sind freundlich und der Spaß bleibt auch nicht auf der Strecke. Ja, diesmal kann Anna nicht meckern. Alles ist perfekt. Nur leider wird sie nach ihrem Praktikum nicht weiter beschäftigt. Noch drei Tage, dann steht sie auf der Straße. Was dann? Jetzt wo endlich alles rund läuft - Marcel aus ihrem Kopf verschwunden ist, sie keinen Smog mehr fürchten muss und endlich das Gefühl hat, irgendwo hin zu gehören. Ausgerechnet jetzt muss sie die Segel wieder streichen. Schon als Anna zum ersten mal einen Fuß in Marnau setzte, glaubte sie, dass sie, an diesem Ort glücklich werden konnte. Glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Tja, das wird wohl nichts! Nicht ohne ein Wunder. Anna sieht sich schon die Koffer packen und zurück in die Großstadt abdampfen. Und das will sie auf gar keinen Fall. Um endlich etwas mehr von ihrem Lieblingsort zu sehen, macht sich Anna mit dem Fahrrad auf den Weg zur Arbeit. Sie ist extra eine halbe Stunde früher aufgestanden denn ihre Kondition ist nicht die allerbeste. Pausenbrote, ein Apfel, eine Tüte Gummibärchen und eine Flasche Apfelschorle verstaut Anna in ihre kleine rot – weiß gepunktete Minikühltasche. Die Mailuft riecht einfach wunderbar, an diesem Morgen, die Autofahrer sind zuvorkommend und die Vögel zwitschern um die Wette. Die scheinen auch nach dem „Superstar“ zu suchen. All das soll Anna aufgeben? So wie es aussieht brauen sich über ihrem Kopf düstere Wolken zusammen. Und das im wörtlichen Sinn. Annas Vater verschaffte der Tochter einen Traumjob in der Firma für die er auch arbeitete. Aber sie will nicht für diese Firma, die ja doch nur die Umwelt verpestete, arbeiten. Gedankenverloren steigt Anna vom Fahrrad um den Zebrastreifen zu überqueren. Und dann quiiiiiiiiiitsch! Annas Herz rast bis zum Anschlag. Der Schweiß rinnt ihr den Rücken hinunter. Natürlich will sie in Marnau bleiben bis ans Ende ihrer Tage aber so wortwörtlich soll das Universum ihre Wünsche nicht nehmen. Dem Mann in seinem roten spritzigen Oldtimer schien es gut zu gehen. Und er machte sich nicht die Mühe, sich nach Annas Befinden zu erkunden. So ein Blödmann! Ihr einfach die Vorfahrt zu klauen! Sie abzudrängen und dann ganz einfach, mir nichts dir nichts weiter zu fahren. Mit Müh und Not schaffte es Anna in die Firma. Umringt von besorgten Kollegen erzählt sie den Zuhörern was soeben passiert sei. Sie radelte ohne an etwas Böses zu denken die Straße entlang und als sie den Zebrastreifen überqueren will: Quiiiiiiiiiiitsch! Trotz des schlimmen Vorfalls am Morgen lässt sich Anna nichts anmerken. Sie macht ihre Arbeit genauso gewissenhaft wie sonnt auch. Vielleicht sogar eine Spur gewissenhafter um ihrer Chefin zu zeigen, dass sie auch nach Tiefschlägen ganz locker wieder hochkommt. Der Nachmittag verläuft so wie immer. Nicht aufregend und auch nicht langweilig. Dass sie wirklich nicht übernommen wird, merkt Anna als ihr eine Kollegin eine Zeitungsannonce in die Hand drückt. Eine junge Firma sucht eine spritzige, flexible Alroundkraft. Das war genau das richtige für sie! Fand die nette Kollegin. Anna stopfte die Anzeige in ihre Jackentasche. Sie will hier nicht weg. Und was heißt schon „Alroundkraft?“ Das ist doch auch nur ein Codewort für Mädchen – für – alles. Anna schwingt sich auf ihren Drahtesel und macht sich auf den Nachhause Weg. Ihre Gedanken kreisen wie Mücken ums Licht. Anderseits, warum sollte sie sich nicht einmal die Firma ansehen? Wenn sie den Job annahm, dann könnte sie in Marnau bleiben. Diese Firma liegt auf der entgegen gesetzten Richtung ihrer Wohnung. Also war es völlig egal ob sie von rechts nach links, oder von links nach rechts zur Arbeit fuhr. Anna wendete ihr „Stahlpferdchen“ und kramte in der Tasche nach der Anzeige. Sie war gar nicht so weit von dieser Firma entfernt. Gänsehaut kriecht an ihren Armen hoch, als Anna bei der Bäckerei das kleine rote Auto von heute Morgen wieder sieht. Dieser Mistkerl! Er soll wenige fressen und sich lieber um die anderen Verkehrsteilnehmer kümmern. Aber süß sieht er schon aus. Die Haar waren ein lustiges wirr-warr aus schwarzen Locken. Er war groß gewachsen und so wie er aussieht treibt er Sport. Mit viel Schwung schmiss sich der Unbekannte in sein Vehikel und brauste flott weiter. Viel sah Anna nicht von ihm. Erstens weil sie ihn nur eine Sekunde zu Gesicht bekam und zweitens musste sie sich um den Straßenverkehr kümmern. Noch so ein Desaster wie am Morgen kann sie sich nicht noch einmal leisten. Da spielt das Herz einfach nicht mit! Die Häuser auf dieser Seite von Marnau sahen anders aus. Sie waren viel moderner und großzügiger gebaut. Die Parkanlagen wurden besonders gepflegt und Anna musste sich eingestehen, dass sie diesen Teil von ihrem Lieblingsort bisher noch nicht kennen gelernt hatte. Und da steht auch schon die Firma. Hübsch! Das Gebäude passt genau hier her. Ja, da könnte sie sich tatsächlich wohl fühlen. Anna schwingt sich auf ihr Fahrrad und macht sich auf den Weg zurück. Sie hatte alles was sie benötigte. Jetzt brauchte sie eine Dusche und ein warmes leckeres Essen. Quiiiiiiiiitsch! Oh nein, nicht schon wieder! Und dann auch noch derselbe Kerl! Der monsterauto- Fahrer schaffte gerade noch eine Vollbremsung. Da stand es wieder! Das kleine rote Monsterauto! Diesmal schien der Fahrer etwas verängstigter zu sein. Er hielt seine Hände vor sein Gesicht und schüttelte den Kopf. Allerdings begann er lauthals zu lachen. Klar, Leute über den Haufen zu scheren ist ja auch besonders lustig! Was denkt sich dieser Arsch eigentlich? Anna düste so schnell sie konnte mit ihrem Fahrrad davon. Sie hörte erst gar nicht hin, als der Monsterauto - Fahrer ihr irgendetwas nachrief. Mit pochendem Herzen radelte Anna nach Hause. Was für ein Tag. Gleich zweimal entkam sie nur knapp dem Sensenmann. Ob der Klappermann sie auf der Liste stehen hatte? Und genau wie eine Katze, die eine Maus fing erst einmal mit dem Opfer spielte? Es sah ganz danach aus. Annas Herz pochte immer noch als ihr die Vermieterin einen Teller mit Schinkennudeln und eine Schüssel Salat in ihre kleine Wohnung brachte. Die Frau war ein Segen und kümmerte sich liebevoll um Anna wie einst um ihre drei längst erwachsenen Töchter. Mia war entrüstet, als ihr Anna die Geschichte erzählte. Jemand will ihr kleines Baby abmurksen? Anna merkte schnell, dass es besser wäre, Mia nicht zu sehr aufzuregen. Zwar gefiel ihr der Gedanke, dass sie für Mia auch ein Kind ist, allerdings hatte sie sich erst unter ziemlichen Qualen von der eigenen Mutter gelöst und die wäre nicht so glücklich darüber wenn sich eine andere Frau ihr „Baby“ krallt. Mia schüttelte verständnislos den Kopf. Ja solche Roadies gab es selbst im schönen Marnau. Dann ging Mia wieder in ihr eigenes Reich zurück und kurz darauf konnte man sie lauthals das „Ave Maria“ aus dem Garten trällern hören. Wie Anmutig! Freilich würde das Lied „Näher mein Gott zu dir“ heute besser passen. Anna machte es sich auf dem kleinen Balkon gemütlich. Neben ihr hockte der Hauskater Charly, der es Klasse fand gleich zwei Frauchen zu haben. Anna trinkt Kaffee und kaut an einem Zimthörnchen das Mia extra für sie gebacken hat. Irgendwie sah der Kerl wirklich süß aus. Und viel jünger als gedacht. Er konnte nicht älter als sie selbst sein. Was macht er bloß in Marnau? Außer unschuldige Mädchen dahin zu meucheln? Anna klappt ihr Notebook hoch und öffnet die Datei mit den Bewerbungsunterlagen. Eines war klar, sie konnte nicht so untätig herum sitzen. Ihre Chefin saß bestimmt noch im Büro, sie soll ihr die Beurteilung gleich heute Abend per Mail senden- dann könnte sie die Mappe fertig stellen und einfach in den Postschlitz der chicen Firma einwerfen. Zwei Stunden dauerte es bis Anna alle Unterlagen beisammen hatte die sie brauchte. Es war sieben Uhr abends. Eine kleine verdauungs- Spazierfahrt konnte nicht schaden. Also rauf aufs Rad und tschüß.
Welch herrlicher Abend. Die Vögel trällerten und versuchten sich gegenseitig zu übertrumpfen. Die Luft roch klar und frisch. Die Menschen von Marnau machten es sich in den Biergärten, die heute zum ersten Mal geöffnet hatten gemütlich. Anna küsste den Umschlag ihre Bewerungsmappe und warf ihn in den Postschlitz der Firma. Jetzt liegt es nicht mehr in ihrer Hand was passierte. Sie schwang sich auf ihr Rad und wollte sich ebenfalls in den Biergarten zum „Auerhahn“ aufmachen. Quiiiiiiiitsch! OK, das war’s! Der Monsterauto - Fahrer mit seinem spritzigen roten Monsterauto, hatte es also wirklich auf sie ganz speziell abgesehen. Was hatte er bloß für ein Problem? Gleich dreimal an einem Tag musste sie um ihr Leben fürchten! Dreimal!!! Anna hatte die Schnauze voll. Jetzt ist es genug. Irgendjemand musste diesem Affenarsch das Handwerk legen. Und sie wollte dieser jemand sein. Das war sie dem schönen Marnau zum Abschied schuldig. Anderseits konnte sie den Monsterfahrer nicht so einfach vor allen Leuten anpaffen. Anna war der ganze Auftritt peinlich genug. Sie landete im Busch, als sie sich in letzter Sekunde noch retten konnte. Anna raffte sich hoch und radelte nach Hause zurück. Der Appetit auf Käsetoast und Cola waren ihr jetzt endgültig vergangen. Der Autofahrer rief Anna wieder etwas hinterher schüttelte den Kopf und setzte sich an einen Tisch im Biergarten. Das erste was Anna tat als sie nach Hause zurückkam war, dass sie eine rote Kerze für die Götter anzündete, um sie zu besänftigen und eine schwarze um den Monsterauto - Fahrer eine Lektion zu erteilen!
Der Vorletzte Tag in der Firma machte Anna sehr traurig. Immerhin haben es die Götter gut mit ihr gemeint. Vom roten Monsterauto war weit und breit nichts zu sehen. So konnte sie gemütlich zur Arbeit fahren ohne Angst haben zu müssen, von jemand niedergemäht zu werden. Der Tag verging wie im Fluge. In Gedanken packte Anna die Koffer um wieder ihr Leben in der Großstadt aufzunehmen. Die Mutter freute sich schon darauf. Sie hat Höchstpersönlich ihr altes Schlafzimmer geputzt.
Mias Essen schmeckte sonnst immer köstlich und Anna genoss es, einmal etwas anderes zu essen als ungesunde Fertigprodukte. Doch diesmal blieb ihr der Bissen im Hals stecken. Sie wollte nicht in die Stadt zurück! Das Handy bimmelte. Anna seufzte. Das kann nur die Mutter sein, die es gar nicht abwarten konnte, ihre Kleine wieder in die Arme zu schließen. Eine Nummer die sie nicht kannte schien am Display auf. Anna ging trotzdem ran. Es war Kevin Hauser, der Chef der chicen Firma. Er lud Anna zu einem Vorstellungsgespräch ein. Morgen nach der Arbeit sollten sie sich treffen. Anna flippte aus. Das war suuuper! Sie machte sich im Internet schlau um ja für den morgigen Tag vorbereitet zu sein. Anna konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am Morgen sah sie wie ein Uhu nach dem Waldbrand aus. Obwohl es der letzte Tag war, wollte sich Anna so professionell als möglich verhalten. Es viel ihr nicht leicht, da sie sich kaum konzentrieren konnte. Der Abschied nahte. Anna verabschiedete sich und erhielt von den Kollegen ein kleines Geschenk als Andenken überreicht. Anna zog sich im Pausenraum um. Eine hübsche champagnerfarbenen Bluse und einen romantischen engen Rock, wollte sie zum Vorstellungsgespräch anziehen. Ein Kollege brachte sie bis vor die Tür der neuen Firma. Er wollte sicher gehen, dass nicht wieder ein Monsterauto - Fahrer nach ihrem Leben trachtete. Der Kollege wünschte Anna alles Gute und viel Glück und nun war alles Bekannte aus ihrem Leben verschwunden.
Einatmen, ausatmen, einatmen und ausatmen. Anna war brünett und keine doofe Blondine die eine Anleitung zum Atmen brauchte. Allerdings hatte Anna noch nie so viel schiss wie zuvor in ihrem Leben. Sie schwitzte und hatte Angst die ganze Bluse zu versauen, obwohl sie eine Tonne Deo benutzte. Endlich ging die Tür auf. Ein junger hübscher Kerl kam aus dem Büro und sprach ein paar Worte mit der Sekretärin. Er ging in den Warteraum um Anna zu begrüßen. „Hey, ich bin Kevin!“ Anna viel beinahe vom Hocker. Da war er wieder, der Monsterauto - Fahrer und er lächelt sie frech an. Die Bewerbung gefiel ihm. Und er wollte sich mit ihr unterhalten. Anna brachte kaum ein Wort heraus. Sie hatte Mühe sich nichts anmerken zu lassen. Und als sie trotzdem eingestellt wurde, war sie überglücklich in Marnau bleiben zu können.
Zwei Jahre waren seit jenem schicksalhaften Tag vergangen. An einem wunderschönen Maitag umgeben von Freunden und der Familie, erzählte Anna die Geschichte ihren Hochzeitsgästen. Und dass diese Hochzeit beinahe nicht stattgefunden hätte.
Ende.
Texte: Mercedes Evers
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Tag der Veröffentlichung: 18.02.2013
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