Der wöchentliche Besuch bei meiner Mutter ist fällig, ich sitze mit untergeschlagenen Beinen auf ihrer Couch, sie mir gegenüber, wir plaudern über dieses und jenes, und wie immer landen wir bei der " gesunden Ernährung" und beim "Sport" . Von beiden Themen ist meine Mutter geradezu besessen, diszipliniert radelt sie auf ihrem Hometrainer eine volle Stunde pro Tag, eine weitere Stunde macht sie Gymnastik. Ihre Ernährung ist praktisch fettfrei, außer Gemüse, Obst, Nüssen, magerem Fisch, Hüttenkäse und diversen Nahrungsergänzungsmitteln nimmt sie wenig zu sich.
Natürlich erklärt das allein noch nicht, warum sie mit ihren siebenundsechzig aussieht wie knapp fünfzig.
Hinter ihr an der Wand prangt ein überlebensgroßes Porträtfoto von ihr, an den Regalen stehen weitere, kleinere, in teuren metallenen Rahmen. Alle diese Bilder sind erst ein paar Jahre alt, auf allen sieht sie jung und strahlend aus, sie stammen von den Modeschauen und Frisurwettbewerben, bei denen meine Mutter mitgewirkt hat.
Sie ist "Model 50+": Weißblondes, langes Haar, eine tolle Figur, das Gesicht beinahe glatt und ebenmäßig. Immer nach der neuesten Mode gekleidet, in High Heels. Ein "steiler Zahn".
Prominenten Frauen, die in Talkshows betonten, für wie überflüssig sie Schönheitsoperationen hielten, habe ich innerlich immer zugestimmt. Wie wichtig es sei, in Würde zu altern, wie sehr jede Falte eine Geschichte erzähle. Wie sie Frauen verachteten und bemitleideten, die ein so schwaches Selbstbewusstsein hätten, dass sie sich unters Messer legten.
Trotzdem habe ich meiner Mutter gegenüber immer den Mund gehalten, wenn sie beiläufig erwähnte, dass sie wieder einmal in der "Schwarzl -Klinik" gewesen sei. Großteils, weil ich ihr diese zurückhaltende Toleranz in gewissem Maße schulde: Sie hat meine Schwester und mich weder als Kinder noch als Erwachsene jemals schroff kritisiert, und wir beide haben es durchaus bunt genug getrieben, um eine Mutter vor Sorge und Ärger die Wände hoch zu treiben und ausrasten zu lassen.
"Will ich so genau gar nicht wissen", pflegte ich mir die Details zu ersparen, "Ist deine Sache, was du mit deinem Geld tust."
Das meinte ich beileibe nicht zynisch, denn meine Mutter ist nicht nur tolerant, sondern auch großzügig und spendiert meiner Schwester, mir und unseren Kindern so manches. Nie erlaubt sie es dem Leben, uns allzu hart auf dem Boden der Realität aufschlagen zu lassen, immer springt sie gütig als "Joker", als letzte Nothelferin ein, damit wir etwas weicher landen. Vorletztes Jahr zum Beispiel wollte ich mein Auto verkaufen, aus akuter Geldnot, es war knapp vor Weihnachten.
Sie hat es gekauft und mir dann geschenkt.
Das ist sie. Sie ist auch die taktisch kluge Versöhnliche, die im Winter ihrem Nachbarn das Auto freischaufelt und dann ihm und seiner Frau noch einen Kuchen vorbeibringt, obwohl er ihr in der Woche davor einen Platten gestochen hat. Um ihm zu zeigen, wie gute Nachbarschaft funktioniert. Um ein Vorbild zu sein.
Sie ist aber auch das "Crazy Horse", das im Fernsehen bei der "Barbara Karlich Show", Österreichs bekanntestem Talkformat, zum Thema "Disco -Oma" auftritt, und das in vollem Ornat.
Ungläubig saßen meine Kinder und ich vor dem Bildschirm und betrachteten mit heruntergeklappten Kinnladen die Frau im Glitzerkostüm, die vor laufender Kamera tanzte und laut, falsch und mit Begeisterung ins Mikrofon sang. Nachher ließ sie gleichmütig die Schmähungen derjenigen Studiogäste über sich ergehen, die der Überzeugung waren, Frauen über sechzig sollten abends zuhause bleiben und sich nicht mehr öffentlich exponieren.
Zusätzlich zu ihrem täglichen Sportprogramm geht sie nämlich zweimal die Woche tanzen, ins "Mammamia", ein Schuppen mit Taxi-Tänzern und Tischtelefon, sie ließe es niemals ausfallen, und wenn die Welt unterginge, sie lebt dafür.
So wie für den Flirt. Folgerichtig war sie im Jahr darauf bei derselben Show zum Thema "Wilde Henne" zu Gast, ich musste mit und saß angespannt im Publikum, voll böser Vorahnungen, was sie diesmal wieder zum Besten geben würde.
Und richtig: Auch einer ihrer damals drei Liebhaber war dabei, er wurde diesbezüglich interviewt und druckste rum, mit hochrotem Kopf, sie dagegen war wie immer selbstbewusst und behauptete, drei Männer wären für eine Vollweib wie sie ja wohl das Minimum, einer repariert die Waschmaschine, einer kocht, einer verwöhnt im Bett. Ich wünschte mir, der Erdboden möge sich auftun und mich verschlingen, bevor die Moderatorin auf die Idee käme, mich als Tochter der wilden Henne zu ihr zu befragen. Ich hatte Glück und der Kelch ging an mir vorüber. Noch nie im meinem Leben habe ich mich für meine Mutter so geschämt
Die "Wilde- Henne- Phase" währte aber Gottseidank nicht allzu lange, und von ihren drei Liebhabern hat sie am Ende nur einen behalten: Den Jüngsten. Er ist so alt wie ich.
Ich erinnerte mich an sie nur mehr so, als sei sie nie eine andere gewesen: Als Unikat, als absurd jung aussehende Blondine über sechzig, die tat, was ihr gefiel und sich nicht nur keinen Deut um die Meinung anderer Leute scherte, sondern es im Gegenteil genoss, wenn sich andere, mittelmäßigere, neidvoll über sie das Maul zerrissen.
Heute beschließt sie allerdings, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Mitten im Gespräch steht sie auf einmal auf , zieht einen losen Packen Fotos aus einer Schublade und drückt ihn mir in die Hand.
"Weißt du noch, wie ich früher ausgesehen habe?" fragt sie wie nebenbei.
Schon nach dem dritten Bild schießen mir die Tränen in die Augen und würgen mich im Hals, zu plötzlich taucht eine Vergangenheit auf, die ich, wie ich nun merke, komplett verdrängt habe.
Eine unförmige, entstellte Frau blickt mir entgegen, das Gesicht aufgequollen von starken Medikamenten, Hals, Kinn und Dekolleté verunstaltet von kropfähnlichen Schwellungen , das schwarze Haar unvorteilhaft in die Art Betondauerwelle modelliert, wie sie in den späten 80er Jahren so beliebt war.
Noch mehr Fotos, diesmal älteren Datums: Auch in den frühen 80ern, knapp nach der Geburt meiner Schwester, war sie schon gezeichnet von der beginnenden Krankheit. In den 50ern noch die junge, adrette, gertenschlanke Schwarzhaarige, so eine Art "Liz- Taylor -Typus".
Dazwischen eine Aufnahme unmittelbar nach der ersten Operation in der "Schwarzl-Klinik", großflächig einbandagiert wie eine Mumie starrt sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber grimmig wie eine Kriegerin in Richtung Kamera.
Dann ein Bild, ungefähr ein halbes Jahr danach: Ein nicht wiederzuerkennender Mensch ist zu sehen, vollschlank, mit einem völlig neuen Gesicht, und einer komplett anderen Frisur und Haarfarbe.
"Du weißt ja, als ich jung war, bin ich auch oft tanzen gegangen, hab mich gern herausgeputzt und war immer so zum Spaßen aufgelegt, doch mit der Krankheit, es war kein Leben mehr, dreißig Jahre lang, ich hätte ich mir am liebsten einen großen Sack drüber gestülpt und mich im Haus verkrochen. Ich habe es so lange vor mir hergeschoben ...Weißt du, warum ich mich dann doch dazu entschlossen habe? Eine Photographin hat sich geweigert, mich ohne Halstuch zu fotografieren. Ich dachte mir, wenn die mich nicht einmal mehr anschauen kann ... Am nächsten Tag habe ich mich für die erste OP angemeldet."
Ich schaue sie an, endlich löst sich der Knoten in meinem Hals und ein paar Tränen rinnen erlösend über meine Wangen.
"Ich hätte dich auf den alten Fotos nicht einmal mehr erkannt" ,gebe ich zu, "Das schockiert mich, du, damals, das ist wie aus meinem Gedächtnis gelöscht."
Sie lächelt. "Das ist doch kein Grund zum Weinen, ich trauere diesen Zeiten nicht im geringsten nach, im Gegenteil. Und:Ich habe meine Umwandlung keinen einzigen Tag bereut."
Ich betrachte die Aufnahmen nochmal, voller Konzentration, es muss doch irgendetwas Verbindendes geben in diesem "Vorher-Nachher", ein untrügliches, unveränderbares Erkennungsmerkmal, und ja, da ist es: Ihr Lächeln, so wie ich es auch jetzt an ihr sehe, strahlt mir sogar auf den schlimmsten Bildern entgegen, nicht einmal diese brutale Krankheit und die chemischen Bomben zu deren Bekämpfung besaßen die Macht, es zu zerstören.
Das Lächeln einer Frau, der ungebändigter Schalk und Lebenslust aus Mund und Augen leuchten.
Trotzdem schäme ich mich und sage ihr das auch. All die Jahre bin ich zu sehr mit mir beschäftigt gewesen, mit meinem Leben, meiner Familie, meinem Job, meinen unzähligen Problemen.
Ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht, wie genau man mit so einer Krankheit fertig werden kann, und sie hat nie darüber gesprochen. Nie ist mir vollends bewusst geworden, was es sie gekostet hat, welch hohen Preis sie diesem heimtückischen Räuber Stück für Stück entrichten musste: Ihre Schönheit in der Blüte ihrer Jahre.
Ab heute ist das anders.
Jetzt kann ich es sehen, sage ich beim Heimfahren zu meinem jüngeren, blinden Selbst, das was du nicht gesehen hast, obwohl es sich vor deinen eigenen Augen
abgespielt hat: Sie hat dem Schicksal die Stirn geboten, auf ihre Art. Den Spieß umgedreht und sich alles zurückgeholt. Zurückgekauft. Beinhart. Unters Messer. Um wieder ein Leben zu haben.
Ich bin im Allgemeinen immer noch kein Fan von Schönheitsoperationen, und wenn sich junge, hübsche, gesunde Frauen so etwas antun, bringe ich kein Verständnis auf. Aber über meine Mutter werde ich den Stab nicht mehr brechen.
"Bevor du ein Urteil fällst, wandere erst fünftausend Meilen in den Mokassins des anderen" heißt es in einem alten indianischen Sprichwort.
Mutter, im Licht der Wahrheit: Ich habe verstanden.
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2011
Alle Rechte vorbehalten