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Oft stoßen gerade flüchtige Begegnungen das Tor zur Phantasie weit auf:
Nie weiß man, was einen dahinter erwartet. Manche sagen, man begegnet zwar immer nur sich selbst. Das Spannende ist aber, man erkennt sich dort nicht-man bleibt sich völlig fremd.


Muji, ein alter Bekannter von mir, ist passionierter Weltreisender. Wenn er gerade im Lande ist, treffen wir uns ab und zu für ein Stündchen im Kaffeehaus. Schon seit seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr ist der schwere Asthmatiker frühpensioniert und in den letzten Jahrzehnten verbrachte er die kalte, neblige Saison prinzipiell nur mehr an den sonnigen Stränden Goas. Doch als junger Mann-inzwischen ist er ja schon knapp siebzig- war er praktisch auf dem ganzen Erdball unterwegs und musste sich diesen Luxus noch selbst finanzieren. Die Liste an Gelegenheitsjobs, die er seiner Reiselust wegen angenommen hat, ist lang, und neulich-er ist überhaupt eine wandelnde Anekdotensammlung- erzählte er wieder einmal:

"Damals hat mir ein Bekannter den Tipp mit dieser belgischen Ziegelfabrik gegeben, das war in den siebziger Jahren, und das Tolle war, dass man dort als Saisonarbeiter in ein paar Monaten eine Unmenge verdienen konnte. Ich habe mich sofort beworben und bin aufgenommen worden. Wir hatten zwar 12-Stunden Schichten, aber das war mir egal. Das war einer der besten Jobs, den ich jemals hatte."

Ich konnte mir Muji beim besten Willen nicht schuftend in einer Ziegelfabrik vorstellen, zum einen wegen seines Asthmas, zum anderen aber, weil seine Erzählungen immer deutlich machten, dass er zeitlebens ein Bonvivant war, einer, der das Leben und die Frauen liebte und genoss und überwiegend sorglos in den Tag hineinlebte. Arbeit hatte für ihn immer eine untergeordnete Rolle gespielt und war nur ein lästiges Mittel zum Zweck gewesen, um das eigentlich Wichtige, das Reisen zu ermöglichen. (Er ist übrigens auch einer der wenigen Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen und erlaubterweise Marihuana konsumieren dürfen. Die ärztliche Bestätigung, den sogenannten Kiffer Führerschein, trägt er immer bei sich und ist so stolz darauf, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit damit prahlt.)

"Ja, und war das nicht eine unglaubliche Plackerei in Belgien? Wie hast du das denn durchgehalten?" fragte ich ihn.

Sein Gesicht verzog sich zu einem faltigen Grinsen. (Muji lacht überhaupt viel, man kann ihm nachsagen, was man will, Trauerkloß ist er jedenfalls keiner. Wahrscheinlich tut seine spezielle Therapie nicht nur Wunder an seiner Lunge, sondern auch an seiner Laune.)

"Wieso? Die Ziegel waren ja ganz leicht! Irgend so ein spezielles Material, und die waren auch nicht rot, sondern schneeweiß: Das war, als ob wir den ganzen Tag große Schwanenfedern hin und her geschlichtet hätten."

Ich war völlig verblüfft. Abgesehen davon, dass es Muji als Fortunas Liebling ähnlich schaute, so unverschämtes Glück gehabt zu haben- das Konzept von leichten Ziegeln war bis gerade eben in meinem Kopf nicht vorhanden gewesen. Ich hatte schlicht nicht gewusst, dass es so etwas gibt! Und ist es nicht oft so: Wir machen uns gedanklich etwas schwer und empfinden es dann dementsprechend, weil wir keine Vorstellung davon haben, dass es genauso gut leicht sein kann.


Zuhause verfolgt mich das Bild von den schneeweißen, federleichten Ziegeln noch eine Weile. In meiner Fantasie bekommen die Arbeiter beim hin und her schlichten etwas Schwebendes, Elegantes, wie bei einer Ballettaufführung. Das Arbeiterdrama mutiert zum Schwanensee ...

Auch der ägyptische Mythos vom Totengericht fällt mir wieder ein, irgendwann habe ich darüber gelesen: Auf einer Waage wird das Herz des soeben Verstorbenen gegen die Feder der Göttin Maat aufgewogen. Senkt sich die Schale, in der das Herz liegt, nach unten, wartet dort schon die Totenfresserin, ein aus mehreren Tieren zusammengesetztes Scheusal. Es verschlingt das Herz und der Verstorbene erfährt einen zweiten, nunmehr endgültigen Tod.

Bleiben die Schalen im Gleichgewicht, weil der Verstorbene sich an die Regeln der kosmischen Ordnung gehalten und ein rechtschaffenes Leben geführt hat, so erwirbt er die Unsterblichkeit und darf weiter ins Paradies.

Muss mein Herz schwer und rot bleiben wie ein Klumpen gebrannten Lehms oder schaffe ich die Verwandlung zu Lebzeiten noch? Luftig und weiß wie eine belgische Spezialschindel, oder besser noch, wie ein Häufchen Zuckerwatte soll es auf der Schale liegen, wenn es soweit ist. Und wenn die Totenfresserin dann die Zähne fletscht und böse knurrt: "Warum ist es so leicht, verdammt!", dann zucke ich nur mit den Achseln.

"Beschwere dich bei Muji, der hat mich auf darauf gebracht."


Ich verbringe die Winter nicht wie mein bemerkenswerter Bekannter; und statt in der Weihnachtszeit unter der heißen indischen Sonne zu schwitzen, gehe ich lieber ab und zu in die Sauna. (Wozu wohnt man sonst in einer Thermenregion mit ermäßigten Eintritten für alle Bewohner der umliegenden Bezirke?)

Über das Leben der Arbeitskräfte, die Vollzeit alles rund um die Lüftung, die Aufgüsse und die Reinigung in den Saunen erledigen, hatte ich mir allerdings noch nie Gedanken gemacht. Es lebt eben jeder in seiner eigenen Welt. Das änderte sich aber letztens, denn gegen meine Gewohnheit blieb ich bis spätabends und machte auch noch die allerletzte Runde mit: Spezialaufguss mit Bergamotteöl, begleitet von Entspannungsmusik. Gertrude, so hatte sich die Saunameisterin vorgestellt, machte ihre Sache trotz der vorgerückten Stunde mit Bravour: Zum ich weiß nicht wie vielten Male an diesem Abend schwenkte sie mit energischer Professionalität und mit schweißglänzendem Gesicht die Frotteefahne, goss in regelmäßigem Abstand genau die richtige Menge an frischem Wasser auf die heißen Steine, bis ihr Kübelchen leer war, und schaltete dann ihren mitgebrachten CD-Player an. Mit liebevoller Strenge ermahnte sie uns, still zu sein, um einander nicht zu stören. Mich wunderte, dass alle gehorchten, ohne Ausnahme, sogar die Männer, sogar ich, aber sie strahlte eben echte Autorität aus. Danach war ich bereits geduscht und wollte mich im Bademantel gerade in Richtung Ausgang bewegen, als ich bemerkte, dass Gertrude, diesmal nur in ein Handtuch gewickelt, erneut in der Sauna verschwand. Die hat doch schon Feierabend und mit putzen ist die sicher auch schon fertig, dachte ich irritiert. Es ist elf Uhr abends. Wieso geht die nicht nach Hause ?

Unauffällig spähte ich durch das kleine Fenster neben der massiven Holztür ins Innere: Da lag sie auf ihrem Handtuch, nackt auf der obersten Bank ausgestreckt und mit geschlossenen Augen.

Wenn meine Neugier einmal erwacht ist, benehme ich mich manchmal wie ein Kind. Ohne groß nachzudenken, öffnete ich also die Tür und trat ein. Da stand ich nun und hielt Gertrudes Blick stand, sie musterte mich unwillig, wahrscheinlich konnte sie es nicht fassen, was für unverschämte Leute es heutzutage gab. "Entschuldigen sie bitte", beeilte ich mich daher zu sagen, und zog sofort mein As aus dem Ärmel, besser gesagt aus dem Mund: "Ich bin Autorin und sammle immer Ideen für meine Geschichten. Dass sie nach Dienstschluss in die Sauna gehen, fasziniert mich. Darf ich sie kurz interviewen?"

Wie erwartet, verschaffte mir dieser als Satz getarnte Dietrich umgehend Zugang zu Gertrudes Innenleben; Menschen mögen es eben, wenn man ihnen unvoreingenommenes Interesse entgegenbringt. Bereitwillig, fast erfreut setzte sie sich auf und beantwortete meine Fragen. Unter anderem erzählte sie mir, dass sie an einem normalen Arbeitstag bis zu sechs Stunden im Inneren der Sauna verbringe.

Sie und auch alle ihre Kolleginnen-sie seien hier ein rein weibliches Team-gingen nach Dienstschluss nochmal rein, um endlich selbst in Ruhe zu schwitzen. Sie liebten die Hitze eben über alles und wollten sie, wenn alle Gäste weg seien, ganz für sich haben, es sei wie eine Sucht. Ich sah auf das Thermometer an der Wand. Es zeigte immer noch 80 Grad.

Zehn Jahre sei sie schon in diesem Beruf tätig, Vollzeit, sie könne sich nichts Besseres vorstellen; früher habe sie allerdings auch nebenbei Schwimmkurse für Babys und Kinder abgehalten, da sei sie oft auch acht Stunden pro Tag im kalten Wasser gewesen.

Ich kann auch staunen wie ein Kind: Bis gerade eben hatten in meinem Kopf nur Menschen wie Polarforscher, Wüstenexpeditionäre, Bergsteiger, Tiefseetaucher, Hochofenarbeiter und so weiter ein Leben in Temperaturextremen gelebt. Nichts, was man normalerweise in der gewohnten Umgebung oder gar im Bekanntenkreis hätte.

Ich bedankte mich bei Gertrude für die Erweiterung meines Horizonts und verabschiedete mich. Es war Mitternacht geworden. Fünf Minuten später war ich zuhause, aber an Schlaf war nicht zu denken, denn das Erlebte wirkte in mir nach. Gedankenverloren setzte ich mich an mein Notebook.


Was träumt eine Saunameisterin, feierabends, allein an ihrem heißen Arbeitsplatz ?

In einer weiten Schneelandschaft liegt ein zugefrorener See und an seinem Ufer steht ein Klavier aus Eis. Es ist helllichter Tag, die Sonne bringt alles ringsum zum Gleißen, geblendet kneife ich die Augen zusammen und kann den, der dort sitzt und spielt, kaum erkennen. Nur die glashellen Töne höre ich, rein und scharf klirren sie durch die Luft und piksen meine heiße Haut wie winzige Eisnadeln. Ein wohliges Frösteln ist das, und mich verlangt bald nach mehr: "Komm", rufe ich also, "Wer immer du bist, komm zu mir, und lösche meine Glut!" Und wirklich, nach kurzem Zögern erhebt er sich und stakst durch den knöcheltiefen Schnee bis vor meine Tür. Er tritt ein, und im dämmrigen Licht meines Reiches betrachte ich ihn: Schön wie ein Engel ist er, das versteht sich von selbst, schlank und groß und muskulös- und jung, natürlich, was sonst. Seine Miene ist fragend und fiebrig sein Blick- da packe ich ihn am Handgelenk und ziehe ihn zu Boden, hastig reiße ich ihm die Kleider vom Leib und werfe mich auf ihn: Mund, Brust, Bauch, Schenkel und Arme umschlingen ihn wie ein hungriger Krake, ich wälze mich mit ihm herum wie von Sinnen, und endlich packe ich auch seine Hüften, gierig nach seiner köstlichen Kälte will ich ihn ganz, nicht nur auf mir, auch in mir. Doch nur einen viel zu kurzen Moment durchdringt er mich mit eisiger Wonne: Denn obwohl er anfänglich nur ein wenig getropft hat, ist er bald schon in kleinen Bächlein geronnen, und schließlich ist er so schnell dahin geschmolzen wie ein Eiswürfel auf einer Herdplatte. Unbefriedigt sitze ich in einer dampfenden Lache am Boden, das ist alles was mir bleibt.




Eine Wolke hat sich inzwischen vor die Sonne geschoben, und jetzt kann ich auch den Palast erkennen, der unweit des Seeufers steht: Die Schneekönigin steht an einem der Fenster und blickt reglos auf das stille Klavier.

Jetzt wühlt mich auch noch Reue auf: Was habe ich getan? Ich habe wohl ihren Geliebten verführt, gedankenlos, und nicht nur das, ich habe ihn vernichtet und nicht einmal nach seinem Namen gefragt.

Warum hat er sich nicht gewehrt, warum ist er meinem Ruf gefolgt?

(Bedrohlich senkt sich die Waagschale mit meinem Herzen darauf. So wird das nichts mit dem Paradies. Ich muss mir etwas einfallen lassen, bei Maats Feder!)

"Es tut mir leid", rufe ich ihr deshalb zu, zerknirscht bis ins Mark."Morgen erfinde ich ihn neu und begnüge mich mit seinem Spiel. Versprochen. Du kannst ihn behalten, ich lasse ihn dir für dein kaltes Bett. Dort ist er wenigstens sicher."

Ihr Lachen knackt trocken wie brechendes Eis. "Er hatte mich ohnehin satt und langweilte sich ständig. Weg wollte er von mir, der undankbare Bursche, dauernd hat er damit gedroht, mich zu verlassen. 'Ikarus' hat er sich in letzter Zeit genannt, ein Künstlername. Völlig überspannt. Ich gehe davon aus, dass er dich

erfunden hat." Sie schüttelt den Kopf. "In eine Sauna flüchten. Unglaublich. Das hat er jetzt davon, dieser Narr."

Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und verschwindet in den Tiefen ihres Gemachs.

Ernüchtert sitze ich vor meiner Tastatur.

"Das wird mir jetzt alles zu absurd", sage ich zu mir selbst, "ich mache jetzt wirklich einen Punkt (hinter meinen letzten Satz) und gehe endlich

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Tag der Veröffentlichung: 02.02.2012

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