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Warum nur schielte Trix, der einzige und rechtmäßige Schüler des großen Zauberers Radion Sauerampfer, so auf Lob? Mit seinen noch nicht einmal fünfzehn Jahren hatte er bereits eine Schandtat bereinigt, der Wahrheit zu ihrem Recht verholfen, das Herz einer Fürstin erobert und sogar ein echtes Wunder vollbracht. Zudem bekleidete er mittlerweile den hohen Rang eines Initiaticus, und den trennte ja nur noch eine Handbreit von einem richtigen Zauberer. Dennoch stand er in seinem Kämmerlein unterm Dach des Magierturms am Fenster und schmollte. Oh nein, er bedauerte keinesfalls, nach all den Abenteuern im letzten Jahr das väterliche Herzogtum, in dem er früher oder später den Thron würde besteigen müssen, verlassen zu haben und zu Sauerampfer zurückgekehrt zu sein, um sich bei diesem als Zauberlehrling durchzuschlagen. Die Böden schrubben, Essen kochen und den Abort säubern – all das waren natürlich keine angenehmen Aufgaben, doch die Beschäftigung mit der Magie entschädigte ihn für jede Schinderei. Gut, für die letzten knapp zwei Wochen konnte er nur mäßige Erfolge verzeichnen. Bei dem Versuch, den alten Salamander, der das Wasser im Kessel kaum noch zum Kochen brachte, durch einen neuen zu ersetzen, hatte er ein kleines Feuerchen entfacht. Sämtliche Experimente im Bereich der Küchenmagie hatten ihm eine Magenverstimmung eingebracht. Und mit dem simplen Zauber Rollende Steine hatte er keine Berge versetzt, sondern lediglich ein paar Visagen heraufbeschworen, die Grimassen schnitten und ihm die Zunge herausstreckten. Sogar seinen Misserfolg bei der Teleportation – eine Technik, die Sauerampfer selbst nicht sonderlich gut beherrschte – hätte Trix verkraftet, wäre die Folge nicht gewesen, dass Sauerampfer ohne ihn zum Magierkapitel, das traditionell zwischen den Feiern zum Neuen Neuen und zum Alten Neuen Jahr stattfand, aufgebrochen war. Mit der höhnischen Bitte, Trix möge den Turm in seiner Abwesenheit nicht dem Erdboden gleichmachen. Und so hatte sich Trix sein Leben bei dem Zauberer nun wahrlich nicht vorgestellt! Er gierte nach neuen Abenteuern, nach Geheimnissen, Kämpfen und Intrigen. Er wollte mindestens die Welt retten – und die Fürstin Tiana obendrein! Er dürstete nach einem Sieg über die fiesen Vitamanten! Stattdessen musste er alte Zauber, die längst jede Kraft eingebüßt hatten, aus noch älteren Büchern abschreiben! Plus Sauerampfers weitschweifige Kommentare zu diesen Sprüchen. Nun würde er nach dem Neuen Neuen in ein paar Stunden auch das Alte Neue Jahr einsam und verlassen begrüßen, denn Sauerampfer mochte Trix noch so schätzen, er würde wegen seines nichtsnutzigen Schülers das Kapitel nicht vorzeitig verlassen. Da konnte dieser Feiertag noch so bedeutsam sein! Da konnte es noch so Tradition sein, ihn zu Hause im Kreise der Familie zu feiern, nicht wie das Neue Neue Jahr auf der Straße mit Freunden und Bekannten. Das Alte Neue Jahr beging man übrigens nur im Königreich. Marcel der Überraschende hatte diesen Feiertag eingeführt. Der reformfreudige König hatte sich nämlich nicht damit begnügt, den guten alten vier Himmelsrichtungen zwei weitere hinzuzufügen, nein, er hatte auch drei Buchstaben aus dem Alphabet getilgt, zwei neue Lettern und ein neues Zeichen (ein Komma mit einem Punkt darüber) in das Abc aufgenommen und die alte Gewichtsbezeichnung »Pfund« durch etwas ersetzt, das die wunderliche Bezeichnung »Kilo« trug. Was ein Pfund war, wusste jedes Kind: Genauso viel wog die Eisenkugel, die an einer Kette von der königlichen Zeremonialkeule baumelte. Das geheimnisvolle Kilo sollte nach dem Willen des Monarchen gut doppelt so viel wiegen und damit exakt dem Gewicht von etwas entsprechen, das er einen Liter nannte. Doch noch ehe Marcel der Überraschende entschieden hatte, wie viele Pinten oder Quarten wiederum in besagten Liter gingen, hatte er das Interesse an diesem Vorhaben bereits wieder verloren. Wie sich überhaupt nur ein Bruchteil der Reformen des einfallsreichen Königs durchsetzte. Die neuen Buchstaben purzelten nach und nach wieder aus dem Alphabet, während die alten gar nicht daran dachten, in selbiges zurückzukehren. Die Himmelsrichtungen überlebten nur am alten Uhrenturm in der Hauptstadt, in den Läden baten die Leute wie gehabt um ein Pfund (nicht um ein halbes Kilo) Weißbrot oder um zwei Pinten (nicht um einen Liter) Milch. Nur die Kalenderreform Marcels durfte sich eines bescheidenen Erfolgs rühmen. Mitten im Winter hatte der König eines Abends verkündet, ihr alter Kalender hinke der Zeit ganze dreizehn Tage hinterher. Fortan müsse das Neue Jahr also früher gefeiert werden. Kurzerhand befahl er, Feuerwerke abzubrennen, Wein an das einfache Volk auszuschenken und allen die Steuern für die beiden ausgefallenen Wochen zu erlassen. Die landläufige Meinung ging damals dahin, der König wolle einfach mal zwei Wochen früher feiern, aber gut, schließlich gab es Feuerwerke, Wein – und keine Steuern! Der neue Kalender wurde bereitwillig akzeptiert – der alte jedoch nicht vergessen. Das wiederum führte zu jenem Feiertag mit dem erstaunlichen Namen Altes Neues Jahr. Angeblich hat Marcel der Überraschende noch auf dem Sterbebett gesagt: »Ich bin zu früh in diese Welt gekommen! Sie war noch nicht reif für meine Ideen. Aber das wird sich ändern … Und nun zum Wesentlichen! Schreibt mit! Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.« Den Schreibern fiel bei diesen Worten förmlich die Feder aus der Hand, sodass es auf immer ein Geheimnis der Geschichte blieb, was er ihnen noch alles diktiert hat. Zudem intervenierte Marcels Erbe höchst beherzt. »Was steht ihr hier herum, ihr Banausen!«, polterte er. »Schmerz und Fieber lassen meinen Vater töricht reden! Verabreicht dem Alten umgehend eine ordentliche Portion Absud vom Mohn!« Die Portion war in der Tat groß. Tief in der Nacht verließ Marcel der Überraschende diese Welt. Wie der kapriziöse Zufall es wollte, entschlief der König ausgerechnet am Vorabend des Alten Neuen Jahres, was allgemein als Zeichen gedeutet wurde, dass es nur recht und billig sei, auch diesen Feiertag zu begehen. Schwer seufzend setzte sich Trix an den Schreibtisch. Es war ein guter, wenn auch alter Tisch, aus Mooreiche, dessen Platte mit Greifenleder bespannt war, mit drei Schubläden links (einer geheimen, deren Schlüssel jedoch seit Langem vermisst wurde) und zwei Läden rechts. In diesen Fächern herrschte gähnende Leere, nur in dem oben links fand sich ein Stapel Papiere und in dem unten rechts ein Vorrat an Federn sowie ein Messer, um diese anzuspitzen. Trix schlug das große Buch zur Familienmagie auf und las mit ausdrucksvoller Stimme vor: »Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich. Dieser Zauberspruch ist die Frucht langjährigen Nachsinnens meiner Person. Er kann hehren wie niederen Zielen dienen. Gilt es, in einer Familie Frieden und Eintracht zu stiften, so lege man besonderen Nachdruck auf den ersten Teil, alle glücklichen Familien ähneln einander. Will man indes Zwist und Zwietracht säen, betone man die zweite Hälfte, jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich. Der Zauber sei mit Verstand und der gebotenen Sorgfalt gebraucht.« Trix seufzte erneut. Früher mochte dieser Zauber ja funktioniert haben. Aber heute? Man denke doch nur mal an den Schmied aus Bossgard, der regelmäßig seine Frau durchprügelte. Dennoch war die Familie glücklich. Der Gemüsehändler dagegen packte seine Frau geradezu in Watte – und auch diese Familie war glücklich. Und diese beiden Familien sollten sich ähneln? Dennoch schrieb Trix den Spruch dreimal ab, trug ihn sieben Mal laut und voller Nachdruck vor und machte sich anschließend daran, den von Sauerampfer verfassten Kommentar zu kopieren: In den ruhmreichen Zeilen seines ruhmreichen Werks enthüllt der ruhmreiche Zauberer und Graf das ruhmreiche Geheimnis … Da strich Trix die Segel, holte ein sauberes Blatt Papier heraus und machte sich daran, einen Brief an seine Eltern aufzusetzen. Teure Eltern! Guter Herzog, gute Herzogin! Ich habe euch sehr lieb. Aber ich mag auch Abenteuer. Und Magie ebenfalls. Ihr habt mir jedoch verboten, mich damit zu beschäftigen. Stattdessen musste ich Tanz und Fechten lernen. Das war nicht richtig von euch. Deshalb bin ich zu Radion Sauerampfer gegangen und werde in Zukunft bei ihm leben. Macht euch um mich keine Sorgen, ich werde schon nicht untergehen. Ich komme gut mit allem zurecht und werde euch wieder schreiben. Für den Thron ist es für mich sowieso noch zu früh, noch ist ja Papa dran. Lebt wohl, euer Sohn Trix Solier Nachdem er den Brief noch einmal durchgelesen und kurz über seine Worte nachgedacht hatte, war er hochzufrieden mit sich. Das Schreiben war knapp, ehrlich und sehr höflich. Jetzt musste er sich nur noch entscheiden, auf welchem Weg er den Brief befördern sollte. Nach einer weiteren mittelkurzen Überlegung ging Trix zum Fenster, öffnete es weit, damit die frische Winterluft hereinkam, und sprach laut: »Flieg rasch davon mit einem Kuss! Und mach, dass ich nicht lang auf Antwort warten muss!« Das Blatt auf seiner Hand zitterte leicht, zeigte ansonsten jedoch nicht die geringste Absicht, sich in die Lüfte zu erhe- ben. Hier war ein Postillion vonnöten.Dochwoher nehmen? Zum Turm des Zauberers kam fast nie jemand. Wer wollte sich auch schon einem derart gefährlichen Ort voller Überraschungen nähern? Erst jenseits der Schneefelder stiegen über den Häusern der Stadt Bossgard Rauchsäulen auf. Um den Turm selbst blühten trotz der Jahreszeit Rosen, Mohn, Tulpen und andere Blumen, die Sauerampfer liebte. In denen schwirrte gerade Annette herum, Trix’ Blumenfee, die so hoffnungslos in ihn verliebt war. Sicher, sie würde den Brief zustellen. Doch wenn sie sich mitten im Winter allzu weit vom Turm entfernte, würde sie womöglich erfrieren und sterben… »Ein Vogel«, sagte Trix nachdenklich. »Ich brauche einen Vogel, einen starken und kühnen Flieger, der in grausger Nacht durch Schnee und Sturm segeln kann. Dem nie die Kräfte versagen und der den Brief zu meinen Eltern bringt.« Plötzlich schoss mit einem verzweifelten Krächzen eine Schneeeule auf den Turm zu. Trix wich sogar einen Schritt zurück, als sie auf dem Fensterbrett landete. Aus ihrem Schnabel hing ein Mauseschwanz. »Du hast doch keine Angst vor Zauberern, oder?«, fragte Trix. Die Eule schluckte den Schwanz hinunter und sah den Jungen verächtlich an. »Bring meinen Brief ins Herzogtum Solier«, bat Trix. »Händige ihn dem Herzog Rett Solier persönlich aus. Klar so weit?« Die Eule streckte eine Klaue vor. Trix band seinen Brief mit einer gewissen Furcht vor den spitzen Krallen daran fest. »Vergiss nicht, ins Herzogtum Solier«, schärfte er ihr ein. »Dem Herzog persönlich.« Die Eule bedachte ihn mit einem letzten geringschätzigen Blick und erhob sich vom Fensterbrett. Kaum hatte Trix dieses Schreiben an seine Eltern auf den Weg gebracht, fühlte er sich besser. Auch wenn er mutterseelenallein im Turm saß, auch wenn ihm nur ein paar Kartoffeln und eine gefrorene Schweinekeule geblieben waren, aus denen er lediglich ein sättigendes, aber keinesfalls ein festtägliches Mahl zubereiten konnte, stellte sich bei ihm jene Stimmung ein, die zur Feier des Alten Neuen Jahres gehörte. Trix schloss das Fenster, zündete – da die Sonne bereits unterging – ein paar Kerzen an und bemühte sich aufrichtig, den Familienzauber zu begreifen. Nur leistete der hartnäckig Widerstand! Verzagt ließ Trix den Blick über den Schreibtisch wandern, auf dem frühere Schüler von Sauerampfer ihre Klagen, Flüche und Botschaften hinterlassen hatten. Denn obwohl jeder neue Zauberlehrling seine Ausbildung damit einleiten musste, den Tisch gründlich abzuschrubben, ließ sich gute Tinte nun mal nicht restlos beseitigen. Grund zur Beschwerde gaben die angestaubten magischen Bücher mit den Zaubersprüchen, die längst ihre Kraft verloren hatten, auch gewisse Spitzen an die Adresse des Magisters Sauerampfer fanden sich oder eine begeisterte Ode an die Schönheit, die der Frau des Barons von Bossgard gewidmet war. (Als Trix die dicke alte Baronin einfiel, zuckte er nur verständnislos die Achseln. In der Jugend seiner Jahre überstieg es seine Vorstellungskraft, dass jede Alte einmal eine schöne junge Holde gewesen war.) All das hatte Trix schon mehr als einmal gelesen, was ihn allerdings nicht an nochmaliger Lektüre hinderte. Unter den alten Schriftzügen schimmerte eine weitere Botschaft hervor, von der nur noch schwache Kratzer im Greifenleder zeugten. Wahrscheinlich war das dem Licht der Kerzen und den letzten Strahlen der untergehenden Sonne zu verdanken, die in einem günstigen Winkel auf den Tisch fielen und so die alten Zeichen hervortreten ließen. »Der Schl… Schlüssel … Fe… Fensterbrett …«, entzifferte Trix. »Was denn für ein Schlüssel?«, murmelte er. Die Frage hätte er sich sparen können. Sein Zimmer konnte er nicht mit einem Schlüssel absperren, ein Zauberlehrling durfte nur einen Riegel vorlegen. Das einzige Schloss in seinem Zimmer war … das für das Geheimfach im Schreibtisch! Sofort schnappte sich Trix eine Kerze, um das leicht vorstehende Fensterbrett zu inspizieren. Das glatt abgehobelte Holz war staubig und von einem Spinnweb überzogen, barg aber kein Geheimnis. Als Trix jedoch die Kerze an das Spinnennetz hielt und es knisternd abbrannte, bemerkte er, dass ein Stück Holz eine andere Farbe aufwies als der Rest. Trix entnahm einer Lade des Schreibtischs ein altes, stumpf gewordenes Federmesser und polkte damit an dem Scheit herum, bis es schließlich herausfiel. Ihm folgte ein leibhaftiger Bronzeschlüssel, der zwar nicht sehr groß war, dafür aber einen verschnörkelten Bart besaß. Mit laut hämmerndem Herzen und in Erwartung des Abenteuers stockendem Atem rannte Trix zum Schreibtisch hinüber. Er steckte den Schlüssel ins Loch, was mühelos ging. Dann drehte er ihn – was genauso mühelos ging. Bevor Trix die Lade herauszog, leckte er sich noch einmal über die trockenen Lippen. Schließlich wagte er es… Die Schublade enthielt…nichts. Der kleine, ziemlich flache Kasten barg kein Geheimnis. Trix wollte seinen Augen nicht trauen, zog die Lade aus dem Schreibtisch, drehte sie in der Hoffnung um, auf der Unterseite ein mit Pech angeklebtes Pergament vorzufinden, auf dem ein kraftvoller, alter Zauberspruch stünde. Danach klopfte er den Kasten von allen Seiten ab, denn womöglich hatte das Ding ja einen doppelten Boden. Oder doppelte Wände. Nichts! Bloß eine leere Lade! »Das ist gemein!«, schrie Trix. »Geradezu unfair!« Seine gesamte Lebenserfahrung plus jede Logik sagten ihm schließlich, dass ein Zauberlehrling, der sich am Abend eines Feiertages allein in einem Turm grämt und dann einen alten Schlüssel findet, auf etwas Wichtiges stößt. Auf eine Geheimtür. Ein Geheimversteck. Oder wenigstens auf eine Kiste mit Gold und Edelsteinen! Aber nicht auf eine leere Lade! Trix blies die Kerzen aus und ging mürrisch in die Küche. Zum Abend hin hatte der Wind aufgefrischt, unter seinen Böen schwankte der Turm leicht hin und her. Trix hantierte in der Küche, um sich das Essen zuzubereiten. Die Kartoffeln hatte er bereits geschält, jetzt bullerten sie fröhlich im kochenden Wasser. Gut, die Kartoffeln selbst empfanden vermutlich keine besondere Freude, doch die Menschen stimmte dieses Geräusch nun einmal heiter. Die Schweinskeule hatte er mit Knochblauchzehen und einer Mohrrübe gespickt, mit Salz und Pfeffer gewürzt, aufgespießt und übers Feuer gehängt.

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Tag der Veröffentlichung: 15.06.2012

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