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PROLOG



DER VOLLMOND schwebte am Himmel und ergoss sein kaltes Licht über den Wald. In den Blättern von vier massiven Eichen murmelte eine schwache Brise, Licht- flecken und Schatten zogen über das Fell der vielen Katzen, die in die Senke unterhalb der Bäume glitten.
Aus den Büschen, die die Senke begrenzten, tauchte ein muskulöser, rotbrauner Kater auf. Er setzte über die Lichtung und sprang auf einen großen Felsblock, der in der Mitte aufragte.
Dort warteten schon drei andere Katzen. Eine von ihnen, eine Kätzin mit hellbraun getigertem Fell, senkte grüßend den Kopf.
»Willkommen, Rotstern«, miaute sie. »Wie steht’s mit Beute im DonnerClan?«
»Wir haben genug, danke, Birkenstern«, antwortete der Anführer des DonnerClans. »Alles in Ordnung im Fluss- Clan?«
Bevor Birkenstern antworten konnte, kam ihr einer der anderen Anführer zuvor, der ungeduldig mit seinen Krallen über den Felsen kratzte.
»Wir sollten endlich mit der Großen Versammlung beginnen«, knurrte er. »Wir verschwenden unsere Zeit.«
»Wir können noch nicht anfangen, Blitzstern«, miaute die vierte Katze, in deren hellbraunem Fell sich das schimmernde Sternenlicht fing. »Wir sind noch nicht vollständig.«
Blitzstern schnaubte ungeduldig.
»Der WindClan hat Besseres zu tun, als herumzusitzen und auf Katzen zu warten, die sich nicht um rechtzeitiges Erscheinen scheren.«
»Schaut!« Rotstern deutete mit dem Schwanz zum oberen Rand der Senke, wo sich der Umriss eines Katers gegen das bleiche Mondlicht abhob. Einen Herzschlag lang stand er bewegungslos da, dann machte er eine Bewegung mit dem Schwanz und verschwand in den Büschen. Weitere Katzen folgten ihm, ergossen sich über den Rand der Senke. Die Zweige raschelten, als sie den Abhang herabströmten.
»Seht!«, miaute Morgenstern. »Endlich kommt der Wolken- Clan.«
»Wird auch Zeit«, murmelte Blitzstern. »Wolkenstern!«, rief er der ersten Katze zu, die auf der Lichtung auftauchte.
»Warum kommt ihr so spät?«
Der Anführer des WolkenClans war für einen Kater klein, hatte einen geschmeidigen Körper und einen wohl- geformten Kopf. Sein Fell war hellgrau mit weißen Flecken wie Wolken. Er gab keine Antwort auf Blitzsterns Frage, sondern schob sich durch die Katzen und sprang auf den Felsblock zu den anderen Anführern.
Hinter ihm tauchten immer mehr Katzen aus dem Gebüsch auf. Eine Gruppe junger Schüler kam vorsichtig nach vorn. Sie drängten sich aneinander, hatten die Augen weit aufgerissen in einer Mischung aus Angst und Aufregung. Ihnen folgten die Ältesten des Clans, einige humpelten. Zwei Kätzinnen trugen je ein winziges Junges im Maul, ältere Junge stolperten müde neben ihnen her, während die übrigen Krieger einen schützenden Kreis um sie bildeten.
»Beim großen SternenClan!«, rief Blitzstern.
»Wolkenstern, man könnte glauben, du hast deinen ganzen Clan zur Großen Versammlung mitgebracht.«
Wolkenstern erwiderte fest den verwirrten Blick des Wind-Clan-Anführers.
»Ja«, miaute er, »das habe ich.«
»Und warum im Namen des SternenClans?«, fragte Birkenstern.
»Weil wir nicht länger auf unserem Territorium leben können«, erklärte ihr der Anführer des WolkenClans. »Zweibeiner haben es zerstört.«
»Was?« Rotstern trat vor. »Meine Patrouillen haben zwar mehr Zweibeiner auf eurem Territorium gemeldet und Lärm von Monstern, aber die können es doch unmöglich ganz zerstört haben.«
»Doch, das haben sie.« Wolkenstern starrte über die Lichtung, als sähe er etwas anderes anstelle der mond- beschienenen Büsche.
»Sie sind mit riesigen Monstern gekommen, haben unsere Bäume umgestoßen und die Erde aufgewühlt. Alle Beute ist tot oder verscheucht. Die Monster kauern nun um unser Lager herum und warten darauf, sich auf uns zu stürzen. Das Zuhause des WolkenClans ist verschwunden.«
Er wandte sich zu den anderen Anführern und fuhr fort: »Ich habe meinen Clan hierhergebracht, um euch um Hilfe zu bitten. Ihr müsst uns etwas von euren Territorien überlassen.«
Protestgeheul erhob sich unter den Katzen am Fuße des Felsens.
Am Rand der Lichtung drängten sich die WolkenClan- Katzen zusammen, außen die stärksten Krieger, als machten sie sich auf einen Angriff gefasst. Blitzstern antwortete als Erster.
»Du kannst nicht einfach hier auftauchen und Teile unseres Territoriums verlangen. Wir schaffen es jetzt schon kaum, unseren eigenen Clan zu ernähren.«
Rotstern trat nervös von einer Pfote auf die andere.
»Beute gibt es jetzt in der Blattgrüne genug, aber was wird, wenn erst der Blattfall kommt? Dann wird der DonnerClan nichts davon entbehren können.«
»Und der SchattenClan auch nicht«, miaute Morgenstern.
Sie erhob sich von ihrem Platz am Rand des Felsens und starrte Wolkenstern mit ihren grünen Augen heraus- fordernd an.
»Mein Clan ist größer als alle anderen. Wir brauchen jede Pfotebreit Boden, um unsere eigenen Katzen zu ernähren.«
Wolkensterns Blick richtete sich auf die einzige Anführerin, die noch nichts gesagt hatte.
»Birkenstern? Was meinst du?«
»Ich würde euch gerne helfen«, miaute die Anführerin des FlussClans.
»Wirklich! Aber der Fluss führt wenig Wasser, und es ist schwieriger als jemals zuvor, genügend Fisch zu fangen. Außerdem wissen Katzen des WolkenClans nicht, wie man fischt.«
»So ist es«, bestätigte Blitzstern.
»Und nur WindClan-Katzen sind schnell genug, um Kaninchen und Vögel auf dem Moor zu fangen. Es gibt nirgendwo einen Platz auf unserem Territorium, wo ihr ein Lager aufschlagen könntet. Ihr hättet es bald satt, unter Ginsterbüschen zu schlafen.«
»Und was soll mein Clan also tun?«, miaute Wolkenstern.
Schweigen breitete sich über die Lichtung aus, als hielte jede Katze den Atem an. Rotstern brach dieses Schweigen mit einem einzigen Wort: »Zieht weg.«
»Richtig.«
In Blitzsterns Stimme war ein leises Fauchen zu hören.
»Verlasst den Wald und sucht euch einen anderen Ort, weit genug weg, damit ihr nicht unsere Beute stehlen könnt.«
Unten auf der Lichtung erhob sich eine junge schwarz- silberne Kätzin auf die Pfoten.
»Blitzstern«, rief sie, »als deine Heilerin muss ich dir sagen, dass es dem SternenClan nicht gefallen wird, wenn wir den WolkenClan vertreiben. Es hat immer fünf Clans im Wald
gegeben.«
Blitzstern schaute auf seine Heilerin hinab. »Du behauptest, du kennst den Willen des SternenClans, Lerchenflügel.
Aber kannst du mir auch erklären, warum der Mond noch scheint? Wenn der SternenClan nicht damit einverstanden wäre, dass der WolkenClan den Wald verlässt, würde er Wolken schicken, die den Himmel bedecken.«
Lerchenflügel schüttelte den Kopf, doch auf die Frage ihres Anführers konnte sie nichts erwidern.
Wolkensterns riss ungläubig die Augen auf. »Fünf Clans haben länger in diesem Wald gelebt, als irgendeine Katze zurückdenken kann. Bedeutet euch das gar nichts?«
»Die Dinge ändern sich«, erwiderte Rotstern. »Ist es nicht möglich, dass sich auch der Wille des SternenClans geändert hat? Er hat jedem Clan die notwendigen Fähigkeiten gegeben, dass er in seinem Territorium überleben kann. FlussClan-Katzen können gut schwimmen. DonnerClan-Katzen sind gut darin, sich an Beute im Unterholz anzuschleichen. WolkenClan-Katzen können hinauf in die Bäume springen, weil es nicht viel Deckung in ihremTerritorium gibt. Bedeutet das nicht, dass kein Clan im Territorium eines anderen Clans leben könnte?«
Ein magerer Kater mit zerzaustem schwarzem Fell erhob sich von seinem Platz unter dem Felsen. »Du sagst immer wieder, dass der SternenClan fünf Clans im Wald haben möchte, aber bist du dir sicher, dass das stimmt? Es gibt vier Eichen hier im Baumgeviert. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass es nur vier Clans geben soll.«
»Der WolkenClan gehört nicht hierher«, fauchte ein silbern Gestreifter neben ihm.
»Lasst sie uns jetzt vertreiben.«
Die WolkenClan-Krieger sträubten alle gleichzeitig das Fell und entblößten lange, scharfe Krallen.
»Halt!«, rief Wolkenstern. »Krieger des WolkenClans, wir sind keine Feiglinge, aber diese Schlacht können wir nicht gewinnen. Heute Nacht haben wir gesehen, was das Gesetz der Krieger wert ist. Von jetzt an sind wir allein, und wir werden uns auf keine andere Katze mehr verlassen, sondern nur noch auf uns selbst.«
Er sprang vom Großfelsen hinab und bahnte sich einen Weg durch seine Krieger, bis er einer schönen, hellbraun gestreiften Kätzin gegenüberstand. Zwei winzige Junge maunzten jämmerlich zu ihren Pfoten.
»Wolkenstern«, murmelte die Kätzin bekümmert. »Unsere Jungen sind zu klein für eine lange Reise. Ich bleibe mit ihnen hier, falls ein Clan uns aufnehmen will.«
Falkenflügel, der Heiler des DonnerClans, drängte sich zwischen zwei WolkenClan-Kriegern hindurch, ohne auf deren Knurren zu achten, und beugte sich hinab, um an den Jungen zu schnüffeln.
»Ihr seid im DonnerClan willkommen.«
»Bist du dir da so sicher?«, forderte ihn Wolkenstern heraus.
»Nach allem, was dein Anführer heute zu uns gesagt hat?«
»Ich glaube, mein Anführer war im Unrecht«, miaute Falkenflügel.
»Aber er wird keine hilflosen Jungen dem Tod über- antworten. Sie werden im DonnerClan eine Zukunft haben, und du auch, Vogelflug.«
Die hellbraune Kätzin neigte den Kopf. »Danke.« Sie wandte sich zu Wolkenstern, Kummer überschwemmte ihre bernsteinfarbenen Augen. »Dann ist das jetzt der Abschied.«
»Nein, Vogelflug!« rief der Anführer des WolkenClans entsetzt.
»Wie kann ich dich jemals verlassen?«
»Das musst du.« Vogelflugs Stimme bebte. »Unser Clan braucht dich, aber unsere Jungen brauchen jetzt mich.«
Wolkenstern neigte den Kopf. »Ich werde auf dich warten«, flüsterte er. »Ich werde immer auf dich warten.«
Er presste die Schnauze gegen ihre Flanke. »Bleib bei Falkenflügel. Er wird Krieger finden, die dir helfen, die Jungen ins Lager des DonnerClans zu tragen.«
An den Heiler gewandt fügte er hinzu:
»Kümmere dich um sie.«
Falkenflügel nickte. »Das werde ich.«
Mit einem letzten schmerzvollen Blick auf seine Gefährtin gab Wolkenstern seinem restlichen Clan mit dem Schwanz ein Zeichen. »Folgt mir.«
Er schritt voran zum Anstieg, aber bevor er in die Büsche eintauchte, rief Rotstern vom Großfelsen herab: »Möge der SternenClan mit euch sein!«
Wolkenstern drehte sich um und heftete einen kalten Blick auf den Kater, den er einst seinen Freund genannt hatte.
»Der SternenClan kann gehen, wohin er will«, fauchte er. »Er hat den WolkenClan verraten. Von heute an will ich nichts mehr mit unseren Kriegerahnen zu tun haben.«
Er achtete nicht darauf, wie die Katzen in seiner Umgebung erschrocken die Luft anhielten, darunter auch einige aus seinem eigenen Clan.
»Der SternenClan hat zugelassen, dass die Zweibeiner unser Zuhause zerstören. Er blickt jetzt auf uns herab und lässt den Mond weiterscheinen, während ihr uns vertreibt. Er hat gesagt, es würde immer fünf Clans im Wald geben, aber er hat uns belogen. Der WolkenClan wird niemals wieder zu den Sternen aufblicken.«
Mit einem letzten Schwanzschnippen verschwand er im Gebüsch und sein Clan folgte ihm.

Copyright © Beltz & Gelberg


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Texte: Beltz & Gelberg Verlag ISBN: 978-3407810755
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2010

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