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PROLOG


QUALVOLLES STÖHNEN hallte über den mondbleichen Boden einer Waldlichtung. An ihrem Rand kauerten zwei Katzen im Schatten der Büsche. Eine von ihnen wand sich in Schmerzen, peitschte mit dem langen Schwanz. Die andere erhob sich mit gesenktem Kopf auf die Pfoten. Der Kater war schon seit vielen langen Monden ein Heiler, und doch konnte er jetzt nur hilflos zusehen, wie der Anführer seines Clans von der Krankheit überwältigt wurde, die schon so viele Leben gefordert hatte. Er wusste von keinem Kraut, das diese Krämpfe und das Fieber lindern könnte.
Der Anführer krümmte sich erneut und fiel dann erschöpft auf das moosgepolsterte Nest. Das schüttere, graue Fell des Heilers sträubte sich, als die Hoffnung ihn verließ. Voller Angst beugte er sich vor und schnüffelte. Der Kranke atmete noch, aber es war ein übel riechender, flacher Atem, und jedes Mal, wenn er Luft holte, hoben sich mühsam seine mageren Flanken.
Ein Schrei durchschnitt den Wald. Diesmal war es nicht der einer Katze, sondern einer Eule. Eulen brachten Tod in denWald, stahlen Beute und sogar Junge, die sich zu weit von ihren Müttern entfernt hatten.
Der Heiler hob flehend die Augen zum Himmel, betete
zu den Geistern seiner Kriegerahnen, der Eulenschrei möge kein böses Vorzeichen sein. Er starrte durch die Äste, die das Dach des Baus bildeten, und suchte den Himmel nach dem Silbervlies ab. Aber das Lichterband, in dem der SternenClan lebte, war hinter Wolken verborgen. Den Heiler schauderte vor Angst. Hatten ihre Kriegerahnen sie der Krankheit überlassen, die das Lager heimsuchte?
Dann bewegte der Wind die Bäume, raschelte in den trockenen Blättern. Hoch oben glitten die Wolken beiseite und ein einzelner Stern sandte einen schwachen Licht- strahl durch das Blätterdach. Der Anführer sog lang und tief die Luft ein. Wie ein springender Fisch tauchte Hoffnung im Herzen des Heilers auf. Der SternenClan war also doch auf ihrer Seite.
Schwach vor Erleichterung hob er das Kinn, dankte schweigend seinen Kriegerahnen, dass sie das Leben des Anführers verschont hatten. Er kniff die Augen vor dem Lichtstrahl zusammen.
Tief in seinem Kopf hörte er das Murmeln geisterhafter Stimmen. Sie wisperten von glorreichen Schlachten in der Zukunft, von neuen Territorien und von einem größeren Clan, der sich aus der Asche des alten erhob. Freude wallte in der Brust des Heilers auf und pochte durch seine Pfoten.
Der Stern vermittelte mehr als nur eine Botschaft des Überlebens.
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, wischte ein großer,
grauer Flügel über das Sternenlicht und tauchte den Bau der Katzen wieder in Dunkelheit. Der Heiler zuckte zurück und duckte sich auf den Boden. Kreischend stürzte sich die Eule auf den Bau und zerrte mit den Krallen an seinem Blätterdach.
Sie musste die Krankheit gewittert haben, die den Anführer schwächte, und suchte leichte Beute. Aber die Zweige waren zu dick, die Eule konnte nicht hindurch- dringen.
Der Heiler horchte auf ihren langsamen Flügelschlag, der sich im Wald verlor. Dann setzte er sich mit hämmerndem Herzen auf und suchte erneut den Nachthimmel ab. Mit dem Vogel war auch der Stern verschwunden. An seiner Stelle befand sich nur noch undurchdringliche Schwärze. Kaltes Entsetzen kroch unter das Fell des Heilers und packte sein Herz.
»Hast du das gehört?«, rief ein Kater mit vor Angst schriller Stimme durch die Öffnung des Baus. Der Heiler zwängte sich rasch hinaus auf die Lichtung; er wusste, dass der Clan von ihm eine Deutung des Vorzeichens erwartete. Krieger, Königinnen und Älteste, alle, die gesund genug waren, krochen aus ihren Höhlen auf die Lichtung. Der Heiler zögerte einen Augenblick und horchte, was die Clan- Katzen einander ängstlich zuflüsterten.
»Was hat eine Eule hier zu suchen?«, zischte ein gefleckter Krieger und seine Augen leuchteten in der Finsternis.
»Sie kommen sonst nie so nah ans Lager«, klagte ein Ältester.
»Hat sie Junge geraubt?«, fragte ein anderer Krieger und wandte seinen breiten Kopf der Katze neben ihm zu.
»Diesmal nicht«, antwortete die silberne Königin. Sie hatte drei von ihren Jungen durch die Krankheit verloren und ihre Stimme war dumpf vor Trauer.
»Aber sie kommt vielleicht zurück. Sie hat unsere Schwäche gerochen.«
»Man sollte meinen, dass der Gestank des Todes sie abhalten würde.«
Ein gestreifter Krieger humpelte auf die Lichtung.
Seine Pfoten waren erdverkrustet und sein Fell struppig. Er hatte gerade einen Kameraden begraben. Noch mehr Gräber mussten ausgehoben werden, aber er war zu schwach, um in dieser Nacht weiterzumachen. »Wie geht es unserem Anführer?«, fragte er mit angstvoller Stimme.
»Wir wissen es nicht«, antwortete der gefleckte Krieger.
»Wo ist der Heiler?«, wimmerte die Königin.
Die Katzen durchsuchten mit Blicken die Lichtung und
der Heiler sah ihre angsterfüllten Augen im Dunkeln funkeln.
Er konnte die wachsende Panik in ihren Stimmen hören und wusste, er musste sie beruhigen, er musste sie davon überzeugen, dass der SternenClan sie nicht völlig verlassen hatte. Tief holte er Luft, zwang sein Fell, sich flach auf seine Schultern zu legen, und lief zur Mitte der Lichtung.
»Wir brauchen keinen Heiler, um zu erfahren, dass der Eulenschrei vom Tod gesprochen hat«, winselte ein Ältester mit weit aufgerissenen Augen.
»Woher willst du das wissen?«, fauchte der gefleckte Krieger.
»Ja«, stimmte ihm die Königin mit einem Blick auf den Ältesten zu.
»Der SternenClan spricht nicht zu dir!«
Sie drehte sich um, als der Heiler zu ihnen trat.
»Ist die Eule ein Vorzeichen gewesen?«, miaute sie ängstlich.
Der Heiler trat voller Unbehagen von einer Pfote auf die andere und vermied eine direkte Antwort.
»Der SternenClan hat heute Nacht zu mir gesprochen«, verkündete er. »Habt ihr den Stern zwischen den Wolken leuchten sehen?«
Die Königin nickte und in den Augen der Katzen um sie
herum flackerte verzweifelte Hoffnung auf.
»Was für eine Bedeutung hatte dieser Stern?«, fragte der Älteste.
»Wird unser Anführer am Leben bleiben?«, wollte der gestreifte Krieger wissen.
Der Heiler zögerte.
»Er kann jetzt nicht sterben!«, rief die Königin. »Was ist mit seinen neun Leben? Der SternenClan hat sie ihm erst vor sechs Monden verliehen!«
»Der SternenClan kann ihm nur eine bestimmte Menge an
Kraft schenken«, antwortete der Heiler.
»Aber unsere Ahnen haben uns nicht vergessen«, fuhr er fort und versuchte das Bild des dunklen Eulenflügels, der den schmalen Lichtstrahl ausgelöscht hatte, beiseitezuschieben.
»Der Stern hat eine hoffnungsvolle Botschaft gebracht.«
Ein schriller Klageschrei erklang aus einer düsteren Ecke des Lagers. Eine schildpattfarbene Königin sprang auf und eilte auf das Geräusch zu. Die anderen starrten weiterhin auf den Heiler und ihre Augen bettelten um Trost.
»Hat der SternenClan von Regen gesprochen?«, fragte ein junger Krieger.
»Es ist schon so lange keiner mehr gefallen.
Regen könnte die Krankheit aus dem Lager waschen.«
Der Heiler schüttelte den Kopf.
»Nicht davon, aber von einer großen, neuen Morgenröte, die unseren Clan erwartet. In diesem Lichtstrahl haben mir unsere Kriegerahnen die Zukunft gezeigt. Sie wird glorreich sein!«
»Dann werden wir also überleben?«, miaute die silberne Königin.
»Wir werden mehr als überleben«, versprach der Heiler.
»Wir werden den ganzen Wald beherrschen!«
Erleichtertes Gemurmel stieg von den Katzen auf und das erste Schnurren seit fast einem Mond im Lager. Aber der Heiler wandte den Kopf ab, um das Zittern seiner Schnurr- haare zu verbergen. Er betete darum, dass der Clan nicht weiter nach der Eule fragen möge. Er wagte nicht, ihnen die fürchterliche Warnung mitzuteilen, die der SternenClan hinzugefügt hatte, als der Vogelflügel den Stern verdunkelte – dass der Clan für seine große, neue Morgendämmerung den höchsten denkbaren Preis würde bezahlen müssen.


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Texte: ISBN 978-3407810564 Beltz & Gelberg
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2010

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