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1. GESETZ

Verteidige deinen Clan, selbst wenn es dein Leben kostet. Du darfst dich mit Katzen anderer Clans anfreunden, aber deine Loyalität gilt stets deinem eigenen Clan.
Man kann sich kaum vorstellen, dass es eine Zeit gegeben hat, in der Freundschaften mit Katzen anderer Clans ganz normal waren. Ich weiß sehr gut, wie quälend es sein kann, eine Katze aus einem anderen Clan zu lieben – und zu wissen, dass man zu den eigenen Clangefährten zurückkehren muss, weil man gebraucht wird und weil man dem Gesetz der Krieger treu bleiben will. Lass mich dir vom traurigen Schicksal von Roggenbart und Schellbeere erzählen. Mir bricht es zwar das Herz, aber du wirst sehen, warum daraus dieses furchtbare Gesetz entstanden ist. Jede Katze muss lernen, dass die Stärke des ganzen Clans von der Loyalität jedes einzelnen Mitglieds abhängt.




WIE DAS GESETZ DER KRIEGER ENTSTANDEN IST



»WER ZUERST beim Weißdornbusch ist!«
»Das ist unfair, Roggenbart! Du weißt genau, dass du gewinnen wirst!«, protestierte Schellbeere.
Roggenbart drehte sich um und sah die dunkelgraue Kätzin an. Schellbeere war außergewöhnlich schlank für eine FlussClan- Katze, aber ihr Fell war dicht und glatt.
»Ich gebe dir eine Schwanzlänge Vorsprung«, bot er an.
Schellbeere legte den Kopf zur Seite, ihre blauen Augen blitzten.
»Oder … oder ich mach die Augen zu oder ich renne rückwärts oder ich nehme einen Stein ins Maul …«
»Bienenhirn«, schnurrte sie. Sie trottete zu ihm und rieb ihren Kopf an seiner Wange. »Ich renne mit dir um die Wette, wenn wir anschließend sehen, wer am schnellsten den Fluss durchquert.«
Roggenbart wich kopfschüttelnd zurück. »Das gilt nicht! Keine Katze macht sich freiwillig den Pelz nass, das ist unnatürlich! Ich hab’s einmal versucht, weißt du nicht mehr?«
»Du bist von einem Trittstein abgerutscht! Nicht unbedingt die beste Methode, um Schwimmen zu lernen.«
Roggenbart streckte den Schwanz aus und berührte Schellbeere kurz an der Flanke. »Glaubst du, unsere Jungen werden
schnelle Läufer und hervorragende Schwimmer?«, miaute er sanft.
Schellbeere sah ihn verwundert an. »Woher weißt du das? Ich … ich wollte es dir sagen, ganz bestimmt, aber ich wusste nicht, wie du reagieren würdest. Ich dachte, du hättest vielleicht lieber WindClan- Junge …«
Roggenbart gab ein entrüstetes Miauen von sich.
»Aber es werden doch WindClan-Junge! Und FlussClan-Junge! Sie sind von uns beiden und alles andere zählt nicht! Wissen es deine
Clangefährten schon?«
Unruhig begann die Kätzin, mit der Pfote kleine runde Kiesel hin und her zu schubsen. »Noch nicht. Ich wollte es dir zuerst erzählen.«
»Du machst dir Sorgen, was dein Vater dazu sagen wird, nicht wahr?«
Schellbeere sah flehend zu Roggenbart auf. »Aschenstern ist ein guter Anführer. Du kannst ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er sich mehr FlussClan-Junge wünscht. Nachdem der grüne Husten in der Blattleere so viele Katzen getötet hat, brauchen wir mehr Krieger.«
»Aber sie werden doch FlussClan-Junge!«, erinnerte sie Roggenbart. Ungeduldig peitschte er mit dem Schwanz.
»Ich werde dafür sorgen, dass du ihnen das Schwimmen beibringst, sobald sie die Augen aufmachen.«
»Dann bist du dafür, dass sie im FlussClan aufwachsen?«, fragte Schellbeere.
Roggenbart blinzelte. So weit hatte er noch nicht gedacht.
»Also gut«, miaute er schließlich. »Ich könnte zu dir ziehen, wenn sie geboren sind. Dein Vater hatte nie etwas dagegen, wenn ich bei euch im Lager geblieben bin. Und du kannst sie zum WindClan bringen, wenn sie groß genug sind, um so weit zu laufen.«
Schellbeere nickte, sah aber immer noch besorgt aus. Roggenbart berührte sie mit der Schnauze am Ohr.
»Alles wird gut«, versicherte er. »Jede Katze weiß, dass Distelschwanz aus dem DonnerClan Aschensterns beste Freundin ist. Wenn eine Katze Verständnis dafür hat, dass Freundschaften nicht vor der Grenze eines Territoriums haltmachen, dann ist das Aschenstern.«
»Aber was ist mit dem gestohlenen Fisch?«, fragte Schellbeere.
Im vergangenen Mond hatte der FlussClan dem WindClan vorgeworfen, sie würden Fische aus dem Fluss stehlen, und eine Patrouille zu Nebelstern, dem Anführer des WindClans, geschickt, um ihm zu drohen. Nebelstern hatte steif und fest behauptet, sein Clan würde niemals Fische essen, aber Roggenbart wusste, dass die FlussClan-Katzen immer noch misstrauisch waren.
»Wir haben keinen Fisch gestohlen«, erklärte er Schellbeere.
»Vielleicht bringen diese Jungen unsere Clans wieder zusammen.«
Schellbeere lehnte sich an ihn und Roggenbart schloss die Augen und dachte an die winzigen Wesen in ihrem Bauch, dunkelgrau wie ihre Mutter oder braun getigert wie er, mit flinken Pfoten und ausdauernd beim Schwimmen. Diese Jungen würden den Frieden zwischen den Clans wiederherstellen, davon war er überzeugt.

»WindClan! Zurück!«
Roggenbart schüttelte den Kopf, weil ihm Blut in die Augen gelaufen war, als Steinschweif den Befehl jaulte. Der große graue Kater stand auf einem Baumstumpf, von wo aus er wild um sich blickend seine Clangefährten zum Rückzug rief. Roggenbart machte einen Satz nach hinten, um den FlussClan-Krieger unter seinen Pfoten freizulassen. An diesem Kampf trug allein der FlussClan Schuld! Die FlussClan-Katzen hatten noch zwei Mal beim WindClan vorgesprochen, ihre Rivalen des Fischdiebstahls bezichtigt und gedroht, unter den anderen Clans zu verbreiten, die Moorkatzen wären Eindringlinge und Diebe. Als ob man sich beim WindClan die Pfoten nass machen würde, um diese schleimige Beute zu fangen! Nebelstern hatte beschlossen, dass es nur einen Weg gab, den Vorwürfen Einhalt zu gebieten: Sie würden dem FlussClan zeigen, dass WindClan-Katzen stark genug waren, um ihre eigene Beute zu fangen – und so gut genährt, dass sie bei ihren Nachbarn nichts zu stehlen brauchten.
»Zurück!«, jaulte Steinschweif zum zweiten Mal.
»Mäuseherzige Feiglinge!«, fauchte ein FlussClan-Krieger hinter ihnen.
»Wenn ihr unseren Fisch stehlen wollt, solltet ihr vorher sicherstellen, dass ihr auch stark genug seid, um gegen uns zu kämpfen!«, jaulte ein anderer.
Roggenbarts Rückenfell sträubte sich, und es juckte ihm in den Pfoten, herumzuwirbeln und ihnen die Ohren zu zerfetzen.
Wann würden diese dämlichen Katzen begreifen, dass der WindClan ihre kostbaren Fische nicht stahl? Die Schilfhalme schlossen sich hinter ihnen, als sie sich Richtung Zweibeinerbrücke zurückzogen, und einen Moment lang hörte Roggenbart nichts außer dem Keuchen der Clangefährten und dem Rascheln der trockenen Halme.
»Keinen Pfotenschritt weiter!«, schrie ihm eine Stimme entgegen.
Roggenbart rempelte Habichtfell von hinten an, als der schwarze Krieger vor ihm plötzlich stehen blieb. Mit gerecktem Hals über die Schulter seines Clangefährten spähend entdeckte er einen rot-weißen FlussClan-Krieger, der Steinschweif den Weg verstellte.
»Ihr habt doch nicht etwa geglaubt, wir würden euch so einfach davonkommen lassen, oder?«, knurrte die FlussClan-Katze.
Steinschweif zuckte mit keinem Schnurrhaar.
»Wir werden weiterkämpfen, wenn es sein muss«, antwortete er. »Ist es das, was ihr wollt?«
Der FlussClan-Krieger bleckte die Zähne. »Dieser Kampf ist noch lange nicht vorbei!« Er stürzte sich auf Steinschweif, der sich auf den Rücken drehte und seinem Angreifer mit den Hinterläufen den Bauch zerkratzte. Das Schilf teilte sich, und weitere FlussClan-Krieger kamen heraus- geschossen, um die WindClan-Katzen anzugreifen. Ein stämmiger grauer Tigerkater grub Roggenbart seine Krallen in die Schulter und riss ihn zu Boden. Blut tränkte Roggenbarts Fell, als er sich befreien konnte und den Krieger mit allen vier Pfoten voraus ansprang. Der Krieger duckte sich und sprang ebenfalls, stieß in der Luft mit ihm zusammen und riss ihn mit sich, sodass sie gemeinsam im Schilf landeten.
Roggenbart kam unter einem dicken, grauen Pelz wieder zu sich. Er reckte den Kopf, um Luft zu holen – und starrte direkt in die blauen Augen von Schellbeere. Im selben Moment tauchte ein dunkler Schatten hinter ihr auf, Krallen glitzerten in der Sonne und bohrten sich ihr ins Genick.
»Nein!«, schrie Roggenbart und stürzte sich so heftig auf den Angreifer, seinen Clangefährten Habichtfell, dass er stolperte und ins Schilf purzelte.
»Roggenbart, hör auf!«, rief die graue Kätzin, während sie sich auf die Pfoten rappelte. »Unsere Kämpfe müssen wir allein austragen!«
Roggenbart sah sie über die Schulter hinweg an. »Glaubst du, ich lasse zu, dass mein eigener Clangefährte unseren Jungen etwas antut?«
Habichtfell starrte ihn ungläubig an. »Junge?«, wiederholte er.
Der braune Krieger erwiderte seinen Blick. »Schellbeere erwartet Junge von mir. Ich kann nicht zulassen, dass ihr etwas passiert.«
»Pass auf!«, jaulte Schellbeere.
Pfotengetrappel näherte sich – ein breitschultriger Fluss-Clan-Krieger raste auf sie zu und stürzte sich mit voller Wucht auf Roggenbart. Dann folgte ein dumpfer Schlag, als Roggenbarts Beine unter dem Gewicht seines Angreifers nachgaben und er zusammenbrach. Blut troff aus seiner Schulter, dunkel und glänzend auf die nasse Erde.
Der graue Tiger stieg von ihm herunter und schüttelte sich den Pelz.
Reglos stand Schellbeere da und konnte den Blick nicht von dem schlaffen braunen Körper ihres Geliebten abwenden.
»Ach Roggenbart, warum hast du das getan?«, flüsterte sie.

»Sind alle Clans da?«, rief Nebelstern von der Spitze des großen grauen Felsens herab. Um ihn herum flüsterte der Nachtwind sacht in den Zweigen, die undeutliche Schatten über die mondhelle Lichtung warfen. Nebelstern hatte die anderen Anführer zu einer Versammlung hierhergerufen, weil die Senke in der Mitte aller Clan-Territorien lag, aber seit jener ersten Schlacht, die zur Teilung der Clans geführt hatte, niemandem mehr gehörte. Alle Ältesten, die sich noch an das Gefecht erinnern konnten, hielten sich von dem Platz fern, da sie fest daran glaubten, dass viel zu viel Blut in die Erde geflossen war, um jemals fortgespült zu werden. Nebelstern hatte die Vollmondnacht gewählt, weil das Mondlicht für einen sicheren Heimweg aller Katzen sorgen würde – und niemand die Dunkelheit für einen Überraschungsangriff nutzen konnte.
»Wir sind hier«, antwortete Birkenstern, der Anführer des WolkenClans. Mit seinen kräftigen Hinterläufen stieß er sich ab und sprang zu Nebelstern auf den Felsen. Die übrigen Anführer wollten auch nicht am Fuß des Felsens zurückbleiben und kletterten hinterher: Aschenstern vom FlussClan, Holunderstern vom SchattenClan und Hellstern vom DonnerClan, dessen Pelz so hell leuchtete wie der Mond im Zwielicht. Die übrigen Katzen, eine Patrouille aus jedem Clan, blieben am Boden und blickten mit ernsten Gesichtern und um die Pfoten geringelten Schwänzen zu ihren Anführern auf.
»Falls du meinen Clan für den Tod deines Kriegers verantwortlich machen willst –«, hob Aschenstern an, wobei sich sein Nackenfell sträubte.
Nebelstern schüttelte den Kopf. »Nein, Aschenstern, das ist nicht der Grund, weshalb ich euch alle hier zusammengerufen habe. Roggenbarts Tod ist eine Tragödie, die wir uns nach so einer harten Blattleere kaum leisten können. Sie wäre aber nicht geschehen, wenn er … sich nicht … an Schellbeere gebunden hätte.« Er blickte auf die FlussClan-Katzen hinunter, aber Schellbeere war nicht dabei. Wahrscheinlich stand die Geburt ihrer Jungen kurz bevor.
»Von nun an dürfen Katzen nur ihrem eigenen Clan treu sein. Auf Freundschaften zu Katzen anderer Territorien muss zum Besten des eigenen Clans verzichtet werden. Wir können nicht zulassen, dass unsere Krieger in einem Gefecht oder Kampf an irgendetwas anderes als an das Wohl ihres Clans denken. Sind wir uns da einig?«
Hellstern erhob sich. »Der Clan steht über allem anderen. Ich finde das vernünftig.«
Holunderstern und Birkenstern nickten. Aschenstern miaute:
»Gut gesprochen, Nebelstern. Mein Clan bedauert den Tod deines Kriegers. Aber von heute an sorgt – und kämpft – jeder Clan nur für sich selbst.«

...


Copyright © 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel


Impressum

Texte: Beltz & Gelberg Verlag ISBN: 978-3-407-81097-7
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2011

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