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1. KAPITEL
FEUERHERZ ZITTERTE. Sein flammenfarbenes Fell hatte noch die Leichtigkeit der Blattgrüne. Es würde noch ein paar Monde dauern, bevor es dicht genug war, um die neue Kälte abzuhalten.
Er trat von einer Pfote auf die andere. Endlich wurde der Himmel heller, langsam dämmerte der Morgen. Aber trotz der kalten Pfoten glühte Feuerherz vor Stolz. Nach vielen Monden als Schüler war er jetzt endlich ein Krieger!
Noch einmal ließ er den gestrigen Sieg im Lager des SchattenClans vor seinem inneren Auge ablaufen: Braunsterns funkelnde Augen, als er, der Anführer des SchattenClans, sich zurückzog und fauchend Drohungen ausstieß, bevor er hinter seinen treulosen Kumpanen in den Wald floh.
Die zurückgebliebenen Katzen des SchattenClans waren dem DonnerClan dankbar gewesen, dass er ihnen geholfen hatte, ihren grausamen Anführer loszuwerden. Und auch dafür, dass ihnen der DonnerClan Frieden für die nächste Zeit versprochen hatte, sodass sie sich erholen konnten. Braunstern hatte nicht nur seinen eigenen Clan ins Chaos gestürzt, er hatte auch den gesamten WindClan aus seinem Territorium vertrieben. Er war ständig wie ein dunkler Schatten im Wald gewesen, schon seit Feuerherz sein Leben als Hauskätzchen aufgegeben und sich dem DonnerClan angeschlossen hatte.
Für Feuerherz gab es jedoch noch einen weiteren Schatten, der ihn beunruhigte: Tigerkralle, den Zweiten Anführer des DonnerClans. Mit Schaudern dachte er an den großen Krieger, der seinen eigenen Schüler Raben- pfote terrorisiert und bedroht hatte. Schließlich waren Feuerherz und sein bester Freund Graustreif dem verängstigten Schüler behilflich gewesen, ins Territorium der Zweibeiner jenseits des Hochlands zu entkommen. Dem DonnerClan hatte Feuerherz erzählt, Rabenpfote sei von einer Patrouille des SchattenClans getötet worden.
Wenn das stimmte, was Rabenpfote von Tigerkralle behauptet hatte, dann war es am besten, ihn glauben zu lassen, sein Schüler sei tot. Der kannte nämlich ein Geheimnis, das Tigerkralle um jeden Preis bewahrt haben wollte. Rabenpfote hatte Feuerherz erzählt, Tigerkralle habe Rotschweif, den alten Zweiten Anführer des DonnerClans, ermordet in der Hoffnung, selbst der neue Zweite Anführer zu werden – was er schließlich auch erreicht hatte.
Feuerherz schüttelte den Kopf, um diese finsteren Gedanken loszuwerden, und wandte sich Graustreif zu, der neben ihm saß und sein dichtes graues Fell gegen die Kälte gesträubt hatte. Feuerherz nahm an, dass auch sein Freund den ersten Sonnenstrahlen entgegenfieberte, aber er sprach es nicht aus.
Die Tradition des Clans verlangte Schweigen in dieser Nacht.
Es war nämlich ihre Nachtwache – die Nacht, in der sie als neue Krieger den Clan bewachten und in der er über den Namen, der ihm verliehen worden war, und seine neue Rolle nachdachte. Bis dahin hatte Feuerherz den Schüler- namen Feuerpfote getragen.
Kurzschweif wachte als einer der Ersten auf. Feuerherz konnte sehen, wie sich der alte Kater zwischen den Schatten im Bau der Ältesten bewegte. Er blickte hinüber zur Höhle der Krieger auf der anderen Seite der Lichtung und erkannte zwischen den schützenden Zweigen die breiten Schultern des schlafenden Tigerkralle.
Am Fuß des Hochsteins bewegten sich die Flechten, die den Eingang zu Blausterns Bau bedeckten, und die Anführerin des Clans schob sich heraus. Sie blieb stehen, hob den Kopf und prüfte die Luft, dann strich sie geräuschlos aus dem Schatten des Felsens hervor. Ihr langhaariges Fell glühte blaugrau im Licht der Dämmerung. Ich muss sie vor Tigerkralle warnen, dachte Feuerherz. Blaustern hatte mit dem Rest des Clans den Tod von Rotschweif betrauert. Auch sie glaubte, er wäre im Kampf von Eichenherz, dem Zweiten Anführer des FlussClans, getötet worden. Feuerherz hatte bislang gezögert, ihr die Wahrheit zu sagen, denn er wusste, wie wichtig Tigerkralle für sie war. Aber die Gefahr war zu groß. Blaustern
musste wissen, dass ihr Clan einen kaltblütigen Mörder beherbergte.
Tigerkralle tauchte aus dem Kriegerbau auf und traf mit Blaustern am Rande der Lichtung zusammen. Er murmelte etwas, wobei sein Schwanz nachdrücklich zuckte.
Feuerherz verschluckte ein instinktives Miauen zur Begrüßung.
Der Himmel wurde hell, aber bevor er nicht ganz sicher wusste, dass die Sonne den Horizont überschritten hatte, wagte er nicht, sein Schweigen zu brechen. Ungeduld flatterte in seiner Brust wie ein gefangener Vogel. Er musste sobald wie möglich mit Blaustern sprechen. Aber im Augenblick konnte er nur den beiden Katzen respektvoll zunicken, als sie an ihm vorübergingen.
Neben ihm stupste Graustreif ihn an und deutete mit der Nase nach oben. Soeben wurde am Horizont ein rot-gelbes Glühen sichtbar.
»Froh, den Sonnenaufgang zu sehen, ihr zwei?« Feuerherz wurde von Weißpelz’ tiefem Miauen überrascht. Er hatte den weißen Kater nicht kommen sehen. Die beiden jungen Krieger nickten.
»Es ist in Ordnung, ihr dürft jetzt reden. Eure Nachtwache ist vorüber.«
Weißpelz’ Stimme war freundlich. Gestern hatte er Seite an Seite mit Feuerherz und Graustreif gegen den SchattenClan gekämpft und jetzt lag in seinem Blick ein neuer Respekt.
»Danke, Weißpelz«, sagte Feuerherz. Er stand auf und streckte seine steifen Beine.
Auch Graustreif stemmte sich hoch.
»Brrrr!«, miaute er und schüttelte sich die Kälte aus dem Fell.
»Ich dachte schon, die Sonne würde nie aufgehen!«
Eine verächtliche Stimme ließ sich aus dem Bau der Schüler vernehmen: »Hört, der große Krieger spricht!«
Es war Sandpfote. Ihr hell orangefarbenes Fell war feindselig gesträubt. Neben ihr saß Borkenpfote. Mit seinem dunkel getigerten Haarkleid wirkte er wie der Schatten der Kätzin. Er warf sich wichtigtuerisch in die Brust und spottete: »Ich bin erstaunt, dass solche Helden überhaupt die Kälte spüren!«
Sandpfote schnurrte spöttisch.
Weißpelz warf den beiden einen strengen Blick zu.
»Geht und holt euch was zu essen, dann ruht euch aus«, befahl er Feuerherz und Graustreif. Dann trottete er auf den Bau der Schüler zu. »Kommt mit, ihr zwei«, sagte er. »Zeit für euer Training.«
»Ich hoffe, er lässt sie den ganzen Tag blaue Eichhörnchen jagen!«, zischte Graustreif seinem Freund zu, als sie sich zu der Ecke begaben, wo von der letzten Nacht noch ein paar Stücke Frischbeute lagen.
»Aber blaue Eichhörnchen gibt es gar nicht«, miaute Feuerherz verwirrt.
»Genau!« Graustreifs bernsteinfarbene Augen glänzten.
»Man kann es ihnen eigentlich nicht übel nehmen. Sie haben ihre Ausbildung vor uns begonnen«, warf Feuerherz verständnisvoll ein. »Hätten sie gestern mitkämpfen können, wären sie wahrscheinlich auch zu Kriegern befördert worden.«
»Vermutlich.« Graustreif zuckte die Schultern. »He, schau mal!« Sie hatten den Haufen Frischbeute erreicht.
»Eine Maus für jeden und ein Buchfink zum Teilen!«
Die beiden Freunde packten ihr Essen und blickten sich an.
Graustreifs Augen blitzten plötzlich auf. »Also, wir nehmen das jetzt mit auf die andere Seite, zu den Kriegern«, sagte er.
»Genau, das tun wir«, schnurrte Feuerherz und trottete hinter seinem Freund zu dem Brennnesselstück, wo sie schon so oft Weißpelz, Tigerkralle und die anderen Krieger beobachtet hatten, wie sie gemeinsam die Frischbeute einnahmen.
»Was nun?«, fragte Graustreif, nachdem er den letzten Happen hinuntergeschlungen hatte.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich könnte einen halben Mond lang schlafen.«
»Ich auch«, stimmte Feuerherz zu.
Die beiden machten sich auf zum Bau der Krieger. Feuerherz steckte den Kopf durch die tief hängenden Zweige. Mausefell und Langschweif schliefen noch am anderen Ende des Baus.
Er zwängte sich hinein und fand eine moosbedeckte Stelle am Rand. Der Geruch verriet ihm, dass dies kein Schlafplatz eines anderen Kriegers war. Graustreif ließ sich neben ihm
nieder.
Feuerherz hörte zu, wie sich die regelmäßigen Atemzüge seines Freundes zu einem lang gezogenen, gedämpften Schnarchen entspannten. Er selbst war ebenso erschöpft, aber er hatte immer noch den dringenden Wunsch, mit Blaustern zu reden. Von dort, wo er mit dem Kopf flach auf dem Boden lag, konnte er gerade noch den Eingang zum Lager sehen. Er ließ keinen Blick davon und wartete auf die Rückkehr seiner Anführerin, aber dann fielen ihm doch die Augen zu und er überließ sich seinem Verlangen nach Schlaf.
Feuerherz konnte ein Brausen hören wie von Wind in hohen Bäumen. Der ätzende Gestank des Donnerwegs stach ihm in die Nase, zusammen mit einem neuen Geruch, der noch schärfer und beängstigender war. Feuer! Flammen leckten zum schwarzen Himmel empor, warfen glühende Funken hinauf in die sternenlose Nacht. Zu seiner Überraschung huschten vor dem Feuer die Silhouetten von Katzen umher. Warum waren sie nicht weggelaufen?
Eine blieb stehen und blickte ihn direkt an. Die Nachtaugen des Katers leuchteten in der Dunkelheit und er hob wie zur Begrüßung seinen langen, geraden Schwanz.
Feuerherz zitterte, als ihn die Erinnerung an die Worte überfiel, die Tüpfelblatt, die einstige Heilerin des Donner-Clans, ihm vor ihrem allzu frühen Tod gesagt hatte: »Feuer wird den Clan retten!«
Konnte das etwas mit den merkwürdigen Katzen zu tun haben, die keine Angst vor Feuer zeigten?
»Wach auf, Feuerherz!«
Er hob ruckartig den Kopf. Tigerkralles Knurren hatte ihn aus dem Traum gerissen.
»Du hast im Schlaf miaut!«
Noch benommen setzte er sich auf und schüttelte den Kopf.
»J-j-ja, Tigerkralle!«
In plötzlicher Unruhe fragte er sich, ob er Tüpfelblatts Worte laut wiederholt hatte. Schon früher waren ihm solche Träume begegnet, so lebhaft, dass er sie schmecken konnte, Träume, die später Wirklichkeit geworden waren. Er wollte auf keinen Fall, dass Tigerkralle bei ihm Kräfte vermutete, die der SternenClan gewöhnlich nur Heilern gewährte.
Mondlicht schien durch die Blätterwand des Baus. Feuerherz musste den ganzen Tag verschlafen haben.
»Du und Graustreif, ihr werdet euch der Abendpatrouille anschließen«, erklärte ihm Tigerkralle.
»Beeil dich!« Der dunkel Gestreifte drehte sich um und stolzierte aus dem Bau hinaus.
Feuerherz entspannte das Fell auf den Schultern. Offenbar hatte Tigerkralle nichts Ungewöhnliches an seinem Traum entdeckt. Sein Geheimnis schien also sicher. Trotzdem war
er entschlossen, die mörderische Wahrheit über die Rolle zu enthüllen, die Tigerkralle bei Rotschweifs Tod gespielt hatte.
Copyright © Beltz & Gelberg Verlag
Texte: Beltz & Gelberg
ISBN 978-3407810427
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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