Die Einsatzbeamten des SOKO Eisenstadt schüttelten wieder einmal fassungslos den Kopf und kratzten sich ratlos am Kinn: Alle heiligen Zeiten passierte es, dass ein ausgewachsener und kerngesunder Mann bei schönstem Wetter im Neusiedlersee ertrank. Und ertrunken war er, der Innsbrucker, weit draußen an einer Stelle im Seebad Illmitz, die ihm nicht einmal bis zur Brust gereicht hatte. Eine Ohnmacht durch Hitzschlag aufgrund mangelndem Schutz vor der Sonne? Das vermutete zumindest seine Frau, die einzige Augenzeugin des Vorfalls, die bleich und zitternd im Vernehmungszimmer saß. Weiters hatte sie angegeben, dass sie selbst als Nichtschwimmerin keine Rettungsversuche unternehmen konnte und auch sehr lange gebraucht habe, den Bademeister zu finden. Auf die Frage, warum sie in dem Seebad keine andere Person um Hilfe gebeten hatte, war sie stumm geblieben. Wie alle unter Schock Stehenden zeigte die Frau irrationale Verhaltensweisen. Nachdem ihr einer der Beamten gutwillig eine Himbeerlimonade auf den Tisch gestellt hatte, Trinken Sie doch etwas, wischte sie die Flasche ohne zu Zögern vom Tisch, sodass diese am Boden zu tausend Scherben zerschellte und sich der ganze klebrige Inhalt ebendort ergoss.
Natürlich wusste Marie, dass eine Beziehungspause eigentlich
bedeutete, dass die Zeichen bereits auf Sturm, sprich endgültige Trennung standen. Und hatte ihr das Monat ohne Hans nicht seltsam gut getan? Fast schämte sie sich, es sich einzugestehen, aber der große Katzenjammer war ausgeblieben, die große Sehnsucht, deren Wiedererweckung ihr Hauptargument für die Pause gewesen war, hatte auf sich warten lassen. Ihm war es nicht so gut gegangen, das wusste sie, sie hatten sich in der Zeit einmal gemailt. In ihr dagegen hatte sich eine große Unbeschwertheit breitgemacht (das schrieb sie ihm allerdings nicht), das Atmen war ihr leichter gefallen, und die leise Melancholie, die sie ab und zu überfallen hatte, war leicht auszuhalten gewesen. Sicher hatten sich zwischendurch ernsthafte Fragen aufgeworfen, Gedanken über eine fällige Entscheidung, doch es war ihr immer wieder gelungen, all das hinauszuschieben.
Seinem Vorschlag am Telefon, sich hier am Neusiedlersee zu treffen, hatte sie ohne Zögern zugestimmt. Eine Wiederbegegnung nach der Pause, noch dazu auf neutralem Boden, war so oder so geplant gewesen, und ein Dorf an der ungarischen Grenze eignete sich genauso gut wie jeder andere Ort, an dem keine gemeinsamen Erinnerungen lauerten. Auf ihre Frage, warum gerade in Illmitz, antwortete Hans, dass er als Kind mit seinen Eltern einmal dort gewesen sei, und sie sehr schöne Stunden miteinander verbracht hätten. Auf der Suche nach einem Treffpunkt sei ihm das wieder eingefallen.
Das Zimmer hatte Marie dann gebucht, in einer der kleinen Pensionen, von denen es in Illmitz nur so wimmelte. In ihrem Mail an die Besitzerin hatte sie angekündigt, dass Hans und sie das Zimmer eventuell auch nicht über Nacht in Anspruch nehmen würden, sie in dem Fall aber selbstverständlich bereit sei, den vollen Preis als Stornogebühr zu bezahlen. Diese Info leitete sie über BCC auch an Hans weiter, er sollte wissen, dass ihre Wiederbegegnung nicht automatisch in eine gemeinsame Nacht münden werde: Marie wollte es sich offen lassen.
Und dann standen sie sich also gegenüber, nach einer langen, getrennten Autofahrt, mit ihren Reisetaschen in der Hand. Ihre Autos, jedes mit einem Fahrrad am Dach, hatten sie am Gästeparkplatz der Pension abgestellt. Du, nimm unbedingt dein Rad mit, hatte Hans geraten, Im Nordburgenland ist es flach wie in Holland, da muss man einfach Rad fahren.
Für sie als Tirolerin, die den äußersten Nordosten ihrer Heimat nur vom Hörensagen kannte, war das ein reizvoller Vorschlag gewesen. Hans und sie hatten in Innsbruck gelebt, inmitten steil ragender Berge, wer dort viel Rad fuhr, brauchte schon einen außerordentlichen Sportsgeist.
Demzufolge schwangen sie sich sofort in die Sättel, kaum dass sie ihr Gepäck in ihrem Zimmer untergebracht hatten, und Marie genoss vorerst einfach die Fahrt und den Wind, der ihr angenehm kühl über Gesicht, Arme und Beine strich. Er machte die anschwellende Hitze dieses Junivormittags erträglich. Sie folgte Hans, der ein kleines Stück vorausgefahren war, blind: Er hatte eine Radweg Karte aus dem Tourismusbüro besorgt und sie war dankbar, dass er nicht gleich an ihr klebte und ihr Raum ließ, erst einmal anzukommen, sich zu sammeln. Und vorzubereiten auf das klärende Gespräch, das im Laufe des Tages kommen würde, ja müsste. Waren sie nicht deswegen hier? Sie zumindest schon. Und was würde sie dann sagen? Auf einmal tat es ihr leid, dass sie sich in den letzten Wochen so wenig zurechtgelegt und stattdessen in ihrer neugefundenen Unbeschwertheit geschwelgt hatte. Sie warf einen Blick auf Hans' Rücken, sein T-Shirt klebte an Stellen schon auf seiner Haut. Er schwitzte sehr leicht, als hellhäutiger Typus mit Sommersprossen und rötlichen Haaren. Auf einmal fühlte sie den starken Impuls, nach vorne zu rufen, ob er seinen Sonnenhut dabei und sich mit Sonnenschutzmittel eingecremt habe. Fragen, die sie ihm schon sehr oft gestellt hatte, in Sommern. Sie bezwang sich noch im letzten Moment. Kein Bemuttern mehr, um die ausbleibende Schwangerschaft zu kompensieren! (Sie hatten sich untersuchen lassen, beide: Organisch war alles in Ordnung gewesen.)
Dann ließ sie zu, dass der Anlass ihres Hierseins vorübergehend aus ihren Gedanken verschwand und verlor sich in der Landschaft. Sie waren von der Bundesstraße in einen Feldweg abgebogen, der mit einem ganzen Netz an anderen Feldwegen verbunden war, die allesamt zu den schilfumgürteten Lacken hin, um sie herum und wieder weg führten. Alle möglichen Gänsearten liefen wackelnd und schnatternd kreuz und quer herum, und die Luft war erfüllt von der vielstimmigen Konversation der vielen Vogelarten, für die diese Gegend so berühmt war. Die Wege führten am teilweise übermannshohen Schilf entlang und hinein, manchmal sah man weit voraus, bis zum mächtigen Schilfgürtel des Sees hin, manchmal nicht einmal um die nächste Ecke. Wo fahren wir hin, wollte sie fragen und verbot sich auch das. Einmal nicht die Kontrolle bewahren, sich einlassen auf Unbekanntes. Hatte sie nicht auch an der Überschaubarkeit und Berechenbarkeit gelitten, zu der ihr Dasein mit Hans verkommen war?
Endlich kam er zu einem Halt und stellte sein Rad ab, zwischen der großen Lacke und ihnen lag ein breites Stück Sumpfwiese, doch durch dieses führte kein Weg. Stattdessen standen dort die Nicht Betreten Schilder des Illmitzer Naturschutzverbandes und erklärten, dass im Bereich um die Ufer der Lacken die Nistplätze vieler Bodenbrüterarten lägen.
Dafür gab es eine hohe Aussichtswarte mit einem Fernrohr, das man um einen Euro pro Minute benutzen konnte. Marie und Hans waren sich einig, dass das ein Riesentouristennepp sei, aber dann zogen sie doch ein paar Münzen aus der Tasche und riskierten die sündteuren Blicke. Das ist es aber wirklich wert , dachte Marie, auf einmal berührt: Was dort kreuchte und fleuchte an Vögeln und Vögelchen aller Art, die Farbenpracht der verschiedenen Gefieder, und wie sie sich friedlich einen begrenzten und zerbrechlichen Lebensraum teilten! Sie hatte Tiere in freier Wildbahn schon immer gerne beobachtet, aber so eine Häufung kannte sie bisher nur aus den diversen Fernsehdokumentationen über die großen Nationalparks dieser Welt.
Ich wusste, dass dir das gefallen würde, lachte Hans, Ein Urlaub im Vögelparadies. Marie hielt weiter den Blick durch das Fernrohr auf die Lacke gerichtet, den Großen Stinkersee, wie eine Infotafel auf der Aussichtswarte sie informiert hatte, und sagte trocken: Über den ersten Teil deiner Bemerkung freue ich mich, den zweiten hättest du dir sparen können. Ach komm, war doch nur Spaß, wiegelte er ab und versuchte sie an sich zu ziehen. Sie entwand sich ihm und kletterte schnell die schmale Holztreppe wieder hinab. Tun, als ob nichts wäre: So
einfach würde sie es ihm wirklich nicht machen.
Nun preschte sie voraus, sie fuhr Hans regelrecht davon, denn die Situation vorhin hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Eigentlich
wollte sie weder mit ihm schweigen, noch Belanglosigkeiten oder Detailinformationen über den Naturschutzpark austauschen: Nicht bevor sie ihre Beziehung in einem sehr aufrichtigen Gespräch geklärt hatten. Aber wie beginnen? Da war sie wieder, diese quälende Sprachlosigkeit, die ihr Leben mit diesem Mann erdrückte, ihr sämtliche Energie raubte und zwischen ihnen stand wie eine massive Wand, die allerdings nur sie, Marie wahrnehmen konnte: Er, Hans, nicht.
Mit dem wohlbekannten Kloß in der Kehle strampelte sie weiter, nahm beliebige Abzweigungen und kümmerte sich nicht darum, ob er ihr folgen konnte. Jeder von beiden hatte das Handy eingesteckt, im Notfall konnte man sich in diesem Irrgarten ja zusammenrufen. Ein Witz fiel ihr ein, den sie als Kind gehört hatte: Warum ist die Spannweite des Adlers nur halb so groß, wenn er über das Burgenland fliegt? Weil er sich mit einem Flügel die Augen verdeckt, damit er das Elend dort unten nicht sieht.
Die Landschaft konnte damit nicht gemeint sein, denn auf einmal führte der Weg aus dem Schilf heraus und der Blick öffnete sich auf eine verzauberte Weite, rechts der See, sein Wasser kaum sichtbar wegen des starken Bewuchses am Rand, links Wiesen und Felder voll mit Weinstöcken und dazwischen sich krümmende Sträucher samt uralten, knorrigen Bäumen ... Alles Grüne war durch die Trockenheit der diesjährigen Saison mit Gelb- Braun- und Grautönen in allen Schattierungen durchsetzt, und außerdem näherte sich die Mittagsstunde, so dass Licht und Luft schon leicht zu flimmern anfingen. Waren sie denn schon so lange unterwegs? Ohne das Tempo zu verringern, angelte Marie ihre Sonnenbrille aus der Umhängetasche, die ihr die Besitzerin der Pension geliehen hatte. Dieses Steppenartige, Dürre hier war nicht das Österreich, das sie kannte, am ehesten ließ sich für sie diese Gegend mit Südfrankreich vergleichen, dort hatten Hans und sie ihre Flitterwochen verbracht, nur dass es dort nicht so flach gewesen war. Kurz zuckte der Gedanke in ihr auf, dass Hans sie manipulieren wollte, weil er sie gerade hierher gelockt hatte, die Erinnerung an die Hochzeitsreise sollte eine positive Grundstimmung bei ihr erzeugen, damit er sie dann zu seinen Gunsten manipulieren konnte. Doch dann schob die diesen Verdacht beiseite und schalt sich paranoid. Wahrscheinlich hatte er sich bis auf seine eigenen Kindheitserinnerungen nichts weiter dabei gedacht. Überhaupt, wie oft hatte sie auf die Frage, Was hast du dir dabei gedacht, gehört: Gar nichts. Und wie oft, wenn sie wirklich mit ihm reden wollte: Du denkst zu viel.
Bei einer kleinen Buschenschänke am Wegesrand machte sie halt, sie hieß komischerweise Zur Hölle
, und auf ihre erstaunte Frage an den Kellner erfuhr sie, das sei der Name des hiesigen Ortsteils. Was für ein Ort denn, wunderte sie sich, hier ist doch außer Pampa nichts mehr. Der schnaufende Hans unterbrach ihre Gedanken, er polterte die Treppe zur Terrasse mit Seeblick herauf und beschwerte sich über ihr Tempo: Sag mal, sind wie hier auf Urlaub oder auf der Flucht?
Marie starrte ihn an, unfähig eine Antwort zu geben, denn sie wusste keine, und die Art Schlagfertigkeit, die andere Menschen so vieles mit einer spaßigen Bemerkung überspielen lässt, hatte ihr schon immer gefehlt.
Na ja, meinte er. Jetzt essen wir einmal zu Mittag, und dann bist du hoffentlich so schwer, dass du mir nicht mehr so leicht davonkommst.
Marie rollte die Augen. Wie schafft er es, immer genau das zu sagen, was mich noch mehr von ihm wegstößt und damit ein Gespräch noch unmöglicher macht? Sie schwieg und antwortete auch nicht auf sein munteres Geplauder, als er die Speisekarte studierte und sie auf allerhand Spezialitäten der Region aufmerksam machte. Der Knoten in ihrem Hals wurde enger, würgte und drückte aufs Herz.
Ich habe gar keinen so großen Hunger, brachte sie hervor, Ich trinke nur einen Kaffee. Sie sah in bittend an, konnte nicht er einmal den ersten Schritt machen?
Er konnte nicht, nie. Und versuchte sie es, die Wand zu durchbrechen, mit aller ihr gebotenen Ehrlichkeit, kam allermeistens sein genauso ehrliches: Ich verstehe dich nicht. Ich weiß nicht was du meinst. Es ist doch alles in Ordnung! Es geht uns doch gut, Schatz! Warum den Teufel an die Wand malen?
Ich sitze in der Hölle und male den Teufel an die Wand
. Sie rang sich ein Lächeln ab. Schön ist es hier, sagte sie.
Zufrieden lehnte sich Hans zurück und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen: Ich wusste, dass es dir gefallen würde.
Es ist wie in Südfrankreich.
Meinst du? Hm. Er warf einen flüchtigen Blick Richtung See. Schilf hat es dort aber keins gegeben.
Na, ja , das gerade nicht, aber sonst, die Pflanzen, die Farben, die Atmosphäre ...
Von der Atmosphäre hab ich gar nicht so viel mitbekommen, schmunzelte er. Schließlich waren das unsere Flitterwochen.
Marie leerte ihre Tasse, winkte dem Kellner, um zu zahlen und sagte, Fahren wir weiter.
Na, du hast es aber wirklich eilig, schmollte Hans, Kannst du nicht einmal still sitzen und genießen?
Ärger wallte in Marie auf, doch sie bemühte sich um einen neutralen Tonfall, als sie sagte: Du kannst ja hierbleiben, wenn du willst. Wir treffen uns dann in zwei Stunden am Hafen in Podersdorf. Ich will eine Bootsfahrt über den See machen. (Das wollte sie wirklich, sie hatte die Möglichkeit ergoogelt und freute sich, Hans hin oder her, schon seit Tagen darauf.)
Und wie kommst du ohne Karte nach Podersdorf?, stichelte er.
Na, ja, es spricht ja jeder deutsch hier, antwortete Marie im Gehen und begann, die Stufen der Terrasse hinunterzusteigen.
Jetzt warte doch, fahren wir gemeinsam, rief er hinter ihr her und bis Podersdorf unterhielten sie sich nur über die seltenen Tiere, über die zwar an Tafeln am Wegrand informiert wurde, von denen man wegen der Hitze aber nichts zu sehen bekam, nur ihre verwaisten Gehege. Die Tiere hatten sich offenbar in ihre Unterkünfte oder in Unterholz zurückgezogen: Ungarische Steppenrinder, Mangalitzkaschweine und Przewalskipferde.
Schade, dachte Marie. Jetzt komme ich einmal im Leben in diesen Nationalpark hier und muss mir die halben Tiere erst daheim im Internet anschauen.
Der Hafen in Podersdorf war aber wieder faszinierend, vor allem wegen dem See: Nach allen Seiten bis zum Horizont dehnte sich das graubraune Wasser, kein Ufer in Sicht. Es ist wie am Meer, dachte sie erstaunt.
Hans kaufte zwei Karten, sie betraten die Fähre mit Aussichtsdeck und Bordrestaurant und los ging die Fahrt, so gemächlich, dass doch so etwas wie Urlaubstimmung in Marie aufkam. Sie hielt sich im Schatten unter einer Markise auf, während Hans ganz vorne in der prallen Sonne an der Reling lehnte und mit seinem Handy fotografierte. Wieder machte sie sich Sorgen um seine Haut und seinen Kreislauf, ein hartnäckiger Reflex. Sie blickte aufs Wasser und bekam die Informationen über den See, die der Kapitän über Lautsprecher gab, nur am Rande mit. Nur eins blieb hängen, denn es beeindruckte sie enorm: Wie kann so ein großflächiges Wasser so seicht sein?
In ein paar Jahrzehnten wird der Neusiedlersee ausgetrocknet sein, sagte jemand , dabei ist er Weltkulturerbe.
Sie schreckte auf, der Sprecher war Hans, er stand direkt vor ihr.
Kommst du zu mir nach vorne, fragte er. Ich möchte ein paar Fotos mit dir drauf machen. Sie schüttelte den Kopf: Ich bleibe lieber im Schatten.
Schulterzuckend zog er wieder ab, und ein Vater nahm samt seinen drei Kindern auf der Bank gegenüber von Marie Platz. Der Kleinste wollte keine Limonade zusammen mit seiner älteren Schwester trinken, sondern bettelte um eine eigene Flasche. Der Vater erwiderte gereizt, dass er zu klein sei, um eine ganze Flasche zu schaffen und dass der Rest des Getränks dann weggeschüttet werden müsse. Der Junge versprach flehentlich, brav zu sein und ganz bestimmt die ganze Flasche auszutrinken. Der Vater erwiderte drohend, Wenn ich dir wirklich eine eigene Flasche kaufe, musst du das auch, und wenn du dich ankotzt, denn mir reicht's mit dir und deinen Sonderwünschen.
Als der Junge, er war höchstens fünf, endlich seine eigene Flasche mit giftroter Himbeerlimonade in der Hand hielt, beobachteten ihn der Vater, die ältere Schwester und der ältere Bruder wie Argusse. Auch Marie, sie konnte nicht anders und war wie gebannt. Würde er es schaffen? Würde er brav
sein? Der Kleine saugte und schluckte mit aller Kraft und ohne Unterbrechung an seinen zwei Strohhalmen, sein Kopf wurde vor Anstrengung hochrot, als liefe der Inhalt der Flasche dort hinein und nicht in seinen Magen. Der Vater und die Schwester standen auf, um auf die Toilette zu gehen. Sobald sie außer Sichtweite waren, unterbrach der Junge sein Saugen, blickte seinen älteren Bruder verzweifelt an und jammerte: Ich schaffe es nicht. Du musst, antwortete dieser gelangweilt, und der Kleine saugte mit letzter Kraft weiter und trank die Flasche leer. Als der Vater zurückkam, strahlte der Tapfere Limonadenbezwinger übers ganze Gesicht, hielt die leere Flasche triumphierend in die Luft und rief, Papa, schau, ich war brav!
Der Vater würdigte ihn keines Wortes und Blickes, nichts. Marie konnte wie in Zeitlupe zusehen, wie der Junge verfiel, wie sein Gesicht in Trauer erstarrte, wie ihm das Herz brach.
Zwei Minuten später erbrach sich der Junge über die Reling, und sein Vater zischte: Siehst du, ich habe es dir gesagt, du verträgst keine ganze Flasche. Ein braver Junge teilt mit seiner Schwester und ist nicht so egoistisch.
Marie war fassungslos, ihr war selber schon ganz übel, aber natürlich sagte sie einem wildfremden Mann nicht: DU bist ein Egoist und ein liebloses Arschloch, ein Seelenverkrüppler.
Sie flüchte zu Hans an die Reling. Gottlob hatten sich ein paar Wolken vor die Sonne geschoben. Sie legte den Kopf in den Nacken und beobachtete die Möwen, die kreischend die Fähre umrundeten.
Die kommen unglaublich nahe heran, ich habe sie schon fotografiert, sagte Hans. Toll, antwortete Marie geistesabwesend, in Gedanken noch ganz bei der Szene von vorhin.
Und dann konnte sie nicht mehr. Hans, wir müssen reden, platzte sie heraus, Sobald das Schiff in Mörbisch anlegt. Wir haben dort zwei Stunden Aufenthalt bis zur Rückfahrt nach Podersdorf, und diese Zeit möchte ich nützen. Und kein Ausweichen und Abblocken diesmal, alles kommt auf den Tisch. Entweder wir schaffen Klarheit oder ich fahre noch vor dem Abendbrot zurück nach Innsbruck.
Hans schaute sie groß an und meinte dann säuerlich: Ach so, deshalb bist du so komisch. Weil wir noch nicht geredet
haben.
Ich habe gedacht, ein paar schöne Stunden zu verbringen nach der langen Trennung ist der beste Weg, neu anzufangen. Zum Probleme wälzen ist später auch noch Zeit genug. Aber bitte, wenn du nicht mehr warten kannst ...
Marie hätte ihn ohrfeigen können, wie schon so oft. Wieder hatte er es geschafft, sie in die Schublade zu denen zu setzen, die ein Gespräch brauchten
, weil sie ein Problem
hatten, ein nebulöses Hirngespinst, das außer ihnen niemand sonst wahrnahm und mit dem sie alle anderen belästigten, die sich bloß in Ruhe entspannen wollten. Etwas, das sie, die Redesüchtigen, offenbar nicht konnten.
All das warf sie ihm vor, sie schrie es ihm ins Gesicht, kaum dass sie im Gastgarten eines Mörbischer Kaffeehauses Platz genommen hatten. Stoßweise würgte sie die Worte aus sich heraus, wie der kleine Junge sein himbeerrotes Erbrochenes; das Getuschel der Kellnerinnen war ihr egal. Hans ließ ihren Schwall reglos über sich ergehen, und fast sah sie, wie dieser in Tropfen an ihm abperlte. Wie Säure an einem Schutzmantel: Der Mann ist unerreichbar, unverwundbar, dachte sie wütend, Obwohl er jetzt zumindest blass geworden ist unter seinen dämlichen Sommersprossen.
Als Marie am Ende eine Atempause machte, fragte Hans stirnrunzelnd: Hast du etwa einen anderen?
Sie war so perplex, dass es ihr wieder die Sprache verschlug, und schüttelte nur angewidert den Kopf. Im Hintergrund lief ein Lied von Fredl Fesl im Radio, der Anlassjodler. Und obwohl das überhaupt nicht ihre Art von Musik und noch weniger ihre Art von Humor war, musste sie doch über die absurden Geräusche, die der Sänger machte, lachen. Sie fühlte sich ihm plötzlich nahe, diesem Fremden, tausendmal näher als Hans, mit dem sie immerhin seit drei Jahren verheiratet war.
Desssen Stirn hatte sich inzwischen zwar wieder geglättet, doch der Schweiss lief in kleinen Rinnsalen seitlich daran herab und sein Lächeln wirkte gezwungen.
Dennoch gab er nicht auf: Marie, wollen wir gleich die Fähre zurück nach Illmitz nehmen und uns dort im Seebad noch ein paar schöne Stunden machen?
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2013
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