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PROLOG



EINE KATZE NACH der anderen kroch in die Höhle. Ihre Pelze waren schlammverkrustet, und in ihren angstvoll aufgerissenen Augen spiegelte sich das kalte Mondlicht, das durch einen Spalt in der Decke in die Höhle fiel. Mit dem Bauch dicht am Boden krochen sie vorwärts, ihre Blicke huschten von einer Seite zur anderen, als fürchteten sie sich vor Gefahren, die in den Schatten lauerten.
Das Mondlicht spiegelte sich in den Pfützen auf dem Höhlenboden.
Es beleuchtete einen Wald aus spitzen Steinen, die vom Boden aufragten und auch von der Decke hingen.
Einige Steine trafen aufeinander und bildeten schlanke Bäume aus leuchtend weißem Fels, zwischen denen ein eisiger Wind hindurchfuhr. Die Luft roch feucht und frisch, von fern hörte man das Tosen fallenden Wassers.
Eine Katze trat hinter einem der spitzen Steine hervor. Der Kater hatte einen langen, muskulösen Körper, und sein Pelz war vollständig mit getrocknetem Schlamm bedeckt, sodass ihm das Fell wie Stacheln vom Körper abstand und er wie eine Katze aus Stein aussah.
»Willkommen«, miaute er mit rauer Stimme. »Mondlicht liegt auf dem Wasser. Es ist Zeit für eine Weissagung, wie das Gesetz des Stammes der ewigen Jagd es vorschreibt.«
Eine der Katzen kroch vor und neigte den Kopf vor der schlammverkrusteten Katze.
»Steinsager, hast du ein Zeichen bekommen? Hat der Stamm der ewigen Jagd zu dir gesprochen?«
Eine weitere Katze erhob die Stimme. »Gibt es am Ende doch noch Hoffnung?«
Steinsager nickte bedächtig. »Ich habe die Worte des Stammes der ewigen Jagd aus dem Muster gelesen, welches das Mondlicht auf die Felsen warf, auch aus den Schatten des Gesteins und dem Geräusch der Wasser- tropfen, die von der Decke regneten.« Er hielt inne, ließ seinen Blick über die um ihn versammelten Katzen schweifen.
»Ja«, fuhr er fort. »Sie haben mir gesagt, dass es Hoffnung gibt.«
Ein leises Gemurmel wie das Rauschen von Blättern im Wind fuhr durch die Katzengruppe. Alle Augen schienen heller aufzuleuchten und ihre Ohren stellten sich auf. Die Katze, die nach vorn gekrochen war, miaute zögernd: »Dann weißt du, wer uns von dieser schrecklichen Gefahr erlösen wird?«
»Ja, Fels«, antwortete Steinsager. »Der Stamm der ewigen Jagd hat mir versprochen, dass eine Katze kommen wird. Eine silberne Katze aus einem fernen Stamm, die uns ein für alle Mal von Scharfzahn befreien wird.«
Es herrschte Schweigen, dann fragte eine Stimme aus den hinteren Reihen: »Dann gibt es also noch andere Katzen außerhalb des Stamms des eilenden Wassers?«
»Es muss so sein«, antwortete eine weitere Katze.
»Ich habe von Fremden gehört«, miaute Fels. »Obwohl wir hier zeit unseres Lebens keine gesehen haben. Aber wann wird die silberne Katze kommen?«, fragte er verzweifelt und
lautes Miauen erhob sich um ihn herum.
»Ja, wann?«
»Ist das wirklich wahr?«
Mit einer Bewegung seiner Schwanzspitze gebot ihnen Steinsager zu schweigen. »Ja, es ist wahr«, miaute er. »Der Stamm der ewigen Jagd hat uns noch nie belogen. Ich selbst habe das silberne Fell in einer mondbeschienenen Pfütze schimmern sehen.«
»Aber wann?«, drängte Fels.
»Das hat mir der Stamm der ewigen Jagd nicht gezeigt«, antwortete Steinsager. »Ich weiß nicht, wann die silberne Katze kommen wird. Auch nicht woher. Aber wenn sie eingetroffen ist, werden wir es erfahren.«
Er hob den Kopf zur Höhlendecke und seine Augen leuchteten wie zwei winzige Monde. »Bis das geschieht, Katzen meines Stammes, können wir nur warten.«

1. KAPITEL



STURMPELZ SCHLUG die Augen auf, blinzelte, um wach zu werden, und hatte Mühe, sich zu erinnern, wo er war. Statt in seinem Schilfnest im FlussClan-Lager lag er zusammengerollt auf trockenem, verdorrtem Farnkraut. Über seinem Kopf sah er das Erddach einer Höhle, an dem sich miteinander verwobene Zweige kreuzten. Aus der Ferne konnte er ein rhythmisches Rauschen hören. Es verwirrte ihn zunächst, bis ihm einfiel, dass sie sich nahe beim Wassernest der Sonne befanden, das den Rand des Landes unablässig umspülte. Er kniff die Augen zusammen, als ihm plötzlich das Bild vor Augen stand, wie er und Brombeerkralle im Wasser um ihrer beider Leben gerungen hatten, und er spuckte aus, als ihm wieder einmal der salzige Geschmack hinten in der Kehle aufstieg.
Zu Hause beim FlussClan war er an Wasser gewöhnt – die Katzen seines Clans waren die Einzigen, die sich in dem Fluss, der durch ihren Wald floss, gefahrlos aufhalten konnten –, aber dieses wogende, salzige, stoßende und ziehende Wasser war selbst für eine FlussClan-Katze zu stark, um sicher darin zu schwimmen.
Weitere Erinnerungen stürzten auf ihn ein. Der Sternen-Clan hatte Katzen aus allen vier Clans auf eine lange, gefahrvolle Reise geschickt, um zu erfahren, was Mitternacht ihnen zu sagen hatte. Sie hatten sich ihren Weg durch unbekanntes Gebiet erkämpft, hatten Zweibeinernester durchquert, Angriffe von Hunden und Ratten abgewehrt, um am Ende eine höchst unglaubliche Entdeckung zu machen: Mitternacht war eine Dächsin.
Sturmpelz spürte, wie ihm Eiseskälte in die Glieder kroch, als er sich an Mitternachts grauenhafte Botschaft erinnerte.
Zweibeiner zerstörten den Wald, um einen neuen Donnerweg zu bauen. Alle Clans würden fliehen müssen, und es war die Aufgabe der vom SternenClan auserwählten Katzen, sie zu warnen und sie in eine neue Heimat zu führen.
Sturmpelz setzte sich auf und sah sich in der Höhle um.
Durch den Tunnel, der zur Klippe hinaufführte, sickerte fahles Licht, dazu kam eine sanfte Brise frischer Luft, die den Geruch nach Salzwasser mit sich trug. Die Dächsin Mitternacht war nirgends zu sehen. Dicht neben Sturmpelz schlief Federschweif, seine Schwester, und hatte den Schwanz über die Nase gelegt. Gleich hinter ihr ruhte Bernsteinpelz, die temperamentvolle SchattenClan- Kriegerin. Erleichtert stellte Sturmpelz fest, dass sie entspannt dalag. Der Rattenbiss, den sie im Zweibeinerort abbekommen hatte, schien ihr jetzt nicht mehr so viele Schmerzen zu bereiten. Mitternacht hatte die Wunde mit Kräutern aus ihrem Vorrat versorgt, um die Infektion zu bekämpfen und ihr einen ruhigen Schlaf zu ermöglichen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle, ein bisschen weiter weg, lag der WindClan-Schüler Krähenpfote, dessen dunkelgraues Fell zwischen den Farnwedeln kaum zu erkennen war.
Nahe beim Höhleneingang hatte sich Bernsteinpelz’ Bruder Brombeerkralle neben Eichhornpfote ausgestreckt, die fest zusammen- gerollt schlief. Sturmpelz durchfuhr ein Stich der Eifersucht beim Anblick der beiden DonnerClan-Katzen, den er zu ignorieren versuchte. Es stand ihm nicht zu, Eichhornpfote mit ihrem Mut und dem unerschütterlichen Optimismus allzu sehr zu bewundern. Sie gehörten unterschiedlichen Clans an. Brombeerkralle würde viel besser zu ihr passen.
Sturmpelz wusste, dass er seine Gefährten wecken sollte, damit sie ihren langen Rückweg durch den Wald antreten konnten. Seltsamerweise zögerte er. Lass sie noch ein bisschen schlafen, dachte er. Für das, was vor uns liegt, brauchen wir all unsere Kraft.
Er schüttelte die Farnblätter aus dem Pelz und suchte sich einen Weg über den sandigen Höhlenboden und durch den Tunnel ins Freie. Eine steife Brise zauste ihm das Fell, als er den federnden Grasboden betrat. Nachdem er in der vergangenen Nacht fast ertrunken wäre, war sein Fell endlich getrocknet und der Schlaf hatte ihn erfrischt. Er ließ den Blick umherschweifen.
Direkt vor ihm lag der Rand der Klippe, und dahinter erstreckte sich eine endlose, schimmernde Wasserfläche, in der sich das fahle Morgenlicht spiegelte.
Sturmpelz öffnete das Maul, um die Luft aufzunehmen und den Geruch von Beute aufzuspüren. Stattdessen wurden seine Sinne von dem intensiven Gestank nach Dachs überflutet.
Er entdeckte Mitternacht, die auf dem höchsten Punkt der Klippe saß und ihre kleinen, glänzenden Augen fest auf die verblassenden Sterne geheftet hatte. Hinter ihr, am fernen
Ende der Moorlandschaft, tauchte ein Lichtstreifen auf, wo die Sonne bald aufgehen würde. Sturmpelz tappte zu ihr, neigte respektvoll den Kopf und setzte sich neben sie.
»Guten Morgen, grauer Krieger«, hieß Mitternacht ihn mit ihrer Polterstimme willkommen. »Schlaf war genug?«
»Ja, danke, Mitternacht.« Sturmpelz kam es immer noch seltsam vor, sich mit ihr freundlich zu unterhalten, da Dachse stets zu den Todfeinden der KatzenClans gehört hatten.
Mitternacht war jedoch kein gewöhnlicher Dachs. Sie schien dem SternenClan näher als jeder Krieger, wenn auch vielleicht nicht ganz so nahe wie Heiler-Katzen. Außerdem war sie weit gereist und hatte irgendwie so viel Weisheit erlangt, dass sie die Zukunft vorhersagen konnte.
Sturmpelz sah sie von der Seite an. Noch immer hatte sie die Augen auf die letzten Sterne am Morgenhimmel gerichtet.
»Kannst du da wirklich Zeichen vom SternenClan lesen?«, fragte er neugierig, in der vagen Hoffnung, dass die schrecklichen Botschaften der vergangenen Nacht im Licht des Morgens verschwinden würden.
»Vieles ist überall zu lesen«, antwortete die Dächsin. »In Sternen, in fließendem Wasser, in aufblitzendem Licht auf Wellen. Ganze Welt spricht, wenn Ohren offen, zu hören.«
»Dann bin ich wahrscheinlich taub«, miaute Sturmpelz.
»Mir kommt die Zukunft finster vor.«
»Ist nicht so, grauer Krieger«, krächzte Mitternacht. »Sieh her.«
Sie deutete mit ihrer Schnauze auf das Wasser, wo sich ein einzelner Krieger des SternenClans direkt über dem Horizont immer noch spiegelte. »SternenClan hat unser Treffen gesehen. Zufrieden sie sind, und Hilfe werden sie geben, wenn finstere Tage kommen.«
Sturmpelz sah zu dem funkelnden Lichtpunkt auf und stieß einen leisen Seufzer aus. Er war keine Heiler-Katze, die wusste, wie man sich mit den Kriegerahnen Zungen gibt.
Seine Aufgabe bestand darin, seine Kraft und sein Können in den Dienst seines Clans zu stellen – und jetzt, wie es schien, in den Dienst aller Waldkatzen. Mitternacht hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass alle Clans untergehen würden, wenn sie die althergebrachten Feindseligkeiten nicht überwinden könnten und diesmal nicht gemeinsam ans Werk gingen.
»Mitternacht, wenn wir nach Hause gehen …«
Seine Frage blieb unvollendet, ein Jaulen unterbrach ihn.
Er wandte sich um und sah, wie Eichhornpfote aus dem Tunnel zum Dachsbau gestürzt kam und mit zerzaustem Fell und gespitzten Ohren im Eingang stehen blieb.
»Ich bin am Verhungern!«, verkündete sie. »Wo gibt’s hier Beute?«
»Beweg dich und lass uns raus«, ertönte Krähenpfotes gereizte Stimme hinter ihr.
»Dann können wir es dir vielleicht sagen.«
Eichhornpfote hüpfte ein paar Schritte zur Seite, und der WindClan-Schüler tauchte auf, dicht gefolgt von Federschweif, die sich anschließend wohlig im Morgenlicht streckte. Sturmpelz erhob sich und sprang über das raue Moorlandgras, um seine Schwester Nase an Nase zu begrüßen. Er hatte eigentlich nicht zu den vom SternenClan erwählten Katzen gehört, aber er hatte darauf bestanden, die Reise mitanzutreten, um Federschweif zu beschützen. Da sie die Mutter verloren hatten und der Vater in einem anderen Clan lebte, standen sich die beiden viel näher als andere Geschwister.
Mitternacht kam hinter ihm hergetrottet und nickte den Katzen zur Begrüßung zu.
»Bernsteinpelz geht es heute schon viel besser«, berichtete Federschweif. »Sie sagt, ihre Schulter tut ihr kaum noch weh.«
An Mitternacht gewandt ergänzte sie: »Die Klettenwurzel, die du ihr gegeben hast, hat wirklich geholfen.«
»Wurzel ist gut«, polterte die Dächsin. »Jetzt reist verletzte Kriegerin gut.«
Und da trat auch schon Bernsteinpelz aus dem Tunnel.
Erleichtert stellte Sturmpelz fest, dass sie nach dem langen Schlaf viel kräftiger aussah und kaum noch hinkte.
Hinter Bernsteinpelz schob sich ihr Bruder Brombeerkralle ins Freie und blieb blinzelnd im Licht der aufgehenden Morgensonne stehen.
»Es ist schon fast hell«, miaute er. »Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.«
»Aber erst müssen wir was essen!«, jammerte Eichhorn- pfote.
»Mein Magen grollt lauter als die Monster auf dem Donnerweg! Ich könnte einen Fuchs vertilgen, mit Fell und allem Drum und Dran.«
Sturmpelz musste ihr beipflichten. Der Hunger nagte auch in seinem Bauch, und er wusste, dass sie die lange und anstrengende Rückreise durch den Wald ohne Nahrung nicht schaffen würden. Dennoch teilte er Brombeerkralles Ungeduld.
Wie würden sie sich fühlen, wenn sie zu lange trödelten und dann feststellen müssten, dass Katzen deswegen gestorben waren?
Ein Ausdruck von Ungeduld und Ärger huschte über Brombeerkralles Gesicht und mit fester Stimme antwortete er: »Wir werden unterwegs Beute machen. Wenn wir erst wieder in den Wäldern sind, können wir uns eine anständige Jagd leisten.«
»Besserwisserischer Fellball«, murmelte Eichhornpfote.
»Brombeerkralle hat recht«, miaute Bernsteinpelz. »Wer weiß, was zu Hause passiert? Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Zustimmendes Miauen erhob sich unter den übrigen Katzen.
Sogar Krähenpfote, der Brombeerkralles Entscheidungen noch häufiger infrage stellte als Eichhornpfote, hatte keine Einwände.
Erstaunt erkannte Sturmpelz, wie ihre lange Reise und die Bedrohung aller ihrer Clans aus einem Haufen streitsüchtiger Rivalen eine vereinte starke Gruppe gemacht hatten, die nur ein Ziel verfolgte: ihre Clan- Gefährten zu retten und das Gesetz der Krieger zu wahren, das sie so lange Zeit beschützt hatte. Ein warmes Gefühl der Zusammengehörigkeit durchströmte Sturmpelz. Seine Loyalität zum FlussClan war kompliziert – nie konnte er vergessen, dass andere Krieger ihm und Federschweif gegenüber misstrauisch waren wegen ihres HalbClan- Erbes –, aber hier hatte er Freunde gefunden, die ihm zur Seite standen, ohne ständig über Clan-Unterschiede nachzudenken.
Brombeerkralle trat zu Mitternacht und neigte den Kopf.
»Der Dank aller Clans möge dich begleiten«, miaute er.
Mitternacht knurrte. »Zeit ist noch nicht für Abschied- nehmen.
Komme ich mit bis zu den Wäldern, will sichergehen, dass ihr wisst den richtigen Weg.« Und schon trottete sie los.
Der Himmel vor ihnen war hell geworden, als die Sonne ihren Weg über den Horizont antrat. Sturmpelz blinzelte dankbar in das gelbe Licht. Die untergehende Sonne hatte ihre Reise zum Wassernest der Sonne begleitet, nun würde die aufgehende Sonne ihnen den Heimweg weisen.


Copyright © 2010 Beltz Verlag

Impressum

Texte: ISBN: 978-3407810847
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2011

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