Orbit 5, Station 13, 2300 irdischer Zeitrechnung
"Lass mich mit dem Ding allein"
Widerwillig erhob sich Mien von ihrem Platz und strebte mit schwimmenden Bewegungen der Ausgangsschleuse des kleinen Besprechungsraumes der Raumstation zu. Karp, der den Befehl gegeben hatte, blieb sitzen, fest mit einer Art Karabiner am schwebenden Tisch verankert. Er beugte sich erneut stirnrunzelnd über den Fund, der ihm und seiner Mitarbeiterin nun schon seit Tagen Kopfzerbrechen bereitete.
Musste ausgerechnet seine kleine Forschungseinheit, die eine völlig unbedeutende Rolle unter den anderen, größeren ihrer Art einnahm, den unumstößlichen
Beweis für eine andere intelligente Lebensform aus dem Weltall fischen?
"Der Beweis!"
Er schnaubte."Jetzt haben wir ihn! Jetzt wird unser Leben völlig auf den Kopf gestellt ..."
Er grübelte ein bisschen über den Unterschied zwischen Vermutung und Gewissheit. Erstere ließ alles offen, ein freies gedankliches Spiel der Möglichkeiten. Ohne Risiko.
Letzteres ... War es wirklich so erstrebenswert, ganz genau zu wissen, dass da draußen andere denkende Wesen existierten? Und ihre Augen mit derselben bangen Frage zum nächtlichen Himmel hoben?
"Das Definitive ist das End-gültige. Das Endgültige ist das Ende der Welt wie wir sie kennen ..." murmelte er.
Und diese hatte weiß Gott ernstzunehmende Probleme. Kaum waren Jahrtausende kriegerischer Auseinandersetzungen überwunden, fing das Zeitalter der gnadenlosen Technisierung und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen an. Gefolgt von Umweltverschmutzung, Naturkatastrophen und schleichender Unfruchtbarkeit.
Nach anfänglicher, drohender Überbevölkerung war die Rasse kontinuierlich geschrumpft und klammerte sich in den paar Ballungszentren, die noch bewohnbar waren, an das bisschen Leben, das sie noch hatten. Gelder für die Weiterentwicklung der Raumforschung gab es schon lange nicht mehr. Alle Stationen, die noch in den diversen Orben kreisten, waren überaltert und konnten gerade noch in Stand gehalten werden. Nachbestückung war keine geplant.
Astronaut war ein Beruf, der mit den letzten, die noch die Chance gehabt hatten, ihn zu ergreifen, sterben würde.
"Warum jetzt?" setzte er sein Selbstgespräch fort." Zweihundert Jahre früher, und wir wären zu Besuch gekommen."
Er dachte an die Maura X 144, die in jedem Geschichtsbuch einen fixen Platz erobert hatte: Der Höhepunkt des technischen Fortschritts, ein Wunderwerk, das imstande gewesen war, den Hyperraum zu durcheilen, ohne an die Lichtgeschwindigkeit gebunden zu sein.
Die Maura X 144 hatte damals viele Welten entdeckt. Alle kalt und tot wie Stein oder heiß und feindlich wie die Hölle.
Heute fristete sie im technischen Museum der einzigen übriggebliebenen Metropole ein ehrwürdiges, aber nutzloses Dasein. Die häufigen, fieberhaften Weltraumexpeditionen, hatten den Großteil der globalen finanziellen Ressourcen verschlungen hatten. sie galten heute als Hauptgrund des kritischen Zustands ihres Planeten.
Er wog das seltsame Objekt in der Hand. Am liebsten hätte er es in die Ecke gepfeffert, doch der Raum war rund und das Fehlen der Schwerkraft nahm dem Impuls ihren Sinn.
Statt dessen grübelte er weiter."Ja, wir hatten die Möglichkeit, doch waren wir damals wirklich schon reif für die 'Anderen'? Sind wir es heute? Was nützt uns das Wissen, dass es euch gibt, wenn wir euch nicht wissen lassen können, dass wir es wissen?"
Immer wieder fuhren seine Finger über die Zeichen und Gravuren auf der Platte. Am irritierendsten waren die Ähnlichkeiten. Das Material war eindeutig metallisch, aber in einer Farbe, die ein Metall einfach nicht haben konnte.
Die grafisch dargestellten Wesen, ein Mann und eine Frau,waren ohne jeden Zweifel
organischen Ursprungs und höher entwickelter Natur.Dennoch wirkten sie wie groteske Karitaturen. Als hätte sich jemand über die Proportionen zweier durchschnittlicher, gesunder Körper lustig gemacht
Und das Lächerlichste: Eine schematische Ansicht des Wasserstoffatoms. War das der Höhepunkt ihrer Wissenschaft gewesen? Waren sie stolz, das Wasserstoffatom entdeckt zu haben?
Das war ja zum Schreien. Es musste eine sehr primitive Rasse sein ... Aus einem Sonnensystem-auch dieses war dargestellt- von dem noch nie jemand etwas gehört hatte und das wohl viele Lichtjahre entfernt vor sich hin trudelte.In einem anderen Winkel der Galaxie.
Mien unterbrach seine Gedanken. Leise hatte sie sich wieder herein manövriert und nun schwebte sie mit ernster Miene vor ihm.
"Was hast du jetzt vor, Karp? Du weißt, du musst eine Entscheidung treffen. Morgen ist der wöchentliche Rapport an die Basis fällig"
Karp stöhnte. "Schlechter könnte der Zeitpunkt für eine Enthüllung wie diese nicht sein, Mien. Bestenfalls schert sich keiner drum, unser Planet hat größere Probleme, als sich über einen anderen bewohnten den Kopf zu zerbrechen. Schlimmstenfalls bekommen die Putschisten und Weltuntergangssekten wieder Auftrieb. Was ist wenn ein paar Verrückte versuchen, die Maura zu stehlen und abzuhauen? Oder die letzten Staatsgelder verschleudert werden, weil für ein paar Reiche die Hoffnung besteht, in eine neue Welt auszusiedeln, bevor unsere endgültig stirbt?
"Wir könnten zu diesen Reichen gehören" sagte Mien trocken. Ihr Blick war hart. "Wir. haben. den Beweis. gefunden! Unser kümmerliches Leben auf der Station wird enden. Das ist der Lift nach ganz oben.'Karrieresprung'"
Karp schwieg.
"Karriere? Schon mal gehört?" setzte Mien sarkastisch nach.
"Außerdem, von persönlichen Interessen, zu denen ich auch stehe, abgesehen, ist es unsere Pflicht, unsere Entdeckung offenzulegen! Es ist der Beweis
! Wir sind nicht nur unserem Planeten, seinen Bewohnern und der Wissenschaft, sondern ganz allgemein der Wahrheit verpflichtet!"
"Oh, was für ein großes Wort! Da spricht wohl der Berufsethos aus dir?" ätzte Karp.
"Karrieregeiles Biest!" dachte er bei sich.
Er riss sich zusammen. "Du hast ja recht, Mien" log er. "Morgen geben wir es bekannt. Unsere Welt ist fast am Ende. Vielleicht entsteht daraus ein neuer Anfang ..."
Er war nie der Typ gewesen, den es ins Licht der Öffentlichkeit drängte. Der Gedanke an den Medienrummel ließ ihn schaudern. Doch führte kein Weg daran vorbei, nicht bei dem was er vorhatte. Ein lebenslanger Gefängnisaufenthalt war ihm gewiss, wenn nicht die Todesstrafe. Er würde seinen Karrieresprung haben, aber nicht nach oben.
Nachts schälte er sich aus seiner Schlafkabine, tastet sich lautlos in der Dunkelheit vorwärts und fand die Eingangsschleuse zum Sicherheitsraum mühelos. So wie den Tresor. Er kannte diese Station schließlich wie seine Westentasche ...
Die Platte in der Hand navigierte er weiter Richtung Müllschacht. Dann fiel ihm etwas ein. Mit der freien Hand fischte er einen Stift aus seiner Hosentasche, zog die Verschlusskappe mit dem Mund ab und malte auf die Rückseite ein Symbol. Zumindest auf seiner Welt kannte es jeder: Es bedeutete tief empfundenes Bedauern und die Bitte um Vergebung.
Etwas, was ihm vor dem Gesetz und den Augen der breiten Masse nicht zuteil werden würde ...
Entschlossen schob er den Fund in den Schacht. Nach einem leisen, saugenden Zischen verschwand er wieder in den Tiefen von Orbit 5.
Forschungsschiff, 2600 irdischer Zeitrechnung
"Das ist doch ...das gibt's doch wohl nicht ..." Tonk, der Kontrolltechniker, betrachtete verblüfft den Gegenstand, den er soeben bei seinem nächtlichen Kontrollgang aus einem der inneren Kühlungsgitter gefischt hatte. Dieser war offenbar von draußen eingesaugt worden und hätte fast eine veritable Störung in der vollautomatischen Klimaanlage des Schiffs verursacht.
Gliese 581g, ein erdähnlicher Planet in sogenannter habitabler Zone, der in gebundener Rotation um einen roten Riesen kreiste, war zwar bereits im Jahre 2010 entdeckt worden.
Es hatte allerdings noch sehr lange gedauert, bis die menschliche Wissenschaft ein Schiff präsentierte, das 20 Lichtjahre in nur dreizehn Monaten zu überwinden vermochte.
Trotzdem war die Expedition in gewissem Sinne eine Enttäuschung gewesen.
Die eine, der Sonne zugewandte Seite dieses zuerst so vielversprechenden Himmelskörpers war enorm heiß und voller gigantischer Wirbelstürme. Die andere, dem Weltall zugewandte, war in ewigem Eis erstarrt. Zwar hätte Gliese in den dämmrigen Randzonen intelligentes Leben hervorbringen können. Wasser in flüssiger Form war dort ja vorhanden.
Gefunden hatten sie aber nur einen undurchdringlichen Dschungel nebst allerhand niedrig entwickeltem Getier. Die Ähnlichkeit zu irdischer Fauna und Flora war unbestreitbar, obwohl die organischen Formen allesamt wie ins Lächerliche gezerrte Karikaturen dessen wirkten, was auf der Erde wuchs und kreuchte.
Gut, die Bio- und Zoologen würden ihre Freude haben, doch die wirkliche Sensation, das Auge in Auge mit anderen, denkenden Lebewesen war ausgeblieben. Diese mussten sich wohl erst in langen evolutionären Zyklen entwickeln...
Morgen stand der Befehl zum Rückflug bevor.
Und jetzt? Tonk hatte die Platte sofort erkannt, ein historisches Artefakt aus der langen Geschichte der Raumfahrt, es war die allererste menschliche Botschaft ins All gewesen ... Die primitivste, aber auch die rührendste, viele, technisch weit ausgefeiltere, waren ihr gefolgt. Nie war eine Antwort gekommen.
Die schematische Darstellung eines Wasserstoffatoms, Grafiken eines nackten Mannes und einer nackten Frau, ein Koordinatengitter, das die Position der Erde im Weltall anzeigte und eine symbolische Ansicht unseres Sonnensystems auf goldglänzendem Metall.
1971 war die Botschaft ins Weltall entlassen worden.1971! Doch dass sie nun hier auftauchte, gerade gegen Ende der ersten terrestrischen Erkundungsmission über die Grenzen des bekannten Universums hinaus, das schlug dem Fass den Boden aus!
"Die Wahrscheinlichkeit muss so gering sein, dass man das nur als 'absolut unmöglich' bezeichnen kann" murmelte er und drehte die Platte in der Hand, um sie auf Schäden zu untersuchen.
Dann stockte ihm der Atem. Er blinzelte, wie um eine optische Täuschung zu vertreiben. Am Ende starrte er immer noch auf das Symbol, ungelenk mit einer Art Filzschreiber auf die Rückseite gekritzelt: Eine Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger.
Er zog zischend den Atem ein. Gut, das war jetzt eindeutig der Beweis. Es hatte hier also doch bewusstes Leben gegeben. Eine Zivilisation, die vor gar nicht so langer Zeit untergegangen sein musste. Dann lag unter dem Urwald wohl alles Mögliche verborgen. Das hieß, noch viele irdische Schiffe würden hierher folgen, und auch die Archäo- und Anthropologen würden jubeln.
Das Ganze würde weitere Unsummen verschlingen- Geld, das für bereits laufende, vielversprechende Projekte nicht mehr zur Verfügung stünde...
Und wozu? Um eine ausgestorbene Rasse zu erforschen, der auf die zart hingehaltene Hand der Menschheit nur eine grobe Schmähung eingefallen war? Sollte er so einen Gruß nach Hause bringen, am Ende der Mission, die Krönung und Hoffnung jahrhundertelangen menschlichen Forschens gewesen war?
"Für euch werden wir nicht unseren letzten Cent verblasen, Freunde. Da bauen wir lieber die Mond- und Marsminen weiter aus"
Gut, dass ihn niemand beobachtet hatte ... alles lag in seiner Hand.
Er hangelte sich zum Müllschacht.
"Ihr uns auch"
Mit Schwung warf er die Platte ein. Die Neutronenstrahlung vernichtete sie sofort.
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2011
Alle Rechte vorbehalten