Leseprobe
Alle sind zufrieden mit mir
Die Mama ist zufrieden mit mir, wenn ich im Haushalt helfe. Der Papa ist zufrieden mit mir, wenn ich gute Noten habe. Der große Bruder ist zufrieden mit mir, wenn ich ihm von meinem Taschen- geld etwas abgebe.
Die kleine Schwester ist zufrieden mit mir, wenn ich ihre Rechenhausübung mache. Die Oma ist zufrieden mit mir, wenn ich nicht fernschaue und nicht Radio höre.
Wahrscheinlich ist es sehr ungerecht von mir, wenn ich
mit ihnen allen nicht
zufrieden bin!
Der Bohnen-Jim
Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Jim, und der hatte eine kleine Schwester, die Jenny. Die Jenny war fast noch ein Baby. Richtig sprechen konnte sie nicht.
Sie konnte erst einen Satz sagen. Der Satz hieß: »Das will Jenny haben!«
Jenny zeigte immer auf Jims Spielsachen und schrie:
»Das will Jenny haben!« Und sie hörte erst zu schreien auf, wenn sie bekommen hatte, was sie wollte.
Eines Tages fand der Jim eine wunderschöne Bohne. Sie war groß und schwarz, mit weißen Streifen und rosa Punkten. Der Jim schmierte die Bohne mit Schmalz ein.
Da glänzte sie ungeheuer schön.
Wie der Jim so saß und seine schöne Bohne bewunderte, kam die Jenny. Sie sah die Bohne und schrie: »Das will Jenny haben!«
Sie schrie sehr laut.
Der Mutter ging das Geschrei auf die Nerven. Die Mutter sagte: »Jim, gib ihr doch die blöde Bohne!«
Die Bohne war aber nicht blöd, sondern wunderschön, und der Jim wollte sie nicht hergeben. Er machte eine feste Faust um die Bohne und hielt die Faust in die Luft. Die Jenny schrie und sprang nach der Faust. Und die Jenny war sehr kräftig und konnte sehr hoch springen.
Sie bekam die Faust zu fassen und zog Jims Arm zu sich herunter und versuchte, in die Faust zu beißen.
Und die Mutter rief: »Jim, sei ein lieber Bruder! Gib ihr die Bohne!«
Der Jim wollte kein lieber Bruder sein. Diesmal nicht!
Er wollte seine Bohne nicht hergeben. Die Jenny biss den Jim in die Finger. Der Jim brüllte los und öffnete die Faust. Die Bohne fiel zu Boden und sprang unter den Schrank.
Der Jim und die Jenny knieten vor dem Schrank nieder und versuchten, die Bohne zu erwischen. Die Bohne lag ganz weit hinten, an der Wand. Jennys Arm war zu kurz, um an die Bohne zu kommen. Jims Arm reichte.
Er griff nach der Bohne und bekam sie zwischen die Finger und dachte: Wenn ich sie hervorhole, nimmt sie mir die Jenny weg! Und die Mutter hilft mir nicht! Sie hält immer zur Jenny!
Und da hatte der Jim einen Einfall. Er holte die Bohne hervor und steckte sie so schnell, dass Jenny nichts dagegen tun konnte, in den Mund. Er dachte: Hinter meinen Zähnen kann sie nichts hervorholen! Da beiße ich nämlich zu.
Die Jenny versuchte trotzdem, die Bohne hinter Jims Zähnen hervorzuholen. Und der Jim biss zu! Aber dabei verschluckte er leider die wunderschöne Bohne! Sie rutschte ihm einfach den Schlund hinunter. Wahrscheinlich, weil sie mit Schmalz ein- geschmiert war. Schmalz macht nicht nur glänzend, sondern auch schlüpfrig.
Die Jenny greinte noch ein bisschen um die Bohne, aber dann fand sie ein anderes Ding, wobei sie schreien konnte: »Das will Jenny haben!«
Nach ein paar Tagen wurde dem Jim sonderbar im Bauch. Und in seinem Hals kratzte es. Und in den Ohren kitzelte es. Richtig übel war dem Jim.
Die Mutter holte den Arzt. Der Arzt sagte: »Jim, mach den Mund auf. Ich muss schauen, ob du einen roten Hals hast!«
Der Jim hatte keinen roten Hals. Er hatte einen grünen Hals. Der Arzt starrte in Jims grünen Hals. Er hatte noch nie einen grünen Hals gesehen. Das sagte er aber nicht.
Er sagte: »Er brütet etwas aus! Man kann es noch nicht sagen! Warten wir ein paar Tage zu!«
Der Jim wartete zu. Es wurde von Tag zu Tag ärger.
Auch in der Nase juckte es. Und das Halskratzen wurde immer schlimmer.
So ging das zwei Wochen.
Dann erwachte Jim eines Morgens und gähnte und hielt sich beim Gähnen die Hand vor den Mund und spürte, dass da etwas über seine Lippen hing. Er sprang aus dem Bett und lief zum Spiegel. Aus seinen Ohren, aus seiner Nase und aus seinem Mund blitzte es grasgrün.
Kleine Blätter waren das!
Die Mutter holte wieder den Arzt. Der Arzt zupfte an Jims Blättern herum, kratzte sich die Glatze und sprach:
»Das ist ja eher ein Fall für einen Gärtner!«
So rief die Mutter nach einem Gärtner. Der kam und riss ein Blatt aus Jims rechtem Nasenloch und sprach:
»Klarer Fall! Da treibt eine Bohne aus! Das muss eine wunder- schöne Bohne gewesen sein!«
Der Jim nickte. Sprechen konnte er nicht, wegen der Blätter im Mund.
Der Arzt sagte: »Ich muss mich erst mit der Ärztekammer beraten!«
Der Gärtner sagte: »Ich muss mich erst mit der Gärtner-Innung beraten!«
Dann gingen der Arzt und der Gärtner, beide kopfschüttelnd, davon.
Von Stunde zu Stunde wuchs mehr und mehr Grünzeug aus Jim. Es wurde immer länger und dichter.
Die Mutter konnte den Jim nicht im Haus behalten. Sie trug ihn in den Garten und setzte ihn ins Rosenbeet. Rechts und links von ihm schlug sie Stecken in die Erde. Daran band sie die Bohnen- ranken.
Gott sei Dank war Sommer. Der Jim fror nicht.
Manchmal war ihm sogar recht heiß. Dann spritzte ihn die Mutter mit dem Gartenschlauch ab. Manchmal regnete es. Wenn es fürchterlich stark schüttete, kam die Mutter und hielt einen Regenschirm über ihn.
Dann begann der Jim zu blühen. Orangefarben waren seine Blüten. Und dann kamen die grünen Bohnen aus Jim. Schöne, gerade, hellgrüne Bohnen.
Die Mutter pflückte jeden Tag ein Körbchen voll. Und das Bohnengrünzeug wuchs noch immer weiter. Dunkelgrün und ganz dicht war es jetzt. Jim saß darin wie in einem Zelt. Man konnte ihn fast gar nicht mehr sehen.
Manchmal hörte ihn die Mutter husten und niesen, denn es wurde schon Herbst und die Nächte waren recht kalt.
Eines Morgens waren die Bohnenblätter gelb. Zu Mittag waren sie braun. Und am Abend waren die Blätter ganz verdorrt und fielen zu Boden.
Die Mutter konnte durch die dürren Ranken auf den Jim sehen. Sie winkte ihm zu, dann lief sie zum Gärtner.
Der Gärtner kam und er wunderte sich überhaupt nicht.
»Bohnen sind einjährige Pflanzen«, sagte er. Er holte alle Ranken und Stängel von Jims Kopf und zog sie aus Jims Ohren und Jims Nase und Jims Mund. Das ging leicht und tat dem Jim nicht weh.
Jim ging mit der Mutter ins Haus. Die Mutter öffnete den Küchenschrank. Sie zeigte auf sechzig Einsiedegläser voll grüner Bohnen. Sie sagte: »Jim, die sind alle von dir!«
Von nun an aß der Jim jeden Freitag, wenn die anderen Haferbrei bekamen, seine guten, grünen Bohnen.
Die Jenny saß vor ihrem Haferbreiteller und zeigte auf Jims grüne Bohnen und schrie: »Das will Jenny haben!«
Doch die Mutter sagte bloß: »Jenny, halt den Mund!«
Copyright © Beltz Verlag
Texte: Beltz Verlag
ISBN: 978-3407799968
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe