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PROLOG

STERNE FUNKELTEN KALT auf den Wald herab, der vom frostigen Blattfall blank gefegt war. Schatten bewegten sich durch das Unterholz. Magere Gestalten, deren Felle vom kühlen Abendtau durchnässt waren, glitten zwischen den Stängeln hindurch wie Wasser durch das Röhricht. Der Pelz der Katzen hing schlaff an ihren ausgemergelten Körpern.
Der flammenfarbene Kater, der die schweigende Prozession anführte, hob den Kopf und prüfte die Luft. Obwohl die anbrechende Nacht die Zweibeinermonster zum Schweigen gebracht hatte, haftete ihr Gestank noch an jedem absterbenden Blatt und Zweig.
Der Kater ließ sich vom Duft seiner Gefährtin trösten, die neben ihm ging. Ihr vertrauter Geruch mischte sich mit dem verhassten der Zweibeiner und milderte dessen Schärfe. Sie hielt stetig mit ihm Schritt, obwohl ihr schleppender Gang verriet, dass ihr Magen seit Langem leer war und sie die Nächte durchwacht hatte.
»Feuerstern«, keuchte sie. »Glaubst du, dass unsere Töchter uns finden, wenn sie heimkehren?«
Der flammenfarbene Kater zuckte zusammen, als wäre er auf einen Dorn getreten. »Darum können wir nur beten, Sandsturm«, antwortete er leise.
»Aber wie?«, fragte Sandsturm weiter und schaute zurück auf einen breitschultrigen, grauen Kater.
»Graustreif, glaubst du, sie werden wissen, wohin wir gezogen sind?«
»Oh, sie werden uns schon finden«, versprach der Krieger.
»Wie kannst du dir da so sicher sein«, knurrte Feuerstern.
»Wir hätten doch noch eine Patrouille auf die Suche nach Blattpfote losschicken sollen.«
»Und dabei riskieren, dass wir weitere Katzen verlieren?«, miaute Graustreif. Feuersterns Augen verengten sich vor Schmerz und er eilte weiter.
Sandsturm zuckte mit dem Schwanz.
»Das war die schwerste Entscheidung, die er jemals zu treffen hatte«, flüsterte sie Graustreif zu.
»Er musste

den Clan an die erste Stelle setzen«, zischte Graustreif zurück.
Sandsturm schloss für einen Augenblick die Augen.
»Wir haben so viele Katzen verloren im vergangenen Mond«, miaute sie.
Der Wind musste ihre Stimme weitergetragen haben, denn Feuerstern drehte sich um und sein Blick verhärtete sich.
»Vielleicht werden die anderen Clans bei der Großen Versammlung nun doch endlich zustimmen, dass wir uns gegen diese Bedrohung zusammenschließen müssen«, knurrte er.
»Zusammenschließen?« Ein verächtliches Miauen kam von einem gestreiften Kater.
»Hast du vergessen, wie die Clans reagiert haben, als du das letzte Mal davon gesprochen hast? Der WindClan war halb verhungert, aber du hättest genauso gut vorschlagen können, dass sie ihre Jungen auffressen. Sie sind zu stolz und wollen nicht zugeben, dass sie Hilfe von anderen Katzen brauchen.«
»Inzwischen ist es aber noch schlimmer geworden, Borkenpelz«, entgegnete Sandsturm. »Wie kann ein Clan starkbleiben, wenn seine Jungen sterben?« Ihre Stimme verklang, als ihr klar wurde, was sie gerade gesagt hatte.
»Es tut mir leid, Borkenpelz«, murmelte sie.
»Lärchenjunges mag tot sein«, fauchte Borkenpelz.
»Aber das heißt nicht, dass ich den DonnerClan von einem anderen Clan herumkommandieren lasse!«
»Kein Clan wird uns Befehle erteilen«, sagte Feuerstern.
»Aber ich glaube immer noch, dass wir uns gegenseitig helfen können. Es ist fast Blattleere. Die Zweibeiner und ihre Monster haben unsere Beute vertrieben, und was übrig geblieben ist, haben sie vergiftet, sodass wir sie nicht gefahrlos essen können. Allein können wir nicht kämpfen.«
Plötzlich schwoll das Wispern des Windes in den Ästen zu einem Brausen an und Feuerstern verlangsamte seinen Schritt und spitzte die Ohren.
»Was ist das?«, flüsterte Sandsturm mit weit aufgerissenen Augen.
»Irgendetwas passiert am Baumgeviert!«, jaulte Graustreif.
Er rannte los, und Feuerstern preschte hinter ihm her, eng gefolgt von seinen Clan-Kameraden. Am oberen Rand des Hangs blieben alle Katzen abrupt stehen und blickten hinab in die Senke mit ihren steil abfallenden Wänden.
Helle, unnatürliche Lichter, greller als Mondschein, bestrahlten die Stämme der vier gewaltigen Eichen, die diesen heiligen Ort seit der Zeit der Großen Clans bewacht hatten.
Weitere Lichter blitzten aus den Augen riesiger Monster, die am Rand der Lichtung kauerten. Der Großfelsen, der massive, glatte graue Stein, auf dem die Anführer standen, wenn sie sich bei jedem Vollmond an die Große Versammlung wandten, wirkte klein und verletzbar, wie ein Junges, das auf einem Donnerweg kauert.
Zweibeiner rannten in der Senke umher und schrien sich etwas zu. Ein neues Geräusch durchschnitt die Luft, ein kreischendes, hohes Heulen, und einer der Zweibeiner hob eine gewaltige, glänzende Vorderpfote, die in dem hellen Licht aufblitzte. Er drückte sie gegen den Stamm der ersten Eiche, und Staub flog aus dem Baum wie Blut, das aus einer Wunde spritzt. Die glänzende Vorderpfote heulte auf, als sie grausam in die uralte Rinde biss und sich immer tiefer in das Herz des Baums schob, bis der Zweibeiner einen Warnruf ausstieß. Die Senke hallte wider von einem so lauten Knacken, dass es die röhrenden Monster übertönte. Die große Eiche neigte sich, zunächst langsam, dann immer schneller, bis sie krachend zu Boden fiel. Ihre blattlosen Äste prasselten auf die kalte Erde, dann kamen sie in tödlichem Schweigen zur Ruhe.
»SternenClan, halte sie auf!«, miaute Sandsturm.
Es gab jedoch kein Anzeichen, dass ihre Kriegervorfahren gesehen hatten, was am Baumgeviert passierte. Die Sterne glitzerten am dunkelblauen Himmel, während sich der Zweibeiner zur nächsten Eiche begab und seine Vorderpfote aufkreischte, als sie zu einem weiteren Todesstoß ausholte.
Die Katzen sahen entsetzt zu, wie der Zweibeiner sich um die Lichtung arbeitete, bis die letzte Eiche gefällt war. Das Baumgeviert, an dem sich zahllose Generationen lang die vier Clans versammelt hatten, gab es nicht mehr. Die vier riesigen Eichen lagen hingestreckt auf dem Boden, ihre Äste noch immer bebend, bis sie allmählich zur Ruhe kamen. Zweibeinermonster fauchten am Rand der Lichtung, bereit, vorzustürzen und die Beute zu zerlegen, während die Katzen, unfähig sich zu rühren, wie erstarrt am oberen Rand des Abhangs stehen blieben.
»Der Wald ist tot«, murmelte Sandsturm. »Für keinen von uns besteht noch Hoffnung.«
»Gebt euren Mut nicht auf!« Mit glitzernden Augen wandte sich Feuerstern an seine Begleiter.
»Wir haben noch immer unseren Clan. Es gibt stets Hoffnung.«


1. KAPITEL




KRÄHENPFOTE WAR der Erste, der das Moorland roch, als die Morgen- sonne ihr weiches Licht über das taugetränkte Gras breitete. Er gab keinen Laut von sich, doch Eichhornpfote sah, wie er die Ohren spitzte und etwas von der Erschöpfung abschüttelte, gegen die er seit Federschweifs Tod angekämpft hatte. Der dunkelgraue WindClan-Kater beschleunigte den Schritt, eilte den Hang hinauf, wo der Nebel noch an dem langen Gras hing. Eichhornpfote öffnete das Maul und sog tief die Luft ein, bis auch sie den vertrauten Geruch von Ginster und Heidekraut in der kalten Morgenluft schmecken konnte.
Dann preschte sie hinter ihm her, rasch gefolgt von Brombeerkralle, Sturmpelz und Bernsteinpelz. Inzwischen konnten sie alle die Moorlanddüfte riechen, und sie wussten, das Ende ihrer langen, anstrengenden Reise war nahe.
Schweigend hielten die fünf Katzen am Rande des Wind-Clan- Territoriums an. Eichhornpfote warf einen Blick auf ihren Clan-Gefährten Brombeerkralle und dann auf Bernsteinpelz, die Kätzin aus dem SchattenClan. Neben ihr kniff Sturmpelz, der graue FlussClan-Krieger, die Augen vor dem kalten Wind zusammen, aber am angespanntesten starrte Krähenpfote hinaus auf das raue Grasland, wo er geboren worden war.
»Ohne Federschweif wären wir nicht so weit gekommen«, murmelte er.
»Sie ist gestorben, um uns alle zu retten«, bekräftigte Sturmpelz.
Eichhornpfote zuckte zusammen, als sie den Schmerz in der Stimme des FlussClan-Kriegers vernahm. Federschweif war seine Schwester gewesen. Sie hatte ihr Leben verloren, als sie ihre Gefährten aus einer tödlichen Gefahr rettete, nachdem sie in den Bergen eine fremde Gruppe von Katzen getroffen hatten. Der Stamm des eilenden Wassers lebte hinter einem Wasserfall und hörte nicht auf den SternenClan, sondern auf seine eigenen Ahnen, den Stamm der ewigen Jagd. Eine Großkatze
hatte sie viele Monde lang gejagt und einen nach dem anderen erlegt. Als die Bestie wieder in die Höhle des Stamms des eilenden Wassers eingedrungen war, hatte es Federschweif geschafft, eine spitze Felszacke von der Decke zu lösen, die herabdonnerte und das Untier tötete. Sie selbst war dabei zu Tode gestürzt, und nun lag sie unter Felsen im Stamm-Territorium in der Nähe des Wasserfalls, dessen Rauschen sie zum SternenClan begleiten sollte.
»Es war ihre Bestimmung«, sagte Bernsteinpelz sanft.
»Ihre Bestimmung war, mit uns die Suche zu Ende zu führen«, knurrte Krähenpfote. »Der SternenClan hatte sie auserwählt, dass sie mit uns zum Wassernest der Sonne zieht und hört, was Mitternacht uns zu sagen hat. Sie hätte nicht für die Prophezeiung eines anderen Clans sterben müssen.«
Sturmpelz, der an Krähenpfotes Seite trottete, stieß den WindClan- Schüler sanft mit der Schnauze an.
»Tapferkeit und Opfermut gehören zum Gesetz der Krieger«, erinnerte er ihn.
»Hättest du gewollt, dass sie eine andere Wahl trifft?«
Krähenpfote blickte über den sturmzerzausten Ginster, ohne zu antworten. Seine Ohren zuckten, als bemühte er sich, im Wind Federschweifs Stimme zu vernehmen.
»Kommt weiter!« Eichhornpfote, die plötzlich begierig war, die Reise zu Ende zu bringen, sprang voran über das struppige Gras. Bevor sie aufgebrochen war, hatte sie sich mit ihrem Vater Feuerstern gestritten, und jetzt prickelten ihre Pfoten vor Nervosität bei dem Gedanken, wie er auf ihre Rückkehr reagieren würde. Sie und Brombeerkralle hatten den Wald verlassen, ohne einer Clan-Katze Bescheid zu geben, wohin sie gingen oder warum. Nur Blattpfote, Eichhornpfotes Schwester, wusste, dass der SternenClan zu einer Katze aus jedem Clan gesprochen und sie in Träumen aufgefordert hatte, zum Wassernest der Sonne zu ziehen, um Mitternachts Prophezeiung zu hören. Keiner von ihnen hatte geahnt, dass sich Mitternacht als eine weise, alte Dächsin entpuppen würde, noch hatten sie sich vorstellen können, welch gewichtige Neuigkeit sie ihnen mitteilen würde.
Krähenpfote, der das Gelände besser als sonst einer von ihnen kannte, lief an der DonnerClan-Schülerin vorbei und übernahm die Führung. Er eilte auf einen Ginsterbusch zu und verschwand auf einem Kaninchen- pfad, Bernsteinpelz dicht hinter ihm. Eichhornpfote senkte den Kopf, um ihre Ohren vor den Dornen zu schützen, und folgte den beiden durch den schmalen Tunnel. Brombeerkralle und Sturmpelz waren dicht hinter ihr und sie konnte den Aufprall ihrer Pfoten auf dem Boden spüren.
Als sich der Ginster um sie schloss, schlugen Erinnerungen mit schwarzen Flügeln auf sie ein, zeigten ihr erneut die Träume, die ihren Schlaf gestört hatten – Träume von Finsternis und einem kleinen Raum, der angefüllt war mit panischer Furcht und Angstgeruch. Eichhornpfote war überzeugt, dass diese entsetzlichen Träume irgendwie mit ihrer Schwester zusammen- hingen. Nun endlich wieder zu Hause, würde sie herausfinden können, wo genau Blattpfote sich aufhielt.
Eine erneute Woge von Angst überkam sie und sie raste noch schneller auf das Licht am Ende des Tunnels zu.
Sie wurde langsamer, als sie das offene Grasland erreichte. Brombeerkralle und Sturmpelz brachen hinter ihr hervor ins Freie, auch ihr Fell zerzaust von den spitzen Ginsterstacheln.
»Ich wusste gar nicht, dass du Angst vor der Dunkelheit hast«, neckte Brombeerkralle sie, der nun an ihrer Seite trottete.
»Hab ich nicht«, widersprach Eichhornpfote.
»Ich habe dich noch nie so schnell laufen sehen«, schnurrte er mit zuckenden Barthaaren.
»Ich will einfach nach Hause«, antwortete Eichhornpfote und ignorierte den Blick, den Brombeerkralle und Sturmpelz wechselten. Die drei Katzen folgten Bernsteinpelz und Krähenpfote, die in einem Heidekrautfeld verschwunden waren.
»Was Feuerstern wohl sagt, wenn wir ihm von Mitternacht erzählen?«, fragte sich Eichhornpfote laut.
Brombeerkralles Ohren zuckten. »Wenn man das wüsste.«
»Wir sind lediglich die Boten«, miaute Sturmpelz. »Wir können unseren Clans nur berichten, was der SternenClan uns mitgeteilt hat.«
»Werden sie uns glauben?«, fragte Eichhornpfote.
»Wenn Mitternacht recht gehabt hat, dann werden wir sie bestimmt leicht überzeugen können«, meinte Sturmpelz grimmig.
Eichhornpfote wurde plötzlich klar, dass sie nur an die Heimkehr zu ihrem Clan gedacht hatte. Alle Gedanken an das Unheil, das dem Wald drohte, hatte sie verdrängt. Aber bei Sturmpelz’ Worten zog sich ihr Herz vor Angst zusammen und Mitternachts schreckliche Warnung hallte in ihr nach:
Zweibeiner. Bald kommen sie mit Maschinen ... Monster in euren Worten, nicht? Bäume sie werden entwurzeln, Felsen zerbrechen, die Erde selbst auseinanderreißen. Kein Platz mehr für Katzen. Ihr bleibt, zerreißen die Monster euch auch oder ihr sterbt ohne Beute.


Ihr Magen krampfte sich vor Furcht zusammen. Wenn sie nun zu spät kamen? Würde es überhaupt noch ein Zuhause geben, zu dem sie zurückkehren konnten?
Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich an den Rest von Mitternachts Prophezeiung erinnerte: Aber ihr werdet nicht ohne Führer sein. Wenn heimkehrt, steht auf Großfelsen, wenn Silbervlies oben scheint. Ein sterbender Krieger den Weg wird zeigen

. Eichhornpfote holte tief Luft. Noch gab es Hoffnung. Aber zuerst einmal mussten sie heimkehren.
»Ich wittere WindClan-Krieger!« Brombeerkralles Jaulen holte Eichhornpfote zurück ins Moorland.
»Wir müssen zu Krähenpfote und Bernsteinpelz aufschließen!«, keuchte sie. Der Gedanke, sich einer Gefahr Seite an Seite mit den Reise- gefährten zu stellen, war ihr instinktiv gekommen, und sie hatte ganz vergessen, dass Krähenpfote ja zum WindClan gehörte und durch seine Clan-Kameraden nicht gefährdet war. Sie schoss aus dem Heidekraut- gebüsch hinaus auf eine freie Fläche und stieß fast mit einem ausgemergelten WindClan-Schüler zusammen. Sie blieb stehen und blickte ihn verblüfft an.

...


Copyright © 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel




Impressum

Texte: Beltz & Gelberg Verlag ISBN: 978-3407810939
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

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