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Lottas neue Tasche
»Halt!«, sagt Lotta. »Ich will die Taschen anschauen.«
»Na gut«, sagt Theo.
Wie jeden Samstag sind Lotta und ihr kleiner Bruder unterwegs zu Oma Emma, für die sie auf dem Markt Obst und Gemüse eingekauft haben.
Oma ist schon über siebzig und kriegt vom Tütenschleppen einen Hexenschuss, hat ihnen Lottas Mutter erklärt. Außerdem freut sich Oma, wenn sie Besuch bekommt. Und Lotta freut sich auch, weil sie auf dem Weg zu Oma einen heimlichen Abstecher durch die teure Einkaufspassage machen kann.
Jetzt drückt sie sich die Nase am Schaufenster einer Boutique platt. Eine braune Tasche mit einem Giraffenmuster an den Seiten gefällt ihr besonders gut. Sie ist aus echtem Leder und kostet neunzig Euro.
»Irgendwann bin ich reich. Und dann kaufe ich mir die Tasche!«, sagt Lotta.
»Na gut«, sagt Theo.
Bei Oma gibt es heute Reibekuchen mit Apfelkompott und zum Nachtisch grünen Wackelpudding.
Aber das ist noch nicht die ganze Belohnung fürs Einkaufen. Heute dürfen sich Lotta und Theo eine Briefmarke aus dem dicken Album von Opa Albert aussuchen. Opa war früher ein großer Sammler gewesen, als er noch lebte.
Lotta sucht sich eine große, bunte Gedenkmarke aus, auf der Prinzessin Diana in ihrem Hochzeitskleid zu sehen ist.
»Die ist bestimmt wertvoll!«, sagt sie.
Jetzt darf Theo mit der Pinzette eine Briefmarke aus dem Album ziehen. Sie ist klein und grün, hat ein Wappen aufgedruckt und riecht nach Mottenkugeln.
»Die ist leider überhaupt nichts wert!«, sagt Lotta.
Auf dem Heimweg macht Lotta plötzlich einen Umweg durch eine enge Seitengasse.
»Jetzt zeige ich dir, wie man Geschäfte macht«, sagt Lotta.
»Na gut«, sagt Theo.
»Wehe, du petzt!«, sagt Lotta.
»Na gut«, sagt Theo.
Lotta zieht Theo in ein kleines Geschäft, in dem es nur Briefmarken gibt: Briefmarken in Vitrinen, Briefmarken in Alben auf dem Tresen, Briefmarken in Rahmen an der Wand. Sogar Briefmarken in Wäschekörben auf dem Boden. Hinter dem Tresen schaut der Briefmarkenhändler aus einer Zeitschrift hervor und mustert die Kinder über seinen Brillenrand.
»Soso, meine kleine Philatelistin besucht mich wieder. Was haben wir denn heute für Schätze mitgebracht?«
Lotta legt ihre Diana-Sondermarke auf den Tresen.
»Ui, ui, ui!«, sagt der Händler.
»Da kommen wir doch ins Geschäft …«
Lotta zwinkert Theo zu, während der Händler eine große Glaskugel vom Regal holt. Lotta darf sich fünf Lakritzschnecken aus der Kugel nehmen.
Jetzt legt Theo seine kleine, grüne, nach Mottenkugeln riechende Briefmarke auf den Tresen. Lotta muss lachen und beißt schnell in ihre Lakritzschnecke.
Der Händler nimmt Theos Briefmarke mit einer Pinzette auf und mustert sie von allen Seiten. Plötzlich knallt er einen dicken Katalog auf den Tresen.
»Kleinen Moment.« Er blättert in dem Katalog, untersucht die Marke mit einer Lupe, steckt seine Nase in den Katalog, schaut wieder durch die Lupe …
»Ich kaufe sie«, sagt er schließlich, dreht sich um und lässt mit einem lauten PLING die Kasse aufspringen.
»Zweihundert Euro. Mehr kann ich dafür aber nicht geben.«
»Na gut«, sagt Theo und zieht seinen Brustbeutel unter seinem T-Shirt hervor. Der Händler steckt ihm zwei nagelneue Hundert- Euro-Scheine in den Brustbeutel.
Und Lotta hat sich an ihrer Lakritzschnecke verschluckt und muss husten.
Auf dem Rückweg versucht Lotta, nicht in das Schaufenster mit den Taschen zu schauen. In drei Jahren hat sie gerade mal zwanzig Euro gespart, während ihr kleiner Bruder jetzt mit einem Vermögen in seinem Brustbeutel herumläuft.
»Soll ich das Geld nicht besser für dich verwalten?«, fragt Lotta.
Aber Theo schüttelt nur mit dem Kopf.
»Wir könnten das Geld anlegen. In eine neue Tasche zum Beispiel. Es würde sogar noch etwas Geld übrig bleiben.«
Aber Theo schüttelt nur mit dem Kopf.
»Willst du meine letzte Lakritzschnecke haben?«, fragt Lotta. »Ich verkaufe sie dir.«
Kopfschütteln.
»Dann schenke ich sie dir eben!«, sagt Lotta.
»Na gut«, sagt Theo und steckt sich die Lakritzschnecke in den Mund.
»Schenkst du mir vielleicht eine Tasche?«, fragt Lotta.
Theo schüttelt wieder mit dem Kopf.
Lotta findet, dass die Welt ungerecht ist. Und Briefmarken sind blöd.
Auf dem Spielplatz treffen sie Nicole. Nicole ist Lottas beste Freundin. Von einem Ausguck aus beobachten sie Theo, der wild auf einer kleinen Pferdewippe schaukelt. Und dann erzählt Lotta Nicole, dass die Welt ungerecht ist und Briefmarken blöd sind. Und dass ihr kleiner Bruder jetzt Millionär ist und sich jede Tasche kaufen kann, die er haben will.
»Einen Millionär muss man heiraten«, sagt Nicole da. »Dann gehört einem nämlich die Hälfte von dem ganzen Geld!«
Die Hälfte von Theos Geld würde für Lottas Tasche reichen. Auf einmal hat es Lotta eilig.
Auf dem Heimweg macht Lotta wieder einen Umweg.
»Wir müssen noch mal kurz in die Kirche«, sagt Lotta.
»Na gut«, sagt Theo.
Die Kirche ist fast leer. Lotta nimmt Theo an die Hand und geht mit ihm durch den Mittelgang bis nach vorne zum Altar. Auf einer Stufe vor dem Altar steht der Pfarrer und zündet eine Kerze an. Als er Lotta und Theo sieht, lächelt er und erklärt ihnen, dass er gerade eine Hochzeit vorbereitet.
»Das trifft sich ja gut!«, sagt Lotta. »Ich will nämlich meinen kleinen Bruder heiraten.«
Der Pfarrer runzelt die Stirn und steigt die Stufe zu ihnen hinab.
»Soso. Ihr zwei wollt also heiraten?«
»Ja«, sagt Lotta. »Jetzt gleich.«
»Habt ihr denn Ringe?«, fragt der Pfarrer.
»Nein«, sagt Lotta.
»Dann tut es mir leid – ohne Ringe wird nicht geheiratet. Jedenfalls nicht in meiner Kirche.«
Die Welt ist ungerecht, denkt sich Lotta. Und Briefmarken und Ringe sind blöd. Und der Pfarrer ganz besonders.
Draußen wartet Nicole auf die beiden. Sie wirft ein paar weiße Rosenblätter über Lotta und Theo, als sie durch das Kirchenportal schreiten.
»Hör auf damit«, sagt Lotta. »Die Hochzeit ist geplatzt.«
Dann erklärt sie Nicole, dass sie keine Ringe haben. Und ohne Ringe wird nicht geheiratet. Jedenfalls nicht in dieser Kirche.
»Dann müssen wir eben zwei Ringe kaufen«, sagt Nicole. »Und ich weiß auch schon, wo.«
Nicole wartet mit Theo vor dem Kaugummiautomaten an der Tankstelle, während Lotta nach Hause rennt und ihre Sparbüchse holt. Als Lotta zurückkommt, lässt sie sich im Tankstellenshop ihr Geld in 10-Cent-Münzen wechseln. Denn wenn man eine 10-Cent-Münze in den Automaten wirft und richtig viel Glück hat, bekommt man eine Kugel aus Plastik, in der zwei Ringe aus echtem Gold liegen.
Meistens bekommt man aber nur einen Kaugummi.
Bald haben Lotta und Nicole mehr Kaugummis gezogen, als sie tragen können. Zum Glück hat Theo an seinem Shirt eine Kapuze, in die alle Kaugummis reinpassen. Und am Ende fällt dann schließlich doch noch rappelnd die Plastikkugel aus dem Automaten.
»Die Ringe nimmst du«, sagt Lotta zu Nicole.
»Dann kannst du gleich die Trauzeugin sein.«
Copyright © 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel
Texte: Beltz & Gelberg Verlag
ISBN: 978-3407799920
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
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