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Kallik


ES WAR EINMAL

vor langer, langer Zeit, lange bevor es Bären
auf der Erde gab, da zersprang ein zugefrorenes Meer
und all die winzigen Eisstückchen verstreuten sich über den
großen, dunklen Himmel. Heute trägt jedes dieser Eisstücke
die Seele eines Bären in sich, und wenn ihr immer brav und
tapfer und stark seid, dann werden auch eure Seelen eines
Tages Teil des Himmels sein.«
Kallik lehnte am Hinterbein ihrer Mutter und lauschte
der Geschichte, die sie schon so oft gehört hatte. Neben
ihr streckte sich ihr Bruder Taqqiq aus und schlug mit den
Tatzen gegen die Schneewände der Höhle. Er war immer
unruhig, wenn das Wetter sie zwang, in ihrem Unterschlupf
zu bleiben.
»Wenn ihr den Himmel genau betrachtet«, fuhr Kalliks
Mutter fort, »könnt ihr ein Sternenmuster erkennen, das
nach der Gestalt von Silaluk, der Großen Bärin, geformt ist.
Sie rennt immerzu um den Wegweiserstern herum.«
»Warum rennt sie?«, warf Kallik ein. Obwohl sie die
Ant wort längst kannte, stellte sie die Frage jedes Mal an
dieser Stelle der Erzählung.
»Weil gerade Schneehimmel herrscht und sie auf der Jagd
ist. Mit ihren schnellen und kräftigen Klauen jagt sie Robben
und Weißwale. Sie ist die größte aller Jägerinnen und
Jäger auf dem Eis.«
Kallik ließ sich gern von Silaluks Kraft erzählen.
»Doch dann schmilzt das Eis«, sagte Nisa mit gedämpfter
Stimme. »Und sie kann nicht mehr jagen. Mit jedem Tag
wird sie hungriger, aber sie muss immer weiterrennen, denn
sie wird von drei Jägern verfolgt: Rotkehlchen, Meise und
Unglückshäher. Viele Monde lang hetzen sie sie, während
der ganzen Zeit, da es warm ist, bis zum Ende des Feuerhimmels.
Schließlich, als die Wärme die Erde zu verlassen
beginnt, holen sie sie ein. Sie umzingeln sie und greifen sie
mit ihren spitzen Schnäbeln an, bis sie tödlich getroffen
niedersinkt. Das Blut strömt aus dem Herzen der Großen
Bärin, und überall, wo es auf die Erde fällt, färben sich die
Blätter der Bäume rot und gelb. Ein Teil des Bluts spritzt
auf Rotkehlchens Brust und so hat der Vogel seinen Namen
bekommen.«
»Stirbt die Große Bärin?«, fragte Taqqiq atemlos.
»Ja«, antwortete Nisa. Kallik lief es kalt über den Rücken.
Sooft sie die Geschichte auch schon gehört hatte,
machte sie ihr doch jedes Mal wieder Angst. Ihre Mutter
fuhr fort: »Aber dann kehrt der Schneehimmel zurück und
bringt das Eis mit. Silaluk wird neu geboren und die Eisjagd
beginnt von vorn. So geht es immerfort, im stetigen Wechsel
zwischen Schneehimmel und Feuerhimmel.«
Kallik kuschelte sich in den weichen, weißen Pelz ihrer
Mutter. Rings um sie herum wölbten sich Wände aus
Schnee, die eine schützende Höhle bildeten. Kallik konnte
die Mutter in der Dunkelheit kaum ausmachen, obwohl
sie nur ein paar Tatzenlängen von ihrer Nase entfernt war.
Draußen fegte der Wind heulend über das Eis, hin und wieder
drangen eiskalte Luftschwaden zu ihnen herein. Kallik
war froh, dass sie nicht hinausmusste.
Im Innern der Höhle waren sie und ihr Bruder sicher und
hatten es warm. Kallik fragte sich, ob Silaluk wohl auch
eine Mutter und einen Bruder gehabt hatte oder einen Unterschlupf,
in dem sie vor den Stürmen Zuflucht suchen
konnte. Wenn die Große Bärin eine Familie hätte, die sie
beschützte, müsste sie vielleicht nicht immer vor den Jägern
weglaufen. Kallik wusste, dass ihre Mutter sie vor allem
Schrecklichen bewahren würde, bis sie groß genug, stark
genug und schlau genug war, um auf sich selbst aufzupassen.
Taqqiq wischte mit seiner großen, pelzigen Tatze über
Kalliks Nase. »Kallik hat Angst«, stichelte er. Sie konnte
seine Augen im Dunkeln leuchten sehen.
»Gar nicht wahr!«, protestierte Kallik.
»Sie glaubt, dass die Rotkehlchen und Meisen hinter ihr
her sind«, rief Taqqiq.
»Tu ich überhaupt nicht!«, brummte Kallik böse und
grub ihre Klauen in den Schnee. »Das ist nicht der Grund,
warum ich Angst habe!«
»Ha! Du hast also Angst! Wusst ich’s doch!«, frohlockte
Taqqiq.
Nisa stupste Kallik sanft an. »Warum hast du Angst,
Kleines? Du hast die Legende von der Großen Bärin doch
schon so oft gehört.«
»Ich weiß«, sagte Kallik. »Es ist nur … es erinnert mich
daran, dass der Schneehimmel bald vorbei ist und dass
Schnee und Eis wegschmelzen werden. Und dann können
wir nicht mehr jagen und werden die ganze Zeit Hunger
haben. Stimmt’s? Ist es nicht so, wenn der Feuerhimmel
kommt?«
Kalliks Mutter seufzte und streckte die Vorderbeine
weit von sich. »Ach, mein Sternchen«, murmelte sie. »Ich
wollte doch nicht, dass du dir Sorgen machst.« Sie rieb ihre
schwarze Nase an Kalliks Schnauze. »Du hast noch keinen
Feuerhimmel erlebt, Kallik. So schrecklich, wie es klingt, ist
es gar nicht. Wir werden schon irgendwie über die Runden
kommen, auch wenn wir dafür eine Weile lang Beeren und
Gras fressen müssen.«
»Was ist das, Beeren und Gras?«, fragte Kallik.
Taqqiq zog die Schnauze kraus. »Schmeckt das so gut
wie Robben?«
»Nein«, sagte Nisa, »aber Beeren und Gras halten euch
am Leben und darauf kommt es an. Ich werde sie euch zeigen,
wenn wir auf dem Festland angekommen sind.« Sie
verstummte. Ein paar Augenblicke lang hörte Kallik nur
noch das schwache Heulen des Windes, der von draußen
gegen die Schneewände drückte.
Sie schmiegte sich enger an ihre Mutter und fühlte die
Wärme ihres Fells. Nisa berührte Kallik noch einmal mit
der Schnauze. »Hab keine Angst«, sagte sie mit entschlossener
Stimme. »Denk an die Geschichte von der Großen Bärin.
Ganz gleich, was passiert, das Eis wird zurückkehren.
Und alle Bären versammeln sich am Rande des Meeres, um
es zu begrüßen. Silaluk kommt immer wieder auf die Beine.
Sie ist eine Überlebenskünstlerin, genau wie wir.«
»Ich kann alles überleben!«, prahlte Taqqiq und plusterte
sein Fell auf. »Ich kämpfe mit jedem Walross. Ich schwimme
über jedes Meer. Ich nehme es mit allen Eisbären auf, die
uns über den Weg laufen!«
»Da bin ich mir ganz sicher, mein Großer. Aber bevor
du damit anfängst, solltest du jetzt erst einmal ein bisschen
schlafen«, schlug Nisa vor.
Während Taqqiq neben ihr im Schnee scharrte und sich
mehrmals drehte, um es sich zum Schlafen bequem zu machen,
legte Kallik ihr Kinn auf den Rücken ihrer Mutter
und schloss die Augen. Die Mutter hatte recht: Sie, Kallik,
brauchte sich keine Sorgen zu machen. Solange sie mit
ihrer Familie zusammen war, würde sie immer sicher und
geschützt sein. So sicher wie jetzt in der Höhle.
Als Kallik erwachte, herrschte eine gespenstische Stille. Trübes
Licht sickerte durch die Wände und warf blassblaue
und rosafarbene Schatten auf ihre Mutter und ihren Bruder,
die beide noch schliefen. Im ersten Moment dachte sie, sie
hätte Schnee in die Ohren bekommen, doch als sie den Kopf
schüttelte, grunzte Nisa im Schlaf, und Kallik begriff, dass
es so still war, weil der Sturm sich endlich gelegt hatte.
»Hey.« Sie stieß ihren Bruder mit der Nase an. »Hey,
Taqqiq, wach auf. Der Sturm hat aufgehört.«
Taqqiq hob verschlafen den Kopf. Auf einer Seite seiner
Schnauze war das Fell flachgedrückt, sodass er ein schiefes
Gesicht hatte.
Kallik musste beinahe husten vor Lachen. »Komm schon,
du faule Robbe«, sagte sie. »Lass uns draußen spielen.«
»Na gut!«, brummte Taqqiq und rappelte sich auf.
»Aber nur, wenn ich euch dabei im Auge behalten kann«,
murmelte ihre Mutter mit geschlossenen Augen. Kallik
zuckte zusammen. Sie hatte geglaubt, dass Nisa noch schlief.
»Wir gehen nicht weit«, versprach Kallik. »Wir bleiben
ganz nah bei der Höhle. Bitte, können wir rausgehen?«
Nisa schnaubte, und die Fellhaare auf ihrem Rücken zitterten,
als würde der Wind hindurchstreichen. »Lasst uns
alle nach draußen gehen«, sagte sie. Sie stemmte sich hoch
und drehte ihren mächtigen Leib vorsichtig in dem engen
Raum, damit Kallik und ihr Bruder noch Platz hatten.
Aufmerksam schnüffelnd schob sie sich durch den Eingangstunnel
und wischte den Schnee beiseite, den der Sturm
aufgetürmt hatte.
Kallik konnte die Anspannung im Hinterleib ihrer Mutter
erkennen. »Ich weiß nicht, warum sie so übervorsichtig
ist«, flüsterte sie ihrem Bruder zu. »Sind wir Eisbären nicht
die größten und furchterregendsten Tiere auf dem Eis? Niemand
würde es wagen, uns anzugreifen!«
»Außer vielleicht ein noch größerer Eisbär, du Robbenhirn!
«, erwiderte Taqqiq. »Vielleicht ist dir noch gar nicht
aufgefallen, wie klein du bist.«
Kallik war empört. »Ich bin vielleicht nicht so groß wie
du«, knurrte sie, »aber bestimmt genauso stark!«
»Na, dann zeig doch mal!«, rief Taqqiq herausfordernd,
als ihre Mutter endlich aus dem Tunnel hinaustappte. Er
folgte ihr und krabbelte in den Schnee.
Kallik sprang auf und jagte ihm hinterher. Ein Klumpen
Schnee fiel ihr auf die Schnauze, als sie nach draußen
stürmte, und sie warf energisch den Kopf zur Seite, um ihn
abzuschütteln. Die frische, kalte Luft war erfüllt vom Geruch
nach Fisch und Eis und fernen Wolken. Kallik spürte,
wie ihr noch der letzte Rest Müdigkeit aus den Gliedern
fuhr. Hier aufs Eis, da gehörte sie hin! Sie schlug die Tatzen
in den Schnee, sodass er auf Taqqiq spritzte. Er jagte sie im
Kreis vor sich her, bis sie sich in den frischen Schnee warf,
mit ihren Tatzen darin wühlte und die funkelnde Kälte in
tiefen Zügen einsog. Nisa saß in der Nähe und beobachtete
die beiden, hin und wieder schnaufte sie und hielt argwöhnisch
die Nase in die Luft.
»Jetzt bist du geliefert«, knurrte Taqqiq. Tief gebückt
kroch er auf Kallik zu. »Ich bin ein gemeines Walross, das
durchs Wasser geschwommen kommt, um dich zu schnappen.
« Er schob sich auf allen vier Pfoten durch den Schnee.
Kallik bereitete sich darauf vor, zur Seite zu springen, doch
bevor sie sich rühren konnte, machte er einen Satz vorwärts
und landete auf ihr. Aufgeregt kreischend wälzten sie sich
im Schnee, bis es Kallik gelang freizukommen.
»Ha!«, rief sie.
»Rrrooaahhh!«, brüllte Taqqiq. »Das Walross ist jetzt
echt wütend!« Er grub die Tatzen tief in den Schnee und
wirbelte ihn so heftig auf, dass seine Mutter eine Fontäne
von weißen Eisstückchen ins Gesicht bekam.
»He«, knurrte Nisa. Mit ihrer gewaltigen Tatze gab sie
Taqqiq einen Klaps, der ihn umwarf. »So, genug getobt
jetzt. Es wird Zeit, dass wir etwas zu fressen finden.«
»Hurra, hurra!«, jubelte Kallik und hüpfte um ihre Mutter
herum. Seit Beginn des Sturms hatten sie nichts mehr zu
fressen gehabt und ihr Magenknurren war inzwischen fast
lauter als Taqqiqs Walrossgebrüll.
Die Sonne war hinter grauen Wolkenstreifen verborgen.
Während die Bären über das Eis zogen, wurden die Wolken
immer dichter und verwandelten sich schließlich in Nebelschwaden,
die die Welt ringsum verhüllten. Das einzige
Geräusch, das Kallik hören konnte, war das Knirschen des
Schnees unter ihren Tatzen. Einmal glaubte sie einen Vogel
vom Himmel herabrufen zu hören, doch als sie aufblickte,
sah sie nichts als Nebelwolken.
»Warum ist es so trübe?«, klagte Taqqiq und blieb stehen,
um sich die Augen zu reiben.
»Der Nebel ist gut für uns.« Nisa berührte das Eis mit der
Nase. »Er verbirgt uns beim Jagen, dann kann unsere Beute
uns nicht kommen sehen.«
»Ich möchte gern wissen, wo ich hingehe«, beharrte
Taqqiq. »Ich mag nicht in Wolken laufen. Da ist alles so
nass und verschwommen.«
»Mir macht der Nebel nichts aus.« Kallik sog die schwere,
diesige Luft ein.
»Du kannst auf meinem Rücken reiten«, sagte Nisa zu
ihrem Sohn und stieß ihn mit der Schnauze an. Taqqiq
brummte glücklich, griff ins schneeweiße Fell seiner Mutter
und zog sich daran hoch. Auf ihrem Rücken, über Kallik
thronend, streckte er sich aus und dann marschierten sie
weiter.
Kallik machte unter dem dichten, wässrigen Nebel den
scharfen, kühlen Duft des Eises aus. Sie mochte die Anklänge
an Meer, Fisch, Salz und weit entfernten Sand, die
in diesen Gerüchen mitschwangen, denn sie erinnerten sie
daran, was sich unter dem Eis befand und womit es verbunden
war. Sie blickte zu ihrer Mutter hoch, die ebenfalls
die Nase schnüffelnd in die Luft hielt. Kallik wusste, dass
die Mutter die frischen, eisigen Gerüche nicht einfach nur
einatmete. Nein, Nisa untersuchte sie sorgfältig nach jedem
Hinweis darauf, wo sie Beute finden konnten.
»Ihr beiden solltet es mir nachtun«, schlug Nisa vor.
»Versucht irgendeinen Geruch aufzuspüren, der sich von
Eis und Schnee unterscheidet.«
Taqqiq kuschelte sich nur noch tiefer in ihr Fell, aber
Kallik drehte den Kopf hin und her, um in alle Richtungen
zu schnuppern. Sie musste von Nisa so viel wie möglich
lernen, damit sie irgendwann in der Lage war, für sich selbst
zu sorgen. Zum Glück hatte sie noch viel Zeit, bis dieser
Tag kommen würde – den ganzen Feuerhimmel und den
nächsten Schneehimmel auch noch.
»Manche Bären können einem Geruch über mehrere
Himmelslängen folgen«, erklärte Nisa. »Bis ganz zum Rand
des Himmels, dann bis zum nächsten Rand und noch mal
bis zu dem Rand dahinter.«
So eine gute Nase hätte Kallik auch gern gehabt. Aber
eines Tages wollte sie mit diesen Bären mithalten können.
Nisa hob den Kopf und begann schneller zu gehen;
Taqqiq klammerte sich an ihrem Rücken fest. Schon bald
sah Kallik, worauf Nisa zusteuerte – ein Loch im Eis. Sie
wusste, was das bedeutete: Robben!
Nisa hielt ihre Nase übers Eis und schnüffelte rundherum
den ganzen Rand des Loches ab. Kallik blieb dicht
hinter ihr und schnupperte überall dort, wo ihre Mutter
auch schnupperte. Sie war überzeugt, einen leisen Hauch
von Robbe riechen zu können. Dies musste eins der Löcher
sein, in denen die Robben auftauchten, um kurz Atem zu
holen, bevor sie sich wieder im eisigen Wasser verbargen.
»Robben sind so dumm«, bemerkte Taqqiq von seinem
Hochsitz auf Nisas Rücken. »Wenn sie im Wasser nicht atmen
können, warum leben sie dann darin? Warum leben sie
nicht an Land wie die Eisbären?«
»Vielleicht weil sie dann noch leichter von Bären wie
uns aufgespürt und gefressen werden könnten?«, überlegte
Kallik.
»Pssst. Konzentriert euch«, befahl Nisa. »Könnt ihr die
Robben riechen?«
»Ich glaube, ja«, sagte Kallik. Es war ein salziger, fettiger
Geruch, intensiver als der von Fischen. Ihr lief das Wasser
im Maul zusammen.
»Also gut.« Nisa kauerte sich neben dem Loch nieder.
»Taqqiq, komm runter und leg dich neben deine Schwester.
« Taqqiq gehorchte, rutschte vom Rücken seiner Mutter
und tapste zu Kallik hinüber. »Ihr müsst ganz still sein«,
schärfte Nisa ihnen ein. »Bewegt euch nicht und macht keinen
Mucks.«
Kallik und Taqqiq folgten ihren Anweisungen. Sie hatten
schon mehrmals an einem solchen Loch gelauert, daher
wussten sie, was sie zu tun hatten. Beim ersten Mal war es
Taqqiq langweilig geworden und er hatte angefangen her
umzuzappeln. Nisa hatte ihm deshalb einen Klaps gegeben
und geschimpft, dass er mit seinem Lärm die einzige Beute
verscheuchen würde, die sie seit Tagen zu Gesicht bekommen
hätten. Inzwischen hatten beide Jungtiere dazugelernt
und konnten sich fast genauso still verhalten wie ihre Mutter.
Kallik beobachtete das Luftloch mit gespitzten Ohren,
ihre Nase nahm jede Veränderung wahr. Ein leichter Wind
fegte Schneeschwaden übers Eis und der Nebel wogte weiter
um die drei Bären herum. Kalliks Fell fühlte sich nass
und schwer an.
Nach einer Weile begann sie unruhig zu werden. Sie
konnte nicht verstehen, wie ihre Mutter es aushielt, so lange
gar nichts zu tun. Immer nur zu schauen und zu schauen,
ob endlich eine Robbe den Kopf aus dem Wasser steckte.
Die Kälte des Eises sickerte allmählich durch Kalliks dickes
Fell. Sie musste sich zwingen, nicht zu zittern und dadurch
Schwingungen durch das Eis zu senden, die den Robben
verrieten, dass sie hier saßen und auf sie warteten.
Sie starrte an ihrer Nasenspitze entlang auf das Eis rund
um das Luftloch. Von unten plätscherte das dunkle Wasser
gegen die zerklüftete Kante. Es war komisch, daran zu denken,
dass das gleiche dunkle Wasser sich nur eine Schnauzenlänge
unter ihr, auf der anderen Seite des dicken Eises,
befand. Das Eis wirkte so stabil, als würde es bis in die
tiefsten Tiefen reichen.
Seltsame Schatten und Gestalten schienen im Innern des
Eises zu tanzen und dabei Blasen und Wirbel zu bilden. Das
war doch merkwürdig. Aus der Entfernung sah das Eis weiß
aus, doch aus der Nähe war es viel klarer und durchsetzt mit
Mustern. Fast schien es, als sei es voller Leben. Genau unter
ihren Vordertatzen zum Beispiel war eine große, dunkle
Blase, die sich von einer Seite zur anderen bewegte. Kallik
ließ sie nicht aus den Augen und überlegte, ob es vielleicht
die im Eis eingeschlossene Seele eines Eisbären war. Eine,
die es nicht bis zu den Sternen im Himmel geschafft hatte.
Taqqiq lehnte sich herüber und beäugte die Blase. »Du
weißt ja, was Mutter gesagt hat«, flüsterte er. »Die Gebilde
unter dem Eis, das sind tote Bären. Sie beobachten dich,
und zwar in diesem Moment.«
»Ich habe keine Angst«, beteuerte Kallik. »Sie sind ja im
Eis gefangen, nicht wahr? Deshalb können sie nicht rauskommen
und mir was tun.«
»Es sei denn, das Eis schmilzt.« Taqqiq versuchte, einen
bedrohlichen Unterton in seine Stimme zu legen.
»Still jetzt«, knurrte Nisa, den Blick unablässig auf das
Loch gerichtet. Taqqiq verstummte und legte den Kopf auf
seine Tatzen. Seine Augen wurden langsam immer kleiner
und bald war er eingeschlafen.
Auch Kallik fühlte sich schläfrig, aber sie wollte unbedingt
wach bleiben, um die Robbe auftauchen zu sehen.
Außer dem wollte sie nicht in so unmittelbarer Nähe der
Seele einschlafen, die noch immer in Bewegung war. Sie
spannte alle Muskeln an, um zu verhindern, dass sie einnickte.
Plötzlich platschte es und Kallik sah einen glatten, grauen
Kopf aus dem Wasser auftauchen. Sie hatte kaum Zeit, die
dunklen Flecken auf seinem Fell zu registrieren, da warf
sich Nisa kopfüber in das Loch. Mit einer blitzschnellen
Bewegung packte sie die Robbe und schleuderte sie aufs Eis.
Dort zuckte und zappelte sie noch für einen Moment, bevor
Nisas riesige Klaue auf sie herabsauste und sie mit einem
einzigen Schlag tötete.
Kallik konnte sich nicht vorstellen, dass sie je schnell genug
sein würde, eine Robbe zu fangen, bevor sie wieder
unter dem Eis verschwand.
Nisa schlitzte die Robbe auf und sprach die Dankesworte
an die Eisgeister. Ihre Jungen kamen herbei, um sich satt zu
fressen. Kallik atmete den Duft von frisch erlegtem Fleisch
ein, von köstlichem Fett und zäher Haut. Sie schlug die
Zähne in die Beute und riss sich einen Bissen heraus. Erst
jetzt wurde ihr bewusst, wie hungrig sie war.
Plötzlich hob Nisa den Kopf, ihr Fell sträubte sich. Kallik
spannte sich an und schnupperte. Ein großer männlicher
Eisbär kam aus dem Nebel auf sie zu. Sein gelbliches Fell
war vom Schnee verfilzt und seine Tatzen waren so groß
wie Kalliks Kopf. Brummend und fauchend steuerte er geradewegs
ihre Robbe an.
Taqqiq nahm eine drohende Haltung ein, doch Nisa
schob ihn zurück. »Bleibt nahe bei mir«, sagte sie warnend.
»Lasst uns von hier verschwinden.«
Sie wandte sich um und trieb ihre Jungen vor sich her.
Kallik rannte, so schnell sie konnte, ihr Herz schlug heftig.
Was, wenn die Robbe dem fremden Bären nicht genügte?
Was, wenn er als Nächstes ihr nachjagte? Während sie
einen kleinen Hang hinaufeilten, warf Kallik einen Blick
zurück und sah, dass der Bär sie nicht verfolgte. Stattdessen
war er vollauf damit beschäftigt, sich über die tote Robbe
herzumachen.
»Das ist ungerecht!«, beschwerte sie sich. »Die Robbe
gehörte uns!«
»Ich weiß«, sagte Nisa seufzend. Sie wirkte erschöpft, als
sie in einen langsameren Schritt verfiel.
»Warum darf dieser faule Bär unsere Beute an sich reißen,
obwohl du die ganze Arbeit geleistet hast?« Kallik ließ
nicht locker.
»Dieser Bär ist genauso auf Beute angewiesen wie wir«,
erklärte Nisa. »Wenn die Robben knapp sind, muss man
sich darauf einrichten, um jede Mahlzeit zu kämpfen. Ihr
dürft keinem anderen Bären trauen, meine Kleinen. Wir
müssen zusammenhalten, denn es gibt sonst niemanden,
auf den wir uns verlassen können.«
Kallik und Taqqiq sahen sich an. Kallik wusste, dass sie
für ihre Mutter und ihren Bruder alles tun würde. Sie war
noch nicht vielen anderen Bären begegnet, doch alle, die sie
gesehen hatte, waren groß, wild und furchterregend gewesen,
genau wie der, der soeben ihre Robbe gestohlen hatte.
Vielleicht waren Eisbären nicht dafür bestimmt, Freunde zu
haben. Vielleicht ließ das Eis es nicht zu.
»Solange wir zusammenbleiben, werden wir zurechtkommen
«, versprach Nisa. »Es findet sich immer etwas zu fressen,
wenn man weiß, wo man suchen muss, und wenn
man die Geduld hat, es zu fangen. Lasst euch also deshalb
nicht den Kopf vollschneien. Ich bin bei euch, um für euch
zu sorgen, bis ihr stark genug seid, auf eigene Faust zu
jagen.«
Sie wandte sich nach links. »Riecht ihr das?«
Kallik schnupperte. Tatsächlich roch sie etwas. Aber das
war keine Robbe … es war irgendetwas anderes. Etwas
eher Fischartiges, aber auch kein richtiger Fisch. Sie konnte
es nicht identifizieren. »Was glaubst du, was es ist?«, fragte
sie Taqqiq. Er stand geduckt, wie auf der Jagd, und noch
während sie zu ihm sprach, machte er plötzlich einen Satz
nach vorn, um eine Schneeflocke zu erlegen, die zu Boden
geschwebt war. Kallik blickte auf und sah, dass es wieder
zu schneien begonnen hatte. Ihr Bruder kämpfte fröhlich
mit den Schneeflocken, und es sah nicht so aus, als würde
er auch nur versuchen, nach dem zu schnuppern, was ihre
Mutter gewittert hatte.
»Taqqiq, pass auf«, sagte Kallik. »Auch du musst eines
Tages alleine jagen.«
»Ist ja gut, großer Bär«, meinte Taqqiq und schnüffelte
theatralisch in alle Richtungen.
»Kommt mit, schnell«, drängte Nisa. »Und versucht,
nicht allzu viel Lärm zu machen.« Sie folgten ihrer Mutter
übers Eis, wobei sie so leise wie möglich auftraten. Der Geruch
schien sich nicht von der Stelle zu bewegen.
»Bleibt es, wo es ist?«, fragte Kallik. »Heißt das, es weiß
nicht, dass wir kommen?«
»Eine Möglichkeit, seine Beute zu überlisten, besteht darin,
den eigenen Geruch zu verbergen«, sagte Nisa. »Zum
Beispiel so – folgt mir.« Sie führte sie zu einer Rinne im Eis,
die mit geschmolzenem Wasser gefüllt war. Einer nach dem
anderen schwammen sie hindurch.
»Igitt, jetzt ist mein Fell total nass«, beschwerte sich
Taqqiq, als sie auf der anderen Seite wieder herauskletterten,
und schüttelte sich.
»Dadurch ist es schwierig, uns beim Näherkommen zu
riechen«, sagte Nisa.
»Und der große, alte Bär von vorhin kann dann unserer
Spur auch nicht folgen, stimmt’s?«, fragte Kallik.
»Hoffen wir’s.« Nisa stupste ihre Nase gegen Kalliks
Schnauze.
Während sie sich dem fischigen Geruch näherten, wurde
er immer intensiver, und Kallik konnte Duftnoten von Salz,
Blut und fernem Meer unterscheiden, die sich damit vermischten.
Nach einer Weile erblickte sie ein dunkles Gebilde,
das auf dem Eis lag. Im ersten Moment, als sie die
ausgebreiteten Flossen sah, glaubte sie, es müsse sich um
eine riesige Robbe handeln, doch dann erkannte sie, dass
es der Kadaver eines Wales war. Es waren schon mächtige
Fleischstücke herausgerissen und an den Seiten sah man gewaltige
Bissspuren und Kratzwunden. Der Schnee ringsum
war blutgetränkt.
»Es ist ein Grauwal«, erklärte Nisa. »Ein anderer Bär
muss ihn getötet und aufs Eis gezogen haben.«
Kallik starrte voller Ehrfurcht auf den Kadaver. Das
musste ein sehr starker Bär gewesen sein, der imstande war,
etwas so Großes zu überwältigen und es dann noch im Ganzen
aus dem Wasser zu ziehen. Obwohl der betreffende Bär
sich selbst schon ausgiebig bedient hatte, war noch so viel
übrig, dass die drei Nachzügler sich satt fressen konnten.
Hungrig reckte Kallik ihre Schnauze vor und riss sich ein
Stück Fleisch heraus.
Als Nisa sie anstieß, ließ sie das Fleisch wieder fallen.
»Vergesst nicht, den Eisgeistern euren Dank zu erweisen«,
ermahnte die Mutter sie sanft. »Ihr müsst immer daran denken,
dass ihr Teil einer größeren Welt seid.« Sie neigte den
Kopf und berührte das Eis mit der Nase. »Wir danken euch,
Geister des Eises, dass ihr uns diese Beute geschenkt habt«,
murmelte sie. Kallik folgte ihrer Mutter, indem sie dieselben
Worte flüsterte, und Taqqiq tat es ihr gleich. Anschließend
machten sie sich mit einem zufriedenen Brummen über das
Fressen her.
Bis zum Abend hatte der Nebel sich verzogen und die Sterne
leuchteten hell am klaren Himmel. Kallik machte es sich auf
dem Eis bequem, ihr voller Magen sorgte dafür, dass sie es
warm hatte. Neben ihr lagen ihre Mutter und ihr Bruder.
Nicht der Hauch einer Brise bewegte ihr Fell. Der Wind
hatte sich ausnahmsweise gelegt und das Meer tief unter
dem Eis war still.
»Mutter?«, bat Kallik. »Erzähl mir bitte noch einmal von
den Seelen unter dem Eis.«
Taqqiq schnaubte belustigt, doch Nisa beugte sich zu
ihrer Tochter und berührte sie mit der Nase.
»Wenn ein Eisbär stirbt«, sagte sie ernst, »sinkt seine
Seele in das Eis ein, immer tiefer, bis man nur noch einen
Schatten unter dem Eis sehen kann. Du brauchst aber keine
Angst vor ihnen zu haben, mein Sternchen. Die Geister sind
dazu da, dich zu leiten und dir beizustehen. Wenn du eine
gute Bärin bist, werden sie sich immer um dich kümmern
und dir helfen, Beute oder Unterschlupf zu finden.«
»Mir wär’s lieber, wenn du dich um mich kümmerst«,
sagte Kallik erschaudernd.
»Ich werde mich ebenfalls um dich kümmern«, versprach
ihre Mutter.
»Was ist mit den Sternen am Himmel?« Kallik deutete
mit der Schnauze nach oben. »Sind das nicht auch die Seelen
von Bären?«
»Wenn das Eis schmilzt«, erläuterte Nisa, »entweichen
die Bärenseelen und schweben, leicht wie Flocken, auf den
Schneewinden hinauf zum Himmel, wo sie zu Sternen werden.
Diese Seelen oder Geister passen auch auf dich auf, nur
eben von weiter weg.«
»Was ist mit diesem Stern dort?«, fragte Taqqiq. »Dem
richtig hellen? Den habe ich auch schon einmal tagsüber
gesehen, aber der bewegt sich nie, so wie all die anderen.«
»Das ist der Wegweiserstern«, sagte Nisa.
»Warum heißt er Wegweiserstern?«, fragte Taqqiq.
Nisa senkte feierlich die Stimme. »Weil er dich, wenn du
ihm folgst, an einen Ort in weiter, weiter Ferne führen wird,
wo das Eis niemals schmilzt.«
»Niemals?«, staunte Kallik. »Du meinst, dort gibt es keinen
Feuerhimmel? Wir können die ganze Zeit jagen?«
»Kein Feuerhimmel und kein schmelzendes Eis und man
muss nicht an Land leben und Beeren fressen«, sagte Nisa.
»Die Bärenseelen tanzen vor Freude am Himmel, alle in
verschiedenen Farben.«
»Warum gehen wir dann nicht dahin, wenn es dort so
wunderbar ist?«, fragte Taqqiq. Kallik nickte. Sie spürte ein
Prickeln in den Tatzen und hatte das Gefühl, sie könnte den
ganzen Weg bis zu diesem Ort, wo sie für immer gut aufgehoben
wären, im Laufschritt zurücklegen.
»Es ist sehr weit weg«, brummte Nisa. »Viel zu weit für
uns.« Ihre schwarzen Augen starrten in die Ferne, der silberne
Schimmer des Mondes spiegelte sich in ihnen. »Aber
vielleicht müssen wir diese Reise antreten … eines Tages.«
»Wirklich? Wann denn?«, wollte Kallik wissen, doch
Nisa legte den Kopf auf die Tatzen und verstummte. Sie
wollte offensichtlich keine weiteren Fragen beantworten.
Kallik schmiegte sich zusammengerollt an die Seite ihrer
Mutter und betrachtete das Schimmern des Mondes auf
dem Eis, bis ihr die Augen zufielen. In ihren Träumen erhoben
sich Bärenseelen vor ihr und begannen zu tanzen, sie
tollten und glitten über die gefrorene Landschaft auf Tatzen,
die so leicht waren wie ein Fellhaar.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.02.2012

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