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1. Kapitel

An einem Morgen im Mai gab die Regierung von Stanislavien folgende Bekanntmachung heraus:

In der vergangenen Nacht wurde Präsident Joseph Djinko verhaftet. Er bekannte sich im Verhör zu siebenundvierzig Korruptionsfällen. Oberst Zinfandel, Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte und Luftwaffe von Stanislavien, hat die Kontrolle über das Land übernommen.



Diese Bekanntmachung mag etwas kurz erscheinen, sogar ein wenig langweilig, aber sie hatte erstaunliche Auswirkungen in der ganzen Welt.
Im Weißen Haus klingelte das rote Telefon des amerikanischen Präsidenten.
Im Élysée-Palast leuchtete ein blauer Knopf auf dem Schreibtisch des französischen Präsidenten auf.
In der Downing Street Nummer 10 flüsterte ein Berater dem britischen Premierminister die Neuigkeit ins Ohr.
In Rudolph Gardens Nummer 23, Kensington, London, rannte ein großer, gut aussehender Mann namens Gabriel Raffifi die Treppe zu seiner Frau hinunter und sagte: »Schnell, Schatz, hol die Kinder! Wir müssen hier
weg.«
Als sie fragte, was um alles in der Welt denn los sei, erwiderte er: »Präsident Djinko wurde verhaftet und Oberst Zinfandel hat die Macht im Land übernommen.«
»Oh, mein Gott!«, sagte Mrs Raffifi. Sie musste keine weiteren Fragen stellen. Sie sprang auf, lief durchs Haus und rief die Kinder: »Max? Natascha? Max! Wo seid ihr?«

Es muss euch nicht peinlich sein, wenn ihr noch nie von Stanislavien gehört habt. Den meisten Leuten geht es so.
Stanislavien ist ein kleines, bergiges Land in dem Teil von Osteuropa, der an Russland grenzt. Die Geschichte des Landes ist kompliziert und größtenteils unerfreulich.
Jahrhundertelang wurde das Land von Diktatoren beherrscht, die der armen Bevölkerung ihre grausamen Bedingungen auferlegten. Vor fünfzig Jahren erlangte Stanislavien schließlich seine Unabhängigkeit.
Die Sprache, die die Bewohner von Stanislavien sprechen, heißt Stanislavisch. Nur sehr wenige Menschen, die außerhalb Stanislaviens geboren wurden, beherrschen diese Sprache. Wolltet ihr sie erlernen, müsstet ihr Jahre eures Lebens opfern, um Grammatik und Vokabeln zu üben. Die meisten Verben sind unregelmäßig. Die Hälfte der Redewendungen ergibt keinen Sinn. Im Wörterbuch stehen lauter Wörterr, die man kaum in eine andere Sprache übersetzen kann.
Eins dieser Wörter ist »Grk«. Es gibt in keiner anderen Sprache ein einziges Wort, das genau dasselbe wie »Grk« bedeutet. Um es zu übersetzen, braucht man mindestens drei Wörter, wahrscheinlich sogar mehr. Grob übersetzt bedeutet »Grk« mutig, selbstlos und einfältig, alles gleichzeitig.
Mit dem Wort »Grk« könnte man also einen Krieger beschreiben, der sein Leben für eine edle, aber mehr oder weniger sinnlose Sache geopfert hat.
Als Natascha Raffifi von ihren Eltern einen winzigen Hund geschenkt bekam, fand sie, dass er sehr mutig, sehr selbstlos und ein klein wenig einfältig aussah. Deshalb nannte sie ihn Grk.

2. Kapitel



Jeden Nachmittag ging Timothy Malt den gleichen Weg von der Schule nach Hause.
Jeden Nachmittag, wenn er nach Hause kam, öffnete er die Haustür mit seinem eigenen Schlüssel. Er nahm den Orangensaft aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas ein. Dann fischte er sich drei Kekse aus der Dose, ging schnell ins Wohnzimmer und setzte sich auf das große, knautschige Sofa. Danach spielte er am Computer, bis seine Mutter aus dem Büro nach Hause kam oder sein Vater aus seinem Büro.
Dieser Nachmittag war anders. Tim fand einen Hund.
Genau genommen fand der Hund Tim.
Während der langen Nachmittage in der Schule ignorierte Tim die einschläfernde Stimme des Lehrers und träumte von seinem Computer. Nach der Schule raste er nach Hause, denn er wollte keine Zeit mit Gehen vertrödeln, wenn er doch am Computer spielen konnte.
An diesem Tag ging Tim noch schneller als sonst nach Hause, da er sich vor Kurzem mit zwei Monatsraten seines Taschengelds ein neues Spiel gekauft hatte. Es war ein Hubschrauberflugsimulator. Er besaß bereits drei Hubschraubersimulatoren, aber dieser war viel realistischer als die anderen. Laut Packungsaufschrift benutzten Piloten das Programm zum Üben, bevor sie einen echten Hubschrauber flogen.
In den letzten Tagen war es Tim gelungen, die meisten der einfachen Flugmanöver auszuführen. Er konnte starten.
Er konnte über Felder fliegen. Er konnte um Hochhäuser Slalom fliegen. Jetzt musste er üben, durch den Dschungel zu fliegen und dabei den größten Bäumen auszuweichen, bevor er seinen ersten Kampfeinsatz wagte.
Während Tim durch die Straßen nach Hause eilte, versuchte er sich den bestenWeg durch den Dschungel auszumalen.
Er schwenkte die Hand von rechts nach links, als würde er den Steuerknüppel bedienen. Dabei stellte er sich all die Hindernisse vor, auf die er treffen könnte.
Bäume so hoch wie Gebäude. Schlingpflanzen, die von den Ästen hingen. Boa Constrictors, die sich lautlos den Stamm hinaufschlängelten. Papageien, die durch die Luft flogen. Affen, die von Baum zu Baum sprangen. Er stellte sich all diese Hindernisse im Dschungel so genau vor, dass er nicht darauf achtete, wo er hintrat, und stolperte über irgendeinen Klumpen auf dem Bürgersteig.
Der Klumpen jaulte auf.
Tim fiel hin.
Im Fallen riss Tim die Arme schützend nach vorne.
Daher schlug er zwar nicht mit dem Kopf auf den Beton auf, aber mit den Ellbogen. Zuerst der rechte. Dann der linke. Knirsch! Knacks! Der Schmerz war unerträglich.
»Auuuu«, stöhnte Tim. Er rollte zur Seite, hielt sich die Ellbogen und jammerte leise. »Oh, oh, oh. Ohhh.«
Nach ein paar qualvollen Sekunden spürte Tim etwas Weiches an seiner Wange. Etwas Weiches und Feuchtes.
Er vergaß den Schmerz, der in den Ellbogen pochte, und öffnete die Augen.
Zwei kleine, schwarze Augen sahen ihn an. Eine winzige rosafarbene Zunge schleckte über sein Gesicht.
Tim rollte zur Seite und setzte sich auf.
Der Hund wedelte mit dem Schwanz. Es war ein kleiner Hund mit schwarzen Knopfaugen.
Er hatte weißes Fell mit schwarzen Flecken und einen kessen kleinen Schwanz, der sich wie der Zeiger eines Metronoms hin- und herbewegte.
Tim wollte den Hund gerne streicheln oder mit ihm reden, aber er wusste, dass er das lieber nicht tun sollte.
Seine Eltern würden sehr wütend sein. Tims Mutter konnte Hunde nicht leiden. (Sie war allergisch gegen sie.)
Sein Vater verabscheute Hunde. (Sie machten so viel Krach!) Tims Mutter und Vater hatten gesagt, er solle Hunde niemals anfassen – sofern er nicht Tollwut, Flöhe und Bandwürmer bekommen wolle.
Tim wollte nicht, dass sich ein Bandwurm durch seine Gedärme schlängelte, Flöhe unter seiner Kleidung krabbelten, und er wollte auch keine tödliche Dosis Tollwut in seinem Blut. Also stand er auf, riss den Blick von dem Hund los und ging weiter. Dabei rieb er sich einen
Ellbogen. Er tat immer noch weh.
Als Tim am Ende der Straße ankam, bemerkte er, dass ihm jemand folgte. Er drehte sich um. Der Hund stand vor ihm. Tim sagte: »Verschwinde! Geh wieder nach Hause.«
Der Hund wedelte mit dem Schwanz.
Tim sagte: »Warum folgst du mir? Kannst du bitte damit aufhören?«
Der Hund legte den Kopf schräg und sah ihn an.
Tim knabberte an den Fingernägeln. Das tat er immer, wenn er nachdachte. Dann holte er tief Luft und brüllte: »HAU AB!«
Der Hund legte den Kopf auf die andere Seite und sah ihn unbeirrt an.
Tim zuckte mit den Schultern. »Na schön. Mach, was du willst.«
Er ging weiter. Alle paar Schritte drehte er sich um und sah, dass der Hund ihm folgte.
Nach zehn Minuten kam Tim zu Hause an. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, dann blickte er auf den Hund hinunter.
»Warum bist du immer noch hier?«
Der Hund legte sich hin, den Kopf auf den Pfoten, und sah hoch zu Tim.
Tim blickte in die kleinen, schwarzen Hundeaugen und erkannte einen vertrauten Ausdruck. Nicht Traurigkeit. Nicht Einsamkeit. Nicht Angst. In den kleinen schwarzen Hundeaugen erkannte Tim Hunger.
Jetzt, wo ich daran denke, überlegte Tim, habe ich auch Hunger.
Tim stellte sich vor, was passieren würde, wenn er den Hund ins Haus ließ. Er schüttelte den Kopf. Das war völlig undenkbar. Seine Mutter wäre so wütend, dass sie mit den Füßen stampfen und mit den Armen über dem Kopf herumfuchteln würde. Sein Vater wäre so wütend, dass er kein einziges Wort sagen würde, aber sein Kopf würde knallrot werden und seine Augen aussehen, als würden sie ihm jeden Moment aus dem Gesicht springen.
Tims Mutter und Vater waren sehr gut im Wütendsein. In all den Jahren hatten sie es oft geübt.
Tim blickte zu dem kleinen Hund hinunter und sagte:
»Es tut mir leid. Ich kann dich nicht ins Haus lassen. Aber ich gehe hinein und hole dir etwas Brot. In Ordnung? Du bleibst hier und ich hole ein bisschen Brot. Verstehst du?«
Der Hund sah Tim an und blinzelte mit einem Auge.
Tim hatte das komische Gefühl, dass der Hund genau verstand, was er sagte.
»Gut«, sagte Tim. »Dann hole ich mal das Brot. Du wartest hier.«
Tim drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Genau in dem Moment machte der Hund einen Satz nach vorne, schoss zwischen Tims Beinen hindurch und rannte ins Haus.
»Nein!«, rief Tim. »Nein, nein, nein!«
Der Hund kümmerte sich nicht darum. Er rannte einfach weiter.
»O nein!«, stöhnte Tim. »Mama wird mich umbringen.« Schnell ging er ins Haus und schloss die Tür. Er zog die Jacke aus und ließ den Rucksack im Flur fallen. Dann machte er sich auf die Suche nach dem Hund. Er wusste, dass er den Hund aus dem Haus schaffen musste, bevor seine Eltern nach Hause kamen, sonst würde es Ärger geben. Es würde Geschrei geben, Armfuchteln, Taschengeldentzug, knallende Türen, rote Gesichter und zum Schluss würde Tim ohne Abendbrot ins Bett geschickt werden.
Tim suchte vom Dachboden bis zum Keller, sah unter jedem Bett nach, steckte den Kopf in jeden Schrank und suchte überall, wo ein Hund sich verstecken konnte.
Doch der Hund war nicht zu finden.
Die Zeit rannte Tim davon. Er spürte, wie ihm vor Panik ein Frösteln über den Rücken lief. Seine Mutter und sein Vater würden jeden Augenblick zu Hause sein.
Er nahm eine Scheibe Schinkenspeck aus dem Kühlschrank und machte sich abermals auf die Suche. Tim hielt den Schinkenspeck vor sich hin und rief: »Guck mal, Hündchen! Schinkenspeck! Braves Hündchen! Komm und hol dir den Schinkenspeck!«
Doch der Hund war verschwunden.
Tim stöberte noch mal im Kühlschrank und entdeckte ein Schweinekotelett. Er hielt den Schinkenspeck in der einen und das Schweinekotelett in der anderen Hand, ging durchs Haus, wedelte mit dem Fleisch, rief und pfiff.
Tim öffnete die Küchenschränke und hielt das Schweinekotelett hinein. »Guck, Hündchen! Lecker Schweinekotelett!«
Er kniete sich im Gästezimmer auf den Fußboden, spähte unter das Bett und legte den Schinkenspeck auf den Teppich. »Guck, Hündchen! Schöner Schinkenspeck!«
Wohin er auch ging, er wedelte mit dem Schinkenspeck und dem Schweinekotelett und rief: »Lecker, lecker! Hier gibt’s was zu fressen! Schinkenspeck! Schweinekotelett! Komm und hol’s dir!«
Aber keine Spur von dem Hund.
Um sieben suchte Tim das Wohnzimmer gerade zum vierzehnten Mal ab, hielt den Schinkenspeck in der einen und das Schweinekotelett in der anderen Hand, als er das Geräusch hörte, vor dem er sich die letzten zwei Stunden gefürchtet hatte: Ein Schlüssel drehte sich in der Haustür.
Ein paar Sekunden später rief seine Mutter: »Hallo, Tim! Ich bin zu Hause!«
Tim sah auf seine Hände. Das Schweinekotelett! Der Schinkenspeck! Wohin damit?
»Tim? Timmy? Bist du da?«
»Hallo, Mama«, rief Tim. »Ich bin im Wohnzimmer.«
Er sah sich um. Der Schinkenspeck! Das Schweinekotelett! Er musste sie verstecken! Aber wo?
...
Copyright © Beltz & Gelberg Verlag

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Texte: ISBN: 978-3407741677
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2011

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