Leseprobe
»Also schön, Herrschaften, Ruhe jetzt und an die Arbeit!«, brüllte Mrs Phelps, meine Geschichtslehrerin, über den Radau in der Klasse hinweg.
Langsam und widerstrebend beendeten die Leute ihre Gespräche und schlurften zu ihren Plätzen. Halb neun am Montagmorgen war keine besonders günstige Zeit für irgendetwas außer Schlafen. Bis vor Kurzem war es auch genau das gewesen, was ich zu dieser Stunde getan hatte. Ich konnte immer noch nicht glauben, wie rasant die Sommerferien zu Ende gegangen waren.
Es gab zwar keine festen Plätze, aber ich setzte mich dahin, wo ich auch schon letzte Woche gesessen hatte, so wie es alle machten. Es war erstaunlich, wie schnell – innerhalb von wenigen Tagen – sich alle in ein vorhersehbares Muster eingepasst hatten. Nicht, dass ich Grund zur Klage gehabt hätte, denn ich hatte einen guten Platz – nicht ganz vorne, aber auch nicht in der allerletzten Reihe. Die Lehrer behielten jeden, der in der letzten Reihe saß, immer ganz besonders scharf im Auge. Links von mir saß mein bester Freund James. Und neben ihm, genau in meinem Blickfeld, wenn ich in aller Unschuld in seine Richtung sah, um ihm etwas zu sagen, saß ein Mädchen mit jeder Menge Ausschnitt. Sie trug ein äußerst knappes Oberteil und hatte die Angewohnheit, sich ganz oft vorzubeugen, um etwas aus dem Rucksack unter ihrem Pult zu nehmen. Genau genommen war das hier ein sehr guter Platz.
»Ihr müsst entschuldigen, wenn ich immer noch nicht alle eure Namen kenne«, sagte Mrs Phelps.
Ich empfand die Tatsache, dass sie meinen noch nicht kannte, als eindeutigen Pluspunkt.
»Ich unterrichte in diesem Halbjahr vier neunte Klassen in Geschichte, das bedeutet über hundert Schüler, die neu an der Schule und auch für mich neu sind.«
Ich kannte Mrs Phelps zwar noch nicht sehr gut, aber sie gefiel mir. Sie interessierte sich für ihre Schüler, aber nicht zu sehr. Und sie schien ihren Beruf ernst zu nehmen, wenn auch nicht zu ernst. Sie trug einen Ehering und auf ihrem Schreibtisch standen Bilder von zwei Kindern. Das bedeutete, dass sie auch noch ein Leben außerhalb von Geschichte hatte. Lehrer, die nur für ihre Fächer lebten, konnten ihren Schülern das Leben echt zur Hölle machen.
Diese Schule war so viel größer als meine alte. Es war nicht leicht zu verkraften, von einem Tag auf den anderen nicht mehr zu den Großen in Klasse acht zu gehören, sondern zu den Kleinen in Klasse neun. Die Highschool war wie eine ganz eigene Welt – eine Welt, die bevölkert wurde von tausenden und abertausenden von Jugendlichen, die ich nicht kannte und die alle sehr viel größer zu sein schienen als ich. Zum Glück hatte fast meine gesamte Klasse von der alten Schule gewechselt, sodass ich schon eine Menge Gesichter kannte. Leute wie James sogar schon seit dem Kindergarten.
Guter alter James. Ich schaute rüber zu seinem Platz und dann an ihm vorbei zu diesem Mädchen…Junge, Junge…vielleicht war es ja auch gar nicht so verkehrt, neue Leute kennenzulernen.
»Ich werde jetzt eine Gedichtzeile vorsagen und ihr sollt sie ergänzen.«
Ein Murren ging durch den Raum, und ich drehte mich zu James um, um ihn zu fragen, ob ich auf der Leseliste ein Gedicht übersehen hätte. Dann wurde meine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen gelenkt, das langsam die Hand unters Pult nach seinem Geschichtsbuch ausstreckte. Meine Kinnlade fiel herunter, und ich bemühte mich, keine Stielaugen zu kriegen … Ich überlegte, ob sie das rein zufällig machte, oder ob es in der vollen Absicht geschah, Jungs – mich
– verrückt zu machen.
»Ring around the rosie
!«, sang Mrs Phelps aus voller Kehle.
»A pocket full of posies
«, brummten die meisten von uns nach kurzem Zögern.
»Ashes, ashes
«, fuhr sie fort.
»We all fall down
«, kam die letzte Zeile von uns.
»Ausgezeichnet! Ihr kennt also alle dieses Gedicht.«
»Gedicht? Ist es nicht eher ein Kinderreim?«, fragte jemand.
»Ein Reim im Sinne von Gedicht«, antwortete Mrs Phelps.
»Und da wir hier im Geschichtsunterricht sind, kann mir jemand die Geschichte
dieses Reims erzählen?«
»Ich glaube, meine Mutter hat ihn mir beigebracht, also muss er schon ziemlich alt sein«, meldete sich ein Mädchen zu Wort.
Mir wurde bewusst, dass, von ein paar Leuten in der Klasse abgesehen, Mrs Phelps nicht die Einzige war, die die Namen der meisten Schüler nicht kannte.
»Er ist tatsächlich schon sehr alt. Sogar noch älter als deine Mutter oder deine Großmutter oder deine Urgroßmutter«, sagte Mrs Phelps.
»Und er stammt aus England, richtig?«, sagte – oder vielmehr fragte – ein zweites Mädchen.
»Aus dem alten England. Sehr lange her. Man vermutet, dass dieses Gedicht so ungefähr zwischen sechs- und siebenhundert Jahre alt ist.«
Das erstaunte mich, und nach den Gesichtern und dem Gemurmel der anderen zu urteilen, war ich damit nicht alleine.
»Weiß irgendjemand, was dieser Reim bedeutet?«
»Kleine Kinder sagen ihn, wenn sie Hüpfspiele machen«, gab das erste Mädchen zur Antwort.
»Ja, und damals haben sie viel gespielt, weil sie da noch keine Fernseher oder Radios und noch nicht mal Videospiele hatten», ergänzte ein Junge. »Sie hatten einfach nur … na ja, Steine … Ich glaube, deshalb heißt es auch Steinzeit.«
»Genau genommen wird der zeitliche Rahmen, in dem das Gedicht verfasst wurde, Mittelalter genannt. Aber du hast recht, sie hatten nichts von dem, was wir als modern bezeichnen würden«, erwiderte Mrs Phelps.
Ich war beeindruckt, wie sanft sie das gesagt hatte, anstatt ihm einfach zu erklären, dass er dämlich war.
»Und der Reim fand allgemeine Verbreitung wegen des Mangels an einigen anderen modernen Errungenschaften… darunter in erster Linie Gesundheitsfürsorge, Medizin und angemessene sanitäre Anlagen. Viele Leute glauben, dass das Gedicht, das ihr alle aufsagen könnt, von der Beulenpest handelt, dem Schwarzen Tod.«
James beugte sich vor und gab mir einen kleinen Schubs.
»Schwarzer Tod…wie wär’s damit als Name für die Band?«, flüsterte er.
Ich schüttelte den Kopf. Wir waren nicht schwarz, und ich hoffte ernsthaft, dass niemand sterben würde. James spielte Gitarre und ich Bass und Saxofon. Wir machten seit einiger Zeit mit noch ein paar Typen Musik in James’ Garage und suchten nach einem passenden Namen für uns.
»Ich werde euch das Gedicht übersetzen«, sagte Mrs Phelps. »Die erste Zeile, Ring around the rosie
, spielt auf die rosige Verfärbung der Haut und des Körpers durch die Seuche an. Die Haut färbt sich zuerst violett und dann schwarz, am häufigsten an den Extremitäten … Finger, Zehen und, bei den Männern, den Genitalien.«
Ich spürte, wie es mich kalt überlief. Gleichzeitig kam ein hörbares Stöhnen von den männlichen Anwesenden im Raum. Irgendwie kam mir dieser letzte Teil wesentlich schlimmer vor als die Verfärbung von Fingern und Zehen.
»A pocket full of posies
«, sprachMrs Phelps weiter. »Damit ist eine Tasche voll süß duftender Blumen gemeint; diejenigen,
die mit der Pflege der Kranken beschäftigt waren, trugen sie bei sich, um dem Gestank der Krankheit und des Todes entgegen- zuwirken.«
»Ich habe irgendwo gelesen, dass das auch der Grund war, warum Bräute ursprünglich bei der Hochzeit Blumen in der Hand hielten. Um zu verbergen, wie sie rochen, denn in früheren Zeiten hat nie einer gebadet«, wusste ein Mädchen zu berichten.
»Frisches Wasser, ganz besonders erhitztes frisches Wasser, war in der Tat unüblich, vor allem in den Städten während des Mittelalters. Aber der Geruch der Pest war wohl sehr viel schlimmer als der, den bloßes Nicht-Waschen hervorruft.
Stellt euch nur den Gestank vor, den verfaulendes Fleisch verursacht, menschliche Körperteile, die abstarben, während der Patient noch weiterlebte.«
Ich bemühte mich nach Kräften, mir das nicht vorzustellen, aber es gelang mir nicht.
»Die Zeile Ashes, ashes
– also Asche, Asche
– bezieht sich auf den nahen Tod«, erklärte Mrs Phelps. »Es gibt allerdings noch eine andere Version: A-tschu, a-tschu
. Das spielt auf das Niesen und Husten bei der Variante der Krankheit an, die die Lunge befällt. Und in der letzten Zeile, We all fall down
, geht es schlicht und einfach um den Tod.« Sie machte eine Pause und nahm einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher.
»Auch wenn sich die Historiker noch nicht ganz einig sind, ist die allgemeine Ansicht, dass es zwar schon unzählige Epidemien gegeben hat, aber nur drei größere Pandemien.
Bei einer Pandemie befällt eine Krankheit nicht nur ein örtlich begrenztes Gebiet, sondern eine größere Region – unter Umständen einen ganzen Erdteil. Die erste Pandemie breitete sich im fünften und sechsten Jahrhundert vom Nahen Osten bis zum Mittelmeerraum aus und tötete die Hälfte der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten. Lasst euch diese Zahl mal durch den Kopf gehen. Und jetzt seht euch in der Klasse um.«
Ich schaute rüber zu James und natürlich an ihm vorbei.
Ich musste versuchen, mit ihr ins Gespräch zu kommen, und daran denken, immer wieder Blickkontakt zu suchen.
Das würde nicht leicht werden.
»Ich möchte, dass alle, die zwischen Januar und Juni geboren sind, einmal aufstehen«, sagte Mrs Phelps.
Ich wurde im März geboren und stellte mich hin. James war ein Julikind und blieb folglich sitzen. Das Mädchen – ich musste unbedingt herausfinden, wie sie hieß – stand ebenfalls auf. Was, wenn wir im gleichen Monat Geburtstag hatten? Vielleicht konnte ich das zum Anlass nehmen, sie anzusprechen.
»Etwa die Hälfte von euch ist auf den Beinen. Alle, die jetzt stehen, wären tot.«
»Wenn du tot bist, kann ich dann deinen iPod haben?«, fragte James.
»Wenn ich tot bin, kann ich nicht Ja sagen.«
»Wenn du tot bist, kannst du auch nicht Nein sagen«, entgegnete James, und ein paar fingen an zu lachen.
»Alle wieder hinsetzen. Die zweite Pandemie ereignete sich zwischen dem achten und dem vierzehnten Jahrhundert und befiel beinahe ganz Europa, wo die Sterblichkeitsrate bei vierzig Prozent lag. Die letzte Pandemie brach schließlich 1855 aus. Sie nahm ihren Anfang in China und breitete sich über alle Erdteile aus, mit Ausnahme von Australien und Antarktika.«
»Sie meinen, es gab die Pest auch in den Vereinigten Staaten?«, fragte ein Mädchen.
»Auf allen Erdteilen. Sie kam schließlich zum Stillstand durch die Entwicklung eines Antiserums, das das Bakterium bekämpfte, das die Krankheit auslöst.«
»Mir fällt ein, dass ich mal gelesen habe, die Pest würde durch Rattenbisse übertragen«, berichtete ein Junge.
»Durch Ratten und durch Bisse, aber nicht durch Rattenbisse«, korrigierte Mrs Phelps. »Ratten haben Flöhe und die Flöhe sind die Überträger des Bakteriums. Er verbreitet sich durch Flohbisse.«
»Wie gut, dass wir keine Ratten mehr durch die Gegend laufen haben«, meinte ein Mädchen.
»Das soll wohl ein Witz sein«, meldete sich James zu Wort.
»Mein Vater ist Feuerwehrmann in New York, und er hat mir erzählt, man geht davon aus, dass es in New York mehr Ratten gibt als Menschen.«
»Aber die Pest gibt es doch nicht mehr … oder?«, wollte einMädchen wissen.
»Es gibt keine Epidemien mehr, aber es werden immer noch weltweit zweitausend Fälle von Pest pro Jahr registriert«, erwiderte Mrs Phelps.
»An manchen Orten auf der Welt ist es auch heute noch nicht viel anders als im Mittelalter«, sagte ein Junge.
»Da hast du recht. In einigen Gegenden wird zum Beispiel Landwirtschaft immer noch auf eine Art und Weise betrieben, die mehr dem sechzehnten Jahrhundert verbunden ist als der modernen westlichen Zivilisation», stimmte Mrs Phelps zu. »Aber all unseren neuesten Technologien zum Trotz treten immer noch, genau hier in den Vereinigten Staaten, jedes Jahr durchschnittlich zwanzig Fälle der Pest auf.«
»Und man stirbt daran?«, fragte das gleiche Mädchen mit ängstlicher Stimme.
»Sehr selten. Die Sterberate liegt, wenn eine rasche Behandlung erfolgt, bei weniger als einem Prozent«, antwortete Mrs Phelps.
Das Mädchen machte ein erleichtertes Gesicht. Glaubte sie wirklich, sie würde die Pest kriegen?
»Viele Krankheiten, wie zum Beispiel die Pocken, die überall auf der Welt viel Elend ausgelöst haben, wurden inzwischen vollständig ausgerottet«, erzählte Mrs Phelps weiter. »Die einzigen Pockenviren auf der Welt werden als wissenschaftliche Kuriosität in ein paar ausgewählten, gut gesicherten Laboratorien aufbewahrt.»
»Wird das eines Tages auch mit der Pest so sein?«, wollte James wissen.
Mrs Phelps schüttelte den Kopf. »Das ist unwahrscheinlich.
Es gibt buchstäblich Millionen von Tieren und Milliarden von Flöhen auf diesen Tieren, die das Pestbakterium übertragen.«
Das klang nicht sonderlich ermutigend – besonders wenn man an all die Ratten in New York dachte.
»Das Pestbakterium ist ein naturgegebenes Phänomen, nicht viel anders als ein Hurrikan oder ein Tornado oder ein Erdbeben.
Die können wir auch nicht verhindern.«
»Aber selbst Hurrikans und Tornados und Erdbeben sind anders für uns hier in den Staaten als an manch anderen Orten«, meinte James.
»Ich glaube nicht, dass ich da zustimmen kann. Der Mittlere Westen ist eine Brutstätte für Tornados, Florida und die Golfküste bekommen sehr häufig Hurrikanwarnungen und ganz Kalifornien befindet sich über dem St.-Andreas-Graben und hat schon zahlreiche Erdbeben erlebt und …«
»Ich meine nicht, dass wir keine Naturkatastrophen haben
«, sagte James. »Was ich meine, ist, dass sie bei uns zwar vorkommen, aber wir sind nicht in der gleichen Weise betroffen. Ich sehe mir die Nachrichten an und höre von Erdbeben in Ländern wie China und sie haben zwanzigtausend Tote, und wenn wir eins in Kalifornien haben, sterben nur zwanzig Menschen, vielleicht sogar noch weniger.«
»Vielleicht sind die Erdbeben bei denen stärker«, warf ein Mädchen ein.
»Das glaube ich nicht. Die gleiche Erdbebenstärke hat in verschiedenen Gegenden unterschiedliche Auswirkungen«, entgegnete James.
»Bei Hurrikans ist es genauso«, kam ich James zu Hilfe.
»Ich weiß noch, dass ich davon gehört habe, wie letztes Jahr in Bangladesch dreißigtausend Menschen von einem Hurrikan getötet wurden…Oder war es das Jahr davor …
Ist ja auch egal, wenn hier ein Hurrikan tobt, kommen für gewöhnlich nur ein oder zwei Menschen um.«
Copyright © 2011 Beltz Verlag
Texte: Beltz Verlag
ISBN: 978-3407742490
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
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