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Der Kuss des Todes

 

Bereits seit Anbeginn der Menschheit sorgten Abkömmlinge himmlischer Wesen für ein besonderes Gleichgewicht in der Welt der Menschen. Es gab Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod sowie Liebe und Hass. Für jede Kategorie war ein Engel zuständig und so fiel es vor einigen Jahrhunderten mir zu, die Aufgabe des Amors zu übernehmen und sich um die Liebe zu kümmern. Zunächst ein problematisches Thema und eine verhasste Aufgabe für mich. Schließlich war es kein Geheimnis, dass der Amor oder Cupido, wie er oft auch genannt wurde, bei den Menschen als kleines nacktes Kind dargestellt wurde, das Pfeil und Bogen hielt. Eine Beleidigung in meinen Augen, schließlich war ich mit meiner recht stattlicher und etwa 1.80m großen Statur nicht mit eines dieser scheußlichen Bilder zu vergleichen. Aber ich hatte das Los gezogen und ich würde den Teufel tun, meinen Schöpfer zu enttäuschen.

Als ich mit nackten Füßen über das halbgefrorene Gras der Wiesen ging, musste ich enttäuscht feststellen, dass viele Menschen die Natur aufgrund des Wetters mieden. Aber auch der technische Fortschritt trug seinen Teil dazu bei. Es war schwieriger für mich geworden, die Menschen direkt, im wahren Leben, zueinander zu bringen. Seit einiger Zeit wagten sie kaum mehr einen Fuß vor die Haustür und vergnügten sich stattdessen im WorldWideWeb. Nur die vielen Partnerportale, die mich bei meiner gottgegebenen Aufgabe unterstützten, ließen mich nicht vollkommen verzweifeln. Ich wollte gerade den Park wieder verlassen, als der Geruch von frisch erblühten Rosen in meiner Nasenspitze kitzelte. Hinter mir raschelte das gefallene Herbstlaub und als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf eine hübsche Brünette, die dem Wetter mutig trotzte. Ihr königsblauer Mantel war mit einer silberfarbenen Schnalle eng an ihrer Taille zusammengebunden, der kalte Oktoberwind streichelte ihr durch das kastanienbraune Haar und trug ihren lieblichen Duft geradewegs in meine Richtung. Meine feinen Geruchssinne verrieten mir, dass die Schönheit sich noch nicht in festen Händen befand. Es war der sanfte, kaum wahrnehmbare, bittere Unterton der Einsamkeit, der es mir mitteilte.

Die Kälte hatte die elfenbeinweiße Haut ihrer Nasenspitze und Wangen einen hübschen Roséton verliehen und in den Jahren meines unendlichen Lebens hatte ich noch nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen. Dieses Exemplar Mensch war ein außergewöhnlicher und wertvoller Diamant. Diese Frau verdiente nur das Beste. Glücklich darüber, doch eine Aufgabe gefunden zu haben, folgte ich diesem Diamanten, um mir ein besseres Bild von der Frau machen zu können. Nur wenn ich sie perfekt kannte, würde ich einen Mann finden können, der zu ihr passte. So erkannte ich schnell ihre Liebe zur Natur. Es waren diese himmelblauen Augen, die es mir verrieten. Sie huschten über die verschiedenen Bäume des Parks, betrachteten die unzähligen Farben des Herbstes und taten all das mit einer Intensität, als wollten sie alles in einem ewigen Bild festhalten. Ich erschrak, als diese tollen Augen genau auf meinem Körper haften blieben. Als würde sie mich direkt ansehen, was unmöglich war. Schließlich war ich für das menschliche Auge unsichtbar. Doch dennoch ertappte ich mich dabei, wie mir das Herz schneller schlug und sich die Luft, die mich umgab, zusehends erwärmte. Doch dann schüttelte meine Schönheit den Kopf und kehrte mir wieder den Rücken zu. Erleichtert atmete ich aus und dann sah ich es. Den schwarzen Schleier, der an ihren Füßen haftete. Mein Diamant wurde von einem Todesengel verfolgt. Eine unbändige Wut keimte in mir auf. Es war eine solche Schandtat dieser wundervollen Blume das Leben zu stehlen. Erst jetzt erkannte ich auch die Melancholie, die ihre auffällige Betrachtungsweise erklärte. Es war das Gefühl, das Jedermann befiel, der unmittelbar an der Schwelle des Todes stand. Nun wusste ich auch, dass dieses Gefühl, dass sie mich beobachtet hatte, nicht nur auf bloße Einbildung beruhte. Es gab zwei Zeitspannen zu denen ein einfacher Mensch die Anwesenheit von mystischen Kreaturen wahrnehmen konnte. Die erste Zeit betrifft die ersten Jahre nach der Geburt und dann kehrt diese verlorene Sensibilität unmittelbar vor dem Tod wieder zurück. Diese Frau hatte mich gespürt, genauso wie sie die Anwesenheit des Todes spüren musste. Obwohl ihr Schicksal besiegelt war und meine Aufgabe dadurch ebenfalls, konnte ich nicht von ihr ablassen. Eine unsichtbare Macht trieb mich dazu, ihr weiterhin zu folgen. Eigentlich hätte ich diese verlorene Zeit dazu nutzen sollen, um meiner eigenen Aufgabe nachzugehen aber ich konnte nicht. Langsam folgte mein Diamant dem breiten asphaltierten Weg des Parks. Die Nervosität kribbelte ihr im Nacken und der schwarze Schatten zu ihren Füßen wurde immer dunkler. Ihr Ende stand unmittelbar bevor. Eine Tatsache, mit der ich definitiv nicht einverstanden war. Ich musste sie retten, auch wenn ich es nicht durfte. Doch diesen Gedanken hatte ich nicht einmal zu Ende gebracht, als schon die ersten Worte über meine Lippen glitten.

„Halt“, rief ich verzweifelt.

Meine Worte waren nicht an die Frau gerichtet, sie würde mich ohnehin nicht hören können. Ich hatte die Worte gesprochen, um mit dem Todesengel einen Deal aushandeln zu können. Ich wollte dieser wunderschönen Blume noch ein paar Jahre mehr schenken, am liebsten so viele, wie ich sie selbst hatte, aber wenigstens noch so viele, dass sie von selbst verwelken konnte. So viel Zeit, dass der wunderschöne Kastanienton ihrer Haare, einem silbrigen Grau weichen konnte und ihre perfekte ebene Haut von kleinen Furchen des Alters gekennzeichnet werden würde. Aus der jungen Frau sollte eine ebenso schöne alte Dame werden, mit einem Mann an ihrer Seite, der sie so liebte, wie mein Diamant es schließlich verdient hatte. Aber Todesengel waren keine geselligen Geschöpfe und ihre Sturheit machte jeden Versuch, um ein paar Jahre zu feilschen, zunichte. Der schwarze Schatten trieb sein Opfer immer weiter vorwärts. Erst jetzt erkannte ich, wohin er sie führte. Meine Schöne schritt auf den steinernen Torbogen zu, der den Ausgang des Parks symbolisierte. Es gab nur einige Zentimeter Bürgersteig, die sie dann von der vielbefahrenen Hauptstraße trennen würde.

„Tu es nicht“, flehte ich den Todesengel an, aber immer noch blieben meine Worte unbeachtet.

„Geh nicht weiter“, richtete ich meine Aufforderung nun an die junge Frau, aber auch diese Worte waren vergebens.

Sie würde nicht mehr von mir hören können, als das Flüstern des Windes. Ich konnte nicht anders, als den Beiden weiterhin zu folgen. Das Herz schlug mir heftig in der Brust, so stark, das ich befürchten musste, das Organ könne mir eine Rippe brechen. Vielleicht war das auch schon geschehen, denn der dumpfe Schmerz in meinem Inneren, verhieß nichts Gutes. Mein ganzer Körper spielte verrückt. Kalter Angstschweiß rannte mir meinen nackten Rücken entlang und vermischte sich mit den weißblonden Haaren, die mir bis zu den Schultern reichten. Ich konnte bereits den Geruch der Abgase riechen, die meine feine Nase beleidigten und sich mit dem lieblichen Rosenduft von meiner Blume vermischten. Das Blut rauschte mir lautstark in den Ohren, dämpfte etwas die Geräusche der Hauptstraße. Es übertönte allerdings nicht das Quietschen der Reifen, die beim Bremsen blockierten und über die gefrorene Straße des frühen Oktobermorgens rutschten. Der Fahrer hatte sein todbringendes Gefährt nicht länger unter Kontrolle. Wie ein Wahnsinniger riss er am Lenkrad, doch die Reifen hatten schon lange den Grip auf dem Asphalt verloren. Er konnte nichts mehr tun, um die Lage abzuwenden. Mit einem lauten Knall prallte das Fahrzeug gegen den Bürgersteig und die kleine Erhebung brachte das Ungetüm dazu, sich zu überschlagen. Der Schatten an den Füßen meiner Hübschen wuchs mit einer bahnbrechenden Geschwindigkeit und noch bevor das Auto sie treffen würde, hatte der Todesengel seine wahre Gestalt angenommen. Seine skelettartige Hand griff ihr in den Nacken und zog sie in eine enge Umarmung. Galle stieg mir hoch bei seinem widerwärtigen Anblick. Sein Gesicht, das von einer schwarzen Kapuze verdeckt wurde, näherte sich ihrem. Er war dabei ihr den Kuss des Todes auf die zarten Lippen zu hauchen. Etwas, was mir den Magen umdrehte. Noch bevor ich mein Handeln überdenken konnte, war ich losgesprintet, um mich gegen sein Opfer zu werfen und es somit nicht nur aus den Fängen des Todes zu befreien. Auch das Auto verfehlte sein Ziel nur knapp. Als mein entfernter Verwandter dies erkannte, ging ein entsetzlich schriller Schrei durch die Luft, der mir fast das Trommelfell zerstörte. Die wenigen Vögel, die noch nicht nach Süden gezogen waren, schreckten aufgescheucht aus ihren Bäumen und flogen hoch in den Himmel, um dem grausamen Geräusch zu entgehen.

„Das wirst du mir büßen!“, ertönte die kehlige röchelnde Stimme nun dicht an meinem Ohr, dann war sie und somit auch er verschwunden. Nur das kalte Gefühl seiner Drohung blieb auf meiner Haut zurück. Ich hatte ihm sein Geschäft gestohlen und somit ohne Zweifel gegen mehrere Regeln in der Welt der Engel verstoßen. Jahrelang hatte ich mich darum bemüht, ein guter Diener zu sein und die Aufgabe eines Amors mit bestem Gewissen zu erfüllen. Ungeachtet der Tatsache, wie verhasst sie mir ursprünglich gewesen war. Doch nun hatte ich meine eigene Zukunft aufs Spiel gesetzt. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, welche Strafen mir dafür blühten und doch kam ich nicht umhin wenigstens ein wenig Freude zu empfinden. Unter meinem Körper befand sich mein Diamant, bis auf ein paar Schürfwunden im Gesicht, an den Händen und an den Knie sogar unverletzt. Ich hatte der jungen Frau das Leben gerettet. Eine Glückseligkeit breitete sich in meinem Inneren aus und vertrieb die Kälte der Angst. Das zarte Geschöpf unter meiner Brust regte sich. Ich nutzte den Moment, um von ihr herunterzusteigen und somit das unsichtbare Gewicht von ihrem zierlichen Körper zu nehmen. Sie rappelte sich auf und schlug sich die Hand vor den Mund, als sie auf den demolierten Wagen starrte. Ich folgte ihrem Blick und ich musste den Puls des Fahrers nicht messen, um zu wissen dass der Todesengel sich einen Ersatz geholt hatte. Blut tropfte aus einer riesigen Platzwunde an seiner Schläfe und sein Kopf hing regungslos auf den weißen Resten des Airbags. Das Auto war zuletzt auf seinen vier Rädern wieder zu stehen gekommen und die Beifahrerseite war durch die steinerne Abgrenzung zum Park völlig eingebeult. Hätte dort jemand gesessen, hätte der Todesengel gleich zwei Opfer ins dunkle Reich ziehen können. Das hätte niemand überlebt. Hinter mir hörte ich plötzlich das Schluchzen einer Frau. Meiner Frau. Heiße Tränen rannten ihr zartes Gesicht herab, vermischten sich mit dem Blut, das aus einer kleinen Schürfwunde ihrer linken Wange trat. Es war der salzige und eisenartige Geruch, der mir die Sinne vernebelte und doch war es nicht nur ihr Blut, das sich ihrem Rosenduft beimischte. Ich sah an mir herab und erkannte, dass auch ich blutete. Wie war das möglich? Schließlich war ich ein Unsterblicher, ein Unverwundbarer und doch war es mein Blut, das in dunkelroten Tropfen auf den Asphalt aufschlug.

„Was passiert hier?“, richtete ich meine verzweifelte Frage in den bewölkten Morgenhimmel. Nicht einmal das Licht der Sonne schaffte es, durch das trübe Grau zu dringen und doch wurde ich von einer Helligkeit geblendet, die meine Augen zum Tränen brachte. Ich wusste sofort, dass kein Himmelskörper für dieses weiße Licht verantwortlich sein konnte. Instinktiv schloss ich die Augen und als die feine liebliche Stimme eines Gesandten ertönte, war mir, als würde ich gerade bei lebendigem Leibe verbrennen.

„Das ist deine Strafe“, teilte mir das himmlische Wesen mit.

„Meine Unverwundbarkeit?“

„Nein, Luca. Es ist auch deine Unsterblichkeit.“

Ein Keuchen entglitt meiner Kehle. Durch mein Handeln hatte man mich zu einem Leben auf der Erde verdammt. Nun war ich ein Gefallener. Ein Engel, der sich nicht weiter von einem Menschen unterschied. Ich war nun genauso verletzlich, sogar anfällig für ihre Krankheiten und was noch schlimmer war, sterblich. Die helle Lichtgestalt verschwand und ich öffnete wieder die Augen. Mein Blick fiel direkt auf meinen Diamanten, den ich teuer bezahlt hatte. Doch war der Preis gerecht gewesen oder hatte ich zu viel geopfert?

„Du“, waren die ersten Worte ihrer sanften Stimme, die meine Sinne streichelte und verwöhnte.

„Du hast mich gerettet“, stellte sie nun entschlossen fest.

Sie schritt auf mich und schloss mich in eine herzliche Umarmung. Heiße Tränen flossen an meinem nackten Oberkörper entlang und trotz ihrer Wärme, zitterte ich am ganzen Körper.

„Oh Gott. Du frierst ja. Es tut mir entsetzlich leid.“

Ihre himmelblauen Augen musterten mein halbnacktes Erscheinungsbild und glitten auf das einzige Kleidungsstück, das ich am Körper trug. Eine ausgewaschene Jeans, die mir locker auf den Hüften saß und deren Stoff von Dreck und Blut befleckt war.

„Ich wollte gerade die Zeitung reinholen, als ich es gesehen habe. Ich bin sofort losgesprintet“, kam die Erklärung wie mechanisch über meine Lippen.

„Um mich zu retten“, vollendete sie den Satz.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und dann festigte sich der Ausdruck auf ihrem herzförmigen Gesicht wieder. Sie öffnete die Schnalle ihres blauen Mantels und legte mir das viel zu kleine Kleidungsstück über die Schultern.

„Dann sollten wir zurück in deine Wohnung gehen“, entschied sie.

Obwohl es verrückt war, führte ich uns Beide in die Richtung eines Mehrfamilienhauses, bei dem die Tür sperrangelweit offen stand. Ich wohnte hier. Obwohl ein kleiner Teil in meinem Inneren wusste, dass das unmöglich war, führte ich die Frau zielstrebig durch den Treppenflur, bis hin zu meiner Wohnungstür, die ebenfalls offen stand. Ich vergaß mein mystisches Leben, gab mich immer mehr diesem neuen Leben hin. Es dauerte nur die wenigen Minuten, die ich gebraucht hatte, um mir einen Pullover aus dem Kleiderschrank zu holen und überzuziehen, um auch den Rest meiner Vergangenheit zu vergessen. Ich kehrte zurück zu meinem Gast, der auf dem cremefarbenen Sofa wartete. Als sich unsere Blicke trafen, wusste ich, wie kostbar dieses Wesen doch war. Niemals durfte ich diese Frau mehr aus meinem Leben lassen. Irgendetwas gab mir das Gefühl, dass uns etwas ganz Besonderes verband.

Von draußen tönten die Sirenen der Polizei und des Krankenwagens, die bald am Unfallort eintreffen würden, doch ich hatte nur Augen für sie. Diesen kostbaren Schatz, meine Blume, mein Diamant.

„Ich sollte dann mal wieder gehen. Die Polizei benötigt sicherlich noch meine Aussage.“

Sie stand auf und machte Anstalten wieder aus meiner Wohnung zu verschwinden. Doch ich konnte sie nicht gehen lassen. Meine Hand schnellte vor, um sie am Arm zu packen und zum Stehen zu bewegen. Um uns herum knisterte die Luft, Hitze breitete sich in meinem ganzen Körper aus, Schmetterlinge tanzten in meinem Magen Ballett und mein Herz schien vor Ungeduld zu zerspringen.

„Die können noch warten“, raunte ich ihr ins Ohr, bevor ich ihre weichen Lippen in einem innigen Kuss gefangen nahm.

Sie wehrte sich nicht gegen die forsche und unangebrachte Berührung, stattdessen spürte ich ihre schmalen kalten Finger, die meinen Nacken umfassten, um mich näher an sie heran zu ziehen.

„Wie unhöflich von mir, ich kenne gar nicht den Namen meines Retters“, kicherte sie dicht an meinen Lippen.

„Luca. Luca Cupido“, antwortete ich ihr und küsste ihr zärtlich die Stirn.

Diese Frau würde ich nie wieder aus meinem Leben lassen.

Sie gehörte zu mir. Für immer und ewig.  

Ende.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.04.2013

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