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Eins mit der Dunkelheit



Wenn die anderen Taucher außerhalb der Station waren, schalteten sie sofort die Lampen an und verließen sich auf ihren starken Schein, der die kahle Landschaft des Meeresbodens erhellte. Leon hatte immer das Gefühl, dass sie verzweifelt die Finsternis zurückzudrängen versuchten. Doch die Dunkelheit umgab sie, sie konnten ihr sowieso nicht entgehen, und die dünnen Lichtfinger der Kopf- und Handlampen fand Leon eher jämmerlich.
Dadurch entging den anderen mehr, als sie sahen.
Leon mochte die Dunkelheit der Tiefsee. Wenn er allein tauchte oder mit Lucy, dann schaltete er oft die Lampe ab.
Die völlige Schwärze machte ihm nichts aus, irritierte ihn nicht – die Dunkelheit umhüllte ihn wie ein Mantel und er fühlte sich geborgen in ihr. Nach einer Weile hatten sich seine Augen an die Umgebung gewöhnt, und er sah das, was die anderen verpassten. Das schwache Leuchten der Tiefseegarnelen.
Den glimmenden Punkt, der einen Anglerfisch verriet – über seinem unförmigen Körper hing eine verlängerte Flosse, die einer Angel glich. Mit der wie eine Laterne leuchtenden Spitze lockte er Beute vor sein zähnegespicktes Maul. Das schnelle Blink-Blink eines Blitzlichtfisches, der die leuchtenden Flecken unter seinen Augen buchstäblich an- und ausknipsen konnte, indem er ein Lid darüberschob.
Seine Nachbarn. Sie störten sich nicht an ihm, wenn er sich unter ihnen bewegte. Er war ein Teil dieser Welt.
Tief sog Leon mit Sauerstoff angereicherte Flüssigkeit, von seinem Anzug bereits auf Körpertemperatur angewärmt, in seine Lungen. Schon längst fühlte es sich nicht mehr fremd an, etwas Ähnliches wie Wasser zu atmen – schließlich machten das Fische und Kraken die ganze Zeit, mit ihren Kiemen nutzten sie den Sauerstoff im Meer. Ihm kam es viel seltsamer vor, Luft zu atmen, ein so dünnes Zeug, dass man richtig japsen musste.
Etwas ringelte sich um sein Handgelenk. Lucy war wieder da. Schon bei dieser leichten Berührung spürte er die Kraft, die in den muskulösen Armen seiner Krake steckte – sie war um ein Vielfaches stärker als er. Auch ein Grund, warum er die Tiefe und die Dunkelheit nicht zu fürchten brauchte.
Leon tastete nach Lucys Gedanken, spürte den Kontakt mit ihr wie eine freundliche Wärme, die ihn umhüllte.
Und, was gefunden?

, erkundigte er sich.
Mein Freund, ein paar Krusten gibt es von hier nicht weit, da werden sie sich freuen!


Leons Puls beschleunigte sich. Führst du mich hin?


Ja, komm! Lucy berührte noch einmal seinen Arm, wies ihn in die richtige Richtung, und Leon schwamm, ohne zu zögern, in die Dunkelheit hinein. Er hatte nicht das Gefühl, hier blind zu sein – Lucys Augen, mehr als dreimal so groß
wie seine eigenen und perfekt an die Tiefsee angepasst, sahen für ihn. Und für den Notfall hatte er immer noch die Navigationsfunktion an seinem DivePad, einem speziellen Tauchcomputer, den er am Handgelenk trug.
Er zweifelte nicht daran, dass es tatsächlich Mangan- krusten waren, die seine Krake gefunden hatte – wenn Lucy den Boden mit den Armen abtastete, konnten ihre Saugnäpfe die Stoffe des Bodens riechen und schmecken. Hoffentlich war es eine große Erzlagerstätte, die Lucy entdeckt hatte; sie brauchten dringend einen Erfolg. Das bisherige Feld JT-203 war schon fast ausgebeutet und die Anfragen der Zentrale wurden immer drängender, die Blicke des Projektleiters immer anklagender. Wieso findet deine Krake nichts?, hieß dieser Blick. Was machst du falsch, Leon?
Bevor er es sich versah, war er schon dabei, sich in Gedanken zu rechtfertigen, und es kostete ihn Mühe, die lautlose Diskussion abzuwürgen. Das war ein Nachteil der Dunkelheit und der Stille hier unten. Es gab viel Raum zum Nachdenken, und wenn man nicht aufpasste, liefen die schlechten Gedanken Amok und vergifteten den ganzen Kopf.
Neulich hatte er eine kleine Ewigkeit lang darüber nachgegrübelt, wieso jemand eine Plastikbox mit der Aufschrift Schokolade

unter der Decke seiner Schlafkoje versteckt hatte. Erst hatte er gedacht, es könnte ein Geschenk sein, aber der Behälter war leer. Sollte das so eine Art Vorwurf sein, dass er zu viel Schokolade aß? Oder eine Racheaktion?
Wenn Ellard, sein Ausbilder, das Ding zufällig gefunden hätte, wären ihm peinliche Fragen sicher gewesen. Die Rationen der jungen Taucher enthielten sorgfältig ausgewogene Nährstoffe, und die seltenen Lieferungen mit Süßigkeiten, die von der Oberfläche zu ihnen kamen, wurden streng kontrolliert. Aber wer auf der Station wollte ihm schaden?
Sein Kumpel Julian bestimmt nicht. Vielleicht Billie? Sie war eigentlich sehr nett, aber neulich hatte sie ihn so seltsam von der Seite angeschaut. Oder Tom…?
Algenschleim! Mach den aus deinem Kopf,

schimpfte Lucy. Da sind wir, da!


Jetzt musste Leon doch die Lampe einschalten. Ja, da waren sie. Aufgeregt blickte er sich um. Eine dicke graue Mangankruste überzog den Hang, es war ein ganz neues Feld.
Das würde eine gute Ernte werden, dieses hässliche Zeug enthielt Metalle im Wert von vielen Hunderttausend Dollar: Mangan, Kobalt, Nickel und Platin. Metalle, die an der
Oberfläche der Erde kaum noch zu finden waren.
Leon zog Werkzeug aus seinem Gürtel und löste einen großen Klumpen aus dem Boden, der später in der Station analysiert werden konnte. Durch die hauchdünne Oberfläche seines Anzugs fühlte er das Gestein, als hielte er es in der bloßen Hand. Das ist ganz schön schwer, hilf mir doch mal!
Hast du schlechten Fisch im Bauch?, stichelte Lucy. Soll ich dir einen guten fangen? Oder eine Meeresschnecke? Soll ich?
Kannst du selber essen, Lästermaul,

schickte Leon zurück.
Los, jetzt pack schon mit an!


Das tat sie dann auch, ringelte zwei ihrer rötlich braunen, dicht mit Saugnäpfen besetzten Arme darum und hob den Brocken mühelos in seinen Sammelbeutel. Leon schickte ihr einen lautlosen Dank und speicherte die Koordinaten
seines Standorts auf dem DivePad. Zwanzig Meilen nördlich der größten Hawaii-Insel, die alle nur Big Island nannten.
Dann war es Zeit, sich über die Ultraschall-Sprech- verbindung zu melden; nach den nervigen letzten Wochen freute er sich schon auf eine gehörige Portion Lob und Dank.
»Station Benthos II, Leon hier. Benthos II, bitte melden.«
So zu sprechen wie an Land ging in der OxySkin nicht, doch das DivePad übersetzte seine Mundbewegungen in hörbare Sprache.
»Leon – na endlich.« Es war Ellard und er klang gereizt.
»Wie schön, dass du dich auch mal meldest. Und wieso bist du wieder so lang draußen geblieben? Zwei Tage sind das jetzt!«
»Schon zwei Tage?« Leon heuchelte Überraschung. Sollten sie ruhig denken, dass einem hier unten das Zeitgefühl verloren ging.
»Wir müssen reden, Leon, wirklich, so geht das nicht weiter. Es gefällt mir nicht, dass du sogar da draußen schläfst, das ist …«
Langsam wurde das Gespräch unangenehm, wie so oft in letzter Zeit. Zum Glück hatte Leon diesmal einen Trumpf, den er ausspielen konnte. »Ach übrigens, Ellard–wir haben was gefunden …«
Bingo. Ellard sprang sofort auf das Thema an. »Ein neues Feld?«
»Ja, sieht gut aus. Wird uns wieder ein paar Wochen lang
beschäftigen.«
»Welche Tiefe?«
»Etwas über achthundert Meter.«
»Perfekt!« Leon hörte die Erleichterung in Ellards Stimme.
»Glückwunsch! Soll ich ein Tauchboot schicken, das euch abholt?«
Komm schon jetzt! Schwimmen wollen wir, schwimmen,

drängelte Lucy. Oder Verstecken spielen bitte, bitte, jetzt!
Heute nicht, leider.

Leon wusste, dass sie sein ehrliches Bedauern spüren würde. In Gedanken zu lügen ging einfach nicht. Wir müssen zurück. Sonst kriege ich noch mehr Ärger.
»Nee, lass mal, wir brauchen kein Tauchboot«, sagte er zu Ellard und verabschiedete sich.
Leon warf einen Blick auf sein DivePad, das ihm den Weg zurück zu seiner Heimatstation wies, schaltete die Lampe wieder ab und ließ dafür seinen Scooter an. Der knallgelbe, eineinhalb Meter lange Torpedo war ein praktisches Fortbewegungsmittel für mittlere Entfernungen, und Leon fand es sehr entspannend, sich davon durchs Wasser ziehen zu lassen.
Selbst mit dem Scooter würden sie einen halben Tag für die Rückkehr brauchen. Aber das war kein Problem – die Atemluft konnte ihm nicht ausgehen, er holte sich ja alles, was er brauchte, direkt aus dem Meer. Die gesamte Oberfläche seines OxySkin-Anzugs zog pausenlos Sauerstoff aus dem Wasser und gab dafür das ausgeatmete Kohlenstoffdioxid ab.
Lucy glitt neben ihm dahin. Sie konnte voranschießen wie eine Rakete, indem sie Wasser in die weiche Höhle ihres Körpersacks aufnahm und schnell wieder ausstieß. Dabei wölbte und streckte sie die fast zwei Meter langen Arme,
ihr ganzer Körper wogte. Leon fand, dass sie einen sehr eleganten Schwimmstil hatte. Doch lange hielt sie das Tempo nicht durch; meist saugte sie sich nach ein paar Minuten am Scooter fest und ließ sich ebenso mitziehen wie ihr menschlicher Partner.
Leon kannte die Gegend und wusste, dass sie sich nun am Rand des Kohala Canyons entlangbewegten. In dieser Unterwasserschlucht fiel der Meeresboden bis auf viertausend Meter ab. Es wäre kein Problem gewesen, quer darüberzuschwimmen – man bewegte sich einfach weiter geradeaus, schwerelos über den schier endlosen Abgrund hinweg. Oft fiel es Leon in solchen Situationen schwer zu sagen, wo oben und unten war, aber das störte ihn nicht weiter, er war es gewohnt. Doch jetzt wollte er am Sockel der Insel entlang zurückkehren, vielleicht war ja heute sein Glückstag und er entdeckte noch mehr Mangan- krusten. In fünfhundert Meter Tiefe, knapp über dem Meeresboden, wandte er sich nach Norden.
Der erste Hinweis darauf, dass es vielleicht doch kein Glückstag werden würde, kam von Lucy. Es waren nur Gedankenfetzen, die Leon auffing. Kawon … sie kommen hoch … rotes Wasser … großviele sind es!


Was?, hakte Leon irritiert nach. Was ist rotes Wasser? Lucy nahm Farben nicht mit den Augen wahr, sondern mit anderen Sinnen – sie spürte sie eher. Leon hatte nie herausgefunden, ob seine Partnerin mit den Farbworten, die sie ab und zu benutzte, wirklich das Gleiche meinte wie ein Mensch.
»Kawon« dagegen verwendete sie immer mal wieder, damit bezeichnete sie andere Wesen ihrer Art.
Da! Sie kommen!

Lucys Gedanken waren so heftig, dass Leon instinktiv den Scooter stoppte und seine Lampe einschaltete.
Es lohnte sich, so etwas hatte er noch nie gesehen.
Der Lichtstrahl erhellte unzählige etwa handlange Körper im nachtschwarzen Wasser um sie herum. Kalmare! Eng mit den Kraken verwandt, aber zehnarmig. Es war ein Schwarm von vielleicht sogar tausend Tieren und er hatte es richtig eilig. Die Kalmare schossen noch schneller durchs Wasser als Lucy vorhin.
Die sind auf der Flucht, stellte Leon verdutzt fest. Was ist da vorne los, jagt ein Pottwal?


Eine Welle des Unbehagens schwappte aus Lucys Gehirn auf ihn über. Nicht Pottwal – rotes Wasser!

Ihre Arme ringelten sich um ihn, verkrampften sich um eins seiner Beine.
Leon wurde nervös. Ihm dämmerte, wie seine Partnerin auf das »Rot« kam. Rot waren die Warnsymbole auf der Außenseite von Benthos II und ein rotes Licht begann zu rotieren, wenn in der Station Alarm ausgelöst wurde. Rot hieß Gefahr.
Hastig drehte er sich im Wasser um die eigene Achse, ließ den Schein in Richtung Meeresboden wandern, versuchte zu erkennen, was genau Lucy so bedrohlich fand. Auf den ersten Blick sah er nichts Besonderes, nichts, was die Kalmare erschreckt haben könnte. Vielleicht war es nur ein kleiner Erdrutsch gewesen – Kalmare und Kraken waren ängstliche Tiere.
Doch dann fiel ihm auf, dass er schon länger keinen Fisch mehr gesehen hatte. Auf dem Meeresboden vor ihm entdeckte er zwar ein paar Muscheln und Seesterne; aber auf den zweiten Blick erkannte er, dass sie alle tot waren. Da vorne lag der Kadaver eines Stelzenfischs – normalerweise konnten solche Fische mithilfe ihrer drei langen, spitzen Bauchflossen auf dem Meeresboden stehen und warteten so auf Beute.
Weit und breit nur Leichen!

, schickte Leon beunruhigt zu seiner Partnerin hinüber – und merkte plötzlich, dass ihm das Atmen schwerfiel. Er musste immer mehr Flüssigkeit einsaugen und wieder ausstoßen, damit sein Körper genug Sauerstoff bekam. Schnell kontrollierte er die Einstellungen seines Anzugs, doch an der OxySkin lag es nicht.
Du hast recht, irgendetwas stimmt hier nicht mit dem Wasser,

durchzuckte es ihn, aber von Lucy kam keine Antwort
mehr, sondern nur noch ein panisches Weg hier, weg, Leon, schnell, komm!


Sie löste sich von ihm und sauste davon.


Copyright © Beltz & Gelberg Verlag


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Texte: Beltz & Gelberg Verlag ISBN 978-3407810823
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2011

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