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1. Kapitel
»Raus, Junge! Du musst hier raus!«
Dave lag auf einem kratzenden Postsack.
»He! Du da drinnen!«
Die Sorge war immer ganz schnell wach. Noch bevor er die Augen aufmachte, tastete Dave nach der Geldkatze unter dem Hemd.
Sie war weg!
Er fuhr hoch. Er hätte nicht einschlafen dürfen!
Sie war doch nicht weg.
Dave spürte den Schlauch aus Baumwolle unter seinen Fingern.
Die schweren Münzen auf seinem Bauch. Die knisternden
Scheine. 332 Dollar.
Er lehnte sich zurück und holte tief Luft.
Trau keinem
, hatte Bob gesagt. Schau jedem unter die Haut!
Die Kutsche stand. Er hätte nicht einschlafen dürfen.
»Wird’s bald?« Der Schirrmeister verlor die Geduld. Dave hörte ihn vom Bock springen. Ein dumpfes Geräusch. Wie ein Sack Mehl, der von einer Schulter rutscht.
Waren sie da? Wie lange hatte er geschlafen? Die Vorhänge vor den Kutschenfenstern waren zugezogen und fest verhakt.
Doch draußen war es heller Tag. Grelles Licht in allen Ritzen.
Der Schirrmeister riss die Tür auf.
»Eingepennt oder was?«, knurrte er.
Dave musste blinzeln. Sonnenlicht wie aus Eimern. Die massige Gestalt des Schirrmeisters davor ganz schwarz. »Komm, raus da! Wir müssen die Säcke ausladen.«
Daves erster Versuch zu sprechen ging daneben. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. In seinem Hals brannte es.
»Sind wir … da?«, brachte er schließlich heraus.
»Da? Da? Na, irgendwo werden wir schon sein!«
Der Schirrmeister packte den ersten Postsack.
»Hör mal, Junge«, knurrte er. »Wir haben ein Problem mit der Kutsche. Der Schenkelstrang ist ausgeleiert. Wir kehren um, bevor er bricht. Du wartest hier einfach auf die nächste Kutsche. Ist bloß ein paar Stunden hinter uns. Alles klar?«
Dave nickte schwach. Er griff nach seinem Bündel. Seine Augen juckten.
Der Schirrmeister schnappte sich die letzten beiden Säcke.
Hunderte Briefe raschelten darin. Nachrichten von zu Hause, auf dem Weg in die Fremde.
Dave stolperte dem Schirrmeister hinterher. Auf einmal
stand er draußen. Der Wind war so heiß wie Fieberatem. Ein karger, abweisender, mächtiger Hügel war vomBüschelgras wie mit Pocken übersät. Darüber der Himmel, beinahe gelb. Die Hitze flirrte. Staub ringsum. Wie eine Fahne wehte er über dem Land.
Dave blinzelte zur Postkutschenstation hinüber – bloß zwei in der Sonne dorrende Hütten.
»Ist das Nevada?«, fragte er.
»Gottverdammt ja«, brummte der Schirrmeister. »Aber du
hast es ja so gewollt.«
In jeder Hand zwei Säcke, strebte er auf die Hütten zu.
»Sieh zu, dass sie die Säcke mitnehmen«, sagte er, scheinbar zu niemand Bestimmtem. »Dich und die Säcke.
Hörst du?«
Dave hörte, wie sich der Kutscher an einem der Kutschkästen zu schaffen machte. Noch mehr Postsachen. Der Kutscher lud sie aus. Er hatte die ganze Fahrt über geschwiegen. Lippen hatte er wohl nur, um draufzubeißen.
Allein der Schirrmeister sprach.
»Wo steckt denn der Kerl?«, knurrte er, als sie alles vor die kleinere der beiden Hütten gebracht hatten: die Postsäcke, die Postkisten und Dave. Der Schirrmeister sah sich um. Kein Stationsvorsteher zu entdecken.
»Na, egal.« Er wandte sich Dave zu. »Sagst du ihm halt, dass es der Schenkelstrang war. Ausgeleiert wie sonst was. Und lass dir was zu essen geben. Da kannst du dich waschen.«
Er wies auf eine Waschschüssel aus Blech, die gleich vor der Hütte stand.
Daneben ein Eimer. Ein sandiges Stück Kernseife im Dreck.
Der Kutscher war schon wieder weg. Dave sah ihn auf den Bock klettern, auf seinemHintern ein großer Flicken aus Leder.
»Na dann. Willkommen in Nevada«, brummte der Schirrmeister und auf einmal war Dave allein.
Er hörte die Peitsche knallen, hörte das heisere »Hüaa!« des Kutschers und sah die Kutsche in einem weiten Bogen wenden.
Er schaute ihr nach, bis sich der Staub, den sie aufwirbelte, legte. Nirgends ein Baum, der Schatten spendete. Auf einer Hügelkuppe, nur für einen Augenblick, die schleichende Gestalt eines ausgezehrten Kojoten.
Die Hütte sah gar nichts so anders aus als ihreHütte zu Hause in den Great Plains. Lehmfarbene Ziegel, darüber ein Dach aus Stroh und einer dicken Schicht Erde, von dürrem Unkraut überwuchert. Nicht viel mehr als ein Erdloch über Tage – die Dachrinne so tief, dass ein erwachsener Mann seinen Ellbogen auf ihr abstützen konnte.
Es war bloß ein Traum mit offenen Augen, aber für einen Moment war Dave zu Hause. Es war leicht, sich vorzustellen, wie Bob drinnen auf dem Bett läge, die gebrochene Schulter von allen Kissen gestützt, die sie hatten.Amy würde am Herd stehen, immer noch erst zehn Jahre alt, aber groß genug, um für zwölf
durchzugehen, und so furchtlos wie eine Mutter.
»Hallo, Dave«, würde Amy sagen, als käme er bloß von der Feldarbeit zurück.
»Hallo, Großer«, würde Bob sagen – und bestimmt ging es ihm schon besser. Wenn die verdammte Kuh Bob nicht umgerannt hätte, dachte Dave, dann wäre er jetzt nicht hier.
Aber ohne die Kuh, dachte er, wären sie auf den Plains verhungert.
Er hatte nicht einen Schritt getan, seit die Kutsche verschwunden war. Er stand zwischen den Postsäcken, blinzelte zu dem kahlen Hügel hinauf, unter den sich die beiden Stationsgebäude duckten,und überlegte,wann es angefangen hatte, schiefzulaufen.
Ohne den Hunger, ohne die verdammte Plackerei auf dem
Feld hätte Stick nie vom Silber zu reden begonnen, dachte er.
Stick war zwanzig, ein Jahr jünger als Bob, und irgendwann hatte er den Gedanken, dass es immer so weitergehen sollte, einfach nicht mehr ausgehalten. Stick hatte zu träumen angefangen:
»Mann, Bob, Nevada! Ganz Nevada ist aus Silber!«
Viele Männer in den Plains redeten vom Silber, und manchmal machte auch eine Zeitung die Runde: Gold in Kalifornien! Silber in Nevada!
, brüllten die Überschriften. Aber keiner der Männer klang wie Stick, wenn er darüber sprach, keiner hatte das Fieber in der Stimme.
»Ich find was, Bob«, hatte Stick immer wieder gesagt. »Und dann sind wir alle Sorgen los.«
Sie hätten sich nie trennen dürfen, dachte Dave. Alles hatte damit angefangen, dass Stick fortgegangen war. Wenn Stick nicht Stein und Bein geschworen hätte, dass er Silber finden würde, wäre Dave nicht hier.
Bob hätte Stick nicht gehen lassen dürfen, dachte er. Aber Bob war schwach geworden, schwach vor Hoffnung. Dave würde den Abend nie vergessen, als Bob schließlich Ja gesagt hatte. Über den Plains ging die Sonne unter und sie hatten vor der Hütte gesessen. Der Himmel war brandrot gewesen, und der einzige Baum weit und breit – der, unter dem sie Mutter und Vater beerdigt hatten – schien in Flammen zu stehen. Die Großen – Bob und Stick – hatten beieinandergesessen, die Unterarme hatten sie auf die Knie gestützt, die von der Feldarbeit großen, harten Hände ließen sie baumeln. Dave und Amy, die Kleinen, hatten ein wenig abseits gehockt. Alle vier Kellens beieinander – so wie es sein sollte. Wenn Ma und Pa sich nicht mit
den Masern angesteckt hätten, dachte Dave, wäre er nicht hier.
Damals waren gleich zwölf Siedler an den Masern gestorben, innerhalb weniger Wochen. »Wie die Fliegen«, hatte Stick gesagt.
Von dem Geld hatte nicht mal Bob etwas gewusst. Über dem Grab ihrer Elternwuchs schon Gras, als sie es schließlich fanden.
332 Dollar in einem Strumpf in einem Krug unter dem Bett.
Eigentlich war das schon fast die ganze Geschichte. Dave knüpfte sein Bündel auf, holte die Wasserflasche hervor und trank einen Schluck.
Stick war nach Nevada aufgebrochen. Bob war unter die
verrückte Kuh geraten, und als Sticks Brief kam, konnte er sich kaum rühren – auch wenn Matt Bascom, der noch am ehesten ein Doktor war, gesagt hatte, dass das mit der Schulter schon wieder werden würde.
Schickt Geld
, hatte Stick geschrieben. Alles, was wir haben. Ich kriege Anteile dafür. An einer Silbermine. Wir werden reich!
Der Brief war in Virginia City aufgegeben. Stick war irgendwo in den Bergen von Washoe. Im fernen Westen. Dave hatte noch nie vonWashoe gehört. Nevada war nicht einmal Teil der Vereinigten Staaten.
Er tastete wieder nach der Geldkatze. Er tat es zwanghaft, alle paar Minuten, wenigstens solange keiner zusah. Die heimlichen Ersparnisse seiner Eltern – zu schwer verdient, zu kostbar, um den eigenen Kindern davon zu erzählen. Vielleicht war das
überhaupt das Schlimmste: Wenn Dave nicht halb besinnungslos vor Angst war, das Geld zu verlieren, dann nagte das schlechte Gewissen an ihm. Er tat nicht recht daran, Stick das Geld zu bringen.
Trau keinem
, hatte Bob zum Abschied gesagt. Schau jedem unter die Haut!
Widerwillig wandte sich Dave der Hütte zu. Ging es nach ihm, musste der Stationsvorsteher gar nicht auftauchen. Die ständige Angst, sich zu verraten, zehrte ihn aus. Jeden Tag ein neuer Kutscher, alle 250 Meilen ein neuer Schirrmeister und alle zehn
Meilen wurden die Pferde gewechselt. Das machte hundertmal dieselben Fragen, und in jedem Gespräch huschte Dave von Deckung zu Deckung, während die Fragen wie Kugeln über ihn hinwegpfiffen. Am schlimmsten war es, wenn noch jemand in der Kutsche saß und ihn mit neugierigen Blicken durchbohrte.
Fünfzig Meilen lang hatte er einer spindeldürren Frau gegenüber- gesessen, die ihn am liebsten aufgeschnitten und in seinen Eingeweiden gelesen hätte.
Dave kam nie aus der Deckung. Jedes Mal behauptete er,
vierzehn zu sein – nicht erst zwölf. Und jedes Mal sagte er, dass seine Familie in Virginia City auf ihn warte. Und wenn ihm jemand unheimlich war, dann verriet er nicht einmal so viel.
»Ich heiße Jedediah Smith, Sir«, hatte er zu dem Mann mit dem großen Marinerevolver gesagt. »Ich fahre bloß bis nach Carson. Mein Onkel ist da Hilfssheriff.« Nachher hatte er sich geärgert, dass er nicht »Sheriff« gesagt hatte.
In der Hütte war es so dunkel wie im Bauch einer Kuh. Es gab nur ein Fenster, ein Loch ohne Glas, aber das war mit Mehlsäcken verhängt. Daves Augen brauchten eineWeile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nach und nach erst erkannte er mehr.
Der Boden war gestampft, er stand im Speiseraum. Ein Tisch, ein paar wackelige Stühle. In der Ecke ein Sack Mehl, davor ein halbes Dutzend Kaffeepötte aus Zinn und eine Blechkanne.
Von der niedrigen Decke baumelte eine Speckseite. Dave hörte Fliegen summen. Ein Vorhang trennte diesen Raum von einem zweiten.
»Hallo?«, krächzte Dave.
Er bekam keine Antwort.
Dave trat ein, eine Hand über dem Hemd in die Geldkatze verkrallt. Es kostete ihn einige Überwindung, den Vorhang zur Seite zu schieben. Der Vorhang war schwer und klebte vor Dreck.
»Hallo?«
Hier gab es gar kein Fenster. Dave roch Schweiß, er hörte jemanden atmen.
Dann entdeckte er den Stationsvorsteher. Er lag in einer der Kojen, die es in jeder Station gab und in denen manchmal die Kutscher ein, zwei Stunden lang schliefen. Der Vorsteher hatte sich nicht mal die Stiefel ausgezogen. Er lag bloß da, flach auf dem Bauch, und von Zeit zu Zeit grunzte er. Gleich neben der Koje stand eine Kürbisflasche. Der Vorsteher schlief seinen Rausch aus. Er stank.
Im Grunde war Dave erleichtert. Solange der Vorsteher
schlief, würde er nichts reden, nichts erzählen und nicht aufpassen müssen. Eine Weile sah er auf den Betrunkenen hinab.
Dann schlich er sich leise fort, tauchte unter dem Vorhang hindurch und ging wieder nach draußen. Am Wascheimer füllte er seine Flasche auf, dann suchte er sich ein halbwegs schattiges Plätzchen an der Hüttenwand. Er hockte sich hin, lehnte sich gegen die warmen Ziegel und streckte die Beine aus. Ringsum
rührte sich nichts, nur der gleichgültige Wind wirbelte da und dort Sand auf. Die Sonne brannte auf die nackten Hügel und die leere Prärie. Er würde die Kutsche schon von Weitem sehen, eine halbe Ewigkeit, bevor sie ankäme.
Er trank einen Schluck und verrieb einen Tropfen auf seinen trockenen Lippen. Er war in Nevada. Bis hierhin war er schon gekommen.
Copyright © 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel
Texte: Beltz & Gelberg Verlag
ISBN: 978-3407799852
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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