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VOR SIEBEN MONATEN


Jakob ist tot. Die Nachricht seines Todes bekamen wir an einem Herbstabend im letzten Jahr, ich war mit Lu und den anderen auf dem Marktplatz, wir saßen auf dem Rand des alten Brunnens ohne Wasser, ließen die Beine baumeln und tranken abgefüllten Wodka-Lemon aus einer Wasserflasche. Da dachten wir noch, die Welt ist in Ordnung. Lu rülpste aus Versehen, ihr war das peinlich, aber wir lachten ausgelassen, und glücklich über jede Aufmerksamkeit, rülpste sie noch mal ganz laut, und immer wieder, sodass wir gar nicht mehr aufhören konnten zu lachen und Lu das Klingeln ihres Handys zuerst nicht hörte. Dann piepste es, so als versuchte es sich auf eine andere Art wichtigzumachen, direkt danach klingelte es wieder. Eine von uns wollte Lu aufziehen, jeder wusste von ihrer Schwärmerei für den Sänger der Hiccups, vor ein paar Tagen hatte er sie endlich nach ihrer Nummer gefragt, aber seitdem nicht angerufen. Es fiel so was wie: »Da will dich jemand aber ganz dringend sprechen!« Und ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen: »Bestimmt deine Mutter!« Lu warf mir einen »Halt bloß die Klappe«-Blick zu. Sie machte einen ihrer erfolglosen Versuche, cool zu gucken,schaute auf das Display ihres Handys und sagte dann genervt: »Was will die denn jetzt von mir?« Ich sah das kurze Zögern in ihren Augen – antworten oder nicht –, aber da Lu im Grunde eine brave Tochter ist, schwang sie sich vom Brunnen, nahm das Gespräch an, hörte zu, nickte schweigend und ließ dann langsam das Handy sinken. Sie stand mir gegenüber, deshalb konnte ich ihr ins Gesicht schauen und merkte, dass etwas nicht stimmte. Ich stand auf und ging zu ihr. »Was ist los?«, fragte ich. Jegliche Farbe war aus Lus Gesicht gewichen, sie zuckte fast unmerklich mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich soll sofort nach Hause kommen. Meine Mutter wollte es mir
nicht am Telefon sagen.« »Ich komm mit«, sagte ich. Ich habe Lu vor dreizehn Jahren mit der Schaufel im Sandkasten auf den Kopf gehauen, daraufhin hat sie mich so fest in den Arm gebissen, dass ich immer noch eine blasse Narbe habe. Seitdem sind wir beste Freundinnen. Ich spüre, wenn mit ihr was nicht stimmt. Wir gingen sofort los, durch die Fußgängerzone, am Bachweg entlang, zum Gemeindehaus, neben dem Lu wohnt, weil ihr Vater Pfarrer ist. Während des ganzen Wegs, den wir gemeinsam nebeneinander herliefen, sah ich von Lu nur ihre braunen Haare, die ihr lose ins Gesicht hingen. Und ich dachte so absurde Sachen wie, sie muss dringend zum Friseur, die Spitzen schneiden. Lu sagte nichts und auch ich hielt ausnahmsweise mal den Mund. Vor der Haustür blieb sie stehen und sagte leise: »Ich glaub, es ist was ganz Schlimmes passiert.« Ich sah Lus Angst. Ich dachte in diesem Moment an gar nichts. Lus Eltern saßen so weit voneinander entfernt, wie es im Raum nur möglich war. Sie schauten sich nicht an. Ich spürte die Schwere, kein Lächeln zur Begrüßung, kein Hallo, kein Nichts. Und dann sagten sie es: »Jakob ist tot. Ein Autounfall.« Lu schwankte leicht. Ich hielt sie fest, so gut ich konnte. Eine Ewigkeit verging, sie wurde immer schwerer, und ich wusste, gleich wird sie fallen und ich bin schuld. Ich dachte in dem Moment nur an Lu, ich dachte, scheiße, warum kommt niemand und nimmt sie in den Arm? Sieht denn keiner, was mit ihr los ist? Alle waren wie gelähmt. Irgendwann stand Lus Vater auf und führte sie stumm zum Sofa. Sie setzten sich. Lus Mutter starrte aus dem Fenster. Alle schwiegen. Keiner weinte. Dann fing die Mutter an zu sprechen. Sie erzählte, wie es zu dem Unfall gekommen war, sie erzählte jedes Detail, Jakob war betrunken Auto gefahren, er fuhr zu schnell, da stand dieser Baum, eine Eiche, Jakob war von der Straße abgekommen, er war sofort tot, das Auto vorne zwei Meter kürzer, aber das Radio funktionierte noch, es lief Nirvana, als die Polizei kam. Warum hatte er seine Haare abrasiert, warum ist er betrunken gefahren, wo wollte er hin, Lus Mutter fing wieder und wieder von vorne an, reihte die Wörter ausdruckslos aneinander, bis es Lus Vater nicht mehr aushielt, aufstand und sie umarmte. Ich konnte es nicht begreifen. Die Welt um mich herum stürzte zusammen. Es war wie ein Erdbeben, aber nicht unter meinen Füßen, sondern ganz in meinem Innern.Ich dachte an meine letzte Begegnung mit Lus Bruder. Jetzt ergab plötzlich alles einen Sinn. Was vorher verschlüsselt war, lag nun offen vor mir. Immer wieder schoss mir die Frage durch den Kopf: Wie konnte Jakob wissen, dass er sterben würde?


VOR NEUN MONATEN


Ich lag mit offenen Augen auf der Gästematratze in Lus Zimmer und lauschte gespannt ihrem ruhigen Atem. Als ich sicher war, dass sie schlief, schlüpfte ich leise aus dem Bett,nahm die zwei Zigaretten, die ich vorher schon von ihr geklaut hatte, und schlich in den Flur. In der Wohnung war es dunkel, nur durch den Türspalt von Jakobs Zimmer drang noch Licht. Er war übers Wochenende zu Besuch gekommen,seit einem Jahr lebte er in Berlin und studierte dort Physik. Wenn er in unser Kaff kam, wollten alle einen Teil von ihm haben, seine Freunde, seine Eltern, seine Schwester und sogar ich. Jakob war der Typ Junge, mit dem das Leben schöner ist. Einmal malte er als Geburtstagsgeschenk für Lu ihr Gesicht mit Ruß auf eine Glasplatte. Er hatte tagelang daran gearbeitet. Lus Mutter riss mit dem Fotoapparat in der Hand die Tür auf, der Lufzug wirbelte den Ruß von der Glasplatte, die Grenzen von Lus Gesicht lösten sich auf. Alles verschwamm. Bestürzt hielt Lu das Bild in der Hand, aber Jakob lachte, er freute sich wirklich, dass etwas anderes entstanden war. Er sagte zu seiner Mutter: »Siehst du, das kommt davon, wenn man alles festhalten will!« Dann nahm er sie in den Arm und küsste sie auf die Nase. Gespielt entrüstet schob sie ihn weg und gab ihm einen Klaps, aber es war für alle sichtbar, wie sehr sie ihn liebte. Sie bestand darauf, ein Foto von uns dreien zu machen, und Jakob bat mich danach, ein Foto von ihm, Lu und seiner Mutter zu knipsen. Das hängt nun vergrößert im Wohnzimmer: Alle drei lachen, Lu feixt hinter Jakobs Rücken und hält zwei Finger wie Hasenohren hinter seinem Kopf hoch. Jakob und ich hatten unser kleines Geheimnis. Schon seit Jahren. Immer, wenn ich bei Lu übernachtet habe und er auch da war. Früher waren es Kekse, später Zigaretten, die wir nachts, wenn alle schliefen, miteinander teilten, und dann redeten wir, was gerade so passierte in unserem Leben. Das fing an, als ich zum ersten Mal bei Lu übernachtete, ich war sechs und hatte meinen Eltern schon lange damit in den Ohren gelegen, bis sie es mir endlich erlaubten. Nachts wachte ich auf und vermisste meine Eltern so sehr, dass ich nicht mehr aufhören konnte, leise vor mich hin zu heulen. Jakob schlief nebenan und hörte mich als Einziger. Lu schläft heute noch wie ein Stein. Er kam ins Zimmer und meinte, er wisse genau, was ich jetzt bräuchte. Kekse und Kakao. Er war zehn und tat damals schon das Richtige. So hat sich im Laufe der Jahre ein Ritual daraus ergeben. Wir sprachen mit niemandem über unser Geheimnis. Nicht mal Lu wusste davon.

Leise stieß ich die Tür zu seinem Zimmer auf. Musik lief, hart und schnell. Jakob saß mit dem Rücken zu mir an seinem Schreibtisch, der war im Gegensav zu Lus picobello aufgeräumt. Er schrieb etwas, schien völlig darin vertieftzu sein, er bemerkte mich nicht. Ich ging näher und warf einen Blick auf das Blatt Papier vor ihm, es passierte einfach, weil ich hinter ihm stand, und auch ein bisschen, weil ich neugierig war. Obwohl ich die Worte nur einmal gelesen habe, brannten sie sich mir ein und ich habe sie bis heute nicht vergessen. Als hätte ich damals schon gespürt, dass sie später eine Bedeutung für mich bekommen würden. Tiefschwarze Nacht. Die Bäume wie ein Tunnel ohne Licht. Rasen auf mich zu. Im Rückspiegel sehe ich mich, ich bin nicht mehr ich, ohne Haare. Glatze. Glatt. Glänzt. Nirvana, Musik treibt mich, schneller, noch ein Schluck, noch ein Schluck, im Rausch leben, der Baum, immer näher vor mir, ich gebe Gas, die Eiche ist meine Mauer, gegen die ich rase, der Aufprall, ein kurzer Schmerz, der Tod. Frieden. Die Worte erschreckten mich. Es war, wie durch Zufall eine geheime Tür in eine Welt zu entdecken, in der man nichts zu suchen hat. Dachte ich damals. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es überhaupt kein Zufall war. Jakob zuckte zusammen, als er mich plötzlich wahrnahm,und ich sah in seinem Gesicht etwas, das mir fremd war und unheimlich. Verwirrung und Angst. Anscheinend muss ich auch ziemlich verstört ausgesehen haben, denn Jakob sagte schnell: »Ich bin eben kurz eingeschlafen und hatte einen Traum, der war so echt, das hab ich noch nie vorher erlebt. Ich hab ihn gerade aufgeschrieben.« »Echt?«, fragte ich. »Ja. Ich glaub, ich bin eben gestorben. So hat es sich angefühlt. Gar nicht wie ein Traum, sondern als wäre ich wirklich da gewesen.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und streckte ihm deshalb eine Zigarette entgegen. Jakob verstaute das Blatt Papier in seiner Schreibtischschublade, öffnete das Fenster,und wir stellten uns nebeneinander, wie wir’s schon hundertmal getan hatten. Er blies Rauchkringel in die Luft, das hat Lu von ihm gelernt und bis zur Perfektion geübt. »Jakob?« »Ja?« »Weißt du noch, als ich zum ersten Mal bei euch geschlafen hab und du mir Kakao und Kekse gegeben hast?« »Ja.« »Ich hab geweint, weil es mir nicht gut ging und ich meine Eltern vermisst hab.« »Ich weiß. Du hattest ganz rote, verquollene Augen.« Ich suchte nach Worten und wollte ihm sagen, dass ich immer für ihn da wäre, egal welche Probleme er hätte, brachte aber nur »Möchtest du vielleicht einen Kakao?« heraus. »Charlie …« Er sah mir fest in die Augen. »Glaubst du etwa,dass ich meine Haare abrasieren würde?« Und da war er wieder, der Jakob, den ich kannte. »Das war doch nur ein Traum.« »Okay«, sagte ich. Trotzdem spürte ich ein Unbehagen, ich schaute Jakob an, etwas war anders in seinen Augen. Er lehnte sich gegen den Schreibtisch. Dabei stieß er gegen ein Glas, es fiel runter und zersprang am Boden. Wir betrachteten beide die Glasscherben, dann uns, keiner rührte sich. Das war ein seltsamer Moment. Normalerweise hätte jemand von uns was gesagt, sich gebückt, die Scherben eingesammelt,aber wir machten nichts, wir starrten nur auf die vielen Glassplitter. »Wann kommst du wieder?«, fragte ich schließlich. »Ich weiß nicht. Ich hab bald Prüfungen. Mal sehen.« Nach einer weiteren Serie von Rauchkringeln sagte er: »Wie geht’s dir? Singst du noch bei Lu in der Band?« »Hm. Wundert dich das auch?« »Ich kenn Lu. Irgendwann traut sie sich.« Wir hatten unsere Zigaretten geraucht. Jakob schloss das Fenster. Ich hatte das Gefühl, dass damit auch unser Treffen abgeschlossen war. Ich schaute Jakob an und wartete auf etwas, so wollte ich nicht gehen. »Ist wirklich alles in Ordnung?« Er lächelte und umarmte mich zum Abschied. »Gute Nacht, Charlie. Träum was Schönes.« Als ich schon die Hand auf der Türklinke hatte, sagte er: »Erzähl niemandem von heute Abend, ja? Versprochen?« In seiner Frage lag eine große Dringlichkeit, und ich konnte nicht anders, als zu nicken. Da fügte er hinzu: »Egal was passiert.« Aufgewühlt schlich ich wieder zurück in Lus Zimmer und legte mich auf die unbequeme Gästematratze. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Immer wieder schob sich Jakobs verwirrtes und angsterfülltes Gesicht vor meine Augen, bis ich es nicht mehr aushielt und Lu sanft wachrüttelte. Verschlafen blinzelte sie mich an: »Was ist?« Ich hatte Jakob versprochen, nichts zu verraten, deshalb sagte ich: »Du hattest einen Albtraum, du hast im Schlaf geschrien.« »Echt?«, murmelte Lu, schon fast wieder eingeschlafen. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie nachts mit dieser Begründung weckte, und wir wussten beide, dass nicht sie, sondern ich einen Albtraum hatte oder nicht schlafen konnte. Das war unser stilles Übereinkommen. »Willst du zu mir ins Bett?«, fragte Lu. Ich nickte und quetschte mich neben sie. Wir hatten beide kaum Platz, die kühle Wand drückte gegen meinen Rücken, aber ich fühlte mich geborgen neben meiner Freundin, die gleichmäßig ein- und ausatmete. Trotzdem habe ich in dieser Nacht kaum geschlafen.

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Tag der Veröffentlichung: 16.04.2012

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