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Schatten




Schatten, der Fledermausjunge, schwebte über die Böschung des Baches, als er hörte, wie der Käfer seine Flügel ausprobierte. Daraufhin holte er kräftiger mit den Schwingen aus und wurde so immer schneller, je näher er dem summenden Geräusch kam. Er selbst war vor dem Nachthimmel kaumzu erkennen, nur die Silberstreifen in seinemdichten schwarzen Fell schimmerten im Mondlicht.
Der Käfer hatte sich jetzt in die Luft erhoben, seine Flügel und die Deckschalen surrten. Noch immer konnte Schatten ihn nicht mit den Augen erkennen, aber er „sah“ ihn mit den Ohren. Das Insekt wurde von seinem „Klang-Sehen“ erfasst, summte und glühte in seiner Wahrnehmung wie ein Schattenriss auf Quecksilber. Die Luft pfiff in seinen weit ausgestellten Ohren, als er sich auf die Beute hinabstürzte. Er bremste scharf, schaufelte den Käfermit der Schwanzhaut nach vorn, schleuderte ihn in seinen linken Flügel und von dort geradewegs ins offene Maul. Er drehte nach oben ab, knackte die harte Schale mit den Zähnen, genoss das köstliche Fleisch des Käfers, das ihm in die Kehle spritzte. Er machte ein paar kräftige Kaubewegungen und schluckte ihn ganz hinunter. Vorzüglich! Käfer waren bei weitem die beste Speise im Wald. Auch Mehlwürmer und Zuckmücken waren nicht schlecht. Moskitos schmeckten dagegen wirklich nicht besonders – wie dünne Gaze, manchmal ein wenig stachelig –, aber dafür waren sie auch leichter zu fangen als alles andere. Schon über sechshundert hatte er an diesem Abend gefressen, ungefähr jedenfalls, er hatte zuzählen aufgehört. Sie waren so langsam und unbeholfen, dass man nur das Maul aufsperren und ab und an schluckenmusste.
Er warf ein Netz von Tönen aus, um Insekten zu orten.
Eigentlich war er schon fast satt, aber er wusste, er sollte noch mehr essen. Seine Mutter hatte ihm in den vergangenen zehn Nächten immer wieder gesagt, er müsse Fett ansetzen, es werde bald Winter. Schatten zog eine Grimasse, während er einen Mehlwurm von einem Blatt schnappte und hinunterschluckte. Als ob er jemals fett werden könnte! Aber er wusste, dass ihm eine lange Reise in den Süden zu ihrem Überwinterungsplatz Hibernaculum bevorstand, wo die ganze Kolonie die kalte Jahreszeit verbringen würde.
Überall um ihn herum konnte Schatten in der frischen Herbstnacht andere Silberflügel sehen und hören, die jagend durch den Wald schossen. Genüsslich dehnte er seine Flügel. Wären sie doch nur länger und kräftiger! Für einen Augenblick schloss er die Augen, segelte nur nach dem Gehör, fühlte, wie die Luft das Fell auf Gesicht und Bauch streichelte.
Plötzlich spitzte er die Ohren. Er hörte das charakteristische Trommeln eines Bärenspinners in vollem Flug. Er stellte den rechten Flügel auf und wendete in Richtung auf die Beute. Wenn er nur einen erwischen könnte – jeder wusste, wie schwer das war –, dann hätte er eine Geschichte, die er bei Sonnenaufgang daheim im Baumhort erzählen könnte, dem Unterschlupf der Kolonie von Jungen und ihren Müttern.
Da war das Insekt, ruderte mit den zerbrechlichen Flügeln und schaukelte plump hin und her, wirkte eigentlich eher komisch. Schatten hatte den Bärenspinner fast erreicht. Vielleicht würde es ihm dieser nicht so schwer machen. Er warf noch einmal sein Klangnetz über ihn aus und legte die Flügel zum Sturzflug an. Da zerfetzte ein Hagelsturm von Geräuschen sein Echobild, und mit dem inneren Auge sah er auf einmal nicht mehr einen einzigen silbrigen Bärenspinner, sondern gleich ein ganzes Dutzend, und alle flogen in unterschiedliche Richtungen.
Verwirrt blinzelte er. Die Motte war noch vor ihm, er konnte sie mit den Augen sehen. Irgendwie brachte sie seine Echos mit ihren eigenen durcheinander. Benütze die Augen, sagte er sich, jetzt nur noch die Augen.
Er ruderte stärker, kam dem Insekt schnell näher und streckte schon die Krallen aus. Mit geblähten Schwingen bremste er, schaufelte mit dem Schwanz nach vorn, um die Beute zu fangen, als …
Der Bärenspinner faltete einfach die Flügel zusammen und fiel direkt nach unten aus Schattens Flugbahn heraus.
Dieser flog zu schnell und konnte nicht anhalten. Sein Schwanz schnellte unter ihm nach vorn durch, und er machte einen Salto. Er suchte wieder Luft in die Flügel zu bekommen, stürzte für einen Sekundenbruchteil, bevor er sich aufrichten konnte. Verwirrt schaute er sich nach dem Bärenspinner um.
Der schwirrte friedlich über ihm dahin.
„Oh nein, so nicht!“
Er schlug mit den Flügeln, gewann anHöhe, kamdem Insekt wieder näher. Doch plötzlich flitzte eine andere Fledermaus vor ihm vorbei und schnappte den Bärenspinner mit der Schnauze.
„He!“, schrie Schatten. „Das war meiner!“
„Hättest ihn ja fangen können“, erwiderte die andere Fleder- maus, und sofort erkannte Schatten die Stimme: Chinook. Einer von den anderen Jungen in der Kolonie.
„Ich hatte ihn ja schon“, hakte Schatten nach.
„Glaub ich nicht.“Chinook kaute angestrengt und ließ die Insektenflügel zwischen den Zähnen herausfallen.
„Dieser schmeckt übrigens fantastisch.“ Er machte übertriebene Schmatzgeräusche. „Vielleicht hast du ja eines Nachts auch mal Glück, Knirps.“
Schatten hörte Gelächter und sah, dass er ein Publikum hatte, andere Jungtiere, die zu einem Ruheplatz auf einem Ast in der Nähe flatterten. Das ist ja prima, dachte er, alle werden die nächsten beiden Nächte darüber reden.
Chinook breitete seine eindrucksvollenFlügel aus und machte eine elegante Landung. Mit den beiden Fußkrallen hielt er sich an demAst fest und baumelte mit dem Kopf nach unten. Schatten beobachtete ihn mit einer Mischung aus Neid undWut, während die anderen zur Seite rückten, um Platz zu machen. Jarod war da, der sich nie mehr als eine Flügelspanne von Chinook entfernte. Er würde sogar während eines Gewitters über den Bäumen fliegen, wenn dieser ihn dazu aufforderte. Und da waren auch Yara und Osric und Penumbra. Sie waren immer zusammen. Schatten hatte keine Lust, sich zu ihnen zu gesellen, aber jetzt wegzufliegen hätte noch mehr wie eine Niederlage gewirkt.
Er ließ sich also auf dem Ast nieder, ein kleines Stückchen von den anderen entfernt. Sein rechter Unterarm schmerzte von dem Salto mitten in der Luft.
Knirps. Er hasste diese Bezeichnung, obwohl er wusste, dass sie zutraf. Im Vergleich zu Chinook und einigen anderen Jungtieren war er klein, sehr klein sogar.
Er war früh zur Welt gekommen. Mami war sich nicht einmal sicher gewesen, dass er überleben würde, hatte sie ihm später erzählt. Als Neugeborenes war er winzig gewesen und hatte kein Fell gehabt, seine Haut war schlaff und er selbst so schwach gewesen, dass er sich kaum im Pelz der Mutter festklammern konnte.
Sie hatte ihn überallhin getragen, sogar wenn sie auf die Jagd ging. Immer wenn Schattens schwache Krallen nachzugeben drohten, hatte sie ihn vorsichtig mit den eigenen festgehalten.
Durch ihre Milch war er allmählich kräftiger geworden.
Nach ein paarWochen konnte er sogar etwas von den vor- gekauten Käfern essen, die sie fing. Sein Fell begann zu wachsen, wurde glänzend und schwarz. Er nahm zu, nicht viel, aber genug. Und alle in der Kinderkolonie waren überrascht, als er zum ersten Mal in die Höhe sprang und sich mit wirbelnden Flügeln tatsächlich ein paar Sekunden lang in der Luft hielt, bevor er unbeholfen und unrühmlich auf dem Kinn landete. Er würde also doch am Leben bleiben.
Aber alle anderen in der Kinderkolonie, sogar die Mädchen, entwickelten sich schneller als er, bekamen einen breiteren Brustkorb, längere Flügel und kräftigere Arme, um sie zu bewegen. Chinook galt als das viel versprechendste Junge, als geschickter Flieger und Jäger. Schatten hätte alles dafür gegeben, einen Körper wie Chinook zu haben. Mit Sicherheit wollte er aber nicht sein Gehirn, denn das war so springlebendig und so tauglich wie ein Kieselstein.
„Chinook, das war ja unglaublich“, sagte Jarod begeistert.
„Wie du einfach auf die Motte herabgestürzt bist – fantastisch!“
„Das war schon die zweite heute Nacht.“
„Die zweite?“, sagte Jarod. „Nicht möglich! Du hast zwei geschnappt heute Nacht? Das ist ja…“ Seine Bewunderung schien grenzenlos. „Unglaublich!“
Schatten knirschte mit den Zähnen, während die anderen zustimmend murmelten.
Chinook schniefte verächtlich. „Ich hätte noch mehr gefangen, wenn es hier mehr zu jagen gäbe. So wie im Süden. Ich kann’s kaum erwarten, dorthin zu kommen.“
„Ja, klar“, stimmte Jarod zu und nickte heftig. „Natürlich ist’s im Süden besser. Erstaunlich, dass man hier oben überhaupt noch etwas zu essen bekommt. Ich kann’s auch kaum erwarten, dorthin zu fliegen.“
„Meine Mutter sagt, wir brechen in drei Nächten auf“, fuhr Chinook fort. „Und kommen wir erst nach Hiba-, Hiber- …“
„Hibernaculum“, murmelte Schatten.
„Genau“, sagte Chinook ohne ihn anzublicken. Es war, als ob Schatten überhaupt nicht da wäre. Daran war er gewöhnt, dass man ihn ignorierte. Er fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte etwas zu sagen. Es ärgerte ihn, wenn Chinook sich wie der King aufspielte und schwadronierte.
„Wenn wir also an diesen Ort kommen“, redete Chinook weiter, „schlafen wir in diesen ganz tiefen Höhlen mit diesen riesigen Eiszapfen, die von der Decke hängen.“
„Stalaktiten“, sagte Schatten. Er hatte seine Mutter danach gefragt. „Es sind keine Eiszapfen, sie bestehen aus Mineralien, die von der Decke herabtropfen. Es ist kein gefrorenes Wasser.“
Chinook beachtete ihn nicht, sondern redete weiter von den Eiszapfen in den Höhlen. Schatten zog eine Grimasse. Der Kerl war noch nicht einmal daran interessiert, die Dinge richtig zu stellen. Er kannte keinerlei Neugier. Dass Chinook überhaupt schon einmal Eis gesehen hatte, bezweifelte Schatten. Er selber hatte letzte Nacht zum ersten Mal welches erblickt. Kurz vor der Morgendämmerung war ihm in dem Bach, wo sie tranken, auf dem Wasser eine vom Ufer ausgehende durchsichtige Haut aufgefallen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, diese Haut zu testen, war niedrig darüber hingeflogen und hatte mit seinen hinteren Krallen draufgeschlagen. Beim zweiten Versuch
hatte er gefühlt, wie das Eis mit einem angenehmen Knistern nachgab. Auch die anderen Anzeichen des nahenden Winters hatte er während der vergangenen Wochen bemerkt: das wechselvolle Leuchten der fallenden Blätter, die beißende Frische der Luft. Aber das Eis hatte ihm klargemacht, dass der Winter wirklich nahe war, und das flößte ihm Angst ein.
Er dachte ungern an die bevorstehende Wanderung.
Hibernaculum war Millionen von Flügelschlägen entfernt, und er fürchtete, er wäre vielleicht nicht stark genug, um das zu schaffen. Auch seine Mutter musste sich Sorgen machen, sonst würde sie ihm nicht andauernd vorhalten, er müsse mehr essen. Und selbst wenn er dorthin gelangte – die Vorstellung, dass er dann vier Monate lang schlafen sollte, füllte ihn mit Entsetzen. Sie würden den ganzen Winter lang nichts essen, sondern nur schlafen, und ihre Körper würden vor Frost glitzern. Und was wäre, wenn er nicht einschlafen konnte? Was wäre, wenn er in der Höhle bloß da hing und alle anderen ringsum fest schliefen? Es war sowieso eine blöde Idee, so lange zu pennen. So eine Verschwendung! Vielleicht wären andere Fledermäuse dazu in der Lage, aber er wusste, dass er das nicht könnte. Es war einfach unmöglich. Manchmal war es schon schwer genug für ihn, nur einen ganzen Tag lang durchzuschlafen. Es gab doch so viel, was er tun musste: fliegen üben, besser zu landen lernen, besser zu jagen, einen Bärenspinner zu fangen. Er musste größer und stärker werden, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er das alles tun sollte, während er den Winter verschlief.
„Ich kann’s kaum erwarten, meinen Vater zu treffen“, sagte Chinook gerade.
„Ich auch nicht“, stimmte Rasha zu.
Und sofort sprachen alle über ihre Väter, wiederholten Geschichten, die sie von ihren Müttern und Schwestern über sie gehört hatten. Im Augenblick waren die Silberflügel in zwei Gruppen geteilt. Der Baumhort war die Kinderkolonie, wo die Weibchen ihre Jungen aufzogen. Weiter südöstlich verbrachten die Männchen den Sommer im Felsenlager. Wenn einmal die Wanderung einsetzte, würden sich die beiden Gruppen treffen und gemeinsam die lange Reise in den Süden nach Hibernaculum machen.
Schweigend hörte Schatten zu. Er fühlte, wie sich sein Gesichts- ausdruck verhärtete, und wünschte, dass sie alle den Mund hielten.
„Mein Vater ist riesig“, übertönte Chinook die anderen.
Er wartete nie, bis man ausgeredet hatte. Er platzte einfach hinein und jedes Mal verstummten alle anderen, um ihm zuzuhören. Schatten konnte nicht verstehen, warum sie das taten. Das Einzige, worüber Chinook jemals sprach, war, wie viel er gegessen hatte oder welcher seiner Muskeln nach seiner letzten Heldentat am meisten schmerzte.
„Die Flügel meines Vaters reichen von hier bis zu dem Baum da drüben, und er kann in einer Nacht zehntausend Käfer vertilgen und er ist schneller als sonst jemand in der Kolonie. Und einmal hat er mit einer Eule gekämpft und sie getötet.“
„Keine Fledermaus kann eine Eule töten“, schnauzte Schatten. Es war das Erste, was er nach längerer Zeit sagte, und die Wut in seiner Stimme überraschte ihn.
„Mein Vater schon.“
„Sie sind zu groß.“ Er wusste, dass Chinook nur angeben wollte, aber er konnte es nicht einfach so durchgehen lassen.


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Texte: Gulliver
Tag der Veröffentlichung: 19.05.2011

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