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Schluss. Aus. Vorbei. Das Konzert ist vorüber. Ein paar Tage darauf werden Musikkritiker den Nirvana-Gig auf dem Reading Festival 1992 feiern als »etwas, was man gesehen haben musste – und wenn man es nicht gesehen hatte, gab man vor, es gesehen zu haben«. Für den Moment aber sind es nur neunzig Minuten geballter, ehrlicher Rock, schweißtreibend, kräfteraubend, zerstörerisch, dennoch das, was Cobain am liebsten macht: Musik. Nicht mehr, nicht weniger. Der ausgelassene Jubel der Fans draußen vor der Bühne folgt ihm, während er backstage ein Geflecht von Gitterstäben und Metallstufen hinter sich lässt. Seine Schuhe schlurfen über die scheppernden Stiegen. Cobain wirkt nicht nur erschöpft,was nach dem Auftritt verständlich wäre, sondern auch krank, und das ist bemerkenswert: Mit seinem aberwitzigen Aufzug zu Beginn des Konzerts (mit blonder Perücke und weißem Krankenhauskittel ließ er sich in einem Rollstuhl auf die Bühne schieben) hat er alle verspottet, die Zweifel an seinem Gesundheitszustand hegten. Jetzt muss er immer wieder husten, ein trockenes, bronchiales Krächzen. Trotzdem trägt er seine Felljacke nur über dem Arm und steckt sich wie zum Trotz eine Zigarette zwischen die Lippen. Er kommt nicht dazu, sie zu entzünden, denn ein älterer Herr in olivfarbenem Regenparka drängelt sich durch Cobains Gefolge. »Entschuldigung«, ruft er. »Entschuldigung.« Noch ehe Cobain weiß, wie ihm geschieht, drückt ihm der Mann einen zerknitterten Zettel in die Hand und hält ihm einen Filzschreiber unter die Nase: »Gray hat heute Geburtstag.« Cobain schaut den Mann irritiert an. »Herzlichen Glückwunsch, lieber Gray. Bitte, Kurt, kannst du das schreiben? Herzlichen Glückwunsch, lieber Gray.« Noch immer verwirrt kritzelt Cobain, was der Fremde ihm diktiert. Dann will er ihm Zettel und Filzschreiber zurückgeben, doch der Mann hat sich abgewendet, hält nach jemandem Ausschau. Wie verloren steht Cobain mit dem Stift in der Hand da, weiß nicht, was er tun soll. Einfach zu verschwinden, verbietet ihm die Höflichkeit. Seine Verunsicherung steigt, als Gray vor ihm auftaucht, ein kleiner, dicklicher Teenager, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt. Aufgeregt stotternd erklärt der Junge, wie genial er ihn findet. Dann schweigt er, blickt ehrfürchtig zu Cobain auf. »Boar, fantastisch.« Grays Augen leuchten, als sein Idol ihm den Zettel mit der Widmung in die Hand drückt. Sein Dad nimmt ihn stolz in den Arm. »Wenn ich das meinen Freunden erzähle, die werden mir niemals glauben.« »Ja«, sagt Cobain, weil ihm nichts anderes einfällt. Vater und Sohn schweigen einträchtig nebeneinander, der Jubel der Fans vor der Bühne ist noch immer nicht verklungen. Cobain zupft verlegen an Jacke und Perücke. Seine Augen huschen in den Höhlen umher, als suchten sie einen Ort, an dem er endlich Ruhe findet. Er hustet. Weil sonst niemand etwas sagt, warnt er den Jungen: »Fang nicht mit dem Rauchen an!« »Nein, nein«, verspricht Gray sofort. »Das will ich nicht. Niemals, ehrlich.« Cobain mustert den Jungen fast ein wenig erschrocken. Als würde er einem Befehl folgen! In diesem Moment kommt Dave Grohl. Die Aufmerksamkeit wendet sich dem Schlag-zeuger zu. Cobain ist erleichtert,endlich kann er weiter. Endlich wieder alleine. An einem heißen Julitag 1966 verließen der 22-jährige Automechaniker Donald »Don« Leland Cobain und die drei Jahre jüngere Wendy Fradenburg das kleine Provinznest Coeur d’Alene in Idaho. Vor kurzem erst hatten sie geheiratet, still und heimlich, ohne die Einwilligung der Eltern. Ihr Ziel war jetzt das Grays Harbor County an der Westküste, wo Wendys Verwandtschaft lebte, unter anderem die aus Deutschland stammende Großmutter, eine geborene Friedenburg. Dort hoffte das junge Paar auf einen lukrativen Job im Umfeld der Holzindustrie. Doch die Fahrt durch den amerikanischen Mittelwesten war zeitraubend, führte immer wieder durch karge Steppen und über zerklüftete Hügelkämme. Erst am späten Nachmittag, als sich die Sonne bereits hinter den schneebedeckten Gipfeln des Mount Daniel zu verstecken begann, erreichten sie den Wenatchee National Forest. Jetzt lagen noch 180 Meilen Waldland vor ihnen, das aber zur Küste hin immer spärlicher wurde. Die Berge rund ums County waren gänzlich kahlgeschlagen. Jenseits der nackten, spröden Hänge konnten die Cobains schon von weitem den Verlauf des Wishkah River ausmachen, der die beiden Kleinstädte Aberdeen und Hoquiam voneinander trennte. Von dem Fluss selbst war allerdings nicht viel zu erkennen, Holzstämme trieben wie ein dichtgeknüpfter Teppich auf dem Wasser. An den Ufern drängten sich Holzhäuser aneinander, in deren Vorgärten die US- Fahnen mit trotzigem Stolz im rauen Küstenwind flatterten. Stolz worauf? Über die Gleise und Brücken,die die unzähligen Barackenreihen zerfurchten, ratterte der Lastverkehr aus den Holzlagern zu den Sägewerken und in die Zellstoff- und Schindelfabriken. Die emsige Betriebsamkeit täuschte, wie das junge Paar schon bald erfahren sollte. Kaum dass es sich in einem billigen Hinterhaus in der Aberdeen Avenue in Hoquiam einquartiert hatte, machte Don sich auf die Suche nach einem Job. Eine Chevron-Tankstelle stellte ihn schließlich als Kfz-Mechaniker ein. Das war nicht unbedingt die Arbeit, die er sich erhofft hatte, zumal sie kaum Geld einbrachte. Aber nach einigem Bemühen,etwas Besseres zu finden, war ihm klargeworden: Die Holzindustrie hatte ihre besten Tage längst hinter sich. Immer wieder schwappten Kündigungswellen über das County und mit jeder Welle stiegen die Arbeitslosenzahlen. An der Main Street Aberdeens wurde ein Geschäft nach dem anderen aufgegeben. Verriegelte Türen. Zugenagelte Fenster. Ein trauriger Anblick. Einzig die Kneipen florierten noch, fast dreißig Wirtsstuben boten Zerstreuung. Alkoholismus, häusliche Gewalt und Selbstmorde nahmen zwar zu, aber erstaunlicherweise blieb der Großteil der Leute davor gefeit. Denn am Wishkah River gab es noch mehr Kirchen als Kneipen, in denen der Glaube den Menschen dabei half, allen Widrigkeiten zum Trotz Moral und Anstand zu wahren. Alte Werte wie Familie und Vaterland, Freundschaft und Nächstenliebe wurden nach wie vor groß geschrieben. So lebten die Leute im Grays Harbor County ihr beschauliches Leben weiter, während sich zur selben Zeit im Rest des Landes gravierende gesellschaftliche Veränderungen vollzogen. Seit 1965 führten die USA in Vietnam einen sinnlosen, brutalen Krieg. Präsident Lyndon B. Johnson hatte Truppen entsandt, um den Kommunismus zu bekämpfen und die uneingeschränkte Macht der USA unter Beweis zu stellen. Doch die wiederholten Luftangriffe, der Einsatz von Napalm, insbesondere aber die vor den Augen der Reporter aus aller Welt ausgeführte stolze Zählung getöteter Gegner erweckten den Eindruck, man bekriege gezielt das vietnamesische Volk. Das stieß bei vielen Amerikanern auf Ablehnung: Erstmals in der Geschichte des Landes formierte sich eine breite Protestfront gegen die eigene Regierung. Anfangs waren es Studenten, die den zivilen Ungehorsam probten und eine Veränderung der als autoritär empfundenen Gesellschaftsstrukturen forderten. Unterstützung erfuhren sie durch die Hippiebewegung, die zur gleichen Zeit in San Francisco erblühte, knapp achthundert
Meilen südlich von Hoquiam. Mit freier Liebe, Drogenkonsum und Anleihen bei fernöstlichen Religionen widersetzten sich die Flower-Power-Kids den bürgerlichen Konventionen und den herrschenden Moralvorstellungen. Beflügelt von der revolutionären, psychedelischen Rockmusik von Sängern wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison sowie Bands wie den Beatles, Rolling Stones, Doors und Pink Floyd begriffen sich die Blumenkinder zunehmend als Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg. Ihr Slogan Make Love, not war ging binnen kürzester Zeit um die Welt. Von alldem nahm in Hoquiam kaum jemand Notiz. Dort klammerten sich die Leute an Gott und Vaterland und an all die vertrauten Rituale: Thanksgiving-Feiern, Backwettbewerbe oder Holzfällerturniere, die dem Leben am Wishkah River seit fast einem Jahrhundert Halt boten. Doch zugegeben, ein junges Paar, das bald sein erstes Kind erwartete, hätte es schlimmer treffen können. Am 20. Februar 1967 kam Kurt Donald Cobain im Grays Harbor Community Hospital zur Welt. Nicht viel später zogen seine Eltern von dem Hinterhaus in Hoquiam in einen günstigen Bungalow in Aberdeen, in der 1210 East 1st Street, unweit vom Wishkah River. Die Gegend dort war nicht die feinste, aber Don machte Überstunden in der Tankstelle, und wann immer ihm Zeit blieb, putzte er das Haus heraus, damit es besser ausschaute als alle anderen in der Umgebung. »Es war weiße Armut«, sollte sich Kurt Jahre später erinnern, »die auf Mittelklasse machte.« Eine Mittelschicht, die geradewegs der Andy Griffith Show zu entstammen schien, einer in jenen Tagen enorm populären TV-Sitcom über den Alltag ganz normaler US-Amerikaner, mit denen sich auch die Leute in Aberdeen identifizierten: weiß, höflich, christlich und kinderlieb. So wie Wendy, die sich aufopferungsvoll um das Baby kümmerte. Nachts schlief es in einer weißen Korbwiege mit einer gelben Schleife, tagsüber trug die Mutter es in einer rosa Steppdecke mit sich herum. Als Kurt in den Kindergarten ging, vergaß sie nie, ihn zum Abschied zu umarmen und zu küssen – und ihn vor dem Umgang mit den armen, dreckigen, asozialen Kindern im Ort zu warnen. So viel betüdelnde Aufmerksamkeit sorgte bei den Nachbarn, kernigen Holzarbeitern, die einen derberen Umgang mit ihren Söhnen pflegten, für Befremden. Aber das focht Kurt nicht an. Er erklärte wiederholt, er habe eine »wirklich gute Kindheit« verlebt. Am liebsten wollte er Präsident werden, aber auch Astronaut und Stuntman standen auf der Liste seiner Berufswünsche weit oben. Sein Held war Evil Knievel, ein amerikanischer Motorradstuntman, der mit seinen spektakulären Shows weltberühmt geworden war. Wie ein wagemutiger Artist turnte Kurt im kleinen Garten des Bungalows seiner Eltern umher. Häufig sang er dabei selbst ausgedachte Lieder. Schon mit etwa drei Jahren entwickelte er eine helle Freude daran, eigene Liedtexte zu erfinden. Sein Talent kam nicht von ungefähr, denn insbesondere der mütterliche Zweig der Familie war musikalisch sehr aktiv. Onkel Dale, Wendys Bruder, der in Kalifornien lebte, sang als irischer Tenor Opern und Balladen. Onkel Chuck spielte in einer Rock ’n’ Roll-Band namens Fat Chance. Tante Mari tingelte als Countrysängerin durch die Bars der Umgebung. Wendys Schwester war es auch, die Kurts Talent förderte. Anfangs schenkte sie ihm Platten der Beatles und der Monkees,später eine Basstrommel, weil er gerne mit Löffeln auf Töpfen und Pfannen hämmerte. Fortan sah man Kurt nur noch trommelnd und singend herumlaufen. Als die Beschwerden der genervten Nachbarn sich häuften, kaufte Mari ihm eine Plastikgitarre und gab ihm Unterricht. »Er sang Beatles-Lieder wie Hey Jude, aber auch alles andere «, berichtete die Tante. »Man konnte ihm sagen: ›Kurt, sing das mal!‹, und er legte los.« Am meisten hatte es ihm das Album Alice’s Restaurant von Arlo Guthrie angetan, einem amerikanischen Folksänger, dessen Motorcycle Song Kurt ohne Unterlass schmetterte: »Ich möchte keine Schwierigkeiten. Ich möchte nur auf meinem Motorrad fahren. Und ich will nicht sterben.« Noch bereitete sein ungestümes, kindliches Temperament der Familie Vergnügen. Die ganze Verwandtschaft amüsierte sich über den kleinen Nachwuchsmusiker, der jetzt als sein Berufsziel Rockstar angab. Als aber am 24. April 1970, da war Kurt drei Jahre alt, Schwesterchen Kimberly das Licht der Welt erblickte, wurde Kurts unbändige Energie zum Problem. Eines Morgens, als seine Mutter das Baby wickelte, schlich er sich aus dem Bungalow. Für den Rest des Tages streifte Kurt durch Aberdeen, ohne genau zu wissen, wohin er eigentlich wollte. Nur in einem war er sich sicher: Ich will nicht mehr zurück nach Hause! Am Nachmittag begann sein Magen zu knurren. Er weinte vor Hunger. Dann begann es zu regnen und innerhalb weniger Minuten war er bis auf die Haut durchnässt. Am Abend fand ein Nachbar ihn laut heulend unter einer Brücke. Kurt war der festen Überzeugung, seine Mutter hätte ihn verraten. Seine Eltern, die sich Sorgen gemacht hatten, waren froh, dass nichts Schlimmes passiert war. Sie beteuerten, dass all ihre Liebe auch in Zukunft ihm gehöre, doch die Enttäuschung darüber, die Aufmerksamkeit fortan mit Kimberly teilen zu müssen, hielt an – und äußerte sich in trotzigem Verhalten. Kurts Gebaren wurde immer wilder. Don und Wendy verzweifelten. Ein Arzt diagnostizierte Hyperaktivität und verordnete Kurt Ritalin (ein umstrittenes Medikament, das heute Kinder mit ADS /ADHS bekommen). Seltsamerweise wirkten die Tabletten nicht, weswegen ihm ein Sedativum verabreicht wurde. Das stellte Kurt allerdings so gründlich ruhig, dass er im Unterricht der Robert Gray Elementary School, die er bald darauf besuchte, regelmäßig einschlief. Zu guter Letzt strich man ihm den Zucker aus der Ernährung, was sein Verhalten tatsächlich normalisierte – von der Sache mit Boddah abgesehen. Boddah war ein imaginärer Freund, mit dem Kurt redete, spielte und manchmal sogar im Park spazieren ging. Als dem unsichtbaren Freund ein eigener Platz am Mittagstisch eingeräumt werden musste, platzte Kurts Eltern der Kragen. Zum Glück bot Onkel Clark seine Hilfe an. Er bat Kurt darum, Boddah mit nach Vietnam nehmen zu dürfen. Kurt blickte seinen Onkel argwöhnisch an, bevor er seine Mutter fragte: »Boddah gibt es doch gar nicht. Weiß Onkel Clark das nicht?«


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Tag der Veröffentlichung: 16.05.2012

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