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Heiße Wut


Es ist Spätsommer, aber die Luft schmeckt schon nach Herbst. Wir haben eine Demo organisiert und auf dem Kapuzinerplatz und in der Tumblingerstraße wimmelt es von Menschen. Ein paar Elektroautos gleiten fast lautlos im Schritttempo vorbei, durch die Windschutzscheibe kann ich die finsteren Gesichter der Fahrer sehen. Ja, wir stören und das ist genau der Sinn der Sache. Ich stehe vor dem sandfarbenen Gebäude des Instituts für Tropenökologie, dort drinnen tagt der deutsche Umweltminister gerade mit Kollegen aus Asien, Afrika und Südamerika. Sie entscheiden über eine Welt, die ihnen nicht gehört, und über Wälder, die ihnen nichts bedeuten. Ein paar Polizisten stehen am Eingang, wachsam beobachten sie uns. Wir halten ihnen unsere Transparente ins Gesicht, auf denen Der Regenwald gehört allen! und Stoppt die Abholzung! steht. Um mich herum ist ein Gedränge, das immer dichter wird, mindestens siebenhundert Menschen sind es, oder schon achthundert, tausend? Ich fühle mich, als hätte ich auf nüchternen Magen Sekt getrunken. Es ist so schön, von Leuten umgeben zu sein, die alle das gleiche Ziel haben, die es auch nicht kaltlässt, was mit der Erde geschieht._LEin schneller Blick in die Runde, um zu sehen, wo meine Freunde sind: Lena-Marie und ihr Freund Mark stehen dort vorne in der Menge, sie unterhalten sich gerade mit einem bärtigen Mann, auf dessen T-Shirt Ich esse keine Klone! steht. Sarah betreut den Infostand unserer Organisation Living Earth und quatscht mit einem jungen Paar. Als sie mich sieht, winkt sie mich heran. »Cat, könntest du ein paar Flyer verteilen?« »Klar, mach ich.« Ich schnappe mir einen Packen vom Infostand und biete die Flyer Passanten an; viele von ihnen sind auf dem Weg zur Agentur für Arbeit, das klotzige Gebäude gleich nebenan. Manche lassen das Stück Papier in den nächsten Mülleimer segeln, aber andere lesen es und ein Mann geht sogar zum Infostand. Yeah! Wieder einer mehr. Im Grunde warten wir. Darauf, was im Institut entschieden wird. Es geht um ein Abkommen zum Schutz der Regenwälder, schon längst hätte es beschlossen werden sollen. Jetzt haben wir schon das Jahr 2025 und noch immer wird um den genauen Wortlaut gefeilscht. Wir sind hier, umdiese Minister daran zu erinnern, dass es viele Menschen interessiert, was sie dort drinnen aushecken. Die Kerle sollen hören, sehen und spüren, dass wir ihnen auf die Finger schauen. Ich bin alle Flyer losgeworden und krame meine Kamera aus der Jackentasche, um ein paar Fotos für unseren Blog zu schießen. Doch ein rotes Licht blinkt auf – Akku leer. »Mist!« »Passiert mir auch ständig«, sagt eine Stimme. Rechts neben mir in der Menge steht ein schlanker blonder Typ, vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich und einen halben Kopf größer. Ziemlich gut sieht er aus, trotz oder vielleicht wegen der leicht gebogenen Nase. Unter seinen schlichten Nonfunction- Klamotten – sein Hemd sieht nicht aus, als könnte es irgendetwas – erkenne ich breite Schultern. Weil es inzwischen richtig voll ist vor dem Institut, stehen wir so nah beieinander, dass sich unsere Arme beinahe berühren. Er kramt in der Innentasche seiner blauen Windjacke. »Ich schau mal, ob ich noch einen hab.« Als ich den alten Akku aus der Kamera gefummelt habe, hält er mir tatsächlich einen neuen hin. »Hey, danke«, sage ich. »Aber wie soll ich dir den zurückgeben?« »War nicht so teuer. Schenk ihn einfach weiter, wenn jemand anders mal einen braucht, okay?« »Okay«, sage ich und einen Moment lang lächeln wir uns an. Er hat graue Augen, die mich in Sekundenschnelle einzuschätzen scheinen, und einen spöttischen Zug um die Mundwinkel. Bewegung kommt in den lebenden, atmenden Pulk, in dem wir stecken. Irgendetwas passiert. Wir sind fast ganz vorne, deshalb sehen wir, dass jemand aus dem Gebäude gekommen ist. Flankiert von Polizisten steht dort ein Mann im dunklen Anzug. Er versucht irgendetwas zu verlesen, aber keiner versteht ein Wort. Unruhiges Gemurmel um mich herum. Wir alle wollen jetzt endlich wissen, was los ist, ob das Schutzabkommen beschlossen worden ist oder nicht. Schließlich gibt jemand dem Mann ein Mikrofon. »Die Minister haben sich darauf verständigt, dass eine Expertenkommission bis zum Treffen im nächsten Jahr das Thema der illegalen Abholzungen näher untersuchen wird. Damit ist ein wichtiger Schritt in die Zukunft getan.« Was soll das bedeuten? Das heißt doch, dass die Kerle sich nicht einigen konnten und wieder nichts passiert! Und innerhalb von drei Jahren wird im Regenwald ein Gebiet abgeholzt, das so groß ist wie Deutschland! Heiße Wut schießt in mir hoch, und den anderen scheint es auch so zu gehen, denn plötzlich ist es, als würde die Luft prickeln wie vor einem Gewitter. Die Polizisten spüren es auch, sie sammeln sich vor dem Institut. Dreißig, vierzig Gestalten, die alle gleich aussehen, weil die Helme ihre Gesichter verdecken. Jetzt wirken sie wie eine kleine Armee, mir wird bei diesem Anblick ein bisschen mulmig zumute. Zu ihrer Ausrüstung gehören Elektroschockgeräte – Taser –, unauffällige Geräte aus hellem Plastik. Eine Gruppe Polizisten marschiert zum Infostand von Living Earth. »Baut das Ding ab, los, dalli«, befiehlt einer der Polizisten Sarah. Vielleicht kommen jetzt gleich die Minister aus dem Gebäude und dann soll ihnen der Anblick erspart bleiben. Doch Sarah kreuzt die Arme vor der Brust. »Alles angemeldet und genehmigt.« »Weg damit, aber schnell«, wiederholt der Mann ungeduldig und spricht in ein Funkgerät. Was dann passiert, bekomme ich nicht genau mit, weil sich jemand vor mir vorbeidrängt. Ich höre nur Sarahs Schrei und sehe, wie der Infostand umkippt. Bunte Flyer flattern zu Boden, Stiefel trampeln über sie hinweg. Erschrocken versuche ich Sarah zu Hilfe zu kommen und wenigstens ein paar Flyer aufzuheben, bevor sie alle nur noch zerknittertes Altpapier sind. Aber dann durchzuckt mich plötzlich ein heißer Schmerz, irgendwas ist mit meiner Schulter los, meine Muskeln verkrampfen sich bretthart. Völlig verblüfft taumle ich zur Seite. Einer der Polizisten hat mich mit dem Taser berührt! Aber wieso ich? Ich habe doch gar nichts getan! Um den Infostand herum ist ein Gewühl von Leuten, alle schreien durcheinander, ein Polizist hat Sarah im Griff, und dort ist auch der blonde junge Mann in der blauen Jacke. Einer der Polizisten versucht ihn zu packen, bekommt einen Fußtritt von ihm ab und ist plötzlich am Boden, schlittert sogar auf dem Rücken noch ein Stück weiter. Wütend rennen zwei andere Polizisten mit dem Taser im Anschlag auf den blonden Typen zu, und mein Herz klopft wie ein Dampfhammer, ich kann es im ganzen Körper spüren. Wenn die ihn erwischen, machen sie ihn fertig, todsicher. »Los, komm!«, schreie ich ihm zu, und das Wunder geschieht, die Leute öffnen irgendwie eine Gasse für uns beide, lassen uns durch. Und schließen sich vor den Polizisten zusammen wie eine Mauer, ohne auf die Taser zu achten. Fluchend drängen die Männer sich durch die Menge, hinter uns her. Mir wird klar, dass die nicht so einfach aufgeben werden. Die lassen nicht mehr locker, bis sie den Blonden haben. Jetzt sind wir am Rand der Menge angekommen und können anfangen zu rennen. In dieser Gegend hat meine frühere beste Freundin gewohnt, ich kenne mich hier aus. Aber es ist keine Zeit, dem Typen das zu sagen, ich hetze einfach voraus, und zum Glück fragt er nichts, er folgt mir einfach. Wir haben einen ganz guten Vorsprung. Und das Viertel ist voller versteckter Hinterhöfe und kleiner Durchgänge. Vielleicht schaffen wir es! Wir biegen um die Ecke und laufen die Kapuzinerstraße hinunter, vorbei an verblüfften Leuten. Zum Glück versucht keiner, sich uns in den Weg zu stellen. Hier war doch irgendein Hinterhof, durch den es weitergeht? Ja, genau hier, in der Kapuzinerstraße 14! »Stopp – hier rein!«, rufe ich, und wir stürzen uns in den Hinterhof mit abgestellten Fahrrädern und grauen Garagentoren, schlängeln uns an einer Absperrung vorbei in einen schmalen Weg. Den kennen die Polizisten garantiert nicht. Schon sind wir im nächsten Hof, rennen weiter, kommen in der Querstraße neben einem kleinen Getränkemarkt raus. Jetzt muss ich kurz nachdenken. Verdammt, wie kommen wir von hier aus weiter? In meinem Gehirn staut sich alles. Meine Schulter tut immer noch weh, ich kann den Arm kaum bewegen. »Alles okay mit dir?«, fragt der Blonde leise. Unsere Augen treffen sich, und plötzlich ist meine Kraft zurück, fließen meine Gedanken wieder. Ich nicke und setze mich wieder in Bewegung. »Ich weiß nicht, ob wir sie schon abgehängt haben.« Also rein in einen anderen Hinterhof, hier war doch irgendwo noch so ein Schleichweg. Mist, aber nicht in diesem Hof. Sackgasse! Der Blonde beachtet es einfach nicht. Geschickt klettert er über den schmiedeeisernen Zaun, obwohl der mit fiesen Eisenspitzen gespickt ist. Ich bin mir sicher, dass mir die Dinger die Jeans aufreißen werden, aber egal, ich stelle einen Fuß auf eine eiserne Querstange, stoße mich mit dem anderen Fuß ab und schon bin ich drüber. Uff. Sogar die Jeans ist noch ganz. In der nächsten Straße patrouilliert ein Streifenwagen, erschrocken ducken wir uns in eine offene Toreinfahrt. Haben die Polizisten uns bemerkt? Schnelle Bewegungen machen sie besonders misstrauisch, wir hätten uns nicht so verstohlen bewegen dürfen! Von hier aus kann ich den Streifenwagen nicht sehen – hat er angehalten? Wir pressen uns gegen die Wand der Einfahrt, so nah nebeneinander, dass ich fühlen kann, wie der Blonde Luft holt. Es riecht kühl hier, nach Beton und altem Motoröl. Minutenlang geschieht nichts, keiner kommt. Nach ein paar Minuten verlassen wir die Toreinfahrt und gehen rasch weiter, bis wir mehrere Straßen entfernt sind. Hier müssten wir eigentlich in Sicherheit sein. Die Demo ist jetzt sehr fern, man hört nichts mehr davon. Mein Atem geht schnell, aber nur vor Aufregung; ich laufe Halbmarathon und trainiere dreimal die Woche dafür. Wir schauen uns an und dann müssen wir plötzlich grinsen. »Du gehst jetzt nicht wieder hin, oder?«, fragt der Blonde. Ich verziehe das Gesicht und betaste meine Schulter. Zum Glück scheint sie sich langsam wieder zu erholen. »Nee, ich glaube nicht. Das war ja nur noch ein komplettes Chaos.« Hoffentlich ist den anderen Leuten von Living Earth nichts passiert! »Wenn diese Betonköpfe von Ministern sich geeinigt hätten, wäre es nicht so weit gekommen«, sagt er und einen Moment lang sind seine grauen Augen dunkel wie Schiefer. »Diese ganzen politischen Manöver kotzen mich an.« »Geht mir auch so.« Eigentlich könnte ich jetzt Tschüss sagen und gehen – zurück zur Zentrale von Living Earth oder nach Hause oder wohin auch immer. Aber meine Füße wollen sich einfach nicht bewegen. Noch einmal treffen sich unsere Blicke und die Wut verschwindet aus seinem Gesicht. »Ach übrigens – danke«, sagt er. »Für das eben.« Auch er scheint nicht gehen zu wollen. Noch immer sehen wir uns an. »Kein Problem«, meine ich und wundere mich darüber, warum mein Herz schon wieder so schnell schlägt. Ich will ihn fragen, wie er heißt, aber da meldet sich sein Handy, er blickt auf das Display und runzelt die Stirn. »Ich muss los«, sagt er hastig und hebt die Hand zum Gruß. Ein paar Sekunden später ist er hinter der nächsten Ecke verschwunden und die Straße ist furchtbar leer ohne ihn.

Auf Entzug


In der Zeit nach der Demo bin ich irgendwie neben der Spur.
In der Schule – der International Academy Munich – hänge
ich nur lustlos auf meinem Stuhl, der Unterricht rauscht an
mir vorbei. Der blonde Typ geht mir nicht aus dem Kopf.
Statt in 3-D-Simulation an meinem Projekt, einem Berggipfel
mit umherfliegenden Steinadlern, weiterzuarbeiten, versuche
ich ein Phantombild von ihm zu erstellen. Vielleicht
könnte ich es ins Netz stellen und so herausfinden, wer er
ist; vielleicht findet er das lustig und meldet sich von selbst.
Doch das Zeichnen klappt nicht so richtig; meine Mutter
ist zwar Kunsterzieherin, aber ich selbst bin eine Niete in
Kunst. Wütend lösche ich das Bild wieder, weg damit! Es
sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Und warum zum Teufel
habe ich ihn nicht einfach nach seinem Namen gefragt?
Kann man wirklich so dämlich sein?
»Kommst du voran?« Plötzlich steht Herr Brooks neben
mir und späht über meine Schulter. Ich zucke zusammen.
»Äh, ja, irgendwie schon.«
Herr Brooks schaut erstaunt auf meinen völlig weißen
Monitor. »Irgendwie schon?«
»Genau«, sage ich und lade schnell meinen Berg, auf dem
sich winzige Alpinisten zum Gipfel vorarbeiten. Zufrieden
zieht Brooks ab.
Als ich auch in Interkultureller Kommunikation kaum
den Mund aufkriege, zischt mir meine beste Freundin Eloísa
zu: »Nicht abschwächeln, Cat! Heute Abend, du weißt
schon. Die Nacht aller Nächte!«
»Schon klar«, flüstere ich zurück. Heute ist die Party zu
ihrem siebzehnten Geburtstag – Eloísa ist ein paar Monate
älter als ich –, und sie hat ihre Eltern überreden können, ihr
die Wohnung zu überlassen und lange auszugehen.
Blöderweise bin ich absolut nicht in Partystimmung. Im
Gegenteil, ich will alleine sein, dann kann ich in Gedanken
noch einmal den Film der Demo und unserer Flucht
ablaufen lassen. Also rufe ich Eloísa nach Schulschluss nur
schnell zu: »Bis später dann!«, und verdrücke mich in den
Nymphenburger Park, der mehr schlecht als recht meine
Zuflucht geworden ist, seit wir vor einem Jahr hierhergezogen
sind.
Ich brauche es einfach, im Wald zu sein. Manchmal setze
ich mich ins Gras oder auf einen Felsen und werde ein Teil
der Stille, beobachte, nehme einfach alles in mich auf, was
ich höre und sehe. Dabei kann ich fast fühlen, wie ich Kraft
tanke.
Doch in Nymphenburg funktioniert das nur mäßig, dort
sind überall Schilder in den Boden gerammt, auf denen
Trampelpfad – bitte nicht betreten, Bitte Wege nicht verlassen,
Radfahren und Radschieben verboten und dergleichen
steht. Jedes Mal, wenn ich an einem der Dinger vorbeikomme,
zuckt mein rechter Fuß, weil er unbedingt gegen dieses
Schild treten will.
Trotzdem tut es mir gut, mich eine Stunde lang im Park
herumzutreiben. Danach schaffe ich es, nach Hause zu
radeln und mich auf die Party vorzubereiten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.02.2012

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