Cover

Leseprobe



Heute ist mein Geburtstag

. Ich habe im Gemeinschaftsraum auf die Post gewartet. Von Steven war keine Karte dabei.
Er weiß, wann ich Geburtstag habe. Vielleicht weiß er nicht, wo ich zurzeit stecke. Auch sonst hat mir niemand etwas geschickt.
Letzte Woche – oder letzten Monat – haben sie mich mit dem Rettungswagen in die Notaufnahme gebracht und anschließend hierher.
Hierher, das heißt in die geschlossene Abteilung von Strandlust

. Steht man draußen im Freien, kann man das Meer riechen. Nur darf hier niemand nach draußen.
Mama sagt immer, ich sähe aus wie etwas, das die Katze ausgegraben hat. Diesmal hat mich ein Hund wieder ans Licht befördert. Aus dem Meer gefischt, sagt die Polizei. Der Hund hat sein Herrchen mitten in der Nacht wachgebellt.
Der Mann ging mit ihm vor die Tür, und das Tier ist ihm gleich ausgerissen, bis hinunter zum Strand. Da sprang der Hund in die Brandung, und der Mann hat gesehen, dass dort etwas im Wasser trieb.
Das war ich. Ich hatte allen Schnaps von Steven und auch die Schlaftabletten vom »langen Zack« eingenommen. Vielleicht
bin ich deswegen nicht untergegangen.
Und jetzt bin ich in Strandlust

. Was daran so lustig sein soll, wenn man gestrandet ist, war mir nicht sofort klar.
Ich drehe meine Runden im Raum. Zwanzig Schritte hin und zwanzig zurück, wenn man das Dreisitzersofa mit einem Tritt beiseitebefördert, sodass man daran vorbeikommt.
Ein hohes Summen dröhnt in meinem Hirn herum. Ich kann dem nur dadurch ein Ende machen, dass ich mit der Stirn gegen irgendwas haue.
Und das darf ich nicht. Wenn mich ein Soziotherapeut hört, stecken sie mich wieder in die Weichzelle. Es ist eine Gummizelle, was in ihren Ohren aber nicht gut klingt. Sie tun sogar alles dafür, dass es in so einer Weichzelle gut klingt.
In der Decke ist ein Lautsprecher, und aus dem kommt Musik, die man selbst auswählen darf. Leider gibt es nur eine Musikanlage für beide Zellen. Bist du nicht der erste Gast, dann darfst du dir den Heavy Metal deines Nachbarn anhören.
In der Gummizelle hin und her zu laufen ist beinahe unmöglich.
Man kann sich höchstens mit dem Pappnachttopf auf den Kopf hauen. Jedenfalls solange er noch leer ist. Der Topf, nicht der Kopf. Mein Kopf ist niemals leer.
Wieso machen sie nicht einfach ein Loch zum Hineinpinkeln in den Fußboden, so wie in Frankreich?
Das am Boden festgemachte Bett ist aus Schaumgummi.
Die Wände sind schwammig. Sie haben solche Ausstülpungen, genau wie Eierkartons.
Die Filzdecke auf der Matratze ist dermaßen zart, dass der Stoff in Fetzen auseinanderfällt, sobald man daran zieht.
So ist dafür gesorgt, dass man sich damit nicht erhängen kann. Aber woran sollte man sich aufhängen?
Irgendwas geschieht jetzt. Die Wände fangen an zu zittern.
Oder bilde ich mir das bloß ein? Es kann von den Medikamenten herrühren, die sie mir abends verabreichen. Sie finden, ich sollte nachts doch lieber still bleiben. Womit sie ja recht haben. Gleich am ersten Abend habe ich versucht, das Fenster meines kleinen Schlafzimmers aufzubekommen und rauszuspringen. Es war fest verschlossen.
Außer der Tür zum Flur, die sie überwachen, ist die einzige Öffnung im Schlafzimmer der Ablauf des Waschbeckens.
Ein paar Nächte lang habe ich versucht, auf diesem Weg zu entkommen, doch ohne Erfolg. Danach habe ich auf das Wasch- becken und die Wände eingehämmert. Deshalb die Tabletten, die sie mir geben. Von denen wird mein Kopf so wollig wie ein gestrickter Ball für Babys. Ich kann immer nur noch ein leises »Duff« damit verursachen.
Entkommen ist also unmöglich. Überall laufen Sozios herum. Ein Sozio ist ein Soziotherapeut, besser gesagt eine Kreuzung zwischen Krankenpfleger, Haushälterin und Henker.
Also alles, was man braucht, wenn man völlig ausgeflippt ist. Wir alle zusammen sind übrigens eine therapeutische Gemeinschaft, hat man mir gesagt. Was genau das ist, muss ich noch heraus- finden. Jedenfalls duzen sich hier alle und jeder redet den anderen beim Vornamen an. Es ist wie das »Duff«, das mein Kopf macht.
Es gibt auch noch andere Bewohner, alles Jugendliche wie ich. Meistens ist es ein Kommen und Gehen. Ich weiß nicht, wer hier was den ganzen Tag lang treibt. Für sie alle hängt ein Stundenplan an der Wand, auf den sie jedes Mal schauen, um zu wissen, wohin sie müssen. Und dahin gehen sie dann in Begleitung.
Für mich gibt es auch so ein Stück Papier, glaube ich, aber ich sehe es mir nicht an. Ich weiß auch so, was ich tun muss. Runden laufen und hämmern.Währenddessen gebe ich immer gut Acht, ob einer der Sozios die Außentür der Abteilung vielleicht offen stehen lässt und ich womöglich nach draußen kann, raus aus dem Gebäude und irgendwo anders rein, rein in den Wald oder das Meer, denn irgendwo rein ist immer irgendwo anders raus, das ist mein einziger Halt.
Heute hat Ben Dienst. Ein Riese von einem Kerl. Ich sehe ihn in der Küche hin und her gehen. Ben hat eine Hautkrankheit.
Er trägt immer rote Gummihandschuhe, wenn er abwäscht.
Er hat außerdem rote Flecken im Gesicht, glaube ich.
Aber das kann auch an meinen Augen liegen.
Vielleicht gibt es ja überhaupt keinen Ben und in der Küche steht ein kleines grünes Männchen. Es ist möglich, dass ich mir das alles bloß einbilde. In einer Abteilung der Jugendpsychiatrie ist man nicht, weil man Mundgeruch hat, sondern eine Schieflage im eigenen Kopf.
Heute habe ich viel mehr Beklemmungen als sonst. Deshalb habe ich die Sitzmöbel auch an die Seite geschoben, damit ich besser meine Runden laufen kann. Ben hat mitgeholfen und gefragt, ob ich eine Party geben wollte. Sie wissen natürlich, dass ich Geburtstag habe. Ich hatte lauter Formulare ausfüllen müssen, als ich hierherkam. Es war fast schon wie eine Prüfung gewesen.
Was sind deine Beschwerden?

, fragten sie beispielsweise auf dem dritten Blatt Papier. Das war eine Fangfrage. Kinder, die sich
beschweren, auf die will keiner hören. »Ich beschwere mich nie«, sagte ich. Sie erklärten mir, was eine Beschwerde sei, etwas wie Mundgeruch oder dergleichen.
Ich schrieb »Mundgeruch« in das Formular.
Seit wann leidest du daran?

Diese Frage war einfach.
»Seit ich mir die Zähne nicht mehr putze. «Weil ich weiter nichts mehr ausgefüllt habe, hat Mama das getan, als sie mir Sachen zum
Anziehen brachte.
Sie weinte. Ich verstand nicht, wieso. Die Welt und ich hatten schon immer im Streit miteinander gelegen. Ich war der Ansicht, das ganze Leben funktioniere falsch. Hier in der Klinik schienen sie zu finden, dass mit mir etwas grundsätzlich nicht stimmt. Eigentlich war es eine Erleichterung, das endlich zu hören. So langsam dämmerte mir, was daran lustig ist, gestrandet zu sein.
Mama kam allein. Zum Glück hatte sie »Onkel Joop« zu Hause gelassen. Ich mag es nicht, bei Leuten zu wohnen, die im Flur mit dem Bauch an einem entlangscheuern, wenn man aus dem Badezimmer kommt. Deshalb bin ich letztes Jahr auch von zu Hause weggelaufen.
Hier machen sie nichts von alledem, die Therapeuten nicht und die Bewohner auch nicht. Die benehmen sich anständig und reden leise, denn wenn sie sich streiten oder laut schreien, müssen sie zur Abkühlung in ihr Zimmer. Und wenn sie sich schlagen, kommen sie in die Weichzelle.
Alles in allem wohnt es sich hier also angenehm, abgesehen davon, dass ich unbedingt hier rauswill. Ich zerfalle noch in Stücke, so sehr zittere ich.
Irgendwas ist wirklich mit den Wänden. Sie kommen auf mich zu. Es sind nur mehr fünf Schritte von der einen Seite des Raums zur anderen, dabei waren es zuerst zwanzig.
Die Seitenwände kommen auch immer näher. Sie schieben die Möbel vor sich her. Ich könnte schwören, dass sie versuchen, mich hinauszupressen. Wenn die Decke noch niedriger wird und der Fußboden weiterhin steigt, kann ich nur noch in die Küche, aber da steht Ben. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, schiebende Wände oder Menschen. Ich brauche Luft.
Ben braucht ebenfalls Luft. Bei dem warmen Wetter draußen ist es in der Küche stickig vom Abwasch. Er öffnet die Außentür der Abteilung und geht ins Soziozimmer.
Ich ändere meinen Kurs ein wenig und gehe durch die Küche und direkt zur Außentür hinaus. Luft!
»Hey! Luisa!«
Ich bin nicht schnell genug gewesen. Ben ist mir hinterher- gekommen und fasst mich am Arm. Das darf er nicht, aber ich meinerseits darf auch nicht weglaufen. Ich versuche, mich
loszureißen. Er hält mich mit beiden Armen fest. Er hat die roten Gummihandschuhe noch an. Sie machen unangenehm quietschende Geräusche.
Mein Hals ist wie zugeschnürt, ich kann nicht schreien. Mein Herz rast, als wolle es mir aus dem Leib springen.
Plötzlich drehe ich mich um und tauche unter seinem Arm hindurch. Ben hält meinen Kopf im Schwitzkasten. Sein Ärmel scheuert gegen mein Gesicht. Es brennt.
Ich stoße und stoße mit meinem Kopf, der durch das ganze Dagegenhämmern steinhart geworden ist. Ich habe auch starke Muskeln vom Gehen. Ich trete Ben gegen die Beine, bis sein Griff um meinen Kopf etwas erschlafft. Ich schieße vor und falle der Länge nach auf den Boden.
Ben steht bereit, mich wieder zu packen, aber ich mache keinen Versuch, wegzulaufen. Ich setze mich. Ben zieht seine Hand- schuhe aus. Sie baumeln mir wie rote Flecken vor den Augen. Ich fange an zu schreien. Es sind blutige Hände. Hände, die tropfen vor Blut.
Erst als ich in der Weichzelle liege, überlege ich, dass das Unsinn ist. Einen Moment lang dachte ich, ich wäre ein Baby, das gerade geboren wurde und jetzt die Hände des Arztes sieht. Aber Babys können überhaupt keine Farben erkennen.
Das habe ich in der Schule gelernt, bei einem Referat. Es ist so ungefähr das Einzige, was ich von dem gesamten Lernstoff behalten habe, weil es mir wichtig erschien.
Ich fühle mich sehr klein. Und ruhig. Wie ein Ei in einem Eierkarton. Ich liege auf der Matratze. Es ist warm. Meine Blase drückt, aber auf diesen Pappnachttopf kann ich nicht
gehen. Ich mache mir in die Hose und danach kleide ich mich vollkommen aus. Ich ziehe die Filzdecke über mich.


Copyright © Beltz Verlag

Impressum

Texte: Beltz Verlag ISBN: 978-3407810571
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Leseprobe

Nächste Seite
Seite 1 /