Cover

 


ERSTES BUCH

- 1 -

 

Sein Spiegelbild hatte auch schon bessere Tage erlebt. Mit unbarmherziger Nüchternheit reflektierten die grellen Spots des Badezimmerspiegels die tiefen Ringe unter seinen Augen wider, während sein dunkles Haar zu Berge stand und einen heftigen Kontrast zu seinen nun wässrig-blauen Augen bot. Sie waren das Resultat einer sehr leidenschaftlichen, aber auch verdammt anstrengenden Nacht. Und doch, wenn John an die letzten Stunden zurück dachte, so wollte sein müder, kleiner Max da unten gleich wieder groß und stramm werden.
Aus dem Schlafzimmer hörte er Pamelas verschlafene Stimme rufen: „Liebling, komm wieder ins Bett zurück. Es ist erst 5.00 Uhr und noch tiefste Nacht.“
Nachdem John aber nicht reagierte, gurrte sie wie ein rolliges Kätzchen: „ Komm schon, mein wilder Hengst, ich zeig dir auch was Schönes.“
Verschmitzt lächelte er seinem ramponierten Spiegelbild zu. John hatte da schon eine Ahnung, was sie ihm zeigen wollte. Seufzend wandte er sich aber ab und strich mit seiner Hand über sein stoppelbärtiges Gesicht. Nach solch schweißtreibenden Nächten pflegte sein Bart besonders heftig zu sprießen, so dass er jetzt aussah wie ein Terrorist auf einem Fahndungsfoto.
Begleitet durch das leise Surren des langsam über seine Zähne gleitenden Bürstenkopfes geriet John ins Grübeln. So einzigartig und erfüllend der Sex mit Pam auch war, so konnte er den immer größer werdenden Wermutstropfen nicht mehr länger ignorieren. Heute Nacht war John zum ersten Mal so richtig bewusst geworden, dass das Alter an seine Tür zu klopfen begann.
Vor einer Woche hatte John seinen 41. Geburtstag gefeiert. Dass er bereits den 40iger überschritten hatte, sah man ihm aber nicht an. Johns schwarzes Haar war immer noch voll und nur an den Schläfen leicht angegraut. Und die paar Fältchen um seine Augen waren kaum der Rede wert. Sein durchtrainierter Körper zeigte noch keine Verschleißerscheinungen und sein jugendlich-dynamisches Auftreten ließ ihn wesentlich jünger wirken, als er wirklich war.
Doch jetzt fühlte sich John nicht wie Anfang dreißig, sondern wie Mitte sechzig. Schweren Herzens musste er sich eingestehen, dass es langsam an der Zeit war, mit seinen Kräften hauszuhalten. John fiel es immer schwerer, die halben Nächte durchzurammeln und mit nur zwei, drei Stunden Schlaf frisch und voller Tatendrang seinen Job zu machen. Diese Zeiten schienen ein für alle Mal vorbei zu sein, wenn er sein abgezehrtes Gesicht mit dem weißen Schaum der Zahnpasta um seinen Mund betrachtete.
So sehr er die Nacht mit Pamela auch genossen hatte, so war es doch ein Fehler gewesen, sich von seiner sinnlichen Frau so hinreißen zu lassen. Gerade heute hätte John einen klaren Kopf mit einem wendigen Geist gebraucht. Eine falsche oder unvorsichtige Bemerkung und Philipp würde schneller verduften als ein Furz im Wind.
Pamela hatte ihn aber gestern so lange angebettelt, bis er sich breitschlagen hat lassen und sie zu einer dieser elend langweiligen Cocktail-Partys ihres Onkels begleitete. Doch schon während der Party hatte ihn Pam mit ihren wollüstig-fordernden Blicken nicht aus den Augen gelassen. Sein wundervolles Weib war scharf wie eine Chilischote gewesen, sodass selbst den Gästen ihre Lüsternheit nicht entgangen war. Einige hatten verschämt gegrinst, während sich andere mit einem empörten Kopfschütteln abgewandt hatten. John hatte es aber unheimlich angetörnt, dass sich Pamela über diese kleinkarierte Bourgeoisie hinweg gesetzt und ihn mit ihrer Geilheit ungeniert angebaggert hatte. Seine Erektion war natürlich nicht ausgeblieben, sodass John sein Anzugsakko über seiner heftig ausgebeulten Hose schließen musste, um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen.
„Lass uns verschwinden“, hatte sie ihm mit kehliger Stimme ins Ohr geflüstert. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass es in der Stadt so viele alte Menschen gibt. Wenn ich mich noch länger unter diesem tausendjährigen Reich bewegen muss, brauch ich echt Antidepressiva.“
John hatte sich nicht zweimal bitten lassen. Ohne sich von Pamelas Onkel zu verabschieden, war er mit ihr durch den Hinterausgang abgerauscht.
Schon während der Autofahrt und auch im Aufzug hatten sie nicht die Finger voneinander lassen können. Als John die Eingangstür ihres Appartements zugeschlagen hatte, konnten sie endlich ihrer aufgestauten Gier freien Lauf lassen. Zutiefst erregt hatte ihm Pamela fast Hemd und Hose vom Leib gerissen. Es war unglaublich gewesen, mit welcher Zügellosigkeit sie über ihn hergefallen war und ihn mit ihren gierigen Küssen fast verschlingen wollte.
Doch das war erst das Horsd’œuvre gewesen. So richtig zur Sache war es dann im Schlafzimmer gekommen. Pamela hatte heute Nacht ein schier unersättliches Verlangen gehabt. Immer wieder hatte sie ihr heißes, forderndes Becken gegen seine Lenden gedrängt und ihm ein wollüstiges „mehr“ ins Ohr gehaucht.
Dann hatte sie ihren grazilen Körper auf John geschwungen und blickte ihn mit diesem sinnlichen Lächeln an. Mit lasziv-rhythmischen Bewegungen hatte Pamela begonnen, John immer tiefer in sich aufzunehmen, während es ihm mit letzter Kraft gelungen war nicht zu erschlaffen.

 

Heute Nacht hatte ihn Pamela zum ersten Mal an den Rand seiner physischen Kräfte getrieben. Sicherlich durfte man dabei nicht außer Acht lassen, dass Pam noch nie zuvor so fordernd, wild und hemmungslos geil gewesen war.

Seit über einem Jahr war er nun mit ihr verheiratet. In dieser Zeit war ihre gemeinsame Lust auf Sex ungebrochen gewesen und stand sicherlich weit über dem Durchschnitt.
John wusste, dass er ein sehr potenter Mann war. Es gefiel ihm auch sehr, dass seine Frau seiner Leidenschaft um nichts nachstand. Die 12 Jahre Altersunterschied begann John nun aber doch langsam zu spüren. Während seine Potenz den Zenit bereits überschritten hatte, wurde Pams Triebhaftigkeit immer intensiver und fordernder. Wie lange würde er noch der ausgeprägten Libido seiner feurig-jungen Frau gewachsen sein und ihre Wünsche erfüllen können?
Pamelas stark ausgeprägten Sexualtrieb hatte er schon geahnt, als er ihr das erste Mal begegnet war. Philipp war damals lose mit ihr befreundet gewesen und er hatte sie von einem Fotoshooting direkt zum gemeinsamen Geburtstagsfest mitgenommen. Als Dessous-Model war Pam genau jener Typ von Frau gewesen, der auf Johns Favoritenliste ganz oben rangierte. Pamela war groß, schlank und ihre langen Beine waren in perfekt sitzenden Jeans verpackt, die die Makellosigkeit ihrer wundervollen Figur noch unterstrichen hatten. Durch die transparente weiße Seidenbluse hatten sich ihre formvollendeten Brüste abgezeichnet, die durch keinen BH gestützt werden mussten. Pamelas blasses, ebenmäßiges Gesicht, ihr schöner Schwanenhals und ihre betörend laszive Stimme hatte John angezogen wie das Licht die Motte. Doch erst als sie ihren schwarzen Stetson abgenommen und ihre rote, wie Feuerzungen leuchtende Mähne durchgeschüttelt hatte, war es vollends um John geschehen gewesen.
Noch am selben Abend war er mit ihr im Bett gelandet, wo seine Vorahnung bestätigt wurde: Pamela war die Frau, nach der er schon so sein Leben lang gesucht hatte.

 

Bedauernd ignorierte er Pamelas Lockrufe. Es war höchste Zeit, sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren. Dieses Wochenende war für ihn und die Zukunft der Firma von größter Wichtigkeit. Es musste John unbedingt gelingen, Philipp wieder in den Betrieb zurückzuholen.
Je mehr sich John mit dem bevorstehenden Treffen auseinander setzte, umso mehr begann er es zu bereuen, nicht schon am Vortag angereist zu sein.
Noch einmal versuchte sich John die Müdigkeit aus den Augen zu reiben, ehe er ins Schlafzimmer zurückging, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Noch immer war es stockfinster draußen, sodass er die kleine Nachtlampe anschalten musste, damit er Pam besser sehen konnte. Müde schlug sie die Augen auf und schlang ihre zarten Arme um seinen Hals.
„Liebster, bleib doch noch“, murmelte sie John schlaftrunken ins Ohr. „Ruf Philipp an und sag ihm, dass du erst am Nachmittag kommst, oder vielleicht erst morgen oder am besten gar nicht.“
Lächelnd drückte John ihren weichen Körper an sich: „Kleines, du weißt doch, ich kann unmöglich absagen. Zuviel steht auf dem Spiel.“
„Aber du wirst mir fehlen“, schmollte sie.
„Ich bin ja bald wieder zurück. Drei Tage sind ja keine Ewigkeit“.
„Für mich werden sie es aber sein. Ich will dich ganz einfach nicht fahren lassen“, erwiderte Pamela mit gespielter Sturheit und sie drückte in so fest an sich, dass er nicht aufstehen konnte.
Lachend befreite er sich aus ihrer fesselnden Umarmung.
„Ich verspreche dir, die Zeit wird sehr rasch vergehen. Ich ruf dich am Abend an und gleich am nächsten Morgen und auch zwischendurch. Und wenn ich das Problem mit Philipp halbwegs in den Griff bekomme, dann hast du mein Wort, dass wir über Weihnachten wegfahren und du darfst aussuchen, wohin die Reise gehen soll.“
Pamela schenke ihm ein dankbares Lächeln.
„Du bist so gut zu mir.“
„Es macht mich eben glücklich, wenn du glücklich bist, mein Engel.“
Zum Abschied küsste er noch einmal ganz zärtlich ihren weichen Schmollmund, ehe er aufstand und ging.
„John!“
Noch einmal drehte er sich um und sah ihren besorgten Blick.
„Sei vorsichtig Liebster.“
„Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin ein ziemlich guter Skiläufer“, beruhigte er seine Frau und zwinkerte ihr dann schmunzelnd zu. „Außerdem weißt du doch, das Unkraut niemals vergehen kann.“
Noch einmal schickte er Pamela eine zärtliche Kusshand und verließ dann das Appartement.

 

 

- 2 -

 

Als die Eingangstür ins Schloss gefallen war, öffnete Pamela ihre Augen. Viel zu aufgewühlt, um noch Schlaf zu finden, lauschte sie dem fernen Geräusch des Aufzugs, der mit John in die Tiefgarage hinabfuhr. Pamela setzte sich auf und strich die wirren Haarsträhnen aus ihrem erschöpften Gesicht. Auch für sie war diese Nacht verdammt anstrengend gewesen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass ihre Vorarbeit auch Früchte tragen würde.
Müde langte sie in die Lade ihres Nachttisches und holte eine volle Packung Camel samt eines billigen Feuerzeugs heraus.
John verabscheute es, wenn im Bett geraucht wurde. Als sie mit ihm das erste Mal geschlafen hatte, wollte sie sich eine Zigarette anzünden, so wie sie es nach dem Sex gewohnt war. Obwohl John selbst rauchte, hatte er ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ein nach Rauch stinkendes Schlafzimmer absolut nicht ausstehen konnte. Seit diesem Zeitpunkt hatte Pamela auf die Zigarette danach verzichtet. Doch ihre kleine, üble Angewohnheit würde ja nun kein Thema mehr sein. Wenn alles gut ging, würde ihr John nie mehr etwas verbieten.
Pamela steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete diese an. Der erste Zug war immer der Beste. Tief inhalierte sie den warmen, würzigen Rauch in ihre Lunge und ließ ihn dann wieder zügig durch ihren halboffenen Mund entweichen.
Noch immer fühlte Pamela den zärtlichen Abschiedskuss, genauso wie sie das mit seinem Schweiß vermischte Aftershave auf ihrer Haut riechen konnte. Pamela hob ihren nackten Arm und ließ mit geschlossenen Augen ihre schnüffelnde Nase darüber gleiten. Seinen jetzt noch so vertrauten Geruch wollte sie sich einprägen und im hintersten Eck ihres Herzens aufbewahren.
Es waren keine leeren Worte gewesen, als sie ihn gebeten hatte, nicht zu fahren. In diesem Moment hatte sich Pamela nichts mehr gewünscht, als dass er bei ihr geblieben wäre. Doch eine Maschinerie war im Laufen, die sie nicht mehr stoppen konnte…….
Während sie durch den halbdunklen Raum starrte, fühlte Pamela eine Leere und Wehmut in sich aufsteigen, die ihr unangenehm vertraut war. Vor mehr als 20 Jahren hatte sie ein ähnlich bitteres Gefühl des verlassen Seins in ihrer Seele gespürt.
Noch einmal öffnete Pamela die Lade ihres Nachttisches und begann unter den Kondomen, Papiertaschentüchern und dem Fieberthermometer zu wühlen, bis sie das Foto endlich gefunden hatte. Es war ein schlechtes Polaroid, das viel zu dumpfe Farbschattierungen aufwies. Doch es war das einzige, das sie von ihrer Mutter und ihrem Vater besaß. Die Aufnahme war in den 80iger Jahren am Hafenpier Vancouvers gemacht worden, wo zwei junge Menschen verliebt in die Kamera gelächelt hatten. Ihre Mutter sah darauf aus wie ein wunderschönes Schneewittchen, während ihr Vater ein irischer Koloss mit tizianrotem Haar war. Ob sie damals schon schwanger war?
Seufzend lehnte sich Pamela zurück und zog gierig an ihrer Zigarette, so, als ob sie sich daran hätte festhalten können. Aus reinem Selbstschutz hatte sich Pamela verboten an ihre labile und rückgratlose Mutter zu denken. Doch nun drängte die letzte Erinnerung an sie mit ungeahnter Intensität in ihr Bewusstsein zurück.
Pamela war damals kaum älter als fünf Jahre gewesen war. Doch sie konnte sich noch verdammt gut an diesen schicksalsträchtigen Tag erinnern. Ihre Mutter hatte ausnahmsweise einmal nicht nach ihren besten Freunden Gin und Bourbon gerochen, sondern nach billiger Seife. Sie hatte sogar ihr Haar gewaschen gehabt und ein sauberes Kleid angezogen, das mit ihren normalen Hurenoutfits nichts gemein hatte.
Mit dem Zug waren sie von Toronto nach Vancouver gefahren. Dort hatte sie ihre Mutter in ein Taxi gesteckt und dem Taxifahrer Geld und die Adresse der Canettis in die Hand gedrückt. Dann hatte sie Pamela noch einmal ganz fest an sich gedrückt und ihr unter bitteren Tränen versprochen, dass sie bald kommen und sie von ihren Großeltern abholen würde. Das war das letzte Mal gewesen, wo Pamela ihre Mutter gesehen hatte.
Achtlos warf Pamela die Kippe ihrer Zigarette in das noch halbvolle Sektglas, wo die Glut kurz aufzischte und dann in einer kleinen Rauchwolke erlosch. Pamela stand auf und zog ihren Morgenmantel über. Dann öffnete sie die breite Tür und ging in den noch stillen Morgen auf die Terrasse hinaus. Eine kühle Brise schlug ihr entgegen, die sie aber kaum wahrnahm. Pamela blickte über die steinerne Balustrade in das noch glitzernde Lichtermeer Vancouvers hinweg und rief mit einem bitterem Lächeln in den nun langsam weichenden Nachthimmel hinein: „Nichts ist so geworden, wie du es mir versprochen hast Mutter, absolut nichts.“

 

Im Hause der ehrenwerten Canettis wurde Pamela alles andere als liebenswürdig empfangen. Die Großeltern weigerten sich, dieses Kind der Sünde aufzunehmen, sodass Marias älterem Bruder Ernesto nichts anderes übrig blieb, als seine Nichte in seiner Familie unterzubringen. Tante Emilia war auch nicht gerade begeistert von dem ungebetenen Familienzuwachs. Doch als gottesfürchtige Katholikin und als Dame der Vancouver Gesellschaft blieb ihr nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit walten zu lassen.
Für Pamela hatte nun eine verdammt harte Zeit begonnen. Im Hause der Canettis wurde über Maria nicht gesprochen. Es schien fast so, als ob es dieses Familienmitglied niemals gegeben hätte, wäre da nicht ihr Bastard von einem irischen Matrosen gewesen, der in jedem Städtchen ein Mädchen beglückte. Doch wer sprach schon gerne über die schwarzen Schafe in der Familie? Und gerade die ehrwürdigen und hochangesehenen Canettis waren in dieser Hinsicht richtige Normadressaten. Maria Canettis tiefer Fall hatte der blütenweißen Weste der geschäftstüchtigen und hochangesehenen Canettis einen ordentlich schwarzen Klecks verpasst, der mit Pamelas nun permanenter Anwesenheit nur schwer zu übersehen war.
Pamelas Fragen nach ihrer Mutter wurden bewusst ignoriert, bis man ihr schließlich verbot, über sie zu sprechen. Viele Monate ertränkte sie ihre Verzweiflung und die Sehnsucht nach ihr in einem Meer von Tränen. Irgendwann hatte Pamela aber die Hoffnung aufgegeben, dass ihre Mutter doch noch kommen und sie abholen würde. Mit dem Verlust dieser Hoffnung waren auch ihre Tränen versiegt. Und von diesem Zeitpunkt an hatte Pamela aufgehört Kind zu sein.
Während man Tante Emilia zugutehalten musste, dass sie es Pamela an Nichts fehlen ließ, ignorierte Onkel Ernesto seine Nichte total. Wäre nicht Pamelas zwei Jahre älterer Cousin Pedro gewesen, der ihr die fehlende Zuneigung und Aufmerksamkeit entgegenbrachte, wäre Pamela sicherlich völlig verzweifelt.
Schon sehr bald stellte sich heraus, dass Pamela ein äußerst intelligentes und aufgewecktes Kind war. Sie konnte blitzschnell Zusammenhänge erfassen und kombinieren. Außerdem war sie ein guter Beobachter und erkannte sofort die Schwächen der Anderen, die sie für sich zu nutzen wusste. Der Rotschopf war extrem fleißig in der Schule und auch eine ziemlich gute Sportlerin. Doch Pamela mochte sich noch so bemühen, Zuneigung oder gar Liebe ihrer Zieheltern wurde ihr niemals zuteil. Um mental nicht auf der Strecke zu bleiben, musste Pamela schon in sehr jungen Jahren lernen, ihre Gefühle zu unterdrücken oder gar auszuschalten. Wenn ihr schon keine Wärme widerfahren sollte, so wollte sie zumindest akzeptiert und respektiert werden.
Es dauerte nicht lange und Pamela hatte Pedro in fast allen Disziplinen überholt. Die Kleine war nicht nur die bessere Schülerin, sie war auch ein As im Pokern und Baseball. Außerdem konnte sie ausgezeichnet Skilaufen und saß im Sattel, als ob sie darin geboren wäre. Nur Klavierspielen lag ihr nicht so wirklich. Doch die fehlende Begabung machte sie wiederum mit viel Üben wett. Und mit der nötigen Akribie, Ausdauer und außerordentlichem Fleiß hatte es Pamela geschafft, selbst da zu den Besten der Schule zu zählen.
Pedro hatte absolut kein Problem damit, dass seine Cousine ihn in fast allen Disziplinen übertrumpfte. Er genoss das Leben eines reichen und verwöhnten Jungen und machte nicht mehr als unbedingt notwendig war. Pedro war mit sich und der Welt vollkommen zufrieden.
Das einzige, woran er wirklich Freude hatte, war der sonntägliche Kirchgang. Für Pamela war das Hochamt aber eine echte seelische Belastung. Über eine Stunde neben Tante Emilia stillzusitzen, fühlte sich jedes Mal wie eine Höllenqual an, während Pedro als Ministrant fasziniert die Liturgie mitgestaltete und mit Hingabe die gängigen Kirchenlieder sang. Auch später war sein einziges Hobby die Jungschar der katholischen Gemeinde zu leiten. Es bereitete Pedro eine unglaubliche Freude, jungen Menschen Gott näher zu bringen und diesen durch die Gemeinschaft der Kirche Halt zu geben.
Im Laufe der Jahre war Ernesto Canetti aufgefallen, dass sich seine Nichte nicht nur zu einem sehr schönen Mädchen entwickelte, sondern auch, dass sie unter ihrem roten Wuschelkopf ziemlich viel Grips verbarg. Umso bitterer war daher auch die Erkenntnis, dass sein Sohn absolut nicht seinen Vorstellungen entsprach. Dieser indoktrinierte Kerzenschlucker betete lieber 10 Rosenkränze am Tag, als seinen Kopf auch nur einmal in die Bücher des Unternehmens zu stecken, dessen alleiniger Erbe er einst sein würde.

 

An einem verregneten Sonntagnachmittag hatte Pamela zusammen mit Onkel Ernesto und Pedro gepokert. Pedro war seine paar Kröten bald losgewesen und stieg aus. Pamela spielte mit ihrem Onkel so lange weiter, bis sie ihm den letzten Dollar aus der Tasche gezogen hatte und Geldscheine im Wert von fast 150 Dollar vor sich liegen hatte.
Mit einem anerkennenden Lächeln beobachtete Canetti das damals erst 14-jährige Mädchen, wie sie die zusammengerollten Geldscheine mit ihrem Haargummi fixierte.
„Alle Achtung, du hast mich richtig ausbluten lassen“, lobte Onkel Ernesto seine Nichte mit einem anerkennenden Lächeln. „Wo hast du so gut zocken gelernt?“
„Online“, erwiderte Pamela stolz.
Überrascht blickte er seine Nichte an.
„Heutzutage lernt man das also online und nicht mehr im Schulhof oder in billigen Kneipen.“
„Andere Zeiten eröffnen andere Möglichkeiten“, sagte sie leichthin.
Canetti beobachtete, wie Pamela die Geldrolle in ihrem Hosensack verschwinden ließ.
„Und was machst du mit deinem Gewinn?“
„Ich werde ihn wahrscheinlich als Pokereinsatz verwenden.“
„Hast du denn keine Angst so viel Geld beim Glücksspiel zu verlieren?“, fragte Onkel Ernesto nun wirklich neugierig geworden.
„Nicht wirklich“, lächelte Pamela ihren Onkel spitzbübisch an. „Poker ist kein reines Glückspiel wie viele glauben, sondern hat viel mit Strategie wie beim Schach zu tun. Außerdem muss man unterscheiden, ob man aus reiner Lust oder Sucht spielt, oder ob man damit Geld verdienen will.“
„Und was willst du?“
„Abzocken natürlich“, antwortete sie, als ob das die verständlichste Sache der Welt sei. „Deshalb suche ich mir auch die schlechten Spieler aus und nicht die, die mir gewachsen sind, oder sogar noch besser spielen als ich.“
Pamela sammelte die Karten auf dem Tisch ein und steckte sie in Etui zurück.
„Und wie lange machst du das schon?“ fragte Onkel Ernesto interessiert weiter.
„Knapp zwei Jahre.“
„Und hast du schon viel gewonnen?“
„Mit den 150 Dollar in meiner Tasche und die Kohle, die auf meinem Sparbuch liegt, sind es 2.897 Dollar und 35 Cent.“
„Das ist ja verdammt viel Geld“, sagte Canetti nun echt überrascht.
„Gibt dir Tante Emilia denn so wenig Taschengeld?“
„Nein, Tante Emilia ist sehr großzügig“, sagte Pamela. „Doch ich kann mich noch ziemlich gut daran erinnern, dass meine Mutter immer in Geldnöten steckte und es deswegen immer Probleme gab. In so eine Situation will ich niemals geraten.“
„Das kann ich verstehen“, pflichtete ihr Onkel Ernesto bei und begann die Kleine in einem ganz anderen Licht zu sehen.
In Pamela hatte es richtige Glücksgefühle ausgelöst, dass sie ihren Onkel so positiv überraschen konnte. Seit ließ Pamela keine Gelegenheit mehr verstreichen, sich vor ihrem Onkel zu profilieren. Pamela begann sich nicht mehr als ungebetener Gast zu fühlen, sondern als Familienmitglied, das endlich akzeptiert wurde.
Im Laufe der kommenden Jahre entwickelte Pamela zu ihrem Onkel eine enge Beziehung, die von Respekt, Loyalität und Vertrauen getragen wurde. Es war zwar nicht das liebevolle Vater-Tochter-Verhältnis, das sich Pamela wünschte. Doch mehr war für sie einfach nicht drin.

 

Kurz nach Pamelas 19. Geburtstag trat eine entscheidende Wende in ihrem Leben ein. Pamela hatte von der Familie eine Golfausrüstung geschenkt bekommen. Onkel Ernesto wollte sie persönlich in seinen Club einführen und ihr den neuen Golflehrer vorstellen.
Pamela war schon ziemlich spät dran, weil sie von dem Fotoshooting nicht weggekommen war. Verwundert stellte sie fest, dass ihr Onkel noch nicht zu Hause war, denn sie wollten gemeinsam zum Golfplatz fahren. Es war sehr ungewöhnlich, dass er sich verspätete, ohne vorher Bescheid gegeben zu haben. Auch Tante Emilia wusste nicht, wo Onkel Ernesto steckte. Aber das war nichts Neues. Es interessierte sie schon lange nicht mehr, wo sich ihr Mann herum trieb.
Pamela spürte eine dumpfe Vorahnung in ihrem im Bauch. Instinktiv stieg sie wieder in ihren Wagen und fuhr zum Hafen hinunter, wo ihr Onkel ein Fischhandelskontor unterhielt. Die Betriebsanlage bestand aus einem riesigen, zweistöckigen Gebäudekomplex, in dem modernste Lagerhallen und Kühlhäuser untergebracht waren. Es war Samstagabend und in dem weitläufigen Fuhrpark war mehr als ein Dutzend weißer Lieferwagen mit der blauen Aufschrift „Canetti&Son“ in Reih und Glied abgestellt. Erst am Montag würden die Autos am späten Morgen voll beladen mit verschiedensten Fischen und Meeresfrüchten in alle Himmelsrichtungen der Stadt ausschwärmen und Lokale und Supermärkte mit frischem Canetti-Fisch zu beliefern.
Im oberen Stockwerk der Halle waren die Büros untergebracht. Pamela hatte richtig vermutet. Im Büro ihres Onkels brannte noch Licht. Nachdem sie ihren schwarzen Smart neben dem silbernen Jaguar ihres Onkels geparkt hatte, ging sie zu der um diese Zeit bereits verschlossenen Eingangstür. Pamela hatte einen Schlüssel, weil sie neben ihrem Job als Fotomodell auch noch für ihren Onkel in der Buchhaltung arbeitete. Erstaunt stellte sie fest, dass die Tür nur angelehnt war. Wenn der Hausmeister wieder einmal besoffen war und bei seiner letzten Runde vergessen hatte abzusperren, würde er am Montag bestimmt einen mächtigen Anschiss bekommen. Pamela lief die Stufen ins Obergeschoß hoch und rang sich zu der Entscheidung durch, den Hausmeister nicht zu verpfeifen.
Doch dann wurde sie durch einen verdammt aggressiven Wortwechsel aus ihren Überlegungen gerissen. Es war ein Streit zwischen ihrem Onkel und einem Mann, dessen Stimme ihr völlig unbekannt war. Vorsichtig schlich sie den Gang entlang, an dessen Ende sich das Chefbüro befand. Pamela warf einen vorsichtigen Blick ins Büro und hielt bestürzt die Luft an. Ein mittelgroßer, glatzköpfiger Mann bedrohte ihren Onkel mit einer Pistole in der Hand. Der Fremde konnte sie nicht sehen, weil die Tür nicht in seinen Blickradius fiel. Onkel Ernesto stand hinter seinem Schreibtisch und versuchte gelassen und selbstsicher zu wirken. Doch sein unstetes Augenspiel verriet Pamela, dass ihr Onkel hochgradig nervös war.
Pamela konnte dem Gespräch nicht folgen. Doch als das Wort Syndikat fiel, wurde sie hellhörig. Ängstlich presste sie sich an die Wand und schloss einen kurzen Moment ihre Augen. Pamela konnte es einfach nicht glauben. Ihr Onkel wurde von einem Schergen der Mafia bedroht. Wenn sie jetzt nicht bald etwas unternahm, würde der Mann ihren Onkel kaltblütig töten.
Auf Zehenspitzen schlich sie zurück in die kleine Teeküche am Ende des Ganges. In der Bestecklade suchte sie nach einer passenden Waffe. Ohne lange zu überlegen, griff Pamela nach einem Messer mit kurzem Schaft und einer langen, spitzen Klinge. Dann schlich sie so leise wie möglich wieder zurück.
Onkel Ernesto versuchte das Streitgespräch hinauszuzögern. Er hatte Pamela in seinem Augenwinkel wahrgenommen und hoffte auf ihre Hilfe. Pamela ließ den Glatzkopf nicht aus ihren Augen. Lange würde er sich nicht mehr hinhalten lassen, denn die Aggressivität in seiner Stimme nahm mit jeder Sekunde zu. Panische Angst ließ Pamelas Herz bis zum Hals schlagen. Wenn sie jetzt nicht bald handelte, würde der Killer ihren Onkel erschießen und danach bestimmt auch sie.
Den hölzernen Schaft des Messers fest umschlossen, schlich Pamela in den Raum. Die lange Klinge wollte sie durch die Schulter mitten in sein Herz stoßen. Doch plötzlich wurde sich der Fremde ihrer Anwesenheit bewusst und drehte sich um. Mit dieser halben Drehung nahm er Pamela aber die gewählte Angriffsfläche. Verstört blickte sie in die kalten Augen des Mannes. Pamela wusste, wenn sie jetzt nur noch eine Sekunde lang zögerte, dann würde sie der Killer erschießen. Blitzschnell hechtete sie nach vor und stieß dem Mann die glänzende Klinge mit aller Kraft in den Hals.
Ungläubig sah sie der nun schwer verletzte Mann an. Hellrotes Blut quoll laut gurgelnd durch seine durchschnittene Kehle und hinterließ dunkle Flecken am Kragen seines weißen Anzugshemdes. In seinem Todeskampf war dem Sterbenden die Pistole aus der Hand gefallen, die nun laut polternd auf dem harten Fliesenboden landete.
„O Gott! Ich hab den Mann getötet. Ich komm ins Gefängnis“ schrie Pamela hysterisch und schlug verzweifelt ihre Hände vors Gesicht.
„Sei still. Gar nichts wirst Du“, fuhr sie Onkel Ernesto nüchtern an, während er die Anzugstaschen des sterbenden Mannes zu durchsuchen begann. Nachdem Canetti nichts wirklich Brauchbares finden konnte, stand er auf und holte aus dem angrenzenden Bad ein großes Handtuch, das er dem mittlerer Weile Verstorbenen um den noch immer blutenden Hals wickelte.
„Das hast du gut gemacht. Ich bin verdammt stolz auf dich“, redete Onkel Ernesto beruhigend auf seine verstörte Nichte ein, während er die Blutung zu stoppen versuchte.
Langsam gewann Pamela ihre Fassung wieder. Hatte er wirklich gesagt, dass er stolz auf sie war? Zum ersten Mal sah Pamela so etwas wie Dankbarkeit in seinen Augen aufleuchten. Plötzlich hatte der Umstand, dass sie gerade einen Menschen getötet hatte, keine Bedeutung mehr. Innerhalb weniger Sekunden hatte Pamela einen Quantensprung in Onkel Ernestos Wertschätzung gemacht. Und nur das zählte.
Canetti holte aus dem Lager einen großen, schwarzen Plastiksack, in dem normaler Weise Fischabfälle gesammelt und in der Folge zu Fischmehl verarbeitet wurden. Pamela half ihm die Leiche in den Sack zu stecken und dann in einen der Lieferwagen vor dem Haus zu befördern. Dann schickte er Pamela nach Hause. Den Rest wollte er alleine erledigen.
Wie ferngesteuert fuhr Pamela zurück zum Anwesen der Canettis zurück. Unter dem monotonen Prasseln der Dusche wurde Pamela nun mit aller Klarheit bewusst, dass sie eine Mörderin war.
Pamela lag wach in ihrem Bett und wartete auf ihren Onkel. Es war schon weit nach Mitternacht, als sie endlich seinen Wagen zufahren hörte. Pamela erwartete, dass er an ihre Tür klopfen und mit ihr sprechen würde. Doch wie üblich ging er ohne auch nur einen Moment zu zögern an ihrer Tür vorbei und direkt in sein Schlafzimmer.
Pamela fühlte sich plötzlich wieder genauso elend und verlassen wie in ihren ersten Monaten hier. Verzweifelt rutschte sie unter die Decke und versuchte zu vergessen, was sie getan hatte. Doch in dieser Nacht wollte ihr das nicht gelingen.
Auch nächsten Tag erwähnte ihr Onkel den Vorfall mit keinem Wort. Er benahm sich so wie immer. Doch Pamela war sehr still geworden. Der Schock und die damit verbundene Angst lasteten viel zu sehr auf ihrer Seele, als dass sie auch nur ein Wort an ihren Onkel zu richten wagte.
Fast eine Woche später rief Ernesto seine Nichte an und bat sie mit ihm einen kleinen Segeltörn zu unternehmen. Pamela wusste natürlich, dass seine Bitte ein unterschwelliger Befehl war. Sofort fuhr sie in den Yachthafen hinunter, wo Canetti bereits auf seinem Segelboot auf seine Nichte wartete.
Zügig trieben sie in der frischen Herbstbrise aufs Meer hinaus. Als sie schon ziemlich weit draußen waren und nur mehr die Silhouette des Festlandes zu erkennen war, holte Onkel Ernesto die Segel ein und ließ das Boot in der Strömung treiben.
Er setzte sich Pamela gegenüber und sah sie einen langen Augenblick unverwandt an. Pamelas panische Angst begann wieder in ihr hochzusteigen. Vielleicht war die Leiche gefunden worden, sodass sich Onkel Ernesto wegen eines Alibis mit ihr absprechen wollte.
Ihre ohnehin schon ziemlich strapazierten Nerven hielten den Druck nicht mehr stand, sodass sie ängstlich hinaus platzte: „Was ist passiert? Hat man die Leiche gefunden?“
„Alles bestens Kleine. Du brauchst dir keine Sorgen mehr machen“, beruhigte er sie.
„Ich bin mit dir deshalb hier raus gesegelt, weil ich mit dir ungestört reden muss.“
Pamela lief es kalt über ihren Rücken. Es hatte auch nichts Gutes bedeuten, wenn Onkel Ernesto so viel Mühe auf sich nahm, um mit ihr zu reden.
„Worum gehts?“, fragte sie vorsichtig.
„Pamela, in den letzten Tagen habe ich viel über dich nachgedacht und bin nach reiflicher Überlegung zu einem Entschluss gekommen.“
„Zu einem Entschluss gekommen?“ wiederholte sie in ängstlicher Aufregung seine letzten Worte. Sicherlich wollte er sie wegschicken.
„Ja. Und dieser wird dein bisheriges Leben ziemlich verändern“, sagte er so ruhig, als ob er sie bloß in einen Kurs für Lohnverrechnung schicken wollte.
„Bitte, Onkel Ernesto, schick mich nicht weg. Ich verspreche dir, dass ich kein Wort sagen werde“, bettelte ihn Pamela an.
„Dich wegschicken ist sicherlich das Letzte, was ich mit dir vorhabe“, erwiderte Canetti erstaunt.
„Aber was willst du dann von mir?“
Seufzend atmete er durch und blickte Pamela einen langen Augenblick lang unverwandt an.
„Ich muss wohl ein bisschen ausholen, damit du weißt, wer ich bin und du die Zusammenhänge erkennst.“
Ernesto holte aus dem Kühlschrank zwei Dosen Cola und reichte eine davon Pamela. Dann setzte er sich wieder auf seinen Platz und überlegte, wo er am besten beginnen sollte.
„Als ich vor mehr als 25 Jahren mit deinen Großeltern und deiner Mutter hier angekommen bin, waren nicht mehr als 300 Dollar in meiner Tasche. Aber dafür hatte ich im Kopf eine Menge Träume und Visionen. Der Fischhandel lief äußerst schleppend, so dass dein Großvater und ich schon ans Aufgeben dachten.“
Ein Schwarm laut schnatternder Wildgänse flog über ihren Köpfen hinweg, deren unglaublicher Lärm Onkel Ernesto für einen Moment verstummen ließ.
„Der Zufall wollte es, dass ich Zeuge wurde, wie zwei Schlägertypen den armen Jimmy Henderson ziemlich heftig in die Mangel genommen hatten. Jimmy hatte am Ende des Kais eine kleine Bar geführt und weigerte sich, Schutzgeld an die Mafia zu bezahlen. Die beiden Männer konnten den schmächtigen Barbesitzer aber mit schlagkräftigen Argumenten überzeugen, dass es in Zukunft für seine Gesundheit sicherlich von Vorteil wäre, wenn er seine „Gebühr entrichten würde“, erzählte Onkel Ernesto und nahm einen Schluck aus der schmalen Dose.
„Während ich die Geldeintreiber beobachtete, war mir plötzlich eine geniale Geschäftsidee eingefallen, wie wir unser Geld wesentlich leichter verdienen konnten, ohne uns den Rücken krumm und buckelig zu arbeiten“ sagte er und lächelte verschmitzt in sich hinein.
„Auf meiner alten Vespa folgte die den Männern, die in die Altstadt fuhren und vor einem kleinen, italienischen Restaurant parkten. Ich ging ihnen ins Lokal nach und sah die Beiden gerade noch rechtzeitig in einem Hinterzimmer verschwinden. Mit meinem einzigen Dollar in der Tasche bestellte ich einen kleinen Espresso und wartete. Dabei ließ ich die Tür des Hinterzimmers nicht aus den Augen. Kurze Zeit später waren die beiden Männer wieder heraus gekommen. Als sie an mir vorbei gingen, sagte ich: ‚Den armen Jimmy habt ihr ja ordentlich eines über die Rübe gezogen. Der wird sich die nächste Zeit nicht mehr so schnell blicken lassen können‘.
So schnell konnte ich gar nicht schauen, hatte mich der größere der beiden an meinem Jackett gepackt und mich vom Barhocker gezogen. Er stellte mir einen Satz heißer Ohren in Aussicht, wenn ich nicht sofort verschwinden würde. Ich sagte ihnen, dass ich weder was gehört noch gesehen habe, sondern nur deshalb da sei, um ihrem Chef ein Geschäft vorzuschlagen, das er bestimmt nicht ablehnen würde. Der Kleinere lächelte mich mitleidig an und schüttete mir den Rest meines Kaffees über meinen Kopf. Dann drohte er mich in die Erde zu stampfen, wenn ich mich nicht sofort vom Acker machen würde.
In diesem Augenblick wurde die Tür des Hinterzimmers geöffnet und ein älterer Mann mit schneeweißem Haar und einem tadellos sitzenden dunkelgrauen Anzug trat heraus. Seine elegante Erscheinung hatte so überhaupt nicht in das schmuddelige Lokal gepasst. Mit ruhiger, befehlsgewohnter Stimme hatte er den Männern befohlen, mich in Ruhe zu lassen.
Sofort hatte der Riese mein Revers losgelassen und strich es mit provokanter Fürsorge lächelnd glatt, während mich der Mann mit dem weißen Haar und den wachen Augen hinter der randlosen Brille von oben bis unten musterte.
Doch dann lächelte er mich freundlich an und forderte mich auf, ihm von dem Geschäft zu erzählen. Damals ist mir vor Aufregung fast das Herz stehen geblieben, als ich ihm in sein Büro folgen durfte.“
Schweigend blickte Onkel Ernesto in die Ferne. Pamela hatte den Eindruck, als ob er mit großer Freude jede Einzelheit dieser Begegnung noch einmal vor seinem inneren Auge aufleben ließ.
„Und welches Geschäft hast du ihm vorgeschlagen?“, half ihm Pamela wieder auf die Sprünge.
„Nun ich bot Don Alfonso 35 % meines Gewinnes an, wenn die umliegenden Lokalbesitzer ihren Fisch bei mir kaufen würden. Der Patron hatte natürlich sofort gewusst, worauf ich hinauswollte. Er sollte die Restaurantbesitzer „überreden“ ihren Fisch in Zukunft bei den Canettis kaufen. So gesehen konnte Don Alfonso zweimal kassieren, was ihn nicht mehr als ein paar Anrufe kosten würde.“
„Aber 35% ist ja ein verdammt hoher Anteil“, überlegte Pamela.
„Das ist richtig. Doch meinen Berechnungen zur Folge konnte mit viel Fleiß und den richtigen Abnehmern wesentlich mehr übrig bleiben als bisher.“
Eine Fähre war in nächster Nähe an ihnen vorüber gefahren, die einen plötzlich heftigen Wellengang verursachten. Pamela musste sich festhalten, sonst wäre sie von der Bank gerutscht. Nachdem sich das Meer wieder beruhigt hatte, fuhr Onkel Ernesto fort:
„Normaler Weise bewegten sich Don Alfonsos Geschäftsinteressen in ganz anderen Sphären und so kleine Mücken wie ich es war, hatte er in der Regel ignoriert. Doch Don Alfonso war nicht an meiner Geschäftsidee interessiert, sondern an der Person, die dahinter steckte. Er hatte in meinen Augen den Hunger nach Geld und Macht gelesen, der nach mehr, viel mehr verlangte. Innerhalb weniger Augenblicke hatte der Patron in mir jenen ungeschliffenen Diamanten erkannt, nachdem er so viele Jahre schon gesucht hatte.“
„Ist er nun auf dein Geschäft eingestiegen oder nicht“, fragte Pamela, die mit der anderen Aussage nichts anfangen konnte.
„Ja, aber nicht wegen des Gewinns. Er sah in dieser Vereinbarung die Möglichkeit, mich auf die Probe zu stellen. Er hatte nichts zu verlieren. Ich hingegen alles.“
Onkel Ernesto warf die leere Dose ins Meer und wischte sich seine feuchten Hände an seiner Leinenhose trocken.
„Einige Tage später war das Geschäft mit den Bestellungen voll angelaufen. Es war den Lokalbesitzern anzusehen, dass sie nicht besonders erfreut waren, in Zukunft ihren Fisch bei den Canettis zu bestellen. Doch bald hatte sich heraus gestellt, dass sie sehr zufrieden waren, denn wir lieferten wirklich erstklassigen Fisch und absolut frische Meeresfrüchte. Langsam machten wir uns einen Namen und ein bescheidener Wohlstand begann sich einzustellen“, erzählte Onkel Ernesto und blickte dem Flugzeug nach, das einen weißen Kondensstreifen am wolkenlos blauen Himmel hinterlassen hatte.
„Ich habe Don Alfonso nicht enttäuscht und er hatte in mir jenen geschäftstüchtigen und vor allem loyalen Mann gesehen, der für mehr berufen war, als nur für den Fischhandel. Don Alfonso hatte die 60 weit überschritten. Seine Ehe war kinderlos geblieben und in der Familie hatte es niemanden gegeben, der das nötige Potential mitgebracht hätte, seine Nachfolge anzutreten. Die meisten Mitglieder des Syndikats waren arrogante Holzköpfe und Befehlsempfänger gewesen. Und die Wenigen, die den nötigen Grips mitgebracht hätten, hatten kein Rückgrat und es fehlte an Mut und Führungspersönlichkeit. Außerdem saß Don Alfonso die Russenmafia im Genick. Sie wollte den Hafen unter ihre Kontrolle bringen, da dies der größte Umschlagplatz des Drogenhandels und Waffenschmuggels in der Stadt war. Zudem war das Hafenviertel die lukrativste Einnahmequelle der Prostituierten. Und wenn das russische Syndikat einmal den Hafen in ihre Hände bekommen sollte, dann war der Rest Vancouvers nur mehr ein Spaziergang durch den grünen Märchenwald. Don Alfonso hatte aber rechtzeitig Wind von dem Putsch der Russen bekommen und versetzte diesen einen brutalen Denkzettel. Der Patron war sich aber durchaus bewusst, dass dieser Sieg nur von kurzer Dauer sein würde. Die Russen würden sich neu formieren und nächstes Mal geschickter ans Werk gehen. Auch das war ein Grund gewesen, wieso Don Alfonso die Zeit im Nacken saß. Er brauchte unbedingt einen adäquaten Nachfolger, damit die Cosa Nostra in Kanada auch weiterhin eine starke Führung aufwies und so gesehen unantastbar blieb.“
„Und er hat wirklich dich ausgewählt?“, fragte Pamela mit ungläubigem Staunen.
„So war es“, bestätigte Onkel Ernesto. „Der große Don Alfonso hatte mich in die weit verzweigten und ziemlich undurchsichtigen Geschäfte des Syndikats eingeführt. Ich habe aber schnell gelernt, weil ich wissbegierig und sehr diszipliniert war“, sagte er nicht ohne Stolz. „Der Patron hat auch meine Ehe mit Emilia arrangiert. Wie du ja selbst schon erkannt hast, ist Emilia bei Gott keine Schönheit und war es auch nie, doch ihr Vater war ein loyales und vermögendes Mitglied der Familie, was für uns nur von Vorteil sein konnte. Außerdem war Emilia sehr stilvoll und hatte perfekte Umgangsformen. Sie sollte mir die nötigen Manieren beibringen, was ihr aber nicht wirklich gelang“ schmunzelte er Pamela zu. „Als Don Alfonso vor 10 Jahren starb, trat ich sein Erbe an und bin seither der Patrone.“
Fasziniert hatte Pamela ihrem Onkel zugehört. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass dieser ein wenig bieder wirkende Mann in den weißen Leinenshorts und dem blauen Polo, unter dem der kleine Bauchansatz unverkennbar war, ein gefährlicher Mafiaboss war, der mit linken Geschäften wie Geldwäsche, Prostitution und Drogenhandel, Erpressung sein Geld verdiente, während der Fischhandel nur mehr zur Tarnung diente.
Eigentlich hätte er nun auf Pamela abstoßend wirken müssen. Doch verwundert stellte sie fest, dass genau das Gegenteil der Fall war. Es gefiel ihr und faszinierte sie ungemein, dass ihr Onkel ein wichtiger und einflussreicher Krimineller war, vor dem jeder Respekt hatte. Nachdem sie diese Neuigkeit halbwegs verdaut hatte, fragte sie ihn:
„Wissen eigentlich Tante Emilia und Pedro über dich Bescheid?“
„Emilia weiß es, doch sie zieht es vor die Augen vor meinen beruflichen Aktivitäten zu verschließen. Sie möchte darüber nichts wissen. Und Pedro ahnt zwar etwas, aber genaues weiß er nicht.“
„Und wieso erzählst du mir davon?“
Ernesto wandte seinen Blick ab und sah unverwandt aufs Meer hinaus, wo in einiger Entfernung ein Katamaran in der Nachmittagssonne mit hoher Geschwindigkeit über die blaue Wasseroberfläche flitzte. Pamela fühlte die Spannung, die von ihrem Onkel ausging. Obwohl er ganz ruhig da saß, spürte sie doch, wie er aufgewühlt war. Dann sah er seiner Nichte direkt in die Augen:
„Ich beobachte dich nun schon seit einigen Jahren. Du besitzt all die Voraussetzungen, die Pedro leider fehlen. Du bist ehrgeizig, lernfähig, verlässlich und intelligent.“
„Voraussetzungen wofür?“
„Um mehr als nur ein hübsches Fotomodell zu ein.“
Verwirrt lächelte sie ihren Onkel an.
„Onkel, ich kann dir nicht ganz folgen.“
Canetti beugte sich vor und stützte sich mit dem Ellbogen auf seinen Oberschenkeln ab.
„Den Mann, den du getötet hast, war ein Killer der Russenmafia. Er sollte mich aus dem Weg räumen. Doch vorher wollte er mir noch ein paar wichtige Informationen rauslocken. Hättest du diesen Mann nicht getötet, dann wäre der Hafen heute sicherlich schon in russischen Händen und ich läge jetzt statt dem Killer mit Betonschuhen beschwert am Meeresgrund der Hudson Bay.“
„Und wieso wollte man dich gerade jetzt töten?“
„Es gibt einen neuen Chef bei den Russen. Er muss sich profilieren, damit er glaubwürdig ist. Und als bestes Beispiel seiner Macht und sein Durchsetzungsvermögen zu demonstrieren, wäre die Übernahme des Hafens in russische Hände, auf den die Russen schon immer scharf waren. Der Zeitpunkt war denkbar günstig. Es gibt keinen potentiellen Nachfolger, der im Falle meines plötzlichen Todes die Geschäfte übernehmen könnte.“
Ernesto tippte mit dem Finger auf seine Stirn und sagte:
„Alles ist hier oben gespeichert und es gibt niemanden, der über dieses nötige Wissen verfügt. Wenn ich plötzlich sterbe, dauert es Monate bis man den richtigen Mann gefunden hat und Jahre, bis die Geschäfte wieder so reibungslos laufen wie jetzt. Doch dazu würde es gar nicht kommen. Das führungslose Team würde schnell von den Russen ausgeschaltet werden“
Canetti lächelte bitter in sich hinein.
„Ich fühlte mich unantastbar, doch seit einer Woche bin ich mir nur allzu sehr bewusst, dass ich verdammt gefährdet bin. Ich habe angefangen ein persönliches Sicherheitsnetz um mich zu spinnen und die Schwachstellen zu beseitigen. Und dazu brauche ich auch einen Vertreter und Nachfolger, der die Geschäfte nach meinem Ausfall oder Ableben weiterzuführen versteht.“
„Und du glaubst, dass ich die Richtige bin?“, fragte Pamela ungläubig.
„Ich zweifle jetzt nicht mehr an Dir. Seit dem Zwischenfall in meinem Büro bin ich davon überzeugt, dass du das Zeug hast, irgendwann an der Spitze dieses Syndikats zu stehen. Du bist zwar eine Frau, doch mit deinem verdammt klugen Köpfchen, deinem Durchsetzungsvermögen und deinem Mut machst du diesen Makel wieder wett. Außerdem bist du fähig zu töten und das ist in diesem Geschäft wichtig, sehr wichtig sogar.“
„Onkel, ich weiß nicht was ich dazu sagen soll. Bis vor einer Stunde hätte ich mir nie träumen lassen, dass du zu den Chefs einer der größten kriminellen Organisationen der Welt zählst. Und jetzt soll ich in das Syndikat einsteigen und dein Nachfolger werden.“
„Pamela, ich weiß, das ist alles ein bisschen viel. Ich verlange ja auch nicht, dass du dich gleich entscheidest, diesen Job zu machen. Aber ich kenne sonst niemanden, der das nötige Potential hat, um in meine Fußstapfen zu treten.“
Er lächelte seine Nichte gewinnend an:
„Ich brauche dich Pamela. Du gehörst zur Familie. Du bist eine von uns, eine Canetti.“
Überrascht hielt Pamela die Luft an. Niemals zuvor hatte sie Onkel Ernesto als Familienmitglied bezeichnet, was sich in ihren Ohren wundervoll anhörte.
„Und Pedro? Was ist mit ihm?“, fragte Pamela plötzlich wieder ernüchtert.
Resigniert seufzte Canetti auf.
„Mein Sohn hält lieber Zwiesprache mit Gott, als um sich für die Geschäfte und Interessen seiner Familie zu interessieren. Er ist eine absolute Niete und völlig unbrauchbar. Das Einzige, worin er gut ist, ist, im Kirchenchor zu singen und das Weihwasser im Taufbecken nachzufüllen.“
Zum ersten Mal spürte Pamela, wie wichtig sie ihm war. Es war keine Frage, ob sie für ihn arbeiten wollte, es war ein Hilferuf ihres sonst so souveränen Onkels. Noch während sie die Segel hissten, um und wieder zurück zu segeln, wusste sie, sie würde alles tun, um ihren Onkel nicht zu enttäuschen. Er sollte so stolz auf sie sein, so, als ob sie seine Tochter wäre…

 

Der auffrischende Wind riss Pamela aus ihren Erinnerungen. Ein gräulicher Morgen mit dunklen Schneewolken bedeckte den Himmel über Vancouver und kündigte einen nasskalten Spätherbsttag an. Mit einem bitteren Lächeln wickelte Pamela ihren dünnen Morgenmantel enger um sich.
Ja, sie hatte sich erstklassig profiliert. Von der Pieke auf hat sie das dreckige Geschäft des Syndikats gelernt, sodass sie heute die rechte Hand Ernesto Canettis war. In Insiderkreisen nennt man sie nur die rote Viper. Wunderschön schillernd, doch genauso kalt und berechnend wie eine gefährliche Giftschlange.
Es hat Zeiten gegeben, wo Pamela stolz auf diesen Beinamen war. Doch seit John hatte dieser plötzlich einen negativen Beigeschmack bekommen. Längst verdorrte Empfindungen hatten begonnen in ihr langsam wieder keimen, die sie jung und lebendig fühlen ließen. Doch John hatte für Pamela nichts anderes als ein Job sein müssen, den sie zu erledigen hatte. Für Gefühle hätte es da keinen Platz gegeben.

 

 

- 3 -

 

John fröstelte, als er in seinen Jeep stieg. Erschöpft rieb er sich seine müden Augen und zog eine der Red-Bull-Dosen aus dem Sechserpack. Der süßliche Gummibärchengeschmack des Energiedrinks widerte ihn an. Aber John schüttete das Zeug in einem Zug hinunter und innerhalb weniger Augenblicke spürte er auch schon die aufputschende Wirkung, die seine Müdigkeit vertrieb und seine Gedanken klarer werden ließ.
Seit mehr als einem halben Jahr war John mit Philipp nun schon zerstritten. Niemand hatte genau gewusst, in welchen Ecken der Welt er sich herumgetrieben hatte. Doch seine Abwesenheit hatte John aber so richtig bewusst werden lassen, wie unentbehrlich sein Bruder für die Firma war und welch gute Arbeit er geleistet hatte.
Bei der letzten Generalversammlung hätte es einfach nicht zu diesem Eklat kommen dürfen. John bereute des nun, dass er sich so hinreißen hatte lassen. Doch im Nachhinein ist man immer klüger….
Der Grund des Zerwürfnisses war jener gewesen, dass ihre Interessen bezüglich der Firmenpolitik nicht konform gingen. Lombard Pharma war ein Arzneimittelbetrieb, der sich hauptsächlich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Mistelpräparaten befasste, die in der Onkologie zur Schmerzlinderung und in der Folge zur Lebensverlängerung Verwendung fanden.
Schwerpunkt des Unternehmens war jener, eine dem menschlichen Organismus einschließende Arzneimitteltherapie auf natürlicher und nicht auf chemischer Basis zu ermöglichen. Dazu gehörte insbesondere Krankheitsursachen und deren Wirkungen zu bekämpfen, um in der Folge eine andauernde Gesundung zu bewirken.
Mit der Herstellung von Schmerzmitteln für die Krebstherapie hatte sich das mittelständige Unternehmen ein solides Standbein geschaffen, das auch einen ausgezeichneten Ruf in der Pharmaindustrie genoss.
John und Philipp waren gleichberechtigte Geschäftsführer und hatten von Anfang an die Kompetenzen im Betrieb aufgeteilt. Während sich John der Forschung und Produktion widmete, hatte Philipp die Abteilungen Marketing, Vertrieb und Personalmanagement geführt.
Es hatte sich herausgestellt, dass es absolut richtig gewesen war die Bereiche zu trennen, damit keiner dem anderen in die Quere kam. Es war kaum zu glauben, dass eineiige Zwillingsbrüder charakterlich so grundverschieden sein konnten.
John geriet eher nach seinem Vater, der überaus vorsichtig und bedacht mit neuen Produkten umging, bevor er seinen Sanctus für die Freigabe gab. Und selbst danach wurde das Medikament noch lange getestet und wenn möglich noch verbessert.
Philipp war wesentlich risikobereiter, was gerade für den geschäftlichen Zweig sicherlich von Vorteil war. Als eingefleischter Manager wusste er sich im passenden Moment in Szene zu setzen. Doch er konnte auch Ruhe bewahren und abwarten, wenn er das Gefühl hatte, dass der richtige Zeitpunkt für ein lukratives Geschäft noch nicht gekommen war.
Wenn ein Produkt freigegeben wurde, verstand es Philipp wie kein Zweiter, alle Register der Vermarktung zu ziehen. Er ließ es sofort patentierten, kurbelte die Werbetrommel an und schickte Vertreter mit Proben an Ärzte, Spitäler und Sanatorien. Auf Arzneimittelmessen und Onkologiekongressen war Lombard Pharma mit seinen Produkten stets vertreten, sodass der Absatz langsam, aber stetig gestiegen war.
Vor mehr als einem Jahr hatte Philipp auch eine Studie gestartet, mit der er beweisen wollte, dass die pflanzliche Misteltherapie den chemischen Präparaten nicht nur um nichts nachsteht, sondern in vielen Fällen sogar besser angreift. Doch diese Studie umfasst einen ziemlich ausgedehnten Zeitrahmen, so dass erst in knapp fünf Jahren brauchbare Ergebnisse zu rechnen ist. Wenn die Rechnung aufging und die Untersuchung wirklich belegt, dass pflanzliche Arzneimittel jedem chemischen Extrakt gleichzusetzen sind, dann konnte Lombard Pharma mit einem 10-15fachen höheren Absatz rechnen.
Außerhalb des Betriebes verband die Brüder jedoch nur sehr wenig. Schon sehr früh hatte sich herausgestellt, dass die Beiden nicht jene ausgeprägte Seelenverwandtschaft verband, die bei eineiigen Zwillingen oft der Fall ist. Beide genossen den Wohlstand und das elitäre Leben abseits der Firma. Sie waren sich auch ihres guten Aussehens bewusst und wussten dieses auch einzusetzen. Und doch war jener Unterschied da, dass John der weitblickendere und vorsichtigere Mann war, der nie vergaß, dass hinter diesem Wohlstand, den sie jetzt genossen, die harte Arbeit des Vaters steckte, der die Firma zu dem gemacht hatte, was sie heute war.
Philipp war in vielem eher ein Streber und Snob, der seinen Status als selbstverständlich zu Kenntnis nahm. Bei weitem war er nicht mit dem durchaus beachtlichen wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens zufrieden. Philipp wollte mehr, viel mehr und arbeitete ständig daran zu expandieren und sich zu profilieren, auf dass sein Name einmal mit jenen in einem Atemzug genannt wurde, die Einfluss und Macht in Kanada hatten. Wie ein hungriger Wolf war er ständig darauf bedacht, eine Sprosse nach der anderen der Erfolgsleiter zu erklimmen.
Und dieser Interessenskonflikt war auch jener Punkt, wo sich die beiden nur zu oft in den Haaren gelegen waren.
Philipps Ziel war es, den Familienbetrieb sukzessive zu einem Konzern zu erweitern und die Firma in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, während John an der Firmenideologie des Vaters festhalten wollte und meinte, dass der Betrieb immer überschaubar und in den Händen der Familie bleiben müsse.
Auch die Gesellschafterversammlung teilte diese Einstellung und Philipp blieb auf seinen waghalsigen Ideen und Vorschlägen zur Expansion mit dem anschließenden Gang zur Börse sitzen. Man war sich aber durchaus bewusst, welch immense Summen die Forschung verschlang und die Forschungsgelder des Staates für mittlere und kleinere Pharmabetriebe nur sehr spärlich flossen, wenn überhaupt. Und auch private Investoren stellten ihr Kapital lieber international finanzkräftigen Konzernen zur Verfügung, die mehr Aussicht auf Erfolg boten. Ohne den nötigen Geldern war es nur schwer, effizienter zu forschen und zu produzieren.
Der große Pluspunkt des Unternehmens lag aber gerade in den genialen Forschern, die für Lombard Pharma arbeiteten. Und einer davon war John. Ihm war es auch gelungen, einen Genforscher und einen Biochemiker von einem bedeutenden amerikanischen Pharmariesen abzuwerben und für die eigene Firma zu gewinnen. Diese renommierten Wissenschaftler hatten dem enormen Druck nicht mehr standgehalten, den die Geschäftsleitungen dieser Pharmamagnaten auf sie ausübt hatten. Denn jeder dieser Konzerne musste rasche Erfolge verbuchen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Und Zeitdruck war absolut das das letzte, unter dem viele Wissenschaftler arbeiten konnten. Doch gerade die Forschung ist leider oft eine sehr langwierige Angelegenheit. Und nicht selten führt der eingeschlagene Weg in eine Sackgasse.
‚Man kann ein hochwirksames Medikament nicht ohne Nebenwirkungen wie ein Häschen aus dem Zylinder zaubern‘, hatte Johns Vater immer gesagt. An diesen Leitspruch hielt John fest, weil er nur zu gut wusste, dass die Probleme und Tücken im Detail lagen.
John konnte zwar seinem Forschungsteam nicht die saftigen Gagen der Konzerne zahlen, doch er hatte ein Arbeitsklima geschaffen, das für seine Mitarbeiter angenehm und konstruktiv war. Sie hatten keine Ahnung von dem Druck, der von Philipp ausging und den John abfing.
Eine seiner besonderen Spitzenkräfte war Alex Sommer. Alex war nicht nur ein hervorragender Chemiker, sondern auch Freund und Vertrauter Johns. Die beiden Männer waren Studienkollegen auf derselben Uni gewesen. Doch nach ihrem Studienabschluss hatten sich die beiden aus den Augen verloren. John war in Kanada geblieben, während Alex ein Jobangebot in Washington angenommen hatte. Zufällig begegneten sich die beiden in New York bei einem Kongress für Stammzellenforschung wieder.
Alex hatte John von den teilweise unhaltbaren Zuständen in seiner Firma erzählt, die ein konstruktives Arbeiten ziemlich beeinträchtigten. John hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, um Alex für die Firma zu gewinnen. In Alex Schlepptau hatte dann auch gleich ein zweiter, hoch qualifizierter Physiker den Konzern verlassen, um bei Lombard Pharma einzusteigen.
Spätestens nach der Übernahme des Betriebes von ihrem verstorbenen Vater war den Brüdern bewusst geworden, dass sie auf Dauer gesehen dem starken Konkurrenzdruck nicht standhalten würden. Zu viele Anbieter mit zu guten Produkten schossen wie Pilze aus dem Boden, die die Stücke der Torte immer schmäler werden ließen. Um nicht irgendwann einmal auf der Strecke zu bleiben, hatte man neue Wege einschlagen müssen. Lombard Pharma wollte sich ein zweites Standbein schaffen, sodass man vor mehr als drei Jahren an einem Medikament gegen Fettleibigkeit zu forschen begonnen hatte.
Eine alarmierende Studie hatte darauf hingewiesen, dass seit den 70iger Jahren im Schnitt ca. 2,5 Kilo zugelegt wurden. Besonders in den USA ist das Problem der Fettleibigkeit rasant angestiegen. Mehr als 5% der Bevölkerung leidet an extremer Fettsucht und 20 % aller Amerikaner sind übergewichtig, was zur Folge hat, dass Diabetes, Herzprobleme, Bluthochdruck, Gallensteine oder Krebs drastisch angestiegen sind.
Nun stand Johns Forschungsabteilung an der Schwelle, diesen gordischen Knoten zu lösen. Eine Pille sollte von überflüssigen Kilos befreien. Durch den Wirkstoff Rimonabant wird das Verlangen auf Leckerbissen unterdrückt und als positiver Nebeneffekt wird auch gleichzeitig die Sucht nach Zigaretten eingedämmt. Das Medikament wurde äußert positiv an Ratten und Meerschweinchen getestet. Doch bestimmte Substanzen darin erhöhen den Serotoningehalt im Gehirn. Wenn man das Medikament daher über einen längeren Zeitraum verabreicht, führt es zu Schädigungen der Herzklappen. Außerdem wurde erhöhter Druck der Lungenaterien, Schilddrüsenüberfunktion und Nierenfunktionsstörungen diagnostiziert. Zwar versuchte man diese Nebenwirkungen so weit wie möglich zu reduzieren, doch sie gänzlich auszuschalten oder sie in einen Bereich zu bringen, der unbedenklich war, war man zum augenblicklichen Zeitpunkt noch nicht in der Lage. Aus diesen Gründen blieb das Medikament auch weiterhin in der Testphase.
Diese Wunderpille löste auch den Streit zwischen den beiden Brüdern aus. Philipp drängte John das Medikament endlich freizugeben. Fast alle Pharmabetriebe arbeiten an so einem Schlankmacher. Angesichts der hohen Profitaussichten mit der schlanken Linie wurde auf Hochtouren darauf hingearbeitet, die Essgelüste der übersättigten Gesellschaft zu regulieren.
Unter allen Umständen wollte Philipp einer der Ersten sein, der ein gewichtreduzierendes Medikament auf den Markt bringen wollte. Denn wenn ihm dies wirklich gelänge, dann hätte er endlich den magischen Schlüssel, der ihm alle geschäftlichen und gesellschaftlichen Türen und Tore öffnen würde. Niemand konnte ihn dann mehr daran hintern, zu expandieren und seinen Traum umzusetzen, das Unternehmen in einen Konzern mit weltweiten Niederlassungen auszuweiten.

 

Die Situation spitzte sich aber vor einem halben Jahr so zu, dass es bei der Generalversammlung im April zu einem handfesten Streit gekommen war. Stillschweigend hatte sich Philipp die Testberichte und Auswertungen aus dem Forschungslabor besorgt. Auf den ersten Blick hatte John erkannt, dass es die Aufzeichnungen von Alex Summer waren. Sein Freund litt unter jener Marotte, dass er die Testberichte nicht gleich in den PC schrieb, sondern sie vorher handschriftlich verfasste, weil er sich so alles besser merken würde, wie er behauptete.
Und nun hatte John die Kopie der handschriftlichen Unterlagen auf dem Konferenztisch liegen gesehen. Wie Philipp zu diesen Unterlagen gekommen war, war John ein Rätsel gewesen. Absolut nichts durfte ohne seine Zustimmung aus der Forschungsabteilung hinausgehen. John war jedoch überzeugt gewesen, dass Alex die Unterlagen nicht freiwillig an Philipp weitergegeben hatte.
Aus diesem Bericht ist hervor gegangen, dass man die Nebenwirkungen des Medikamentes in einem Ausmaß reduziert hatte, dass es bereits Testpersonen verabreicht werden konnte. Mit diesem Statement hatte Philipp die Mitglieder des Rates nun ziemlich überrascht.
Denn bei der letzten Herbstsitzung hatte John bekanntgegeben, dass frühestens in einem, spätestens aber in zwei Jahren mit die Testphase von RNV3 an Menschen in Frage kommen würde.
John hatte nicht damit gerechnet, dass ihn Philipp bei der Generalversammlung überrumpeln wollte. Denn so wie Philipp die Sachlage dargelegt hatte, hatte es den Anschein, als ob RNV3 nur mehr das Ok. der Gesellschafter benötigt hätte, um an Testpersonen verabreicht zu werden. Die Euphorie in Summers Bericht war offensichtlich gewesen, da sich nach seinen Angaben die neuerliche Erprobung an zwei Rhesusaffen äußert positiv erwiesen hatte, denn die Nebenwirkungen hatten sich absolut in Grenzen gehalten. Der Rückschlag war erst einen Tag vor der Sitzung gekommen. Der männliche Affe war in der vorletzten Nacht an Herzversagen verstorben.
John hatte nun seinerseits den vollständigen Bericht vorgelegt und dringend davor abgeraten, die Zustimmung zu geben, RNV3 an Testpersonen weiterzugeben. Das Medikament sei noch zu unausgegoren, als dass man Menschleben damit gefährde. Dieser Rückschlag hatte die Forschung um Monate, ja vielleicht sogar um Jahre zurück geworfen. Die Sisyphusarbeit begann wieder von vorne, die Wirkstoffe neu zu dosieren bzw. Ersatz für gewisse lebensbedrohende Substanzen zu finden.
Die Gesellschafter hatten die Bedenken Johns für gerechtfertigt gehalten und entschieden sich dagegen, das Medikament an Menschen zu erproben. Die Nebenwirkungen mussten soweit reduziert werden, dass keine Lebensgefahr bestand und auch dauerhafte Schädigungen ausgeschlossen waren.
Nachdem die Sitzung beendet war, kam es zwischen den beiden Brüdern zu einer heftigen Auseinandersetzung. John hatte Philipp Inkompetenz und Gewinnsucht auf Kosten anderer an den Hals geworfen, während Philipp seinen Bruder als Memme, Zauderer und Angsthasen bezeichnet hatte, dessen Risikobereitschaft gleich null war. Philipp hatte es satt ständig vertröstet zu werden, während andere Firmen mit der Entwicklung des Medikamentes schon um vieles weiter waren. Er wollte endlich Resultate vorgelegt bekommen und nicht nur zusehen wie Unmengen von Firmengeldern in die Forschung gepumpt wurden, die nicht fähig war, endlich ein effizientes Medikament zu entwickeln.
Hier hatte er John an einem wunden Punkt getroffen, denn er war sich nur zu sehr bewusst, wie viel Geld dieses Projekt verschlang und seine akribische Arbeit immer wieder zurück geworfen wurde. John hatte nun endgültig genug von Philipps ständigen Attacken, Vorwürfen und Forderungen. Es war ihm durchaus bewusst, dass die Zeit drängte und man mit positiven Ergebnissen aufwarten musste. Doch unüberlegtes Handeln wäre völlig fehl am Platz gewesen und hätte fatale Folgen gebracht, wenn auch nur ansatzweise das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wurde. Der Tod des Affen hatte schließlich den Ausschlag gegeben, dass John und Alex sich zu jenem schweren Entschluss durchgerungen hatten, rasch umzudenken und nach völlig neuen Wirkstoffen und Möglichkeiten der Verarbeitung zu suchen, oder das Projekt so lange auf Eis zu legen, bis sich durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse neue Horizonte öffnen würden und man dann wirklich dazu fähig war, eine sinnvolle Rezeptur zusammenstellen. Doch am jetzigen Stand der Dinge weiter zu arbeiten hätte nur sinnlos Geld und Zeit verschlungen. Auf dieser Schiene war RNV3 tot geforscht. Fakt war, dass die letzten zwei Forschungsjahre für die Katz gewesen waren und man letztendlich wieder von vorne beginnen musste.
Über diese Hiobsbotschaft war Philipp dermaßen außer sich gewesen, dass er John gedroht hatte aus der Firma auszusteigen, sollte an RNV3 nicht am jetzigen Stand weiter geforscht werden. Schließlich stünde man kurz vor der Lösung des Problems. Und neu anzufangen hieße aufzugeben und den anderen das Feld zu überlassen.
Dieser Rückschritt und der damit verbundenen finanzielle Verlust war John durchaus gewusst. Doch die Risiken waren einfach zu hoch. Selbst im Hinblick, dass man vielleicht zu spät mit dem Präparat auf den Markt kommen würde, ging ihm die Sicherheit, Verantwortung und Glaubwürdigkeit der Firma vor. John war keine Spielernatur, um sich auf ein russisches Roulette einzulassen.
Aufgebracht hatte Philipp die Firma verlassen und schickte einen Tag später ein Mail an John, indem er ihm mitteilte, dass er die nächsten Wochen und Monate Urlaub machen wollte. Er brauchte Zeit um seine Stellung in der Firma neu zu überdenken. Auch für John wäre es an der Zeit sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass es nur einen Boss geben kann.
John hatte versucht Philipp zu erreichen, um mit ihm in aller Ruhe über das Problem zu sprechen. Doch Philipp war wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Seine Sekretärin hatte John mitgeteilt, dass auch sie ein Mail bekommen hatte, worin Philipp ihr mitteilte, dass er sich die nächsten Monate auf einer Weltreise war und nicht zu erreichen sei. Sollte es Probleme geben, dann konnte sie sich vertrauensvoll an John wenden.
Nun hatte John die liebe Mühe gehabt, Forschung und Management der Firma unter einen Hut zu bringen. Er war schrecklich verärgert gewesen, dass ihn Philipp ganz einfach im Stich gelassen hatte, wo John doch absolut keine Ahnung von der Geschäftsführung, von Ausschreibungen und Personalmanagement oder Produktvermarktung hatte. John war Chemiker und Forscher und kein Manager.
Doch irgendwie war es ihm mit Hilfe von Philipps Assistenten und seiner Sekretärin gelungen über die Runden zu kommen, ohne dass die Firma nennenswerten Schaden erlitten hatte. In dieser Zeit war John auch zur Einsicht gelangt, wie schwer es war, das Schiff auf Kurs zu halten.
John hatte nun wesentlich mehr Zeit in der Chefetage verbracht, als in Labor. Die Forschungsarbeit an RNV3 war völlig zum Erliegen gekommen. Außerdem hatte man sich nun wieder vermehrt auf jene Forschungsziele konzentrieren müssen, die im Augenblick sinnvollere und gewinnbringendere Aussichten boten. Philipps in Auftrag gegebene Studie war voll angelaufen und lieferte bereits erste positive Ergebnisse. Doch es war noch viel zu früh, um darauf schon Nutzen ziehen zu können.
Durch die vielen Rückschläge war der Betrieb finanziell ziemlich angeschlagen und die hohen Kreditrückzahlungen belasteten die Firma schwer. Es war höchste Zeit, sich wieder auf den eigentlichen Schwerpunkt der Produktion zu konzentrieren, damit wieder mehr Geld in die Kasse floss.

 

Vor einer Woche hatte Philipp John angerufen und teilte ihm mit, dass er bereit wäre, wieder in die Firma zurückzukehren. Philipp hätte nun genügend Zeit gehabt zu überlegen, wie es nun für ihn weiter gehen sollte. Über diese heikle Angelegenheit wollte er aber mit John nicht in der Firma sprechen, sondern auf einem neutralen Boden, wo ein entspanntes Klima herrschte und wo beide weder Stress noch Ablenkung seitens der Firma ausgesetzt wären.
Aus diesem Grund hatte Philipp seinen Bruder für dieses Wochenende zum Schifahren nach Jasper eingeladen. Beide waren ausgezeichnete Skiläufer, eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die sie teilten. Der Schneefall hatte dieses Jahr schon ziemlich früh eingesetzt, sodass die Bedingungen für Helikopterskiing einfach ideal waren.
Obwohl John eigentlich keine Zeit zum Skifahren hatte, wollte er auf keinen Fall Philipps Bitte ausschlagen. Er brauchte Philipp dringend in der Firma, damit er sich endlich wieder auf die Forschung konzentrieren konnte. Vielleicht war es ja auch wirklich gut, dass er einen räumlichen Abstand von den anstehenden Problemen des Betriebes hatte. In den letzten Monaten hatte es ohnehin kaum ein Wochenende gegeben, das John nicht in der Firma verbracht hatte.
Wie so oft schon dankte er Gott, dass er in Pamela eine Frau gefunden hatte, die Verständnis für seine augenblicklich problematische Situation hatte. Kein einziges Mal hatte sie ihm Vorwürfe gemacht oder geschmollt, dass er keine Zeit für sie hatte. Für ihre Geduld und ihre Einsicht war John echt dankbar. Gerade in dieser schweren Zeit hatte sie bewiesen, dass sie 100%ig zu ihm stand.
Mit dem ständigen Wälzen so vieler Probleme war die Anreise schneller vergangen, als John angenommen hatte. Es lag aber auch daran, dass zu dieser Stunde die Straßen noch ziemlich leer waren und John zügig vorankam.
Philipp hatte schon für den späten Vormittag den Helikopter gebucht, sodass John spätestens um 11:00 Uhr am Landeplatz sein musste. Doch wenn es mit dem Verkehr weiter so gut lief, würde er nun weit früher da sein. In den höheren Lagen war der Schnee nicht mehr weggeschmolzen. Wie ein dünner, weißer Flaum bedeckte er nun die ansteigende Landschaft. Je näher er jetzt Jasper kam, umso dichter wurde auch die Schneedecke.
Japser war nicht unbedingt ein winterlich verträumter Ort, wie man es von anderen Bergdörfern gewohnt ist. Die Straße wurde von einer nüchternen Häuserreihe gesäumt, die wenig Idyllisches an sich hatten. Dafür war das Skigebiet mitten im Nationalpark der absolute Hammer. Früher war John mit Philipp oft hier gewesen. Mit dem Heli haben sie sich auf eine Bergspitze fliegen lassen, wo sie eine drei-vierstündige Abfahrt genossen hatten.
John bezweifelte aber, dass dieser Spaß von damals heute noch aufkommen würde. Viel mehr interessierte ihn nun, was ihm Philipp bezüglich seiner Rückkehr in die Firma vorschlagen würde. Wenn Philipp erfuhr, dass es in seiner Abwesenheit nicht nur keine Fortschritte bei der Schlankmacherpille gab, sondern das Projekt RVN3 augenblicklich überhaupt ruhte, würde das nicht unbedingt zur Wiedersehensfreude beitragen.
Langsam fuhr John die Serpentinen der Bergstraße hoch. Der Schnee hatte die Nadelbäume in einen dichten Mantel gehüllt, so dass die Äste mit ihrer schweren Last ziemlich tief nach unten hingen. Die Wolken des dicht verhangenen Himmels ließen keinen einzigen Sonnenstrahl durch. Dunkel, ja fast bedrohlich, verhüllten sie die Bergspitzen. So wie es aussah, würde es bald wieder zu schneien beginnen. In John meldeten sich berechtigte Zweifel, ob es bei diesem Wetter sinnvoll wäre, diese ca. 4 Stunden lange Abfahrt im Tiefschnee wirklich durchzuziehen. John und Philipp waren nicht mehr die jüngsten. Außerdem fühlte sich John ohnehin nicht sonderlich fit nach der heißen Nacht mit Pamela.
Die Skisaison hatte noch nicht wirklich begonnen. Die wie in die Gegend gestreuten Gastwirtschaftshütten sahen noch ziemlich verlassen aus. Auch die Skilifte waren noch nicht in Betrieb. In regelmäßigen Abständen pendelten die Schleppliftbügel wie aufgestellte Kreuze an den dicken Stahlseilen. Die Gegend vermittelte einen äußerst verlassenen und leicht morbiden Eindruck, der sich auf Johns ohnehin schon angeschlagenes Gemüt nicht besonders positiv auswirkte.

 

Auf Anhieb hatte John den neuen Landesplatz für die Helis gefunden. Er parkte seinen Jeep neben Philipps alten Aston Martin. Als er aus dem Wagen stieg, kam auch schon Philipp auf ihn zugelaufen. Überrascht stellte John fest, dass Philipps Haar geschnitten war. Der pomadisierte Pferdeschwanz war viele Jahre sein ganz besonderes Markenzeichen gewesen. Nun trug er aber denselben Kurzhaarschnitt wie John.
„Hallo Bruderherz! Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, ich müsste eine Vermisstenanzeige aufgeben“, begrüßte er John lächelnd und drückte ihn an sich. Dann nahm er seine Sonnenbrille ab, worauf ihn John ein zweites Mal ungläubig anstarrte.
„Da staunst du, nicht wahr?“ fuhr Philipp fort und tippte mit dem Finger auf sein ehemals schielendes Auge.
John fühlte sich ein wenig vor den Kopf gestoßen. Das veränderte Aussehen seines Bruders und die unvermutet herzliche Begrüßung rüttelten John ein wenig durch.
„Hi Philipp. Wo ist dein Silberblick geblieben?“, fragte er erstaunt. „Ich dachte diese Muskelverängung sei irrreparabel.“
„Ja, das dachte ich auch, bis ich in Johannesburg einen Chirurgen kennen lernte, der mir mit einer bestimmten Lasertechnik mein Problem aus der Welt schuf. Es war zwar nicht ganz ungefährlich, denn die Chancen standen 50 zu 50. Doch wie du siehst, habe ich das halbvolle Glas erwischt.“
„Und wo ist Dein anderes Markenzeichen geblieben?“
Bedauernd fuhr Philipp durch sein kurzes Haar.
„Schön langsam war es Zeit, mich von er Jugend zu verabschieden. Mein Zopf war sozusagen das erste Zugeständnis an das vorrückende Alter.“
Während die beiden Brüder in dem kleinen Coffeeshop noch eine Tasse Kaffee tranken, äußerte John seine Bedenken über das Wetter.
„Glaubst du, dass es wirklich sinnvoll ist bei diesem Wetter die Abfahrt zu machen?“
„Du brauchst dir keine Sorgen machen. Laut letztem Wetterbericht bleibt das Wetter stabil. Auch der Pilot bestätigte mir, dass es nicht zu schneien beginnen wird“, beruhigte ihn Philipp.
„Es soll tollen Pulverschnee in der oberen Hälfte der Abfahrt geben. Die Strecke ist neu und erst seit dem letzten Jahr erschlossen. Sie führt durch eine traumhaft schöne Gegend. Ich hoffe, du bist ausgeruht und gut bei Kondition, denn diese Abfahrt ist wirklich nur was für Könner.“
John nickte zuversichtlich, obwohl er nicht wirklich überzeugt war, ob er heute die nötige Kondition aufbringen würde. Doch er wollte sich vor Philipp keine Blöße geben und schwach wirken.
„Wer ist noch mit von der Partie?“ fragte John.
„Niemand, nur du und ich.“
„Ist es nicht ein wenig gefährlich, wenn nur wir zwei unterwegs sind?“
„Komm schon, wo bleibt dein Abenteuersinn?“, erwiderte Philipp herausfordernd. „Wir sind doch keine Weicheier, sondern richtige Männer“, fuhr er euphorisch fort und klopfte John aufmunternd auf die Schulter.
„Du brauchst aber keine Angst zu haben, ich bin diese Strecke letztes Jahr schon einige Male gefahren. Du kannst dich auf mich verlassen, ich bring dich sicher ins Tal.“
Nachdem sie den Kaffee getrunken hatten, wechselte John seine Jeans gegen seine warme Skihose und griff nach seinem schwarzen Daunenanorak. Doch Philipp hielt ihm einen knallroten Parka hin und sagte:
„Zieh diesen an. Sollte doch etwas passieren, bist du wesentlich auffälliger als in deinem schwarzen“, bat er John. „Es ist nur reine Vorsichtsmaßnahme. Du siehst ja, ich trage ihn auch.“
„Eine gute Idee. Daran hätte ich auch denken können“, sagte John und nahm dankbar den Parka entgegen.
„Außerdem nimm dieses Funkgerät an dich, für alle Fälle.“ sagte Philipp und reichte es seinem Bruder. John nahm es und schaltete es ein. Sofort leuchtete das Display auf.
„Damit stehst du mit mir in direktem Funkkontakt, sollten wir uns aus den Augen verlieren. Die Handys funktionieren hier oben nicht.“ fuhr Philipp bedauernd fort.
„Lass uns noch etwas trinken und ich zeig dir auf der Karte den Verlauf der Strecke“, forderte Philipp seinen Bruder auf und nahm ihn den Parka ab, den er zusammen mit seinem an den Garderobenbalken hängte.
Der Flug dauerte nicht einmal 10 Minuten. Wenn die Sonne hier schien, musste der Blick über dieses wilde und tief verschneite Felsmassiv der Rocky Mountains überwältigend sein, ging es John bedauernd durch den Kopf. Nun begann auch er wieder jenes Kribbeln zu spüren, das er normaler Weise fühlte, wenn er zum Skifahren unterwegs war. Kilometerlange, tief verschneite Abfahrten zwischen unendlich weiten Tannenwäldern, wo noch kein Skifahrer seine Spuren im Tiefschnee gezogen hatte, offenbarten sich seinem uneingeschränkten Blick. Nur eine kleine Herde Wapiti-Hirsche trottete gemächlich auf der Suche nach Nahrung über eine Lichtung. Das laute Motorengeräusch des Helikopters schien sie nicht im mindestens zu stören. Ab und zu fielen von den langen Ästen der mächtigen Coloradotannen kleine Schneehäufchen zu Boden. Ansonsten wurde dieses stille Ambiente nur durch den einsamen Flug eines Steinadlers unterbrochen, der majestätisch seine weiten Runden über sein Revier flog.
Johns Vorfreude aufs Skifahren in dieser wunderschönen Gegend verdrängte nach und nach seine Bedenken. Er nahm sich vor die Zeit zu genießen und ein wenig auszuspannen, vorausgesetzt, dass er mit Philipp ins Reine kam.
Der Helikopter landete auf einem kleinen Hochplateau. Philipp stieß die Tür auf und ein eisiger Wind schlug ihnen entgegen. Es war verdammt kalt hier oben. Bevor sie ausstiegen hatte Philipp John noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass nach knapp zwei Kilometern eine Weggabelung ist, bei der sich John unbedingt links halten musste. Ansonsten verlief die Strecke immer geradeaus.
Schnell schnallten sie ihre Skier an, setzten Ihre Mützen und Skibrillen auf und zogen die Kapuzen ihrer Anoraks über den Kopf. Langsam erhob sich der Helikopter wieder und wirbelte den losen Schnee unter sich hoch, sodass er für einen Augenblick völlig in der weißen Wolke verschwand. Zum Abschied winkte ihnen der Pilot noch einmal freundlich zu, bevor er sich rasch wieder ins Tal hinab bewegte. Dann waren die beiden Brüder alleine.
Trotz Philipps zuversichtlicher Beteuerungen spürte John nun doch wieder dieses leicht mulmige Gefühl im Bauch. Jetzt waren sie wirklich völlig alleine und auf sich selbst gestellt. John zog seine dicken Skihandschuhe an und wartete, bis Philipp fertig war. Ein letztes Abchecken der Ausrüstung und es konnte losgehen.
Philipp hatte nicht zu viel versprochen. Der Schnee war wirklich phantastisch; pulvrig, fein und leicht, so dass man ohne großen Kraftaufwand mühelos den Hang hinabwedeln konnte. Ein aufregendes Gefühl erfasst John, das er schon lange nicht mehr erlebt hatte. Obwohl Philipp der bessere Skifahrer war, hinkte er doch immer ein wenig hinter John her. Zu guter Letzt stürzte er sogar, was so gut wie noch nie vorgekommen war. John war schon mindestens 150 Meter weiter voran als er anhielt, um nach Philipp Ausschau zu halten. Langsam begann sich Philipp aufzurappeln und winkte John mit seinem Skistock zu, dass alles in Ordnung ist.
Doch plötzlich war ein lauter Knall zu hören und unter Johns Skiern begann der Boden zu vibrieren. Gleichzeitig hallte ein dumpfes Donnern in den steilen Berghängen wider.John wandte sich in die Richtung, aus welcher der Knall gekommen war. Wie gebannt sah er die riesige Lawine, die direkt auf ihn zusteuerte. Instinktiv blickte er zu Philip hoch. Gott sei Dank. Sein Bruder befand sich außerhalb des Gefahrenbereiches. Doch wenn er jetzt nicht rasch handelte, dann würde er innerhalb der nächsten Sekunden ein mächtiges Problem haben. Schnell brachte John seine Skier wieder in Fahrtrichtung und fuhr wie vom Teufel geritten los. In seiner Panik hatte er jedoch nicht auf die Weggabelung geachtet und fuhr mit hoher Geschwindigkeit die rechte Schneise den Berg hinab.
Jeder Muskel seines Körpers war zum bis zum Zerreißen angespannt. Er musste sich auf den Weg konzentrieren, denn wenn er jetzt stürzte, war sein Leben keinen Cent mehr wert. Das Donnern hinter ihm wurde immer lauter und bedrohlicher. John traute sich nicht nach hinten zu sehen, weil er Angst hatte zu fallen und von der Lawine überrollt zu werden. Starr den Blick nach vorne gerichtet, suchte er eine Möglichkeit, diesen tödlichen Schneemassen zu entkommen.
Trotz der Kälte spürte John, dass jede Pore seiner Haut transpirierte. Doch dann ereilte ihn ein weiterer Schock. Knapp 200 Meter vor ihm endete die Schneise im Nichts. John konnte nicht abschwingen und stehen bleiben, sonst wäre er innerhalb kürzester Zeit unter einer massiven Schneedecke begraben. Außerdem war hier die Vegetation für Bäume noch viel zu hoch, als dass er Schutz im Wald finden hätte können. Die niedrigen Latschen und Kieferngewächse boten keine Sicherheit gegen diese enorme Schneemasse, die rasch auf ihn zurollten. Doch was folgte nach dem Ende dieser Schneise?
Stehen bleiben hieße, den sicheren Tod zu wählen. Wenn er aber sprang, so hatte er zumindest eine kleine Chance am Leben zu bleiben. Mit einem letzten Stoßgebet zum Himmel fuhr er so schnell er konnte über das Ende der Piste hinaus….

 

 

- 4 -

 

 

Philipp hatte sich absichtlich in den Schnee fallen lassen und wartete. Noch konnte er das Funkgerät heraus nehmen und John warnen. Oder er unterließ es ganz einfach, seinen Skistock zu heben und zu winken, dass das Zeichen für die beiden Sprengstoffexperten war, das Dynamit zu zünden, um die mörderische Lawine auszulösen. Die beiden Männer hatten gestern schon nach den richtigen Stellen gesucht, wo der größtmögliche Abgang garantiert war.
Versteckt lauerten sie nun hinter einem vorspringenden Felsen und beobachteten Philipp mit Argusaugen. Philipp hatte keine Wahl, er musste seinen Bruder für sein eigenes Leben opfern. Mit unglaublicher Überwindung hob er seinen Stock und winkte damit. Unmittelbar darauf begann die Erde zu beben und ein ungeheures Donnern und Grollen erfüllte die Berge. Ein riesiges Schneebrett hatte sich gelöst und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit geradewegs auf John zu. Doch John reagierte sofort und fuhr rasant den Berg hinunter. Angespannt verfolgte Philipp Johns Schussfahrt. Ohne dass er sich bewusst wurde, dass er schrie, feuerte er seinen Bruder energisch an:
„Komm John, du schaffst es. Nur noch die Schneise nach links und du bist in Sicherheit.“
Doch John übersah die Abzweigung, auf die ihn Philipp so eindringlich aufmerksam gemacht hatte und fuhr die rechte Schneise weiter, die direkt in sein Verderben führte. Philipps lauter Verzweiflungsschrei ging im lauten Gedröhne der abgehenden Lawine unter. Der rote Punkt war am Abgrund angelangt und John wurde von den ungeheuren Schneemassen mit in die Tiefe gerissen.
Noch immer sah Philipp wie gebannt auf jene Stelle, wo er John aus den Augen verloren hat. Dann riss er das Funkgerät aus der Tasche und schrie aufgeregt in den Lautsprecher.
„John, John! Melde dich! John, bitte!“
Doch das Funkgerät blieb stumm.
Die beiden Männer kamen nun aus ihrem Versteck hervorgekrochen. Philipp erkannte an ihrer Miene und an ihrem angeregten Plauderton, dass sie mit ihrer Arbeit sehr zufrieden waren. Dass dabei ein Mensch ums Leben gekommen war, hatte für sie keine Bedeutung.
Der Hubschrauber landete wieder auf einer kleinen Hochebene, der die beiden Männer und Philipp abholte. Noch immer versuchte Philipp mit John in Verbindung zu treten. Doch sein Bruder antwortete nicht.
Schweren Herzens stieg die wenigen Meter zum Hubschrauber, schnallte seine Skier ab und stieg in das Cockpit. Die beiden Männer unterhielten sich weiterhin angeregt über das Dynamit und ob auch eine geringere Menge mit besser Platzierung genauso effektiv gewesen wäre, um solch eine gewaltige Lawine auszulösen. Sie beachteten Philipp kaum, der in der Ecke zusammengekauert ins Leere starrte. Zweifel und Schuldgefühle kamen nun in unglaublichen Wellen in ihm hoch. Hatte es wirklich keine andere Möglichkeit gegeben mit dem Leben davon zu kommen, ohne dabei das seines Bruders zu opfern?

Philipp war schon immer der Typ gewesen, der sich gerne unter den Reichen und Schönen bewegte. Er fühlte sich wohl in der gehobenen Gesellschaft Vancouvers, wo auch er ein gern gesehener Gast war. Bei einer Benefizveranstaltung der Aidshilfe hatte er Pamela kennengelernt. Sie hatte zu den schönsten und aufregendsten Frauen gezählt, die er jemals gesehen hatte. Pamela war in Begleitung ihres Onkels gekommen, dem wohlhabenden Unternehmer und Geschäftsmann Ernesto Canetti. Canetti war bei derartigen Veranstaltungen ein gern gesehener Gast, da seine Spenden stets sehr großzügig ausfielen. Philipp hatte Pamela zwar schon einige Male in der Vancouver Gesellschaft gesehen, doch bis dato hatte sie ihn immer ignoriert.
Philipp war daher ziemlich überrascht gewesen, als Pamela mit ihm zu flirten begann. Sie hatte umwerfend elegant in diesem schwarzen Epaulettenkleid ausgesehen, das ihre körperlichen Vorzüge bestens zur Geltung brachte und einen unglaublich tollen Kontrast zu ihrem rostrot glänzendem Haar herstellte. Nachdem Philipp ihr aufforderndes Lächeln erwidert hatte, kam sie auch schon direkt auf ihn zu.
„Ich habe das untrügliche Gefühl, dass Sie mich auf ein Glas Champagner einladen wollen. Oder irre ich mich etwa?“ hatte sie ihn kokett gefragt.
„Keineswegs, ich wollte Sie gerade darum bitten.“
„Ich heiße Pamela, Pamela Canetti und bin in Begleitung meines Onkels Ernesto Canetti hier.“
„Es ist mir eine Freude sie kennen zu lernen, Pamela. Mein Name ist Philipp Lombard“, hatte sich nun auch Philipp vorgestellt. „Ich habe sie schon einige Male bei derartigen Veranstaltungen gesehen.“
„Unmöglich“, erwiderte sie mit gespielten Erstaunen. „Wie konnte mir nur so etwas passieren, dass mir ein derart attraktiver Mann durch die Lappen gegangen war, ohne mit ihm zumindest einmal geflirtet zu haben.“
Philipp reichte ihr das perlende Glas.
„Nun die Gelegenheit auf eine zweite Chance gebe ich Ihnen gerne.“
„Vielleicht können wir ja diese entgangenen Möglichkeiten eines näheren Kennenlernens bei einem netten Abendessen ausgleichen.“
Das war der Wink des Schicksals gewesen. Ohne lange zu überlegen, hatte Philipp ihre verlockende Einladung angenommen. Noch in derselben Woche hatte Philipp die schöne Frau zu einem romantischen Candlelightdinner in einem der noblen Restaurants des Yachthafens ausgeführt.
Pamela war unglaublich charmant gewesen. Mit ihrer Schönheit und Intelligenz, aber nicht zuletzt auch wegen ihrer geballten Ladung an Sexappeal fiel es ihr ziemlich leicht, Männer zu becircen und um ihren Finger zu wickeln. Doch hinter dieser engelsgleichen Maske hielt sich eine abgebrühte und berechnende Kanaille versteckt, der nichts zu dreckig war, um ihre Interessen durchzusetzen.
Doch damals hatte Philipp noch keine Ahnung gehabt, dass sie eine kaltblütige Gottesanbeterin war. Bald war er bis über beide Ohren in dieses Miststück verliebt gewesen. Pamela war nicht nur eine aufmerksame und interessierte Zuhörerin gewesen, sie erfüllte ihm auch seine geheimsten sexuellen Wünsche. Philipp hatte sich wohl und geborgen bei ihr gefühlt, wie es niemals zuvor bei einer anderen Frau gewesen war. Am liebsten hätte er sie von der Stelle weggeheiratet. Doch Pamela hatte Philipp gebeten, mit dem Heiraten noch etwas zu warten. Bevor sie diesen entscheidenden Schritt wagen wollte, hatte sie Philipp noch ein bisschen besser kennenlernen wollen.
Im Laufe der nächsten Wochen hatte Philipp immer mehr Vertrauen zu Pamela gefasst. Er erzählte ihr von den Problemen in der Firma, von der in Auftrag gegebenen Studie und von den Unsummen von Geldern, die die Forschung verschlang. In diesem Zusammenhang hatte er ihr auch von den Problemen mit seinem Bruder berichtet und dass er keine Ahnung hatte, wie schwierig es war, diese Gelder aufzutreiben, wo doch die Firma bei weiten nicht so viel abwarf, wie die Forschung augenblicklich verschlang. Und Investoren waren sowieso Mangelware. Außerdem wollten die Banken keine Aufstockung der Kredite mehr gewähren. Im Gegenteil, sie zogen sogar schon in Betracht, die Darlehen fällig zu stellen, sollten nicht bald die nötigen Fortschritte erzielt werden.
Ohne sich dessen bewusst zu werden, hatte er Pamela genau die Informationen zugespielt, die sie haben wollte. Pamela hatte sich den Anschein gegeben, als ob sie Philipp aus der Klemme helfen wollte und bot ihm einen Wechsel in Höhe der gewährten Kreditsumme an, um das Darlehen abdecken zu können. So gesehen wäre er wieder kreditwürdig gewesen und der Forschung konnte mehr Zeit eingeräumt werden. Das Geld hierfür hatte sie von ihrem Onkel erbeten, der seiner Nichte und ihrem zukünftigen Mann behilflich sein hatte wollen. Der Wechsel war auf 12 Monaten ausgestellt gewesen. Dieses Zeitfenster hätte reichen sollen, um entsprechende Fortschritte zu erzielen.
Bis über beide Ohren verliebt, unwissend und vertrauensselig wie ein junger Hund, hatte er sich auf diesen Deal eingelassen. Doch nachdem das Geschäft unter Dach und Fach gewesen war, ließ Pamela ihre liebliche Maske fallen und zeigte ihr wahres Gesicht. Rücksichtslos und unmissverständlich hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass ihr Interesse nicht an ihm, sondern ausschließlich an seiner Firma lag. Ohne eine Spur schlechten Gewissens hatte sie Philipp in Kenntnis gesetzt, dass sie im Auftrag ihres Onkels gehandelt hatte, der die Majorität der Gesellschaftsanteile für sich gewinnen wollte.
Philipp hatte nicht fassen können, mit welcher Kaltblütigkeit diese Frau ans Werk gegangen war. All die Liebe und Fürsorge für ihn war nur gespielt gewesen und löste sich nach seiner Unterschrift auf dem Wechsel in Schall und Rauch auf. Die Angst, die 15 Millionen Dollar nicht rechtzeitig herbeischaffen zu können, hatte ihn ab diesem Tag an keine Nacht mehr ruhig schlafen lassen.
Philipp hatte den Wechsel als Privatperson unterschrieben und haftete alleine dafür. Die Firma konnte man nicht belangen. Niemals hätten John und die Gesellschafter auch nur ansatzweise ihre Einwilligung gegeben, einem Privatmann diesen Wechsel zu unterschreiben.
Man liebsten hätte sich Philipp selbst geohrfeigt. Mit seinem schwanzgesteuertem Hirn hatte er sich den Canettis voll ausgeliefert und alles verloren. Nicht nur seine 35 Prozent der Gesellschaftsanteile waren den Canettis dann sicher, falls er den Wechsel nicht einlösen konnte. In seiner Blauäugigkeit hatte er sich selbst an die kanadische Mafia verkauft.
Es dauerte seine Zeit, bis Philipp dieses böse Spiel vollständig durchschaut hatte. Das Interesse der Canettis an Lombard-Pharma hatte schon seit geraumer Zeit bestanden. Das Unternehmen bot mit seiner Forschungsabteilung gute Möglichkeiten zur Wäsche von Schwarzgeldern. Ein Großteil der langwierigen und umständlichen Transaktionen ins Ausland mit dem Drogen- und Schmuggelgeld über die Caymans würde sich dann ziemlich einfach im eigenen Land weiß waschen lassen. Die Forschung war ein Fass ohne Boden, in das ständig Geld gepumpt werden musste, ohne dass man den Geldfluss wirklich nachvollziehen konnte.
Als der alte Canetti in Erfahrung gebracht hatte, dass der Pharmaziebetrieb in finanziellen Schwierigkeiten steckte, hatte er seine Chance gewittert, sich das Unternehmen unter den Nagel zu reißen. Das Unternehmen genoss einen guten Ruf und war genau richtig für seine Interessen angelegt.
Aus diesem Grund hatte der alte Canetti seinen Bluthund zuerst einmal auf Philipp angesetzt, um sich seine Firmenanteile zu sichern. In der Folge war Pamelas Augenmerk dann auf seinen Bruder gerichtet gewesen, der die anderen 35 Prozent der Firmenanteile besaß. Und nachdem Pamela mit ihrem Becircen so viel Erfolg gehabt hatte, wollte sie diese Masche auch bei John anwenden.
Philipp war gezwungen worden, Pamela seinem Bruder vorstellen, der auf dieses Dreckstück genauso wie er abgefahren war. John hatte aber immer schon besser verstanden, Geschäftliches von Privatem zu trennen. Doch diese Nuss zu knacken, war Pamela samt ihres umfangreichen Repertoires an Verführungskünsten nicht gelungen. Pamela hatte daher einen Schritt weiter gehen müssen und war Johns Ehefrau geworden.
In der Zwischenzeit hatte Philipp gespart, wo es nur ging. Er versuchte auch alle anderen noch möglichen Ressourcen auszuschöpfen, um an Geld zu kommen. Wenn er mit der in Auftrag gegebenen Studie wirklich beweisen konnte, dass pflanzliche Mistelpräparate chemischen Wirkstoffen um nichts nachstanden, dann konnte Lombard-Pharma mit einem ungeheuren Marktaufschwung rechnen, da der Trend zu organischen Substanzen auch in der Medizin immer stärker im Vormarsch waren. Die Studie hatte aber erst begonnen. Und gerade in der Onkologie dauerte es Jahre bis brauchbare Ergebnisse vorliegen würden.
So war der einzige Lichtblick der Schlankmacher gewesen, der Philipp aus dieser Misere hätte herausreißen können. RNV3 hatte in der Probephase an Tieren schon so gute Erfolge erzielt, so dass man kurz davor war, das Medikament an Testpersonen zu verabreichen. Doch John hatte unbedingt noch zuwarten und noch einige Tests durchführen wollen.
Ende des Monats war der Wechsel aber fällig gewesen. Wenn Philipp den Banken vorlegen hätte können, dass das Medikament fast schon einsatzbereit sei, wäre mit seinen Überredungskünsten der Geldstrom sicherlich wieder geflossen und die 15 Millionen wären vom Tisch gewesen.
Philipp hatte sich Unterlagen aus der Forschungsabteilung besorgt, aus denen hervorging, dass RNV3 soweit ausgereift war, um in die nächste Phase überzugehen. Mit seinen 35 Prozent und den anderen 30 Prozent der restlichen Gesellschafter hätte er John sicherlich überstimmen können.
Obwohl die Forschungsabteilung nicht in seinen Kompetenzbereich fiel, war ihm doch der Zutritt zu den Labors möglich. Eine Woche vor der Generalversammlung hatte Philipp in der Nacht die Schreibtische der Forscher durchstöbert. Fast hatte er die Hoffnung schon aufgegeben fündig zu werden, da die Forschungsberichte im Tresor verwahrt lagen, dessen Zahlenkombination nur John bzw. Alex Summer kannte. Es war reiner Zufall, dass er auf Summers chaotischen Schreibtisch eine der letzten Forschungsergebnisse von RNV3 fand, die er wie üblich zuerst einmal handschriftlich niedergeschrieben hatte. Alex hatte sie wohl vergessen zu vernichten. Das war aber nichts Besonderes für den zerstreuten Professor gewesen, der die Sicherheitsmaßnahmen nie so genau nahm.
Philipp war ein Stein vom Herzen gefallen, als er den Bericht aufgeregt überflog. In seinen Händen hatte er die Fahrkarte in die Freiheit gehalten.
Die Generalversammlung war dann aber ganz anders verlaufen, wie es sich Philipp vorgestellt hatte. Der unerwartete Rückschlag, dass der Affe in der Testphase unmittelbar vor der Zusammenkunft der Gesellschafter gestorben war, zerstörte all seine Hoffnungen. Jetzt hatte es keine Möglichkeit mehr gegeben, dem Würgegriff der Mafia zu entgehen. Wenn er am Leben bleiben wollte, musste er alles tun, was sie von ihm verlangten. Und damit hatte Pamela auch nicht lange hinterm Berg gehalten, nachdem der Wechsel fällig war.
Als geschäftstüchtige Frau wusste Pamela genau was sie wollte. Es war auch in ihrem Interesse gelegen, dass RNV3 so bald wie möglich in Produktion gehen sollte. Deshalb hatte Pamela einen teuflischen Plan ausgeheckt, der ihrem bösen Charakter alle Ehre machte.
Nach dem fürchterlichen Eklat während der Generalversammlung war der Zeitpunkt äußerst günstig gewesen, Philipp aus der Firma zu nehmen und ihn auf Tauchstation zu schicken. Durch Philipps plötzlichen Ausfall hätte John als alleiniger Geschäftsführer rasch in Bedrängnis geraten sollen, die Firma gewinnbringend zu weiterzuführen. Pamela hatte mit einem rapiden Geschäftsrückgang gerechnet, sodass John auf Überbrückungskredite zurückgreifen hätte müssen, die aber aufgrund mangelnder Bonität von keiner der hiesigen Banken mehr gewährt werden konnte. John wäre dann nichts anderes übrig geblieben, als sich auf einen Deal mit Pamelas Onkel einzulassen.
Doch selbst nach einem halben Jahr hatte es John immer noch irgendwie geschafft, die Firma über Wasser zu halten, sodass Pamela zu drastischeren Maßnahmen übergehen hatte müssen.
Pamela hatte Philipp nach Südamerika geschickt, wo ein ausgezeichneter Augenchirurg mit einer ganz speziellen Lasertechnik Philipps Augenfehler korrigieren hatte können. Sein langes Haar war dieser äußerlichen Veränderung ebenfalls zum Opfer gefallen, sodass Philipp nun anstandslos als Johns Ebenbild durchgehen konnte.
Als nächstes hatte Philipp seinen Bruder unter jenem Vorwand in die Rocky Mountains locken müssen, um mit ihm den zukünftigen Werdegang der Firma zu besprechen. Ziel des Exempels war es aber, John bei einem künstlich herbeigeführten Lawinenabgang ums Leben kommen zu lassen.
Danach sollte Philipp in die Identität seines toten Bruders schlüpfen, um in der Firma leichtes Spiel zu haben. Für Außenstehende hatte sich ja nichts verändert. Nach wie vor war Philipp nicht präsent, sodass John alleine den Betrieb leiten musste. Und jene, die John besser kannten und dieser Scharade auf die Schlichte hätten kommen können, wurden vorsorglich gleich entsorgt.
Durch Johns Wegfall war der Handlungsspielraum mit RNV3 ein ganz anderer geworden. All die vielen Vorsichtsmaßnahmen konnten nun ignoriert werden. Und sollte der Schlankmacher lebensbedrohliche Zustände verursachen, dann konnte man dem toten John die Schuld in die Schuhe schieben, der offiziell als untergetaucht galt, während Philipp mit seiner wieder gewonnen Identität von seiner Weltreise zurückkehren und seinen Job in der Firma wieder aufnehmen würde.
John würde sicherlich kein Problem mehr damit haben, dass er dann eventuell als Sündenbock herhalten musste. Und Philipp konnte nicht beschuldigt werden, da er sich ja im Ausland aufgehalten hatte und nichts von Johns Entscheidungen gewusst hatte. Für die nötigen Alibis war jedenfalls schon im Vorhinein gesorgt worden.
Wie man die ganze Angelegenheit auch drehen und wenden mochte, die Canettis würden in jedem Fall die Gewinner sein. Denn wenn der Schlankmacher wirklich fettleibige Menschen bei der Gewichtsreduktion unterstützte, so würde das Medikament boomen und die Firma konnte dann sehr bald expandieren, Zusätzlich konnte man noch mehr Schwarzgeld in die Firma einschleusen und waschen, was dann noch ein kleiner Extrabonus wäre.
Nach einigen Jahren würde Pamela ihren Mann für tot erklären lassen, sodass der trauernden Witwe als alleiniger Erbin die 35 Prozent der Firma zustanden. Nach angemessener Zeit würde Pamela dann Philipp offiziell seine Gesellschaftsanteile abkaufen, sodass Pamela die Majorität der Firmenanteile besitzen würde. Philipp war dann nur mehr ein unbedeutender Geschäftsführer, den man nach gut dünken jederzeit entlassen konnte, wenn er nicht nach Pamelas Pfeife tanzte. Doch soweit wollte es Philipp gar nicht kommen lassen.
All diese Gedanken gingen Philipp durch den Kopf, als der Hubschrauber wieder ins Tal flog. Er hatte so gehofft, dass John der Lawine überleben würde. Der alte Canetti hatte ja auf weit weniger spektakuläre Weise vor gehabt, John ins Jenseits zu befördern. Mit einem Kopfschuss wäre sein Leichnam dann im Meer versenkt worden, oder man hätte ihn zu Fischmehl verarbeitet.
Philipp hatte aber darauf bestanden, dass John in jenem Glauben sterben sollte, dass eine Naturkatastrophe Schuld an seinem Tod war.
Von Selbstvorwürfen und Reue gepeinigt, fühlte sich Philipp ganz elend. Er wollte sich übergeben. Doch er unterdrückte den Drang seines revoltierenden Magens. Sein Bruder hatte nun für seine Fehler bezahlen müssen. Das war einfach nicht ok. Gewesen. Philipp hatte zwar nie dieses Naheverhältnis zu John aufbauen können, wie es bei anderen Zwillingspaaren der Fall war. Aber trotz aller Unterschiedlichkeiten und Differenzen hatte sich Philipp immer auf John verlassen können. Und nun hatte er seinen Bruder um eine Handvoll Silberlinge verkauft.

 

Philipp stieg in Johns Jeep. Sein Auto wurde von den beiden anderen Männern gefahren, die ebenfalls nach Vancouver zurück mussten. Wohlweislich hatte Philipp darauf geachtet, die Jacken zu vertauschen, damit Johns Papiere, Schlüssel und Kreditkarten sichergestellt waren. Von nun an hatte er keine eigene Identität mehr. Er war John und musste verdammt gut darauf achten, sich nicht zu verraten. Von Johns Handy rief er Pamela auch an:
„Es ist vorbei. Er hat den Lawinenabgang nicht überlebt.“
Am anderen Ende der Leitung entstand eine lange Pause. Doch dann hörte er ihre nüchterne Stimme:
„Ok. Dann komm so schnell wie möglich zurück. Du musst dringend in die Firma und dich wieder einarbeiten, damit du am Montag halbwegs auf dem Laufenden bist“, ordnete Pamela nüchtern an. „Und vergiss nicht, wir sind am Sonntag zum Abendessen bei den Higgins eingeladen. Komm also rechtzeitig nach Hause. Du weißt wie sehr ich Verspätungen verabscheue.“
Ohne noch seine Antwort abzuwarten, hatte Pamela das Gespräch abgebrochen.
Erneut revoltierte sein Magen. Doch dieses Mal konnte er den Brechreiz nicht mehr unterdrücken. Philipp sprang aus dem Auto und kotzte in den Straßengraben. Mit Pamela die nächsten Monate, vielleicht sogar Jahre unter einem Dach leben zu müssen, überstieg seine Vorstellungskraft. Der Preis war hoch, zu hoch gewesen.

 

 

- 5 -

 

Wie ein abgeschossener Pfeil flog John im hohen Bogen durch die Luft. Unter ihm sah er die mächtigen Tannenbäume immer näher kommen, während ihn die ersten Vorläufer der Lawine erreichten. Die harten Schneebrocken trafen nun mit aller Wucht seinen Körper, die seinen Flug automatisch bremsten.
Wie verrückt begann John nun mit seinen Armen und Beinen um sich zu schlagen, um einen größeren Luftwiderstand zu erzeugen. Keinesfalls wollte er mit der Wucht der Lawine fortgerissen und unter den nachdrückenden Schneemassen begraben werden. Johns Rechnung ging auf und kurze Zeit später prallte er auch schon gegen eine riesige Tanne, deren vereistes Geäst ihm schmerzhaft ins Gesicht schlug. John hörte nicht nur seine Skier brechen, sondern auch das Schienbein seines rechten Unterschenkels. Außerdem breitete sich ein unglaublicher Schmerz in seinem Brustkorb aus, der ihm die Luft zum Atmen nahm. Immer wieder fielen Schneebrocken der nicht enden wollenden Lawine auf ihn nieder. Doch der Großteil der Lawinen zog über ihn hinweg. Dann war es mit einem Mal alles ganz still. Unmengen von Firn schwebten noch in der Luft, der sich aber nach und nach verflüchtigte.
Schwer verletzt hing John im Geäst der alten Coloradotanne. Unter großen Schmerzen versuchte er von dem hohen Baum runter zu klettern. John löste vorsichtig die Bindung seiner abgebrochenen Skier und verkeilte seinen Skistock so zwischen den Ästen, dass er sich darauf niederlassen konnte. Immer wieder musste John eine niedrig gelegenere Sitzmöglichkeit schaffen, weil sein rechtes Bein nicht belastbar war und in einem unnatürlichen Winkel zur Seite stand. Es kostete ihm ungeheure Kraft, seinen schwer verletzten Körper Meter für Meter abwärts zu hieven. Irgendwann brach dann einer der Äste. John verlor das Gleichgewicht und stürzte das letzte Stück in den weichen, kniehohen Schnee, der seine Landung aber ein ziemlich dämpfte. Der Schmerz in seiner Brust und in seinem Bein war trotzdem kaum zu ertragen. John blutete an der Stirn und aus der Nase. Doch darauf achtete er nicht wirklich. Froh, am Leben geblieben zu sein, versuchte er sie zu orientieren.
John holte das Funkgerät aus seiner Brusttasche, um Philipp zu verständigen, dass er die Lawine überlebt hatte. Doch zu seinem Entsetzten musste er feststellen, dass das Funkgerät den Aufprall nicht überlebt hatte. Aufgeregt begann John in den Taschen seines Parkas nach seinem Handy zu suchen. Vielleicht hatte er doch ein Netz und konnte seinen Bruder erreichen. Doch John konnte es nicht finden. Bestimmt war es bei dem harten Aufprall auf die Tanne aus der Tasche seines Parkas gefallen. Erneut musste John eine aufsteigende Panikattacke unterdrücken und zwang sich Ruhe zu bewahren. Angestrengt überlegte er, was er als nächstes tun konnte. Mit Hilfe seines Skistockes versuchte John aufzustehen. Doch dieser Versuch endete kläglich und John fiel erneut in den Schnee.
Von unsäglichen Schmerzen gepeinigt, durchwühlte er wie ein Maulwurf den Schnee. Ein Teil der Lawinen war auf dem Waldboden gelandet, die den weichen Schnee steinhart zusammengepresst hatten. Verzweifelt lehnte sich John gegen einen der vielen Baumstämme und versuchte sich zu beruhigen. Das Handy lag irgendwo unter den ungeheuren Schneemassen begraben und es gab keine Möglichkeit, es wiederzubekommen.
John wollte laut um Hilfe rufen. Doch mehr als ein Gekrächze brachte seine Kehle nicht zustande. Seine Lungen brannten höllisch. Bestimmt hatte er eine oder sogar mehrere Rippen gebrochen, die nun auf seine Lunge drückten.
John blieb nun nichts anderes mehr übrig als zu hoffen, dass Philipp keine Probleme bei der Abfahrt hatte und mit einer Bergungstrupp zurückkommen würde. Jedenfalls konnte John mitten im Wald nicht liegen bleiben, wenn er gefunden werden wollte. Er musste auf eine offene Fläche, damit man vom Hubschrauber aus seinen knallroten Parka sehen konnte.
So gut es ging, rutschte John auf seinem Hintern den Abhang hinab, der nach knapp 50 Metern in einer kleinen Lichtung endete. Mit letzter Kraft schleppte sich der Verletzte in die Mitte Schneise. John hatte keine Ahnung, wie lange er schon zusammengekauert im Schnee lag und wartete. Es hatte zu schneien begonnen und der frisch gefallene Schnee verdeckte nach und nach seine Spuren. Das bläuliche Licht kündigte die hereinbrechende Dämmerung an. Mit dem Schwinden des Tageslichts begann auch immer mehr seine Hoffnung zu schrumpfen, heute noch gefunden zu werden.
John brauchte für diese Nacht unbedingt einen sicheren Unterschlupf. Unter großen Schmerzen kroch er wieder ins Unterholz zurück und suchte nach einem halbwegs geschützten Platz.
Nur zu gut war ihm bewusst, dass es in der Gegend Wölfe und Bären gab. Schließlich befand er sich in einem Nationalpark, wo diese Biester in rauen Mengen vertreten waren.
John musste jetzt unbedingt ein Feuer entfachen, um sich nicht nur vor gefährlichen Tieren zu schützen, sondern vor allem auch, um nicht zu erfrieren. Vielleicht hatte er ja Glück und man würde auf das Feuer aufmerksam werden.
Seine Kräfte begannen langsam zu schwinden. Mit nichts im Magen war er von zu Hause aufgebrochen, so dass er mittlerer Weile völlig unterzuckert war und sein Kreislauf zusammenbrechen drohte. Doch dann erinnerte er sich, dass er vor dem Abflug für alle Fälle zwei Müsliriegel gekauft hatte. Er hatte sie in die Hosentasche gestreckt, weil sein Parka in der Garderobe hing. Hektisch begann er nach den Riegeln zu suchen und atmete erleichtert durch. Gott sei Dank, zumindest waren die nicht verloren gegangen.
John hatte Glück und fand eine Vertiefung in einem Felsvorsprung, der Schutz vor dem kalten Nordwind und notfalls auch vor Wölfen, aber sicherlich nicht vor Grizzlys bieten würde. Holz gab es rauen Mengen, sodass er nur die Hand ausstrecken brauchte. Als John genug Holz gesammelt hatte, zog er sein Feuerzeug aus seiner Zigarettenschachtel. Zum ersten Mal war John froh, dass er Raucher war und ein Feuerzeug bei der Hand hatte. Mit klammen Fingern hielt er die brennende Flamme unter die trockenen Nadeln der dünnen Zweige. Es dauerte eine Zeitlang, bis das Unterholz Feuer fing. Doch dann ging es relativ rasch und die hellen Flammen fraßen sich durch das trockne, morsche Holz, sodass die juckende Kälte seinem ungeschützten Gesicht nichts mehr anhaben konnte.
Die Dunkelheit war nun völlig herein gebrochen. Die eisige Kälte hielt die Berge nun fest im Griff. Eine unheimliche Stille war nun eingetreten, die nur durch das Ächzen der gefrorenen Bäume und durch das Krachen des brennenden Holzes unterbrochen wurde. John hatte einen seiner Müsliriegel aus der Tasche gezogen und biss kleine Stücke davon ab. Am liebsten hätte er gleich beide auf einmal hinunter geschlungen, so sehr verlangte sein Magen nach Nahrung. Doch John wusste, dass er diszipliniert sein musste und den anderen erst am nächsten Tag essen dürfte. Er hatte schließlich keine Ahnung, wie lange er noch hier ausharren musste.
Trotz seiner großen Schmerzen nickte John ständig ein. Die Angst im Schlaf zu erfrieren riss ihn aber immer wieder aus seinem Dämmerstand. Doch als John spürte, dass er gegen seine Müdigkeit nicht mehr ankämpfen konnte, stapelte er seinen kleinen Holzvorrat über die Glut. Jetzt konnte John nur noch beten, dass das Feuer lange anhielt und er die Nacht überstehen würde.
Die Kälte riss John am frühen Morgen aus seinem bleiernen Schlaf. Vom Feuer war nur mehr die kalte Asche übrig geblieben. John war schrecklich kalt und sein Körper zitterte sie Espenlaub. Aber er war am Leben und nur das zählte. Sofort versuchte er seine Finger und Zehen zu bewegen und atmete erleichtert auf. Noch alles war zu fühlen, selbst die heftigen Schmerzen in seinem Brustkorb und auch die seines gebrochenen Beins. Ohne seinen dicken Daunenparka, seine warme Skihose und seine äußerst hinderlichen Skischuhe, die aber eine extreme Wärmedichtung hatten, wäre er sicherlich erfroren.
Bibbernd vor Kälte zog John seinen letzten Müsliriegel aus der Tasche. Wie lange würde er in dieser Wildnis wohl ohne Nahrung überleben, sinnierte John, als er den letzten Bissen runterschluckte. Doch schnell verscheuchte er diesen Gedanken wieder, der ihm schreckliche Angst bereitete.
John hatte jegliches Richtungsgefühl verloren. Durch den dichten Wolkenhimmel sah er auch keine Sonne, an der er sich hätte orientieren können. Noch am Abend hatte er sein Bein notdürftig mit einem Ast geschient. Mit den beiden Schistöcken versuchte er sich nun humpelnd abwärts Richtung Tal zu bewegen. Er wollte den Wald zu meiden, damit der Suchtrupp seinen roten Parka sehen konnte, falls man immer noch nach ihm suchte.
Teils humpelnd, teils auf seinem Gesäß rutschend, irrte John nun schon seit Stunden im Tiefschnee herum. Jegliches Zeitgefühl war ihm verloren gegangen. Die heftigen Schmerzen waren die Hölle und sein Magen knurrte unentwegt.
Langsam verließen John die Kräfte. Völlig am Ende erlosch auch sein letzter Hoffnungsschimmer und John blieb reglos auf einer Lichtung liegen. Wenn er schon sterben musste, dann wollte er mit seinen letzten klaren Gedanken bei Pamela sein und an diese unvergleichlich schöne Nacht denken….
Wie durch einen langen Tunnel hörte John ein fernes Hundegebell. Träumte er oder hörten seine Ohren richtig. In dieser gottverlassenen Gegend gab es doch keine Hunde. Wenn, dann konnten das nur die Hunde des Suchtrupps sein, der ihn endlich gefunden hatte. Von neuer Hoffnung beseelt, drückte John einige Male aufgeregt die Augen zusammen, damit sich die dicken Eiskristalle von seinen Wimpern lösten. Sein verschwommener Blick suchte nach der Bergungsmannschaft, Helikoptern, Pistenraupen, oder sonstigem, was darauf schließen ließ, dass man nach ihm suchte. Doch John konnte noch so angestrengt schauen, nichts bewegte sich, bis auf die zwei riesige Tiere, die nur Wölfe sein konnten und immer näher kamen. Enttäuscht ließ er seinen Kopf wieder in den Schnee zurücksinken. Er hatte nur den Ruf der Todesboten gehört, die den nahenden Sensenmann ankündigten.
Bereit das Unausweichliche zu erdulden, schloss er wieder seine Augen. Jetzt konnte John nur hoffen, dass sein Tod schnell über die Bühne ging. Doch die Wölfe fielen ihn nicht an, sondern bellten nur wie verrückt.
Noch einmal warf er einen zweifelnden Blick durch den schmalen Spalt seiner schmerzenden Augenlider. Konnten Wölfe denn wirklich bellen? Nein, so verrückt konnten nur bösartige Köter kläffen. Im nächsten Moment waren sie aber verschwunden. Lag er etwa schon in halluzinierender Agonie?
Kurze Zeit später berührte aber eine warme Hand seine eiskalte Stirn. John empfand diese Berührung unendlich angenehm und wohltuend.
„Pamela, wie schön, du bist endlich gekommen“, murmelte er erschöpft.
„Sorry, Pamela bin ich leider nicht“, hörte John eine keuchend, nüchterne Frauenstimme.
Noch einmal versuchte er seine Augen zu öffnen. Eine vermummte Gestalt war über ihm, die seinen Körper notdürftig zu untersuchen begann. Sein schmerzhaftes Stöhnen ließ sie innehalten. Doch dann spürte John, wie er an der Kapuze seines Parkas vorsichtig durch den Schnee gezogen wurde.
Jetzt hörte er auch wieder die Hunde, die nun ungeduldig winselten. Ihr lauter Befehlston ließ die Tiere aber schlagartig verstummen. Mit aller Behutsamkeit versuchte die Frau, Johns schlaffen Körper in einen Hundeschlitten zu hieven. Doch bei aller Vorsicht war es nicht möglich, ihn schmerzfrei zu verladen. Sein Brustkorb brannte wie die Hölle, sodass John unwillkürlich aufstöhnen musste.
Mit einem kurzen Schnalzen ihrer Zunge gab sie den angespannten Hunden den Befehl, sich in Bewegung zu setzen, während sie neben dem Schlitten herlief. John hatte keine Ahnung wohin er gebracht wurde. Doch das war jetzt auch nicht wirklich wichtig. Im Augenblick zählte nur, dass er gerettet wurde.

 

John hatte wieder jedes Zeitgefühl verloren und dämmerte erschöpft vor sich hin. Doch dann brachte ihn ein plötzlicher Ruck ziemlich rasch in die Realität zurück. Der Schlitten war vor einem ansehnlichen Blockhaus stehen geblieben, das John erleichtert durchatmen ließ. Die Zivilisation hatte ihn endlich wieder.
Vorsichtig zog ihn die Frau vom Schlitten. Die Anstrengung ließ sie laut keuchen, während sie versuchte, John über die Stufen ins Haus zu ziehen. Doch sein verletzter Körper war einfach zu schwer.
Fluchend holte sie das Seil vom Schlitten und zog es unter seinen Achseln zu einer Schlinge zusammen. Ein kurzer Pfiff und die beiden Hunde waren bei ihr. Sie verknüpfte die beiden Enden des Seils an den Zuggeschirren der Tiere und John hörte sie dann wieder mit der Zunge schnalzen. Sofort setzten sich die Hunde in Bewegung und zogen ihn zwar langsam, aber doch verdammt schmerzvoll die wenigen Stufen ins Haus hoch.
Sofort spürte John die angenehm wohlige Wärme des Hauses. Die Frau hatte ihre Jacke ausgezogen und die Mütze abgenommen und diese achtlos auf das riesige Ledersofa geworfen. Ein streng geflochtener Zopf kastanienbraunen Haars fiel wie eine dicke Schlange über ihre Schulter hinab. Ihr schönes Haar rahmte ein noch junges Gesicht, dessen feine Gesichtszüge aber durch Wind und Wetter gegerbt waren und es unwillkürlich ein wenig älter wirken ließ. Die Frau kniete sich zu John und fragte ziemlich laut:
„Mister, können sie mich hören?“
„Ja, ich versteh Sie“, murmelte John erschöpft.
„Ok, ich werde Sie jetzt ausziehen“, informierte sie ihn, ehe sie dann doch etwas eindringlicher fortfuhr: „Und zwar ganz.“
John wollte protestieren, doch dazu reichten seine Kräfte einfach nicht mehr. Vorsichtig schälte sie ihn aus seiner Kleidung. Die Prozedur lief aber nicht ohne Schmerzen ab, die ihn immer wieder laut aufstöhnen ließen.
Als er endlich nackt vor ihr lag, ließ sie ihren fachkundigen Blick über seinen durchgefrorenen Körper gleiten. Seine Nacktheit schien sie völlig zu ignorieren. Aber auch John war viel zu erschöpft, als dass er Schamgefühle empfunden hätte.
Dann begann die Frau sehr vorsichtig die dunkleren Hautstellen an seinem Körper abzutasten, ob es Erfrierungen oder bloß Hämatome waren. Behutsam strich sie über seine Füße, Hände und Ohren und bewegte dann vorsichtig seine Gliedmaßen. Dabei hielt John seine müden Augen geschlossen. Die sanften Berührungen ihrer warmen Hände fühlten sich auf seinem kalten Körper verdammt gut an. Doch dann stöhnte John plötzlich schmerzhaft auf, als sie seine Rippen untersuchte. Sein Verdacht hatte sich nun endgültig bestätigt, dass seine Rippen gebrochen waren. Ihre rauen Hände glitten weiter über seinen Körper und John atmete wieder erleichtert durch.
Doch dann wurde John erneut von einem furchtbaren Schmerz gepeinigt, der ihn laut aufschreien ließ. Ohne ihn darauf vorbereitet zu haben, hatte die Frau sein gebrochenes Bein in die richtige Stellung gebracht.
„Verdammt noch einmal“, fuhr er sie verärgert an. „Können sie nicht vorsichtiger sein?“
Doch sein lautstarker Protest schien an ihr abzuprallen wie der Regen an der Glasscheibe.
„Das nächste Mal werde ich ein schriftliches Ansuchen stellen“, erwiderte sie sarkastisch und verschwand aus dem Wohnzimmer. Von Ferne konnte John hören, wie Türen und Laden geöffnet und darin herumgekramt wurde.
Mit einer alten, orthopädischen Plastikschiene unterm Arm kam die Frau zurück. Um einiges vorsichtiger als vorhin, legte sie nun um sein gebrochenes Bein die Schiene und begann es mit Klettverschlüssen festzuzurren. Um die Bruchstelle hatte sie extra noch ein Handtuch gewickelt, damit das Bein absolut unbeweglich war.
Ein kurzer Pfiff und die beiden Schäferhunde legten sich ganz eng an Johns Körper ran. Dann ging sie wieder aus dem Raum. Unter anderen Umständen hätte John niemals zugelassen, dass diese widerlichen Bazillenträger ihm so nahe kamen. John zählte nicht unbedingt zu den großen Tierliebhabern. Doch jetzt war er dankbar für die wohltuende Wärme, die von den Hunden auf ihn überging und ignorierte seinen Widerwillen gegen diese stinkenden Biester.
Als die Frau endlich zurückkam, beugte sie sich über ihn und fragte mit klarer Stimme:
„Sind Sie bei Bewusstsein? “
„Natürlich bin ich das.“ stammelte John genommen, der zwischen den Hunden vor Erschöpfung eingeschlafen war.
„Ich muss Sie jetzt hochziehen. Doch dabei müssen sie mir aber helfen. Alleine schaff ich das nicht.“
„Wo bringen sie mich hin?“
„Ich habe ein Bad für sie vorbereitet.“
Das Wort „Bad“ löste in John einen unglaubliches Glücksgefühl aus. Ein heißes Bad war in seinem jetzigen Zustand das höchste seiner Gefühle.
Die Frau griff unter seine Arme und versuchte ihn hochzuziehen. John konzentrierte sich auf sein gesundes Bein und half so gut es ging mit. Nach zwei misslungenen Anläufen gelang es ihr, John hochzuhieven und ihn ins Badezimmer zu schleppen. Aus der freistehenden Emailbadewanne stieg heißer Wasserdampf auf, der der das Bad in einen durchsichtigen Nebel tauchte.
Behutsam ließ sie ihn in die Wanne gleiten. Das heiße Wasser fühlte sich unbeschreiblich wohltuend auf seiner kalten Haut an und belebte schnell seinen Körper und seine Sinne.
„Wonach riecht es hier so penetrant.“
„Nach dem Badezusatz“, erwiderte seine Retterin, die ein großes Badetuch aus einem Schrank holte. Es ist Eichenrindensud, der ihre Durchblutung fördert. Danach werden wir ja sehen, ob an ihrem Körper alles dran bleiben wird.“
Erschrocken griff John zwischen seine Beine und atmete dann erleichtert durch: Gott sei Dank, er konnte seinen besten Freund noch spüren. Mit ihm schien jedenfalls alles in Ordnung zu sein.
Mit einem missbilligenden Kopfschütteln lächelte sie auf ihn herab:
„Komisch, dass das Augenmerk der Männer zuerst auf Zepter und Kronjuwelen fällt, ob diese was abbekommen haben.“
„Nun ja, er wird ja noch für einiges gebraucht“, erwiderte John etwas verlegen und zog seine Hand aus seinem Genitalbereich.
Nachdem er sein Bad beendet hatte, suchte die Frau seinen Körper nochmals nach Erfrierungen ab. John war jetzt wieder ganz und gar Herr seiner Sinne. Dass er völlig nackt ihrer Willkür ausgeliefert war und die Frau selbst nicht davor zurückschreckte, seine intimsten Stellen zu berühren und zu begutachten, war John nun verdammt unangenehm.
Seine Frostbeulen hielten sich in Grenzen. Wesentlich problematischer waren da schon der Bruch seines Unterschenkels und die gebrochenen Rippen, die schmerzhaft in seine Eingeweide drückten.
Nachdem die Frau sein Bein erneut geschient hatte und um seinen Brustkorb eine feste Bandage gewickelt war, sodass er kaum atmen konnte, zog sie ihm viel zu große Jeans und einen weit überdimensionierten Wollpullover an. Dann humpelte er mit ihrer Hilfe in den großen Wohnraum zurück und setzte ihn an den breiten Küchentisch. Der verführerische Duft von Essen lag in der Luft, so dass Johns Magen sofort wieder zu knurren begann.
Während sich die Frau in der Küche zu schaffen machte, ließ John seinen nun klaren Blick durch den Raum gleiten. Beeindruckt stellte er fest, dass der große Wohnraum sehr wohnlich gut eingerichtet war. Ein mächtiger, granitverkleideter Kamin bildete das Herzstück. Meterlange Holzscheite brannten im hellen Feuer und lieferten eine wohlige Wärme, die John schon bei seiner Ankunft wahrgenommen hatte. Eine der Breitseiten des Hauses war bis zum Giebel hinauf mit Glas verkleidet, so dass man einen wunderbaren Ausblick über die bewaldeten Berge der Rock Mountains hatte.
John war ja kein großer Freund des hinterwäldlerisch-rustikalen Einrichtungsstils. Er bevorzugte eher die nüchtern, klaren Formen minimalistischer Raumgestaltung. Doch dieses Haus strömte etwas heimelig-warmes aus, das John sehr angenehm in sich aufnahm. Die großzügige Sitzlandschaft vor dem Kamin, die dicht befüllte Bücherwand auf der anderen Breitseite, der derbe Küchentisch samt der dazu passenden Holzstühlen zusammen mit der schicken Landhausküche gaben schon etwas her.
Die beiden Schäferhunde schliefen nun ausgestreckt auf dem großen, grob gewebten Berberteppich, auf dem die braunen Ledersofas standen. Einer der beiden schien zu träumen, denn sein rechter Hinterlauf zuckte immer wieder ins Leere.
Die Frau stellte ihm einen großen Teller mit heißer Gemüsesuppe hin und schnitt noch eine dicke Schnitte Brot vom Leib.
„Sie sollten essen“, forderte sie ihn freundlich auf und reichte ihm das Brot. „Die heiße Suppe wird ihnen guttun.“
John ließ sich nicht zweimal bitten. Hungrig begann er sie in sich hineinzulöffeln. Noch nie hatte John so etwas Gutes gegessen. Doch bei seinem schrecklichen Hunger schmeckte jetzt wohl alles super was halbwegs genießbar war.
„Sie hatten heute großes Glück, dass Sie meine Hunde ihre Spur aufgenommen haben. In diesem Teil des Nationalparks leben nur sehr wenige Menschen“, teilte ihm die Frau mit.
„Nach knapp zwei Tagen einsamen Herumirrens ist mir das auch aufgefallen“, lächelte John seine Retterin an
„Wenn sie nicht so erstklassige, Wärme speichernde Kleidung getragen hätten, dann wären sie wahrscheinlich nicht am Leben geblieben.“
„Davon bin ich überzeugt. Deshalb bin ich auch unglaublich dankbar, dass Sie mich gefunden und mitgenommen haben“, sagte John erleichtert.
„Übrigens ich heiße John Lombard und komme aus Vancouver“, stellte sich John vor und reichte der Frau seine Hand, die diese freundlich ergriff.
„Sehr erfreut“, lächelte sie ihn an. „Ich bin Karin, Karin Davis.“
Es freut auch mich sehr, Sie kennenzulernen.“
Wie kommt es, dass ich Sie dort oben gefunden habe?“
„Mein Bruder und ich sind mit einem Helikopter auf einen der Berge hochgeflogen. Wir wollten mit unseren Skiern ins Tal abfahren. Anscheinend hab ich eine Lawine ausgelöst, die mich über ein Plateau hinaus mitgerissen hat. Philipp hatte Glück, dass er noch weiter oben am Berg gestürzt ist, sodass ihm die Lawine nichts anhaben konnte.“
„In diesem Teil des Nationalparks sind die Pisten für Heliskiing nicht ausgebaut“, sagte
Karin überrascht. „Es ist nicht nur verdammt gefährlich auf nicht gekennzeichneten Pisten skizufahren, sondern auch verboten.“
„Da irren sie sich“, erwiderte John überzeugt. „Diese Abfahrt ist erst vor kurzem eröffnet worden und Philipp ist sie schon einige Male gefahren.“
„Das kann ich mir kaum vorstellen“, zweifelte sie seine Worte an. „Gerade in dieser Ecke leben noch ziemlich viele Grizzlys. Ich glaube nicht, dass die Nationalparkverwaltung daran interessiert ist, dass diese selten gewordenen Tiere durch ignorante Skifahrer aus der Stadt vertrieben werden sollen.“
Ihr Statement gab John unmissverständlich zu verstehen, dass Karin mit der Ausweitung der Skigebiete nicht einverstanden war und ihr die Wintersportler aus der Stadt sichtlich auf die Nerven gingen. John spürte, dass es langsam Zeit war, von hier zu verschwinden.
„Mrs. Davis, ich will ihre Gastfreundschaft nicht über Gebühr beanspruchen. Wie kommt man hier schnellsten wieder nach Jasper zurück?“, fragte er in Aufbruchsstimmung. „Vielleicht wären sie so freundlich und könnten mir ein Taxi rufen.“
Die Frau brauchte einen Moment, bis sie verstand, was er wollte.
„Hm, das ist ein Problem. Ich hab kein Telefon.“
„Was, sie haben kein Telefon?“, fragte John ungläubig. „Jeder hat doch ein Telefon.“
„Nein. Ich brauch keines.“
Einen Moment lang fühlte sich John vor den Kopf gestoßen. Es konnte im 21. Jahrhundert doch keine zivilisierten Menschen mehr geben, die ohne Handy zurechtkamen.
„Nun ja, vielleicht können sie mir dann sagen, wo man hier in der Nähe ein Auto mit Chauffeur mieten kann.“
Karin blickte ihn an, als ob er nicht ganz dicht wäre.
„Sorry, hier gibt es auch keine Autovermietung.“
„Ok“, sagte John vorsichtig. Irgendwie fühlte er sich von dieser eigenartigen Frau auf den Arm genommen.
„Aber es muss doch einen Supermarkt oder eine Tankstelle geben, wo man telefonieren kann.“
„Mr. Lombard, Ihrer Aufmerksamkeit ist anscheinend völlig entgangen, dass Sie sich hier in einer Gegend befinden, wo sich in einem Radius von 50 Meilen keine menschliche Siedlung befindet.“
„Wollen Sie damit sagen, dass sie hier ganz alleine leben?“ stieß er ungläubig hervor.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie nun leicht genervt. „Ich lebe hier mit meinen zwei Hunden und dem Luchs, der dort auf dem Sofa schläft.“
Überrascht drehte sich John um. Erst jetzt sah er eine riesige rotbraune Katze ausgestreckt auf dem Sofa schlafen, die nur ab und zu eines ihrer buschigen Ohren bewegte.
„Außerdem wohnt ca. 8 Kilometer östlich von hier ein altes Indianerpaar vom Stamm der Stoneys.“
„Das ist doch jetzt ein Scherz, oder?“
„Über solch ernste Angelegenheiten pflege ich niemals zu scherzen“, erwiderte sie eingeschnappt.
„Verzeihen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein“, entschuldigte sich John und mahnte sich zur Ruhe.
„Mrs. Davis, welche Möglichkeiten habe ich, mich mit meiner Familie in Verbindung zu setzen, damit sie mich hier abholen kann?“
Karin seufzte bedauernd auf.
„Es tut mir echt Leid, Sie enttäuschen zu müssen. Doch die nächsten Monate sitzen Sie hier fest.“
„Aber das kann doch nicht wahr sein“, schrie er sie verzweifelt an. „Sie leben hier in einem Haus, das so absolut nichts mit einer primitiven Trapperhütte gemein hat. Sie müssen doch einen Internetanschluss, ein Fax oder zumindest ein Funkgerät haben.“
Karins Geduld war am Ende. Zornig stützte sie sich am Küchentisch ab und funkelte ihn mit ihren großen, braunen Augen böse an.
„Ich glaube, Sie verkennen vollkommen Ihre Situation Mr. Lombard“, fauchte sie auf ihn nieder. „Sie befinden sich hier in der absoluten Wildnis. Es gibt hier keine Zivilisation innerhalb von 2 Tagesmärschen bei günstigsten Bedingungen. Ich habe hier kein Fernsehen, Telefon, Auto oder Internet. Hier gibt es absolut nichts außer Wälder, wilder Tiere und augenblicklich ziemlich viel Schnee.“
John brauchte einige Augenblicke, um die Infos auf die Reihe zu bringen.
„Wollen sie damit sagen, dass ich keine Möglichkeit habe, meine Angehörigen zu verständigen, dass ich noch am Leben bin?“
„So ist es.“
„Und wann kann ich dann weg von hier?“
„Augenblicklich überhaupt nicht“, sagte Karin nüchtern. „Sie werden wohl bis zum Frühjahr nach der Schneeschmelze warten müssen.“
John fühlte, wie Ärger, Panik und Verzweiflung in ihm wie ein eruptierender Vulkan hochstiegen. Bis dahin waren es fast sechs Monate. Er musste unbedingt zurück in die Firma und zu Pamela, die ihm plötzlich unsäglich zu fehlen begann.
„So lange kann ich unmöglich bleiben. Ich habe nächste Woche wichtige Meetings, die ich unbedingt einhalten muss!“, hörte er sich hysterisch schreien, während sich Karins Miene immer mehr verfinsterte.
„Da habe ich mir ja eine ordentlich lästige Laus in den Pelz gesetzt.“
Wütend ging Karin zur Eingangstür und riss diese sperrangelweit auf. Sofort blies ein kalter Schneesturm eine Wolke tausende kleiner Schneeflocken in den Raum, die aber sofort in der Wärme wegschmolzen.
„Sie können aber gerne gehen“, forderte sie ihn energisch auf. „Bis nach Jasper sind es bloß 50 Meilen, ein Katzensprung, wenn sie sich in südöstlicher Richtung halten. Sie müssen nur ein bisschen vorsichtig sein, denn hier zählen die Wölfe noch nicht zu einer gefährdeten Spezies. Es könnte Ihnen aber auch ein hungriger Grizzly über den Weg laufen, der partout keinen Winterschlaf halten will. Und, sollten Sie sich nicht verlaufen, wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als den Athabasca River zu überqueren, der in diesem Abschnitt durch die vielen Stromschnellen verdammt gefährlich ist. Sie müssen aber unbedingt auf die andere Seite des Flusses, weil die Seite, auf der wir uns befinden, zu felsig ist, um dem Verlauf des Flusses bis nach Jasper folgen zu können. Doch dies wird für Sie ja absolut kein Problem darstellen, denn Sie haben ja nur ein gebrochenes Bein und zwei gebrochene Rippen. Und der Schnee reicht augenblicklich ohnehin nur bis zu den Hüften, so dass man dem verschneiten Pfad ins Tal bestens folgen kann.“
Langsam wurde John das erschütternde Ausmaß bewusst, in welch ausweglosen Situation er steckte. Unwillkürlich musste er an den Film „Misery“ denken, wo die irre Anne dem verletzten Paul Sheldon das Leben rettet und ihm in ihrem abgelegenen Haus das Leben zur Hölle macht. Doch schnell schüttelte John diesen absolut verrückten Gedanken ab und bat die zu Recht aufgebrachte Frau:
„Mrs. Davis, bitte schließen Sie die Tür“, bat er kleinlaut. „Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht anschreien. Im Gegenteil, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben.“
„Ja, das sollten Sie auch sein, denn vor nicht einmal drei Stunden haben Sie mit ihrem kümmerlichen Leben schon längst abgeschlossen gehabt. Da waren Ihre Meetings und sonstige Verpflichtungen der kommenden Wochen und Monate sicherlich Ihr kleinstes Problem.“
„Ja, Sie haben Recht“, antwortete er beschämt. „Doch die Situation hat sich wieder verändert und ich muss an die Zukunft denken. Ich habe wichtige Entscheidungen zu treffen. In meinem Unternehmen geht es augenblicklich um sehr, sehr viel. Deshalb muss ich dringend nach Vancouver zurück.“
Nachdem Karin die Tür geschlossen hatte, ging sie wieder in die Küche. Wortlos nahm sie den leeren Teller vom Tisch und stellte ihn in die Steinspüle.
„Mr. Lombard, ich kann verstehen, dass Sie hier weg wollen“, sagte sie nun eine Spur verständnisvoller. „Doch augenblicklich gibt es wirklich keine Möglichkeit mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten.“
John versuchte einen letzten Vorstoß.
„Könnten Sie mich nicht nach Hause bringen? Ich wäre Ihnen sehr dankbar und würde mich für Ihre Hilfe äußerst großzügig erweisen.“
Mit einem mitleidigen Blick wandte sich Karin John zu.
„Wenn ich es täte, dann sicherlich nicht des Geldes wegen, sondern nur deshalb, um Sie wieder vom Hals zu haben“, erwiderte sie nüchtern. “Doch wie man es auch drehen und wenden mag, es geht ganz einfach nicht. Die Reise würde unter den jetzigen Umständen mindestens eine Woche dauern. Es gibt hier keine Straßen oder Wege. Wir befinden uns hier in einem Nationalpark, also pure Wildnis, die zu durchqueren ist. Außerdem hat dieses Jahr der Winter ziemlich zeitig eingesetzt und einige Pässe sind nicht mehr passierbar. Diese müsste man weitläufig umgehen. Zudem ist meine Hündin trächtig und wirft in ein paar Tagen. Doch selbst wenn das alles nicht der Fall wäre, Sie könnten unmöglich diesen äußerst beschwerlichen Weg antreten. Ihr Bein ist ab und bis es wieder zusammen gewachsen ist, vergehen mindestens sechs bis acht Wochen. Und dann müssen Sie das Bein erst wieder trainieren, damit Sie den anfallenden Strapazen gewachsen sind.“
Es war zum Verrücktwerden. John musste nun endgültig einsehen, dass es keine Möglichkeit gab von hier wegzukommen. Die nächsten Monate saß er hier fest. Man würde ihn bestimmt für tot erklären und die Firma würde von Philipp geleitet werden, falls er es geschafft hatte, heil ins Tal zu gelangen. Er wollte gar nicht daran denken, welche fatalen Folgen sein Fernbleiben haben würde. Doch vor allem würde er Pamela für lange Zeit nicht sehen und spüren. Sein Herz schnürte sich vor Sehnsucht und Wehmut zusammen. Wie verzweifelt würde seine Frau sein, wenn sie erfuhr, dass ihn eine Lawine verschüttet hatte.

 

Eine Woche war nun vergangen, seit John in den Bergen festsaß. John war aber so erschöpft gewesen, dass er die Hälfte der Zeit ohnehin verschlief. Karin war beinahe den ganzen Tag über mit den Hunden auf der Jagd. Bevor es zu kalt wurde und man für längere Zeit nicht mehr wirklich hinaus konnte, musste Karin unbedingt noch mehr Fleisch- und Fischvorräte anlegen, da ihr Haushalt auf keinen Dauergast eingestellt war.
Im Laufe der letzten Tage war sie mit einem erlegten Wapiti-Hirsch, einem Dickhornschaf, einer Bergziege und einem großen Kübel mit Fischen zurückgekommen.
Vor Ekel hatte sich Johns Magen zu drehen begonnen. Durch die breite Glasfront hatte er Karin ungehindert beobachten können, wie sie die auf einem Pfahl hängende Bergziege aufbrach und die blutenden Innereien und Gedärme heraus schnitt und in eine Plastikwanne fallen ließ. Mit einem riesigen Fleischermesser hatte sie das arme Tier gehäutet und schnitt ihm dann das Fleisch von den Knochen. Wenn Karin auf Widerstand gestoßen war, nahm sie die Hacke und schlug so kräftig darauf ein, bis der Knochen endlich brach und Splitter durch die Luft flogen. Ab und zu hatte sie den Hunden ein Stück Fleisch in den Schnee geworfen, die gierig darüber herfielen.
Angewidert hatte sich John abgewandt. Karins blutverschmierten Hände und ihre Plastikschürze, die über und über mit Blut besudelt gewesen war, konnte John einfach nicht mehr ertragen. Wie konnte eine Frau nur so abstoßende Arbeiten verrichten. Aber vielleicht irrte er sich ja auch und seine Wirtin war nichts anderes als ein blutrünstiges Monster.
Karin kam immer erst am späten Nachmittag von ihren Jagdausflügen zurück, so dass John den Tag über der zweifelhaften Gesellschaft des Luchses ausgesetzt war. Anfänglich hatte John ziemlichen Respekt vor der Raubkatze gehabt. Doch nachdem sie ganz zahm zu sein schien, empfand er nur noch großen Widerwillen gegen das Tier. Alles was ein Fell trug und nicht jeden Tag duschte, waren für John Krankheitsüberträger, stanken und ließen überall ihre Haare und ihren Kot fallen. Die einzige Form, in der er sie genießen mochte, war gegrillt, gegart oder gebraten.
Obwohl Nelson den ungebetenen Gast anfänglich ziemlich ignoriert hatte, fasste das Tier im Laufe der Tage aber immer mehr Zutrauen zu John. Zufrieden döste der Luchs neben Johns Betthälfte vor sich hin oder begleitete ihn bei seinen humpelnden Rundgängen durchs Haus, so dass seine ständige Anhänglichkeit John ziemlich zu nerven begann.
Karin hatte ihm erzählt, dass sie Nelson vor drei Jahren halb verhungert neben seiner toten Mutter gefunden hatte. Die schwerverletzte Katze musste mit letzter Kraft ihrem Wurf zurück gekrochen sein, um die Jungen noch einmal zu stillen, bevor sie verschied. Bis auf Nelson waren die anderen Katzen schon verhungert gewesen. Karin hatte das halbtote Junge mit nach Hause genommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihre Schäferhündin Bonny gerade einen Wurf ganz junger Welpen. Unter diese hatte Karin den kleinen Luchs geschummelt. Wider Erwarten war Bonny großzügig gewesen und hatte das Kätzchen wie ihre eigene Jungen behandelt.
So schmerzfrei wie möglich versuchte sich John aus dem Bett zu hieven. Mit zwei gebrochenen Rippen und einem gebrochenen Bein war das gar nicht so einfach. Karin hatte über dem Bett einen Haken in die Holzdecke gebohrt und daran einen Strick mit Schlaufe befestigt. Mit diesem Behelf konnte John zumindest ohne ihre Hilfe aufstehen. Mit einer Krücke, die Karin für ihn aus einem langen Ast gebastelt hatte, humpelte aus dem Schlafzimmer in den großen Wohnraum. Doch der Weg bis dahin war so anstrengend, dass er sich erschöpft auf das lange Sofa niederlassen und verschnaufen musste.
Wenn Karin nicht da war, war es verdammt still hier, so still, dass John anfänglich richtige Probleme damit hatte. Als Großstadtmensch, der ständig einen gewissen Lärmpegel im Ohr hatte, war diese unglaubliche Ruhe verdammt belastend.
Nur schwer gewöhnte sich John an den Gedanken, dass er hier einige Monate aushalten musste. Wenn er daran dachte, stiegen unwillkürlich Depressionen in ihm hoch und ihm wurde ganz elend zumute.
Für John war es absolut nicht nachvollziehbar, dass es wirklich Menschen gab, die freiwillig hier draußen leben wollten. Es gab hier so absolut nichts was man in dieser trostlosen und gottverlassenen Gegend anstellen oder unternehmen konnte. Nach einem halben Jahr im Outback würde sein Hirn bestimmt zu einer breiigen Masse zusammen geschmolzen sein, die man dann nur mehr wegschmeißen konnte.
John hatte es nie länger als zwei Wochen außerhalb Vancouvers oder einer anderen Großstadt ausgehalten, ohne Entzugserscheinungen zu bekommen. Er brauchte den Trubel und den Wirbel, die Hektik und die Abwechslung dieser pulsierenden Ameisenhaufen. Und nun musste er hier fast 5 Monate aushalten.
Wenn Pamela hier wäre, dann würde er diese eintönige Einsamkeit sicherlich besser durchstehen. Seine Frau fehlte ihm so sehr, dass ihm diese Sehnsucht zusätzlich noch physische Schmerzen bereitete. Es war zum Verzweifeln. Wenn er die Augen schloss, sah er sie vor sich, wie sie ihm ihre kecken, kleinen Brüste entgegenstrecke und ihn schmachtend anblickte. Er roch das Parfum in ihrem prachtvollen Haar, fühlte ihre weiche, zarte Haut, spürte ihre lasziven Bewegungen, wie sie sich an seinem Körper rieb. Wie schön war es sich diesen Tagträumen hinzugeben. Sie waren die einzigen Lichtblicke in dieser trostlosen Einsamkeit. John spürte, wie sich sein Schwanz zu regen begann. Geil durch seine frivolen Gedanken holte er ihn aus seiner übergroßen Jeans heraus und begann stöhnend zu masturbieren.
Doch plötzlich hielt er erschrocken inne und öffnete seine Augen. Nelson war aufs Sofa gesprungen und verspielt hatte mit seiner weichen Tatze nach seinem sich in Bewegung befindlichen Penis getapst. Johns Zorn über dieses lästige Vieh sprengte in diesem Moment nun völlig den Rahmen. Mit aller Kraft stieß John den Luchs vom Sofa.
„Verschwinde und widerliche Kreatur, sonst wirst du mich kennen lernen“, fluchte John außer sich vor Ärger. Doch Nelson ließ sich von seinen Drohungen nicht wirklich einschüchtern. Unbeeindruckt sprang er wieder aufs Sofa und er verkroch sich wie üblich unter seinem Berg von Kissen.

 

Die einzige Verbindung zur Außenwelt war das kleine Transistorradio, mit dem John stündlich die regionalen Nachrichten hörte, Doch die Zuversicht, dass man nach ihm suchte, wurde von Tag zu Tag kleiner. Nur durch jenen, kleinen Gedanken konnte John jetzt noch Hoffnung schöpfen, dass er die Informationen über den Lawinenabgang und seiner Verschüttung verschlafen haben könnte. So wartete er nun hier mit seinem gebrochenen Bein und seinem bandagierten Brustkorb in viel zu langen und weiten, alten Jeans und einem und einem dicken XXL Pullover, in den er fast zweimal gepasst hätte auf seine Rettung.
Unglücklich blickte John durch die riesige Glaswand in die weiten Wälder hinaus. Die Sonne war nach dem gestrigen Schneefall durchgekommen und ließ die Kristalle der kalten Schneemassen wie abertausende Diamanten glitzern. John musste zugeben, dass der Ausblick einfach gigantisch war. Das Haus lag direkt am Lake Pleasure, der jetzt zugefroren und mit einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Fast ein wenig bedauernd stellte er sich das Panorama vor, das sich von hier aus im Sommer bieten musste, wenn sich die dunklen Tannen im grünen Wasser des stillen Bergsees spiegeln würden. Doch bis dahin würde er schon längst wieder in sein altes Leben zurückgekehrt sein und diesen verfluchten Flecken Erde längst vergessen haben.
Um sich zumindest ein wenig zu bewegen, humpelte John nun schon zum hundertsten Mal durch die Räume des Hauses. Auch wenn er sich dagegen wehrte, so musst er sich doch eingestehen, dass er unglaubliches Glück im Unglück hatte. Dass ihn gerade Karin gefunden hatte, war ein zweifacher Glückstreffer gewesen. Diese Einsiedlerin hatte aus diesem Haus einen sehr bequemen Ort gemacht, wo es einem verdammt schwerfiel, sich nicht wohlzufühlen. Hätten nicht Telefon, Fernseher und Computer gefehlt, so hätte man glauben können, dass dieses Chalet in einem Nobelskiort wie Beaver Creek stünde.
Es gab sogar Strom, der durch ein Miniwasserkraftwerk im See und durch Sonnenkollektoren auf dem Dach des Hauses erzeugt wurde. Der einzige Nachteil war vielleicht jener, dass die Toilette ein Pumpsklo war und außerhalb des Hauses lag, da die Kanalisation fehlte.
Wider Erwarten war auch das Essen ziemlich gut und überraschend abwechslungsreich. Karin war eine ausgezeichnete Köchin. Alles, was sie ihm bis jetzt vorgesetzt hatte, mundete ihm vorzüglich. Wenn er weiterhin so in sich hineinstopfte und keine Bewegung machte, würden ihm auch bald die geliehenen Jeans und Pullis passen.

 

Nach der zweiten Wochen wurde John langsam ruhiger. Immer mehr fand er sich mit dem Unvermeidlichen ab und versucht das Beste daraus zu machen. Das riesige Bücherregal, das die ganze Breitseite des Wohnraums einnahm, bot John ziemlich viel Abwechslung. Es war schon Ewigkeiten her, dass John ein Buch zu Hand genommen hatte, außer seiner Fachliteratur und den monatlichen Fachzeitschriften.
Seine Wirtin war nicht besonders redselig. Auf Johns Fragen antwortete Karin eher einsilbig. Es war offensichtlich, dass sie an der jetzigen Situation genauso wenig abgewinnen konnte wie John, der ihr abgeschiedenes Leben störte und ihren Alltag völlig durcheinander brachte.
Während er am Abend in einem Buch las oder Radio hörte, reparierte sie Fischreusen, wo sich der Bast gelockert hatte, ölte und reinigte ihre Gewehre oder spielte den Hunden, die sie anbeteten. Jedenfalls gab es keinen Augenblick, wo Karin bis zur Schlafenszeit unbeschäftigt war.
Anfänglich hatte John echte Probleme, mit ihr in einem Bett zu schlafen. Es war ihm unangenehm, dass eine Frau neben ihm schlief, die er eigentlich nicht sonderlich mochte. Doch Karin machte ihm bald klar, dass es hier draußen wenig Platz für vorherrschende Anstandsregeln der Zivilisation gab. Wenn man in der Wildnis lebte, musste man einfach praktisch denken und sich an die Gegebenheiten anpassen. Und in dem Chalet gab es nun einmal nur ein Schlafzimmer mit einem warmen und weichen Doppelbett. Warum sollte einer von beiden draußen auf dem Sofa schlafen, das auf Dauer ziemlich unbequem war? Außerdem war John bald klar geworden, dass Karin absolut nichts von ihm wollte, wenn sie zu ihm ins Bett kroch. Aber auch John war Lichtjahre davon entfernt für sie mehr als nur Dankbarkeit und Respekt zu empfinden. Karin trug widerliche Flanell- und Frotteepyjamas und dicke Wollsocken, absolute Liebestöter für einen Mann, der es gewohnt ist, eine Frau aus hauchzarten, kaum verhüllenden Negligees zu schälen. Jedes Gefühl von sexueller Begierde erlosch schon im Ansatz beim Anblick von dermaßen unerotischer Nachtwäsche. Kaum lag Karin im Bett, drehte sie sich auch schon zur Seite, drehte das Licht ab und wünschte ihm ein trockenes ‚Gute Nacht’. Und in der nächsten Minute war sie auch schon eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin.
John musste sich erst an den neuen Schlafstil anpassen. Diese völlige Finsternis störte ihn genauso, wie das nächtliche Getrappel der Hunde, oder ihr lautes Gebell, wenn sie ein ungewohntes Geräusch hörten.
Gott sei Dank drängte der Luchs in der Abenddämmerung ins Freie und kam erst sehr früh am Morgen wieder zurück. Das erste Mal, als die Katze am frühen Morgen an den geschlossenen Fensterläden des Schlafzimmers gekratzt hatte, ließ ihn aufschrecken. Doch Karin hatte John beruhigt und ihn informiert, dass es bloß Nelson sei, der von seinem nächtlichen Jagdausflug zurück sei und nun ins Haus wollte. Kein Wunder, dass das Tier fast den ganzen Tag verschlief.
Doch was John am meisten fehlte, war der zarte, anschmiegsame Körper seiner Frau, der immer dicht gepresst an seinem lag. Ohne ihre Wärme und ihren besonderen Duft fühlte er sich so unsäglich einsam und verlassen. Manchmal wusste er nicht, was ihm mehr zusetzte, seine Schmerzen in Brust und Unterschenkel oder seine Sehnsucht nach Pamela.
Karin stand noch vor Tagesanbruch auf und bereitete das Frühstück vor. Sie ließ keinen Zweifel aufkommen, dass ihr Langschläfer zuwider waren. Lautstark polterte sie in der in der Küche herum und rief nach den Hunden, die sie ins Freie ließ. Das schlechte Gewissen setzte John zu, sodass er sich aufstand, um gemeinsam zu frühstücken. Jedes Mal staunte John aufs Neue, welch tolle Leckerbissen Karin in dieser Wildnis auf den Tisch zauberte. Da es kein Mittagessen gab, wurde ausgiebig gefrühstückt, damit man bis zum Abend durchhielt. Meist gab es gebratenen Speck, Marmelade, Hartwurst und Hartkäse und sogar frisches Brot, welches Karin einmal in der Woche buk. Karin erwähnte, dass sie die frischen Lebensmittel von den Indianern aus ihrer Nachbarschaft bezog. Doch das Beste war der frisch gebrühte Kaffee, der in einer dieser alten italienischen Espressomaschine köchelte und dessen wunderbares Aroma sich bis ins Schlafzimmer zog.
Im Laufe der Wochen begann John sich richtig auf das Frühstück zu freuen, was ihm auch das Aufstehen um einiges erleichterte. Es war auch jene Zeit, wo Karin ein wenig redseliger war als sonst. Denn am Morgen teilte sie ihm immer mit, wie der Tag aussah und was sie zu tun gedachte. Solange das Wetter hielt und sie hinaus konnte, wollte sie auf die Jagd gehen und die Hunde bewegen. Die Zeit der kalten und eisigen Schneestürme würde ohnehin bald einsetzten, sodass man es keine Stunde im Freien mehr aushielt.
Nachdem sie mit ihren Kötern im Wald verschwunden war, wurde es wieder ziemlich still im Haus. Wenn John nicht gerade schlief oder las, zerbrach er sich immer wieder seinen Kopf wie er von hier wegkommen konnte. Karin hatte ihm ja klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm nicht helfen würde. John humpelte zu seinem an der Wand hängenden Parka und suchte nach dem kaputten Funkgerät. Während er in den Taschen wühlte, wurde ihm auf einmal klar, dass auch seine Brieftasche und seine Schlüssel fehlten. Komisch, dass diese Dinge ihm auch bei seinem Absturz verloren gegangen sein mussten, obwohl er sie in den Innentaschen des Parkas getragen hatte. Aber vielleicht hatte er seinen Parka ganz einfach auch nur mit jenem Philipps verwechselt, die ja gleich aussahen, als sie das Lokal verlassen hatten. Doch das Fehlen dieser Dinge war jetzt sein kleinstes Übel. Hier brauchte er weder Geld, Kreditkarten oder seinen Autoschlüssel.
Der kleine Hoffnungsschimmer, das Funkgerät reparieren zu können und damit vielleicht jemanden erreichen zu können, der ihm half ins Tal zu kommen, löste sich aber schnell in Schall und Rauch auf. Das Gerät wurde durch den heftigen Aufprall dermaßen beschädigt, dass es unmöglich war, es wieder funktionsfähig zu machen.
Aber so ganz wollte er sich seinem Schicksal nicht fügen. Vielleicht gäbe es doch irgendwie eine Möglichkeit mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Es könnte ja sein, dass Karin ihm absichtlich eine Kommunikationsmöglichkeit verschwiegen hat. Nachdem sie in den frühen Morgenstunden das Haus verlassen hatte, begann John die Schränke und Kästen ihres Schlafzimmers zu durchsuchen. Vielleicht würde er doch ein Funkgerät, oder etwas Ähnliches finden.
Im hintersten Eck des Schlafzimmerschrankes fand er eine große Schuhschachtel. Erwartungsvoll hob er den Pappdeckel hoch. Doch statt eines Kommunikationsgerätes lagen eine Unzahl von Fotographien, einige Briefe und Kinderzeichnungen darin lose ineinander gemischt.
Interessiert stellte John die Schachtel auf das Bett und betrachtete die Fotografien. Auf vielen dieser Fotos war Karin zu sehen. Doch darauf sah sie so völlig anders aus. Oft war sie mit einem sehr großen, kräftigen Mann mit hellbraunem Haar und dichtem hellbraunen Bart abgebildet. Mit ihm lächelte sie auf vielen Fotos glücklich in die Kamera. Der grobschlächtige Mann erinnerte sehr an einen Holzfäller, doch seine wachen, intelligenten Augen ließen anderes vermuten. Irgendwie kam John das Gesicht bekannt vor. Es fiel ihm auch bald ein, an wem ihn das Gesicht erinnerte. Dieser Mann hatte starke Ähnlichkeit mit dem Gesicht jenes Autors, der ein Buch über die Jagd in Kanada geschrieben hatte. Und dieses Buch stand draußen im Bücherregal.
Schnell humpelte er ins Wohnzimmer und suchte nach dem Buch. Im Umschlag des Hochglanzbuchbandes war dasselbe Gesicht abgebildet wie auf den Fotos mit Karin. Nicht sonderlich überrascht stellte er fest, dass Nick Davis Karins Mann sein musste.
John kehrte wieder zum Bett zurück, wo die Fotos auf der Bettdecke verstreut lagen. Neugierig begann er die Bilder genauer zu betrachten. Der kleine Junge neben den beiden musste wohl ihr gemeinsamer Sohn sein. Er war Nick wie aus dem Gesicht geschnitten. Karin wirkte auf den Fotos so glücklich und zufrieden. Sie musste eine sehr aparte Frau gewesen sein, vielleicht nicht ganz sein Typ, doch zweifelsohne ziemlich attraktiv.
Was war passiert, dass sie so verhärmt war und hier draußen dermaßen abgeschieden und einsam ihr Leben fristete? Die Fotos waren nach dem Entwicklungsdatum auf der Rückseite schon einige Jahre alt. Doch wo waren ihr Mann und das Kind geblieben?
Bis jetzt hatte sich John noch kein einziges Mal mit jenem Umstand auseinander gesetzt, wieso sie hier lebte. John war viel zu sehr mit seinen Problemen beschäftigt gewesen, als dass er auch nur einen Gedanken an Karin verschwendet hätte. Doch nun war sein Interesse geweckt und er war ziemlich neugierig, was sie hierher getrieben hatte. Die Zeichnungen in der Schachtel waren bestimmt von dem kleinen Jungen. Immer war er mit einem Elternteil darauf abgebildet, wie sie im Wald umherstreiften.
Doch jäh wurde John aus den Gedanken gerissen, als er Karins schrille Stimme hinter sich hörte. Erschrocken fuhr er herum und sah in ihre entsetzten Augen.
„Was tun sie hier?“ schrie sie ihn an, während sie wie eine Raubkatze auf ihn zustürzte.
„Ist es bei Ihnen zu Hause etwa üblich die Schränke jener Menschen zu durchwühlen, die Ihnen Gastfreundschaft gewähren?“
Wie eine Furie riss sie ihm das Foto aus der Hand, wo sie lächelnd mit dem kleinen Jungen zwischen ihren Beinen auf Skiern einen Hang hinab fuhren. Blitzschnell sammelte sie die verstreuten Fotos auf und warf sie in die Schachtel zurück.
„Verschwinden sie von hier.“
Doch John war so verwirrt und sprachlos, dass er nur ganz starr dasitzen konnte.
„Sind sie taub? Raus!“ brüllte sie so laut, dass selbst die Hunde die Ohren anlegten und sich in ihre Ecke verzogen. Auch Nelson flüchtete nun verdammt rasch aus dem Schlafzimmer, in das er John gefolgt war.
Beschämt stand John auf und humpelte ins Wohnzimmer zurück. Dieser Zwischenfall war ihm schrecklich unangenehm. John wusste nicht, was er tun sollte, was er machen konnte, um Karin zu beruhigen. Hektisch hörte er sie, wie sie die Schachtel in den Kasten schmiss und die Schranktüren lautstark zuknallte. Fuchsteufelswild stürmte sie dann ins Wohnzimmer zurück und direkt auf ihn zu. Ihre Augen warfen Zornesblitze, die John noch mehr in sich zusammensinken ließen.
„Wenn ich sie noch einmal erwische, wie sie in meinen persönlichen Sachen stöbern, werfe ich sie hinaus, egal ob es stürmt oder schneit oder 20 Grad unter null hat. Haben sie mich verstanden?“ fuhr sie ihn mit bebender Stimme an.
Schuldbewusst nickte John mit dem Kopf.
„Ob sie mich verstanden haben, sie degeneriertes Arschloch?“
„Ja, ja, es tut mir Leid. Ich werde nie mehr ihre persönlichen Dinge berühren.“
Karin war dermaßen erregt, dass sie sich kaum beruhigen konnte. Sie atmete einige Male tief durch und sagte dann halbwegs ruhig.
„Dann ist es gut.“
Sie pfiff nach den Hunden und stürmte mit diesen zur Tür hinaus. Dieses Mal war John aber richtig froh, dass sie weg war.

 

Die nächsten Tage herrschte Eiseskälte. Und das nicht nur im Freien. Karin war noch distanzierter und wortkarger als sonst. Noch dazu hatte in der Nacht das Wetter umgeschlagen. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Ein verdammt kalter Nordwind pfiff durch die Tannen und trieb über dem zugefrorenen See mächtige Schneeböen vor sich her. Bei diesem Wetter blieb Karin nichts anderes übrig, als mit den Hunden im Haus zu bleiben. Normaler Weise wäre es John sehr angenehm gewesen, wenn Karin einmal nicht unterwegs war. Doch ihr gigantischer Zorn verrauchte nur sehr langsam, so dass John sich in ihrer Nähe sehr unwohl fühlte.
Karin nutzte die Zeit, um die alltäglichen Arbeiten im Haus zu erledigen und beachtete ihn kaum.
Wie üblich saß John auf dem Sofa und las in dem Buch über die Jagd. Er wollte sich ein Bild von Karins Mann verschaffen. Doch er beobachtete auch Karin. Seitdem er die Fotos gesehen hatte, wollte er unbedingt mehr von dieser sonderbaren und geheimnisvollen Frau wissen.
Karins Miene erhellte sich nur dann, wenn die Hunde um ihre Aufmerksamkeit bettelten und gestreichelt werden wollten. Wenn sie lächelte, wich der bittere Zug um ihre Mund. Ein besonderes Leuchten erhellte dann ihr Gesicht und es schien John so, als ob durch den mit dunklen Schneewolken verhangenen Himmel die Sonne durchleuchtete. Ihr kühler, unnahbarer Blick wandelte sich dann plötzlich in einen unsäglich sanften und liebevollen, wenn sie die Ohren von Clyde kraulte und zärtlich über Bonnys dicken Bauch strich, während sie ihnen zärtliche Worte ins Ohr raunte. Die Hunde beteten sie an und man spürte ihr besonderes Naheverhältnis zu den Tieren. Karin wirkte dann jugendlich frisch, obwohl sie bestimmt schon älter als dreißig war. Ihr Blick war nicht nur fähig kalte Blitze zu schleudern, es gab auch Momente, wo Wärme und tiefe Zuneigung aus diesen schönen, bernsteinfarbigen Augen ein wenig von ihren tief verschlossenen Gefühlen preisgab, mit der sie ihre Schäferhunde, aber auch den Luchs überhäufte.
In diesen seltenen Momenten konnte sich John von ihr kaum sattsehen. Denn plötzlich hatte sich dieses eher farblose, introvertierte Wesen in eine sehr attraktive Frau gewandelt. Selbst der abgetragene Jogging-Anzug mit den derben Filzpantoffeln und ihr unachtsam zu einem dicken Zopf geflochtenes Haar ließ da keinen Zweifel aufkommen, dass sie schön war.
Doch leider wehrten diese Augenblicke immer nur sehr kurz, denn bald fühlte sie sich von John beobachtet und sie zog sich wieder in ihr imaginäres Schneckenhaus zurück.

 

John saß nun schon fast drei Wochen in diesem Haus fest. Von Tag zu Tag wurde er unruhiger. Bis auf dem kurzen Weg zum Plumpsklo, das keine 20 Meter vom Haus entfernt lag, hatte er keine Chance dem Haus zu entwischen. Die Schmerzen in seinem Bein hatten sich gelegt und er konnte mittlerer Weile recht flott auf seiner Krücke durch den Raum humpeln. Vor zwei Tagen hatte ihm Karin von der Bandage um den Brustkorb erlöst, so dass er wieder richtig durchatmen konnte. Manchmal taten ihm die Rippen noch ein wenig weh, doch der Schmerz ließ von Tag zu Tag mehr nach. Dafür fühlte er die Aggressionen in sich immer mehr zunehmen. John war es absolut nicht gewohnt untätig herum zu sitzen. Wenn er sich nicht bald mit etwas Sinnvollem beschäftigte, war er drauf und dran durchdrehen.
Als dann auch noch Nelson bei seinem Hin- und Hergehumpel zwischen seine Beine geriet und er der Länge nach auf den Boden fiel, rastete John aus. Unkontrolliert fluchend, stieß er mit seinem gesunden Bein nach dem Tier. Sofort flüchtete Nelson unter den Küchentisch und wartete verängstigt auf weitere Reaktionen. Karin stellte das Bügeleisen zur Seite und beobachtete John, wie er sie am Kaminsims festhaltend hochrappelte. Für einen langen Moment sah sie ihn unverwandt an. Dann klappte sie das Bügelbrett zusammen und trug es in den kleinen Abstellraum neben der Küche.
Kurze Zeit später kam sie mit einem Paar alter Moonboots zurück und stellte sie vor John.
„Ziehen Sie die an“, forderte sie ihn auf. „Wir machen einen kleinen Ausflug. Die Hunde brauchen Auslauf.“
Überrascht blickte John zu Karin hoch und sagte dann: „Draußen weht ein heftiger Schneesturm. Ich glaube kaum, dass es besonders sinnvoll wäre, jetzt raus zu gehen.“
Doch Karin ignorierte seinen Einwand und rief ihm zu, während sie im Schlafzimmer verschwand:
„Beeilen sie sich. Die Boots sind so groß, dass selbst ihr geschientes Bein hinein passt.“
John setzte sich auf einen Stuhl und versuchte den Stiefel über das gebrochene Bein mit der Schiene zu ziehen. Doch das wollte ihm nicht gelingen. Karin kam mit einer großen Tasche zurück und sah wie John sich abmühte. Seufzend ging sie auf ihn zu und nahm ihm den Stiefel aus der Hand. Vorsichtig schob sie ihm den Boot über sein gebrochenes Bein. Dann zog sie ihm den anderen über.
„Alles andere werden Sie sich ja selbst anziehen können, oder?“
„Ich denke schon, schließlich hab ich weder Arme und Hände gebrochen.“
Die Hunde tänzelten wie aufgeregt herum und winselten erfreut. Sie saßen nun schon drei Tage im Haus fest und vermissten ihre langen Ausflüge. Auch Nelson wurde aktiv und schlich vor der Tür nervös auf und ab, während er nervös mit seinem rechten Ohr wackelte.
Ein schneidend kalter Wind fegte durch die geöffnete Tür. Für einen Moment hielt John die Luft an. Eigentlich wollte er bei diesem Sauwetter nicht hinaus. Außerdem dämmerte es schon und bald würde die Nacht herein brechen. Doch die Tiere waren schon draußen und die Hunde bellten freudig erregt, den Windsturm und die Kälte völlig ignorierend.
Genervt rief Karin John zu:
„Was ist los? Sind Sie schon jetzt steif gefroren?“
Karin hatte den Schlitten hervor geholt und die Hunde eingespannt.
„Kommen Sie schon, heut gibt es eine Schlittenfahrt durch den Winterwald und das ganz umsonst.“ rief sie ihm nun etwas aufmunternder zu, als sie sein skeptisches Gesicht sah.
Langsam ging er durch die Tür und schloss diese.
„Wo ist der Schlüssel, damit ich die Tür versperren kann?“ wollte John wissen.
„Sie brauchen keinen Schlüssel. Ich glaube kaum, dass wir heute noch Besuch bekommen werden. Sie etwa?“ erwiderte sie sarkastisch.
Wieder einmal hatte John das Gefühl, dass sie sich über ihn lustig machte. Missmutig humpelte er auf seiner Krücke zum Schlitten, auf dem er sich vorsichtig niederließ. Sofort setzten die Hunde sich in Bewegung. Karin hatte ihre Schneeschuhe angelegt, damit sie nicht bis zu den Knien im Schnee versank und ging damit zügig vor den Hunden her. Ein Jagdgewehr hing an ihrer Schulter. Ständig suchte Karins aufmerksamer Blick die Gegend nach Gefahren ab. John verspürte beim Anblick der Waffe und auch aufgrund Karins konzentrierten Beobachtens ein unangenehmes Gefühl von Bedrohung in sich aufflackern. Die Gefahr schien hier jedenfalls allgegenwärtig zu sein.
Der Weg führte durch den Wald. Hier blies der Wind nicht so stark und man hatte das Gefühl, dass es wärmer wurde. Nach ca. 10 Minuten wurde der Weg felsig, so dass man mit dem Schlitten nicht mehr weiter konnte.
„Stehen Sie auf, wir müssen zu Fuß weiter“, forderte sie ihn auf.
„Wohin gehen wir eigentlich“, fragte John, während er sich mühsam aus dem Schlitten erhob.
Doch Karin lächelte ihn nur verschmitzt an und sagte:
„Seien Sie nicht so neugierig. Oder mögen Sie keine Überraschungen?“
„Nun ja, wenn es keine bösen sind, kann ich sehr gut damit leben.“
Karin befreite die Hunde aus ihrem Zuggeschirr. Dann nahm sie die Tasche vom Schlitten und ging langsam vor John her. Die Hunde liefen an Karins Seite, während Nelson wie immer in Johns Nähe blieb.
Unerwartet setzte ein dichter Nebel ein und die Schneeschicht wurde immer dünner. Es wurde auch merklich wärmer. Die Gegend wurde steiniger und ein ausgetretener Pfad führte durch einen schmalen Felsspalt. Sprachlos vor Staunen blieb John stehen, als der Pfad unmittelbar vor einem kleinen, runden Bassin endete, in das sich ein plätschernder Wasserfall ergoss. Es musste hier eine heiße Quelle geben, denn überall dampfte es. Rund um die Wasserstelle wucherte ein breites, grünes Band von Moosen, Flechten und Farnen, auf denen der gefallene Schnee rasch weg schmolz. John wurde nun ziemlich heiß und er nahm seine warme Wollmütze ab. Ungläubig ließ er dieses unerwartete Szenario auf sich wirken. Karin sah John in die Augen und freute sich, dass ihr die Überraschung gelungen war. Gut gelaunt forderte sie ihn auf:
“Da staunen Sie, was?“
„In der Tat“, erwiderte John anerkennend. „Diese Überraschung ist Ihnen absolut gelungen.“
„Kommen Sie, das ist noch nicht alles.“
John folgte Karin zu einem wuchernden Silberweidenstrauch am Fuße eines Felsens. Karin schob die elastisch dünnen Äste zur Seite sodass ein schmaler Spalt im Felsen sichtbar wurde.
„Warten Sie hier einem Augenblick, ich hol Sie gleich.“
Schnell schlüpfte Karin durch die Öffnung des Felsens und verschwand mit den Hunden hinter dem Spalt. Kurze Zeit später kam sie zurück und forderte ihn auf, sie zu begleiten. Er zwängte sich durch den schmalen Eingang und blickte dann erstaunt um sich. Vor ihm hatte sich plötzlich eine ganz andere Welt aufgetan. Ein kleiner, leicht dampfender See lag vor ihm, in dessen glatter Oberfläche sich das Felsmassiv spiegelte. Überall auf den Felsen standen brennende Kerzen, die die Höhle in ein diffuses Licht tauchte. John blieb vor Staunen der Mund offen, während Karin lächelnd auf ihn zukam:
„Wie gefällt Ihnen mein ganz persönlicher Spa?“
„Einfach faszinierend“, erwiderte John überwältigt. „Damit habe ich nicht gerechnet.“
Zufrieden, weil ihr die Überraschung gelungen war, fordert sie John auf näher ins Licht zu kommen.
„Hier gibt es einige warmen Quellen. Doch diese hier ist nicht nur die nächste vom Haus, sondern auch die idealste zum Baden, weil man die Höhle wie ein Hallenbad nutzen kann.“
Karin zog ihren dicken Daunenmantel aus und streifte ihre Boots ab:
„Worauf warten Sie?“, forderte sie John auf es ihr gleich zu tun. „Ich dachte mir, Sie hätten vielleicht Lust zu baden.“
„Ja, doch. Nur ich habe keine Badehose dabei“, sagte er verwirrt.
„Ich auch nicht. Wo liegt das Problem?“, fragte Karin völlig unbefangen.
Rasch entledigte sie sich ihrer restlichen Kleidung, bis sie schließlich nackt vor ihm stand. John wusste nicht, ob ihm ihre Nacktheit genieren oder ihn erfreuen sollte. Karin beobachtete John linkisches Verhalten, während sie ihr geflochtenes Haar löste, das voll und nun gewellt bis zu ihrer Taille hinab reichte.
„Sie brauchen sich nicht verlegen zu fühlen. Ich nehme an, dass Ihnen nackte Frauen nicht ganz fremd sind, oder? Aber vielleicht sind Sie ja auch so ein Spießer, der sich an der Nacktheit von Frauen stößt?“
„Natürlich nicht, ich bin nur noch viel zu benommen und überrascht von diesem unerwarteten Eintauchen in diese romantische Unterwasserwelt, dass ich ein wenig Zeit brauche, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen“, log er und begann sich ebenfalls auszuziehen. Während sich John seiner Kleidung entledigte, ließ er Karin nicht aus den Augen, die aus der Tasche Badetücher zog und diese auf einen glatten Stein legte.
Auch damit hatte er nicht gerechnet. John wusste nicht, was ihn nun mehr faszinierte. Vor ihm stand eine äußerst anziehende Frau, deren Weiblichkeit John unwillkürlich in ihren Bann zog. Das braune Haar fiel über ihre Schulter und bedeckte ihre vollen, schweren Brüste. Ihr Körper war so ganz anders als jener Pamelas. Seine Frau war groß, feingliedrig und sehr schlank und wirkte fast wie ein Junge mit ihren eher breiteren Schultern, den kleinen Brüsten und ihrem süßen, kleinen Apfelpo. Außerdem schienen Pamelas Beine fast endlos zu sein. Karin war hingegen klein, vielleicht 1,60 oder ein wenig mehr. Obwohl sie schlank war, wirkte sie doch unglaublich weich und weiblich. Ihre Brüste hatten durch das Stillen ihr straffes Gewebe verloren und hingen ein wenig schlaff an ihr. Doch das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Die nicht mehr ganz so schmale Taille ging in einen runden Po über. Ihre Beine waren wohl geformt und ziemlich durchtrainiert. Kein Wunder bei der Bewegung, die sie jeden Tag machte. Karins Haltung und Bewegungen waren anmutig fließend und sehr feminin. Ihr einfaches Empfinden, das frei von Schamgefühl und Hemmungen war, unterstrich diesen besonderen Liebreiz noch mehr.
Geschmeidig wie eine Katze glitt sie ins Wasser und schwamm in die Mitte des Sees. Wie verzaubert sah John ihr nach. Dann drehte sie sich um und lächelte ihn an:
„Was ist los mit Ihnen? Jetzt haben Sie mich doch lange genug angestarrt. Kommen Sie also endlich ins warme Wasser.“
John fühlte sich ertappt. Hatte er sie wirklich so lange betrachtet?
„Sie brauchen sich nicht zu genieren. Ihre Short können sie ruhig ausziehen. Ich weiß ja wie Sie nackt aussehen.“
Ihr verschmitzter Unterton gab John nur zu gut zu verstehen, dass sie sich erneut über ihn lustig machte. Sofort musst er an jenen ersten Tag zurückdenken, wo sie ihn völlig nackt untersucht hatte. Damals war es ihm ziemlich egal, ob er betrachtet oder berührt wurde. Doch jetzt war die Situation ein wenig anders. Er fühlte, wie sich bei ihrem Anblick sein Sexualtrieb zu regen begann, so dass John echt Angst hatte, dass sein Penis erigierte.
Rasch zog er nun seine Shorts aus und hoffte schnell genug im Wasser zu sein, um sein sich anbahnendes Malheur zu verbergen. John hatte einige Mühe mit dem geschienten Bein ins Wasser zu gelangen. Er hatte Angst auf dem nassen, glatten Stein auszurutschen und zu stürzen. Ein zweites gebrochenes Bein war das letzte, was er gebrauchen konnte.
Karin stieg aus dem Wasser, um ihn zu stützen. Johns Herz begann schneller zu pochen, als er ihre nasse, nackte Brust an seinem Arm spürte, während sie ihm half, vorsichtig ins Wasser zu gleiten. Zusammen schwammen sie in die Mitte des Sees hinaus. Das Wasser war angenehm warm, so dass die Lufttemperatur wiederum sehr kühl wirkte.
„Kommen sie mit, ich zeig ihnen noch etwas“. Und schon tauchte sie unter und war weg. John holte tief Luft und folgte ihr. Unter Wasser gab es im Felsen eine breite Öffnung, durch die ein wenig Licht drang. Karin tauchte durch diese und entschwand wiederum seinem Blick. John tauchte nun ebenfalls durch diese Öffnung, wobei er einige Mühe mit seinem geschienten Bein hatte. Als er auftauchte, befand er sich außerhalb der Höhe in jenem Auffangbecken, wo der kleine Wasserfall hinein stürzte. Es war einfach herrlich sich in dem angenehm heißen Wasser im Freien zu bewegen während die Luft jetzt fast eisig war und permanent Dampf aus dem Wasser hochstieg, der die Schneeflocken in Regentropfen verwandelte.
Nachdem sie einige Zeit ausgiebig unter dem Wasserfall duschten und es genossen, dass heiße Wasser auf sich niederprasseln zu lassen, tauchten sie wieder unter und kehrten in die Höhle zurück.
Karin setzte sich auf einen flachen Felsen im Wasser und begann ihr Haar zu waschen. John konnte unmöglich den Blick von ihr wenden, wie sie da im warmen Licht des Kerzenscheins saß und ihr langes Haar einschäumte. Sie hielt die Augen geschlossen, so dass John sie ungeniert betrachten konnte. Eine Aura von Unschuld aber auch von geballter Sinnlichkeit ging von ihr aus, während sie ihren Kopf nach hinten beugte und somit ihre Brüste vor streckte. Die leicht gespreizten Beine gewährten ihm tiefe Einblicke. Normaler Weise stieß er sich daran, wenn die Scham einer Frau behaart war. Doch bei Karin fand er das in Ordnung. Es passte zur ihrem natürlichen Empfinden. Das dunkle Dreieck zwischen Ihren Schenkeln wirkte nun sogar äußerst erotisch auf ihn.
John musste sich zwingen von ihr wegzusehen und sich auf etwas anderes konzentrieren. Seine aufsteigende Wollust übertrug sich auf seinem Phallus, der erneut an Volumen zunahm. Seit mehr als drei Wochen hatte er keinen Sex mehr gehabt. Und sein Drang sich zu erleichtern, wurde ohnehin immer stärker. Noch bevor er aus dem Wasser stieg, griff er schon nach dem Badetuch, damit er seine Erektion hinter diesem verbergen konnte. Unwillkürlich glitten seine Blicke immer wieder zu Karin zurück, die anmutig wie eine Nymphe auf dem Felsen saß und in äußerst rhythmisch-sinnlicher Bewegung ihr Haar wusch. Er musste echt dem Drang widerstehen, zu ihr hinzugehen und ihre Arme, ihre Hände, ihren Hals, ihre Brüste zu berühren.

 

Auf der Fahrt zurück spürte er weder den beißenden Wind noch die schneidende Kälte auf seiner Haut. Mittlerer Weile war es völlig dunkel geworden, sodass Karin die Taschenlampe eingeschaltet hatte und mit dieser vor dem Schlitten herging. John hatte mit so vielen Eindrücken zu kämpfen, dass er völlig verwirrt war. Das Bedürfnis mehr über diese geheimnisvolle und faszinierende Frau zu erfahren, war nun größer denn je.

 

Mit einem Mal freute sich John wieder in das Jagdhaus zurück zu kehren, sich auf dem Sofa auszustrecken und das heimelige Ambiente des schönen Wohnraumes zu genießen, während vor den Fenstern der eisige Nordwind durch die erstarrten Wälder und dem zugefrorenen See jagt. Die viele Bewegung hatte ihn müde und verdammt hungrig gemacht. Aber er fühlte sich angenehm erschöpft und sauber wie schon lange nicht mehr. Auch die Hunde waren froh wieder zu Hause zu sein. Erledigt und durchgefroren hatten sie sich vor dem offenen Kaminfeuer ausgestreckt. Und Nelson machte es sich wie üblich auf dem Sofa neben John bequem.
Völlig unbewusst begann John sein struppiges Fell zu kraulen, während er Karin beobachtete, die das Abendessen vorbereitete. Zum ersten Mal hatte er nicht das Bedürfnis zu Nörgeln, sondern fühlte er sich rundherum wohl.
Plötzlich begann in John das schlechte Gewissen zu nagen. Den ganzen Nachmittag über hatte er kein einziges Mal an Pamela gedacht. Erst jetzt, wo er Karin beim Kochen zusah, kam ihm seine Frau wieder in den Sinn. Verwundert musste John feststellen, dass Pam in den beiden Jahren ihrer Ehe kein einziges Mal gekocht hatte. John hatte sie aber auch nie wirklich herzhaft essen sehen. Über einen kleinen Salat mit ein wenig mageren Fleisch kam sie selten hinaus. Meist gingen sie essen, wurden eingeladen oder bestellten etwas Chinesisches, indem sie meist lustlos herum stocherte. Selbst wenn sie Gäste hatten, wurde immer ein Catering Service beauftragt. Sicherlich durfte man nicht außer Acht lassen, dass Pamela neben ihrem Job in der Firma ihres Onkels noch als Model arbeitete. Ihr Körper war auch ihr Kapital. Und jede kleine Sünde wurde an diesem makellosen Körper gnadenlos bestraft. So gesehen war natürlich verständlich, dass sie kein großes Faible fürs Essen und in der Folge natürlich auch fürs Kochen aufbringen konnte. Das einzige, was Pamela unmäßig zu sich nahm, war schwarzer Kaffee. John hatte ihr letztes Jahr zu Weihnachten eine dieser tollen, sündhaft teuren Kaffeeautomaten geschenkt. Seitdem war ihre Sucht nach Kaffee noch größer geworden.
Welten lagen zwischen diesem Kaffeeautomaten in Vancouver und dieser alten, abgeschlagenen Espressomaschine auf der heißen Herdplatte, die nun leise vor sich hin pfiff, weil das heiße Wasser bereits durch das schmale Gusseisenröhrchen hochgestiegen war. Doch John hätte nicht sagen können, welcher Kaffee besser schmeckte.
Karin stellte zwei dampfende Tassen voll auf den Couchtisch.
Obwohl Karin nach wie vor sehr ruhig war, hatte John doch den Eindruck gewonnen, dass sich seit ihrem gemeinsamen Ausflug etwas Grundlegendes verändert hatte. Karin war nicht mehr so unnahbar und reserviert und strahlte nun eine Freundlichkeit und Vertrautheit aus, die auf John sehr einnehmend wirkte.
„Unser Ausflug war wohl ein wenig zu anstrengend. Sie sehen ziemlich geschafft aus“, sagte sie unvermittelt.
„Ja, da ist richtig. Doch keinesfalls hätte ich Ihren persönlichen Spa missen wollen“, zwinkerte er ihr zu. Bei dem Gedanken an ihren weiblich-anmutigen Körper spürte er sofort wieder ein heftiges Regen zwischen seinen Beinen.
„Haben Sie noch ein paar so tolle Überraschungen zu bieten?“
„Da gäbe es schon noch einiges, was Ihnen vielleicht gefallen könnte. Doch solange Sie nicht wieder halbwegs fit sind, wird das nicht möglich sein“, erwiderte Karin nachsichtig.
Ihr Blick fiel auf den schlafenden Luchs, dessen Kopf auf Johns Oberschenkel lag.
„Wie ich sehe, haben Sie endlich mit Nelson Freundschaft geschlossen.“
„Nun ja, irgendwie blieb mir keine Wahl, nachdem er mich schon so lange bedrängte.“
„Ja, wenn er etwas will, so kann er ganz schön hartnäckig sein.“
John wollte die Gelegenheit dieser unerwarteten Nähe nicht verstreichen lassen und fragte Karin:
„Ich hab dieses Buch über die Jagd zu lesen begonnen. Mir ist auf aufgefallen, dass der Autor denselben Namen wie Sie trägt. Sind Sie etwa mit diesem Nick Davis verwandt?“
Sofort legte sich ein Schatten um die Augen Karins und sie zog sich wieder ein wenig in sich zurück.
„Nein, nicht verwandt; er war mein Mann.“ sagte sie ernüchtert.
Dann stand sie auf und ging wieder zum Herd, wo das Fleisch in der Pfanne leise brutzelte. John spürte, wie sie sich wieder von ihm entfernte. Schnell musste er sie auf andere Gedanken bringen, damit sie sich nicht völlig zurückzog.
„Gibt es in der Gegend hier wirklich Grizzlys?“
Karin ließ sich von Johns Frage ablenken und erzählte anfänglich ein wenig stockend, doch dann immer lockerer drauf los, während sie den Tisch deckte.
„Ja, sicher. Zwar leben hier nicht so viele wie im Yukon-Gebiet, doch die Population ist gesund und sie haben hier echt gute Chancen, einem zu begegnen. Also seien sie immer vorsichtig, wenn sie durch den Wald gehen. Er läuft schneller als sie und kann außerdem noch besser schwimmen und klettern.“
„Aber jetzt ist doch Winter und die Tiere schlafen in ihren Höhlen. Zumindest habe ich das in diesem Buch hier gelesen.“
„Das stimmt nur bedingt. Nicht alle verschlafen den Winter. Es gibt durchaus einige, die die kalten Monate lieber im Freien als in ihrer Höhle verbringen wollen.“
„Sie kennen sich wohl ziemlich gut mit den Tieren des Waldes hier aus.“ versuchte John sie zu animieren weiter zu erzählen. Er wollte unbedingt, dass sie aus sich heraus ging und mehr von sich preis gab.
„Mein Mann lehrte mich alles, was man wissen muss, um im Wald zu überleben. Er war ein passionierter Jäger, doch noch lieber beobachtete er die Tiere. Jedenfalls fühlte sich Nick hier oben wesentlich mehr zu Hause als unten in der Zivilisation.“
„Und mit diesem Virus hat er Sie anscheinend infiziert“, hakte John ein.
„Und wie“, nickte sie andächtig. „Bald lernte ich diese Gegend nicht nur mit seinen Augen zu sehen, sondern auch genauso zu lieben wie er.“
„Wo ist ihr Mann eigentlich?“
Karin antwortete nicht gleich. Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis sie tonlos antwortete:
„Nick ist tot.“
„Sorry, das wusste ich nicht“, erwiderte John betroffen.
„Woher sollten sie es auch wissen. Er ist zusammen mit unserem Sohn gestorben.“
John bereute nun, dass er seine Neugier nicht bändigen hatte können. Dieser so erfreuliche Nachmittag machte nun einem ziemlich bedrückten Abend Platz.

 

Bis Weihnachten war es nur mehr 10 Tage. Karin hatte das Haus mit Girlanden geschmückt. Auch der Duft von Lebkuchen und frisch gebackenen Keksen lag in der Luft. John war überrascht, dass Karin auf dieses Fest so großen Wert legte, insbesondere hier draußen, wo sie doch alleine war.
Für ihn war Weihnachten eine Zeit, die er immer schon gern hinter sich als vor sich hatte. Es war lange her, dass er sich auf dieses Fest freute. Auch Pamela waren diese Festivitäten ziemlich egal. Letztes Jahr fuhren sie über die Feiertage in die Karibik, um dem alljährlichen Kauf- und Besuchsstress zu entgehen. John fand es immer ziemlich grotesk auf Südseeinseln in den Hotellobbys grell geschmückte, riesige Christbäume und ho-ho-ho rufende Weihnachtsmänner zu sehen, oder Weihnachtslieder wie „Let it’s snow“ oder „Dreaming of a white Christmas“ aus den Lautsprecherboxen zu hören, während man unter Palmen lag, kalte, bunte Cocktails schlürfte und sich im smaragdgrün schimmernden Meer Abkühlung verschaffte.
Doch Karin riss ihn mit ihrer vorweihnachtlichen Stimmung so mit sich, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich auch auf dieses Fest zu freuen. Im Radio spielte es nun auch die altbekannten Weihnachtslieder und nicht selten sang Karin mit. Sie forderte auch John auf mitzusingen. Doch da er die Texte nicht kannte, konnte er nur die Melodie mitsummen.
Vor einer Woche hatte Karin sein gebrochenes Bein von der Schiene befreit. Als er es nach langen Wochen das erste Mal wieder belastete, fiel er gleich vornüber und landete in Karins Armen. Die Muskeln waren erschlafft und es würde einige Zeit dauern, bis es wieder so trainiert war, so dass er es wieder völlig belasten konnte. John verbrachte nun jeden Tag einige Zeit draußen in der eisigen Kälte und stapfte durch den kniehohen Schnee, damit sein Bein langsam wieder Muskelmasse aufbaute.
Bonny hatte vor zwei Wochen vier Junge geworfen. Obwohl John nach wie vor daran festhielt, eine Abneigung gegen Haustiere zu haben, konnte er sich dem Zauber dieser niedlichen und unbeholfenen Welpen nicht entziehen. Voller Zuneigung streichelte John die kleinen tapsigen Wollknäuel und ließ sie in seiner Hand schlafen. Selbst als ihm einer der Welpen in die Hand pinkelte, fand er nicht mehr so abgrundtief abstoßend. Außerdem fand er es rührend, wie sich Bonny sich um ihren Wurf kümmerte.
Nelson hatte augenblicklich aber keinen leichten Stand. Seit die Jungen geboren waren, war der Mutterinstinkt der Hündin geschärft und knurrte Nelson gefährlich an, wenn er sich auch nur ansatzweise der Wurfkiste näherte. Clyde lag hingegen unter dem Küchentisch und verschlief die meiste Zeit. Seine Nachkommenschaft war ihm ziemlich egal.
Wenn es das Wetter zuließ, gingen sie ein- bis zweimal in der Woche zu der heißen Quelle. John genoss es nicht nur sich im wohlig warmen Wasser zu bewegen, sondern auch, weil Karin nichts von ihrer Unbefangenheit verloren hatte. Nach wie vor zog sie sich vor ihm aus und schwamm nackt neben John her. Und wenn sich ihre Körper ab und an unabsichtlich berührten, so löste dieser Kontakt in ihm ein angenehmes Gefühl der Nähe und Vertrautheit aus.
Im Laufe der Tage und Wochen wurde das Verhältnis zwischen den beiden immer besser. Diese zaghafte Annäherung war nicht zuletzt auch darauf zurück zu führen, dass John reges Interesse an seinem Umfeld zu zeigen begann. Wenn er hier schon die nächsten Monate festsaß, so wollte er die Gelegenheit nutzen und diese für ihn so fremde und unzugängliche Welt kennenlernen. Und je mehr er von der Flora und Fauna der Wälder und Berge erfuhr, umso mehr begann er zu verstehen, dass es durchaus positive Aspekte gab, hier leben zu wollen. Darüber freute sich Karin natürlich sehr und sie wurde nicht müde auf all seine vielen Fragen zu antworten. Oft unterhielten sie sich in diesen kalten Wintertagen bis tief in die Nacht hinein, ohne wahrzunehmen, wie schnell die Zeit dabei vergangen war.
Es kam nicht selten vor, dass Karin in ihrem schier unermesslichen Fundus an Anekdoten, Überlieferungen und Abenteuergeschichten zu wühlen begann, die hier in den Rocky Mountains die Runde machten und von denen John unglaublich fasziniert war.
Je intensiver John in diese fremde Welt hier eintauchte, umso mehr traten seine Probleme mit der Firma und seinem Bruder in den Hintergrund. Sein schlechtes Gewissen drückte ihn aber ein wenig, weil die Präsenz seiner Frau in seinem Denken und Fühlen nicht mehr jenen Platz einnahm, wie noch vor einigen Wochen. Doch John war ein nüchtern denkender Mann. Er wusste, dass sein Aufenthalt hier ein Ablaufdatum trug und er in ein paar Monaten in seine Realität zurück katapuliert werden würde, wo ein geballter Ansturm von Problemen sicherlich nicht ausblieb. Doch an diese wollte er jetzt nicht denken. Wozu auch. Er konnte jetzt nichts daran ändern. Und wenn er Pamela dann wieder glücklich in seine Arme schließen konnte, so würde ihm diese Welt hier nur mehr wie ein faszinierender Traum in Erinnerung bleiben.
Nach und nach hatte sich zwischen John und Karin eine freundschaftliche Nähe entwickelt, wo man nicht nur interessante Geschichten erzählte oder lustige Anekdoten austauschte. Man war auch dazu übergegangen, den Anderen nicht nur an seinen Wünschen, Träumen und Hoffnungen, sondern auch Ängsten und Sorgen teilhaben zu lassen. John war eigentlich nicht der Typ, der seine Probleme an die große Glocke hing. Früh hatte er gelernt, mit Schwierigkeiten alleine fertig zu werden. Die Last der Entscheidung konnte und wollte ihm auch ohnehin niemand abnehmen. Außerdem, wer hat schon große Freude sich die Probleme anderer anzuhören? Auch Pamela bildete da keine Ausnahme. Sie war nie besonders begeistert gewesen, wenn er ihr von seinen Schwierigkeiten in der Firma erzählte. Sie hatte ihm zwar höflich zugehört, doch John hatte immer das Gefühl, dass seine Worte an ihr abprallten und er sie damit nervte. Pamela hatte nicht wirklich Anteil an seinen Sorgen und Nöten genommen. ‚Du machst das schon, da bin ich mir 100%ig sicher’ war ihre Standartphrase gewesen und beendete damit sein Anliegen, wenn ihr sein Mitteilungsbedürfnis zu sehr auf die Nerven gegangen war. John hatte es daher auch bald unterlassen, sie mit seinen Sorgen zu belasten. Pamela interessierte sie absolut nicht für die Firma. Für sie waren Partys, ihr Job, doch vor allem shoppen wichtig. Manchmal hatte John sehr unter ihrer Oberflächlichkeit gelitten. Die einzige Ausnahme war ihr Onkel Ernesto, dem sie in tiefer Zuneigung verbunden war. Alles was mit ihm zu tun hatte, was er tat und dachte, war ihr wichtig und genoss absolute Priorität. Es hatte Situationen gegeben, da konnte sich John nicht eines Anflugs von Eifersucht erwehren. John hatte dann das Gefühl gehabt, als ob seiner Frau der alte Canetti wesentlich mehr bedeutete, als er selbst. Doch dann hatte er sich selbst als einen besitzergreifenden und kindischen Idioten bezeichnet. Schließlich war Canetti Pamelas Onkel und der einzige Mensch, der sich um Pamela wirklich gekümmert hat, nachdem sie von ihrer Mutter so schmählich im Stich gelassen worden war.
Pamela hatte zweifelsohne aber auch positive Eigenschaften. Sie war äußerst charmant, witzig und verdammt sexy. Sie war der Star auf jeder Gesellschaft und fast jeder beneidete ihn um diese tolle Frau.
Man bekommt eben niemals die vollen 100%, die man sich bei seinem Partner wünscht. Doch wenn man liebt, nimmt man auch die weniger schönen Seiten in Kauf.
Anfänglich hatte John eher Hemmungen gehabt, Karin von seinen Problemen zu erzählen. Doch sie hatte ihm immer interessiert zugehört, ohne ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er ihr auf die Nerven ging. Und je mehr Karin Anteil an seinen Sorgen nahm, umso verstandener und angenommener fühlte er sich. John begann nun immer mehr zu bedauern, dass es Pamela bei weitem nicht so verstand auf ihn einzugehen wie Karin.
Aber auch Karin hatte begonnen, aus ihrem Leben zu erzählen. John kam nun immer mehr zur Überzeugung, dass Karin absolut keine verrückte Einsiedlerin war, für die er sie anfänglich gehalten hatte. Sie hatte der Welt nicht aufgrund ihrer misanthropischen Neigungen den Rücken gekehrt, sondern weil diese warmherzige und sensible Frau zutiefst verletzt worden war und sie hier in der Einsamkeit der Berge wieder zu sich selbst finden wollte.
Es war ein Abend, wo beide die Nähe des Anderen besonders zu schätzen wussten. Karin war in Plauderlaune, sodass sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählte.
Mit 18 Jahren war Karin aus Österreich gekommen und wollte in Calgary ein Jahr als Au Pair Mädchen verbringen. Ihre Gastfamilie hatte ein Ferienhaus in Japser besessen, wohin Karin diese oft begleitet hatte. Als Österreicherin war Karin natürlich eine begeisterte Skifahrerin, sodass sie fast jedes Winterwochenende auf der Piste gestanden hatte. An einem dieser Tage hatte sie Nick kennen gelernt. Beide hatten sich sofort voneinander angezogen gefühlt und ineinander verliebt.
Nick war der Sohn angesehener und wohlhabender Hoteliers gewesen, die außer dem Hotel noch Skilifte betrieb und weitläufige Ländereien und Wälder besaß. Seine Eltern waren nicht sehr begeistert gewesen, dass sich ihr älterer Sohn in ein ausländisches Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen verliebt hatte. Insbesondere bei Nick’s Mutter hatte Karin einen ziemlich schlechten Stand gehabt, weil sie für ihren Erstgeborenen eine ganz besondere Frau haben wollte. Doch diese Frau war noch nicht geboren gewesen, die ihre Schwiegermutter für ihren geliebten Sohn als geeignet befunden hatte. Für Nick war Karin einfach sein Lebensmensch gewesen. Er hatte sich nicht von seiner Mutter beeinflussen lassen und heiratete das Mädchen, das er liebte.
Doch selbst Monate nach der Eheschließung war das Verhältnis zwischen Karin und ihrer Schwiegermutter nicht besser geworden. Ihren Schwiegervater hatte sie selten zu Gesicht bekommen. Karin hatte das untrügliche Gefühl gehabt, das er jede sich bietende Möglichkeit wahrnahm, um dem Gezänke und Gekeife seiner streitsüchtigen Frau zu entgehen. Karin hatte im Hotel mitgearbeitet und versuchte sich nützlich zu machen, wo es nur ging. Obwohl sie sich redlich bemüht hatte, fand ihre Schwiegermutter aber immer wieder einen Stein des Anstoßes.
Glücklich ist sie eigentlich nur dann gewesen, wenn sie mit Nick einige Tage im Revier verbrachte. Mit seinem kleinen Wasserflugzeug waren sie dann in diese stille und abgelegene Bergwelt hochgeflogen. An einem der vielen kleinen Seen hatte die Familie schon seit Generationen hindurch eine Jagdhütte in Verwendung. Obwohl es in dieser Gegend verboten war Hütten zu errichten, bildete dieses Haus insofern eine Ausnahme. Das Jagdhaus war schon lange vor der Gründung des Nationalparks im Besitz der Davis gewesen.
Nick und Karin hatten es immer mehr genossen, einige Tage der Hektik des Hotellebens entfliehen, um sich hier zurückzuziehen, durch die Wälder zu streifen oder mit dem Boot auf den Lake Pleasure hinaus zu rudern.
Karin war es daher auch immer schwerer gefallen, wieder nach Jasper zurück zu kehren. Ihrer Schwiegermutter hatte ihre ungebrochene Freude daran, sie zu provozieren und zu demütigen. Irgendwann war es zu einem riesigen Eklat im Hotel gekommen, weil Karin eine Überbuchung gegeben hatte, an der Karin Schuld war. Alle Zimmer waren belegt und ein empörter Stammgast hatte abgewiesen werden müssen.
Mrs. Davis hatte ihrer Schwiegertochter vor den Hotelgästen eine schreckliche Szene gemacht, die für alle Anwesenden sehr unangenehm war. Karin hatte nach dieser Demütigung die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht. Weinend war sie in ihre Wohnung gelaufen, hatte in Windeseile ein paar Sachen in einen kleinen Koffer gepackt und war nach Calgary zum Flughafen gefahren. Sie hatte nur mehr den Wunsch gehabt, wieder nach Hause zu fahren. Als sie gerade ihr Ticket lösen hatte wollen, stand Nick neben ihr, lächelte sie traurig an und hatte sie gefragt, ob sie ihn jetzt für immer verlassen wollte.
Mit Tränen in den Augen hatte sie Nick ihr unglückliches Herz ausgeschüttet.
Empört über seine Mutter hatte er Karin tröstend an seinen mächtigen Brustkorb gedrückt und ihr versprochen, ein Haus zu suchen, wo Karin nicht mehr der Willkür seiner Mutter ausgeliefert war.
Und so waren sie wieder nach Jasper zurückgekehrt. Nick hatte seine Mutter zur Rede gestellt, worauf es zu einer weiteren heftigen Auseinandersetzung kam. Erst durch diesen Streit hatte Nick so richtig erkannt, wie sehr seine Mutter Karin hasste.
Nick hatte ein kleines Häuschen etwas außerhalb von Jasper gefunden. Um Karin von ihrem Kummer abzulenken, hatte er ihr einen kleinen Schäferwelpen geschenkt. Es war ihm auch wohler gewesen zu wissen, dass ein Wachhund im Hause war, wenn er im Forst unterwegs war. Karin hatte sich über den Hund über alle Maßen gefreut. Er hatte auch dazu beigetragen, dass Karin rasch über die Vorfälle der vergangenen Monate hinweg gekommen war.
Nach wie vor waren die Beiden gerne zu dem entlegenen Jagdhaus am Lake Pleasure geflogen. Sie hatten sich vorgenommen, den nächsten Sommer dort oben verbringen. Nick hatte endlich sein Buch über die Jagd scheiben wollen. Bis es jedoch soweit gewesen war, hatten sie die primitive Jagdhütte in ein gediegenes Wohnhaus umgebaut, das man auch im Winter bewohnen konnte. Nick hatte sich allerhand Spielereien einfallen lassen, sodass es fast dieselben Annehmlichkeiten bot, wie ein Haus in der Stadt.
Das Paar hatten nun immer die Sommer in ihrem kleinen Paradies verbracht. Nick hatte seine Frau gelehrt mit dem Gewehr umzugehen und sie mit auf die Jagd genommen. Er hatte sie in der Kunst des Jagens unterwiesen, worauf man achten musste, mit welchem Gewehr man einen Elch, ein Dickhornschaf oder einen Grizzly schießen musste. Er hatte ihr gezeigt, wie man das Wild aufbrach, hatte ihr beigebracht Spuren zu lesen, sich lautlos gegen den Wind an das Wild anzupirschen und noch vieles mehr.
Wider Erwarten war Nicks Buch zu einem Bestseller geworden. Dies hatte ihn natürlich bewogen, ein weiteres Buch über die Tiere hier im Nationalpark und über ihr Verhalten zu schreiben. Karin hatte sich hingegen viel mit ihrem Hund beschäftigt, ihn abgerichtet und hatte an Turnieren teilgenommen. Da der Hund ein extrem kluges und lernwilliges Tier gewesen war, war sie bald mit ihrem Schäfer in Zuchtkreisen bekannt geworden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Karin mit ihrem Rüden fast jedes Turnier gewonnen hatte. Durch diese Erfolge motiviert, hatte Karin nach einer passenden Hündin gesucht und fand sie auch. Sie hatte vor, diese Hunde zu züchten, sie abzurichten und dann zu verkaufen. Eine Aufgabe, die ihr großen Spaß gemacht hatte und ihr ein eigenes, kleines Einkommen sicherte. Die Hunde waren auch immer dabei gewesen, wenn sie den Sommer in den Bergen verbrachten. Und Karin hatte sie so trainiert, dass sie sich bald genauso lautlos wie sie selbst durch den Wald bewegten.
Als Karin 24 Jahre alt war, war sie endlich schwanger geworden. Karin hatte einen kleinen, gesunden Jungen geboren, den sie Christopher nannte. Nachdem Chris ein halbes Jahr alt geworden war, nahmen Nick und Karin das Baby bereits in ihr Jagdhaus mit.
Karin hatte nach wie vor Hunde gezüchtet und hatte diese zu erstklassigen Wachhunden ausgebildet. Die Nachfrage war groß gewesen, weil die Tiere aus ihrer Züchtung einen absolut einwandfreien Wesenszug hatten und nicht unter Hüftproblemen litten, was bei dieser Rasse ziemlich häufig vorkam.
Es war kurz vor Chris vierten Geburtstag gewesen. Karin war zu einer Hundeschau nach Edmonton gefahren. Ihre Hündin war zum Züchten langsam zu alt geworden. Aus ihrem letzten Wurf hatte sich Karin bereits eine neue Zuchthündin ausgesucht. Karin war nun auf der Suche nach einem passenden Deckrüden. Die Hundeschau in Edmonton war genau der richtige Ort gewesen, wo man ein intelligentes, charakterfestes, aber auch gesundes Tier finden konnte.
Chris hatte unbedingt zu der Hundeschau mitfahren wollen. Karin hatte es aber abgelehnt, ihn mitzunehmen. Bei dieser Ausstellung hatte sie einen klaren Kopf gebraucht und keine Ablenkung, so dass der Kleine nur im Weg gewesen wäre. Doch Nick hatte sich von seinem Sohn breitschlagen lassen, sodass die beiden einige Stunden später ebenfalls nach Edmonton aufgebrochen waren.
Bei heftigem Regen war ein überholendes Auto ins Schleudern gekommen und gegen Nicks Wagen gestoßen. Die Wucht des Aufpralls war so heftig gewesen, dass sein Van quer über die Fahrbahn geschleudert worden war. Karins Familie hatte keine Chance gehabt. Auf der regennassen Fahrbahn waren dem Truck die Bremsen durchgegangen und er begrub Nicks Wagen unter sich.
Der Tod ihres Mannes und ihres Kindes hatte Karin in eine furchtbare Verzweiflung gestürzt, die bald in eine tiefe Depression übergegangen war. Durch die ständigen Vorwürfe ihrer Schwiegermutter, dass Karin Schuld am Tod ihres Sohnes und Enkels sei, waren ihre Melancholie noch um einiges dramatischer geworden. Karin hatte niemanden gehabt, dem sie sich hätte anvertrauen können. Jeder hatte Nicks Mutter betrauert, doch nur ganz wenige hatten auch nur ein Wort des Trostes für Karin gefunden. Verbittert hatte sie festgestellt, dass sie keinen einzigen Freund oder Freundin hatte. Zu sehr hatten Nick und Karin in ihrer eigenen, kleinen Welt gelebt und waren sich selbst genug gewesen.
Einzig Nicks jüngerer Bruder David hatte sich um Karin gekümmert. Nur er hatte gewusst, wie schlecht es um Karin bestellt war.
Das Haus war völlig vernachlässigt, genauso wie Karin, die nur mehr aus Haut und Knochen bestanden hatte. Karin hatte immer weniger gegessen. Und so wie sie vergessen hatte zu essen, hatte sie auch vergessen den Hunden Futter zu geben. Es hatte bestialisch nach Kot und Urin der Hunde gestunken, weil Karin sie nicht rausgelassen hatte. Als David wieder einmal bei Karin vorbei gekommen war, hörte er die Hunde schon von weitem winseln. Karin war am Boden gelegen und neben eine leere Packung Schlaftabletten.
Ihr Herz hatte noch geschlagen, wenn auch nur mehr ganz schwach. Panisch vor Angst hatte David seinen Finger in Karins Hals gesteckt, damit sie sich übergeben musste. Doch seine Schwägerin reagierte nicht mehr. Dann hatte es David mit Salzwasser versucht. Als er sie bezwungen hatte, die Lösung zu trinken, spuckte und hustete sie und übergab sich endlich. In der Zwischenzeit war die Rettung eingetroffen, die sie in Windes Eile ins Krankenhaus brachte.
Nur mit knapper Not war Karin dem Tod entronnen. Der Genesungsprozess hatte viele Wochen gedauert. Karin war zwar nicht an den Schlaftabletten gestorben, doch ihr Lebenswille hatte sie verlassen. Es hatte daher auch verdammt lange gedauert, bis sie wieder auf dem Weg der Besserung gewesen war.
David hatte sich in dieser Zeit als wirklicher Freund bewährt. Er war es auch gewesen, der Karins Haus wieder in Ordnung gebracht hatte und sich um ihre Hunde kümmerte.
In dem Privatsanatorium hatte man Karin zwar wieder hingebracht. Ihre Depressionen waren zwar weg gewesen, dafür war sie nun von einer grenzenlosen Leere erfüllt gewesen. Als Karin wieder zu Hause war, hatte sie lange überlegt, was sie nun mit ihrem Leben anfangen sollte. In Jasper hatte sie keinesfalls mehr bleiben können. Die bösen Blicke und Gehässigkeiten ihrer Schwiegermutter und deren Freundinnen hätten sie zu oft getroffen. Doch so ganz weg hatte Karin aus Jasper auch nicht gewollt. Nick und ihr Sohn waren hier am Friedhof begraben. Ihr Grab war das einzige gewesen, was Karin noch geblieben war, sodass Karin unmöglich wieder nach Europa zurückkehren hätte können.
Und so hatte ihre Idee in die Berge zu ziehen, immer mehr an Gestalt angenommen. Sie brauchte dort oben nicht viel. Der Wald bot genug zum Überleben. Und wenn sie die Hunde mitnahm und in den Bergen züchtete, so könnte sie auch dort oben die Welpen zu ordentlichen Wachhunden ausbilden, die ihren Lebensunterhalt nebst der Tantiemen aus Nicks Büchern und der kleinen Witwenpension sichern würde. Nick war der offizielle Besitzer des Jagdhauses gewesen. Nach seinem Tod war es automatisch an Karin übergegangen, genauso wie das kleine Häuschen in Japser.
Und so hatte Karin alles für ihren Umzug vorbereitet. Die Liste der notwendigen Dinge war verdammt lang gewesen. Angefangen von Lebensmitteln, Kleidung, Geschirr, Verbandsmaterial, Waffen bis hin zu etlichen Fässer Benzins, mit dem der Generator betrieben wurde, musste alles zum Lake Pleasure hochgeschafft werden. David hatte für den Transport den Lastenhubschrauber organisiert, mit dem normalerweise Gondeln, dicke Drahtseile, Betonsteher für die Schilifte verwendet wurde.
Und so hatte Karin das erste Mal ohne Nick und Chris den Großteil des Jahres in den Bergen verbracht. Anfänglich hatte sie doch ziemliche Angst gehabt, denn Wölfe und Grizzlys waren hier all gegenwärtig. Insbesondere in der Nacht hatte es seine Zeit gedauert, bis das mulmige Gefühl in ihrem Bauch gewichen war.
Ganz langsam hatte Karin wieder zu sich selbst gefunden. Es war einfach gut gewesen, hier oben zu sein, wo Karin durch niemand gestört wurde und wo sie mit ihren Gedanken und ihrer Trauer freien Lauf lassen konnte. Die einzigen Menschen, die sie hier oben zu Gesicht bekommen hatte, waren Joe und Cathy. Im Laufe der Zeit hatte sich zwischen Karin und dem alten Indianerpaar eine schöne Freundschaft entwickelt. Obwohl der Kontakt eher lose war, freute man sich immer wieder sehr einander zu sehen und unterstützte sich gegenseitig, wo es nur ging.
Karin hatte den Winter in Jasper verbracht, nachdem die den Rest des Jahres in den Bergen geblieben war. Doch nachdem ihre Schwiegermutter nichts von ihrer Bösartigkeit eingebüßt und sie nach wie vor mit Vorwürfen überhäuft hatte, hatte Karin langsam wieder ihre Depressionen hochsteigen gespürt. Mit Bedauern hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie mit ihrer Schwiegermutter nicht im selben Ort leben konnte. Karin hatte es daher vorgezogen, auch die Wintermonate am Lake Pleasure zu verbringen, selbst wenn diese hoch oben in den Bergen verdammt hart und gefährlich waren. Doch Karin hatte den harten Winter bei weitem nicht so bedrohlich empfunden, wie die Nähe ihrer Schwiegermutter.
Nur im Frühjahr und im Herbst ging Karin mit ihren Hunden ins Tal, wo sie all die Dinge besorgte, die sie zum Leben brauchte. Das Jagdhaus tief in den Rocky Mountains war zu ihrer Zuflucht, ihrem Asyl geworden.

 

In den vergangenen Wochen hatte John diese introvertierte Frau so gut kennengelernt, um diesen besonderen Vertrauensbeweis schätzen zu wissen. Karin hatte John ihre Herz geöffnet und ihn tief in ihre Seele blicken lassen.
In den letzten Tagen hatte es heftige Schneestürme gegeben, die es unmöglich machten, vor die Tür zu gehen. Doch über Nacht hatte es einen Wetterumschwung gegeben und wider Erwarten lachte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel auf eine tiefverschneite Berglandschaft.
Karin konnte nun endlich zu Cathy und Joe aufbrechen und die Beiden zum bevorstehenden Weihnachtsfest einzuladen.
„Ich werde gleich nach dem Frühstück aufbrechen, so dass ich wieder zurück bin, wenn es dunkel wird“, informierte sie John
„Wenn es Ihnen nicht allzu viele Umstände macht, würde ich Sie gerne begleiten“.
„Das nächste Mal vielleicht. Mit Ihrem noch ziemlich kraftlosen Bein würden Sie die weite Wegstrecke, die zudem noch durch einen nicht ungefährlichen Canyon des Sundwapta Rivers führt, nicht schaffen. Bei diesen Schneemassen muss ich für die paar Kilometer mit weit mehr als zwei Stunden anstrengenden Fußmarsch rechnen. Deshalb werde ich mich auch nicht allzu lange bei meinen Freunden aufhalten und mich gleich wieder auf den Rückweg machen, um noch vor der Dämmerung wieder zu Hause zu sein.“
„Natürlich, ich verstehe“, erwiderte John ein wenig enttäuscht.
Karin kam auf John zu und berührte seine Hand.
„John, es tut mir Leid. Ich hätte Sie wirklich gern mitgenommen“, sagte Karin mit einem bedauerndem Lächeln. „Doch nicht nur Ihr Bein stellt ein Problem dar, sondern Sie selbst.“
„Wie darf ich das verstehen?“, fragte John überrascht.
„Es ist so, dass Cathy und Joe sehr menschenscheu sind. Ich möchte die Beiden nicht einfach überrumpeln, wenn ich Sie im Schlepptau mitbringe. Das Paar ist sehr misstrauisch Fremden gegenüber. Ich muss sie erst darauf vorbereiten, dass ich einen Gast habe.“
„Aber ich beiße doch nicht?“, beharrte John weiter.
„Können sie es nicht verstehen, oder wollen sie es nicht verstehen“, fuhr sie ihn genervt an, während sie eine Schachtel mit Munition aus einer der Küchenladen holte und diese im Rucksack verstaute.
„Es sind Indianer, die ganz anders gepolt sind als weiße Großstadtmenschen. Sie können nicht ganz einfach vor ihrer Tür auftauchen und sagen: Hallo, da bin ich. Diese Menschen tragen noch etwas Wildes und ziemlich Scheues in sich. Um ihre Gunst und um ihr Vertrauen muss man sich echt bemühen.“
Karin nahm ihr Gewehr vom Haken und öffnete den Ladeverschluss, sodass die Läufe mit einem lauten Klicken hinunterkippten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass drei Patronen im Patronenlager steckten, klappte sie ihr Gewehr wieder zu und zog den Gewehrriemen über ihre Schulter.s
„Außerdem fühle ich mich wohler, wenn Sie hier bleiben und ein Auge bei Bonny und die Welpen haben. Ich lasse sie nur sehr ungern so viele Stunden alleine“, fuhr sie nun um einiges sanfter fort.
Obwohl John nicht gerade erfreut war, sah er doch ein, dass Karin Recht hatte. Seufzend begleitete John Karin vor die Tür. Über ihre Biberfellmütze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, zog sie die Kapuze ihres Daunenparkas. Der Schnee reichte Karin fast bis zur Taille. Schnell schlüpfte sie in ihre Schneeschuhe, um nicht völlig zu versinken.
Aufmunternd lächelte sie John zu, dem die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand.
„Kommen Sie schon John. Sie blicken mich an wie ein begossener Pudel“, redete sie auf John wie auf eine kranke Kuh ein. „Die paar Stunden werden Sie sicherlich auch ohne mich zurechtkommen. Ich bin ja spätestens am Nachmittag wieder zurück.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, sagte er mürrisch. „Sie werden mir bestimmt sehr fehlen.“
Langsam erlosch Karins aufmunterndes Lächeln. Seine Worte hatten einen weitaus tieferen Sinn, der Karin nicht entgangen war. Verlegen wich sie Johns intensivem Blick aus.
„Wenn Sie hinaus wollen, dann gehen Sie nicht zu weit vom Haus weg. Der hohe Schnee ist tückisch und man kann leicht ins Leere treten. Für Ihr Bein wäre das nicht so gut“, lenkte sie schnell ab. „Nehmen Sie dann auf jeden Fall eines der Gewehre mit. Nach solch tagelangen Schneestürmen sind die Wölfe ziemlich ausgehungert und unterdrücken ihre angeborene Scheu vor Menschen.“
Karin pfiff nach Clyde, der im Wald verschwunden war. Sofort lief er zurück und blieb an Karins Seite. Zum Abschied winkte Karin John noch einmal lächelnd zu. Doch John erwiderte ihr Lächeln nicht und blickte ihr nur tiefgründig in die Augen. Nervös wandte sich Karin ab. Es war das erste Mal, dass er sie verunsichert sah.

 

John verbrachte den ganzen Tag über im Haus. Er versuchte ein Buch zu lesen. Doch es gelang ihm nicht wirklich, sich auf den Text zu konzentrieren. Er spielte ein wenig mit den tapsigen Welpen, die immer niedlicher, aber auch energischer wurden. Aber schon bald wurden sie wieder müde und schliefen eng aneinander gerollt ein.
Nelson war heute am frühen Morgen schon in den Wald verschwunden. Die vier Tage, wo er nicht hinaus konnte, hatten ihm ordentlich zugesetzt. Unruhig ging er die letzten zwei Tage schon vor der Türe auf und ab. Doch jedes Mal, wenn er seine Nase in den kalten Schneesturm hinaus gestreckt hatte, wandte er sich angewidert ab, außer er musste wirklich dringend für kleine Luchse. Doch heute früh konnte ihn nichts mehr halten und mit einigen kraftvollen Sprüngen war er im Wald verschwunden.
In regelmäßigen Abständen ging John vor die Haustür und hielt nach Karin Ausschau. Er wusste, dass es noch einige Stunden dauern würde, bis sie wieder zurück war. Sie fehlte ihm wirklich. Die letzten drei Wochen waren sie ununterbrochen zusammen gewesen. Doch John hatte kein einziges Mal das Gefühl, dass sie einander auf die Nerven gingen, wo sie doch auf so engem Raum lebten. Komisch, mit seiner Frau war er noch nie drei Wochen in einem Stück zusammen gewesen. Selbst wenn sie Urlaub machten, war Karin ständig unterwegs, ging Golf- oder Tennisspielen, machte Segeltörns oder lernte ganz einfach Leute kennen, wenn sie nicht gerade in der Sonne lag und sich durchbraten ließ. Pamela brauchte die ständige Abwechslung, immer neue Eindrücke und Situationen.
Karin wirkte auf John ganz anders als Pam. Wenn Karin da war, wurde er ruhig. In ihrem Leben gab es keinen Stress. Wie sollte das hier oben auch anders möglich sein. Karin war ein sehr ausgeglichener Mensch, eine Frau, die ihre Mitte gefunden hatte und mit der Natur im Einklang lebte. Alles, was sie tat, war klar und machte Sinn.
John legte sich aufs Bett, um ein wenig zu schlafen. Doch er war zu aufgewühlt, um Ruhe zu finden. So döste er nur vor sich hin. Langsam strich seine Hand über Karin dicke Steppdecke. Schade, dass sie kalt war und sie nicht neben ihm lag. Doch selbst, wenn sie neben ihm schlief, so hätte er sie bestimmt nie berührt, obwohl es in letzter Zeit ziemlich schwierig wurde, es nicht zu tun. Nur eine Strähne ihres Haares hatte er ab und zu in die Hand genommen, um daran zu riechen. John nahm Karins Kissen und drückte dieses auf sein Gesicht. Ihr Duft haftete am Leinen des Überzugs. Tief atmete er ihren Geruch einige Male ein, während John sich vorstellte, wie er Karin küsste.
Energisch warf John das Polster wieder auf seinen Platz zurück. Er musste sich unbedingt zusammenreißen. Seine Phantasie ging schon mit ihm durch. Kein Wunder, es war fast zwei Monate her, dass er Sex hatte. John begann seine Hose aufzuknöpfen. Sein Penis war heiß und hart. Er wollte sich erleichtern und dabei an seine leidenschaftliche und so wollüstige Frau denken. Er schloss seine Augen und stellte sich Pamela vor, wie er sie am Vorabend seiner Abreise in der Dusche genommen hatte. Es war der absolute Kick gewesen, als sie ihren kleinen, geilen Arsch an ihm gerieben hatte, ihm diesen auffordernd entgegen gestreckt und seinen harten Stößen schließlich Paroli geboten hatte. Er stellte sich ihren zarten Körper vor, den er fest und besitzergreifend in seinen Händen hielt. Doch er streichelte nicht Pamelas, sondern Karins etwas fülligeren Po, der sich im entgegenstreckte. Er versuchte Karins Bild weg zu schieben und konzentrierte sich erneut auf Pam, wie ihr rotes Haar sich aus der Spange gelöst hatte und im Strahl der Dusche nass geworden war und an seiner Haut geklebt hatte. Doch ihr Haar war mit einem Mal kastanienbraun. Als ihm Pamela ihr Gesicht zuwendete, blickten ihn nicht smaragdgrüne sondern dunkle, bernsteinfarbige Augen lustvoll an.
John spürte wie seine Erektion nachließ und sein Glied erschlaffte. Was war bloß los mit ihm? Er liebte seine Frau mehr als sonst jemanden. Karin war überhaupt nicht sein Typ. John mochte sie als Freundin und Vertraute, aber doch nicht als Geliebte. Oder etwas doch? Es war höchste Zeit, dass er von hier so bald wie möglich weg kam. Karin drängte sich immer mehr in sein Leben und begann sein stabiles Fundament immer mehr zu erschüttern.
Verwirrt sprang John aus dem Bett und ging in den Wohnraum zurück. Die Uhr zeigte bereits nach 15.00 Uhr. Doch von Karin und Clyde war weit und breit nichts zu sehen. Die Dämmerung würde bald einsetzen und John wurde immer unruhiger. Karin hatte sich bis jetzt noch nie verspätet. Seine wachsende Unruhe wurde noch durch Bonny verstärkt, die leise winselnd bei der Tür stand und an dieser kratzte. John hatte die Hündin erst vor einer Stunde raus gelassen. Es konnte unmöglich sein, dass ihre Blase schon wieder voll war. Es wurde immer später und Karin war noch immer nicht zu Haus. Mittlerer Weile war es fast dunkel geworden. John geriet in Panik und auch Bonny bellte ihn fordernd an. Es musste etwas passiert sein. Doch was konnte er tun? Untätig herumzusitzen und zu warten, war einfach zu wenig. Karin hatte ihn aber gewarnt sich nicht so weit vom Haus zu entfernen. Doch Warnung hin, Warnung her. Sie war nicht da und brauchte vielleicht seine Hilfe. Unwillkürlich musste John an die vielen Schauergeschichten denken, die Karin ihn an den langen Winterabenden über die Wildnis erzählt hatte.
John wurde dabei Angst und bang. Er konnte nicht mehr warten. Rasch zog er seine Skihose und seinen warmen Parka an, holte Nick’s alte Boots aus dem Abstellraum, setzte seine Mütze auf und nahm ein Gewehr und Munition aus dem Schrank. Bonny tänzelte aufgeregt vor ihm her.
„Ja, meine Gute, wir gehen sie jetzt und suchen sie.“
Nachdem John sich vergewissert hatte, dass die Welpen versorgt waren, schnallte er die Schneeschuhe an und schaltete die Taschenlampe ein. Bonny lief vor ihm her. Sie wusste, wo sie suchen musste. Die Abdrücke von Karins Schuhen waren im Schnee deutlich sichtbar. John versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Doch außerhalb des Lichtkegels der Taschenlampe sah er absolut nichts. Er war hochgradig nervös und die Angst saß ihm hart im Nacken. Schussbereit hielt John das Gewehr in seiner Hand und folgte Bonny.
Nach einer halben Stunde anstrengenden Fußmarsches setzten bei ihm die ersten Ermüdungserscheinungen ein. Er hoffte, dass Bonny auf der richtigen Spur war, sodass er Karin bald finden konnte. Zielsicher lief die Hündin vor ihm her. Die Gegend wurde felsiger und unwegsamer. Auch der Pfad wurde schmaler und führte entlang eines tiefen Canyons. Aus der Ferne hörte er das leise Rauschen des Flusses an der Sohle des Canyons. John hatte Angst sich zu versteigen und in den Abgrund zu stürzen. Vorsichtig tastete er sich an der Felswand entlang. Aber nach einigen hundert Metern wurde der Weg wieder breiter und John konnte wieder zügig ausschreiten. Sein Bein begann durch die heftige Belastung immer mehr zu schmerzen. Doch er ignorierte den Schmerz und dachte nur mehr daran, dass Karin irgendwo hier draußen schwer verletzt liegen oder gar tot sein könnte. Dieser schreckliche Gedanke geflügelte ihn und trieb ihn noch schneller voran.
Bonny führte ihn über ein langgestrecktes, baumloses Plateau, das nach ca. 200 Metern wieder in ein dichtes Waldgebiet mündete. Das Rauschen der Nadelbäume vermittelte John das unangenehme Gefühl völlig alleine zu sein. Instinktiv drückte er sein Gewehr noch fester an sich, während er Bonny folgte.
Plötzlich hielt die Hündin inne und spitzte konzentriert ihre Ohren. Keuchend vor Schmerz und Erschöpfung blieb John neben Bonny stehen. Sie hatte etwas gefunden. Jetzt konnte er nur hoffen, dass es Karin war. John nahm Bonny fester an die Leine und feuerte sie an zu suchen. Die triebige Hündin ließ sich nicht zweimal bitten und zog ihn stolpernd mit sich. Mit den riesigen Schneeschuhen hatte John einige Mühe nicht hinzufallen und der aufgeregten Hündin zu folgen.
Bald hörte er ein gefährliches Knurren. Umgehend fletschte auch Bonny die Lefzen und stellte knurrend ihren Nackenkamm auf. Und dann sah er sie endlich. Das Gefühl einer unsäglichen Erleichterung erfasste John. Karin lebte und nur das zählte.
Am Fuße eines aufragenden Felsens kauerte Karin im Schnee. Der Lichtkegel ihrer im Schnee steckenden Taschenlampe erhellte ihr Umfeld nur mehr sehr matt. Doch dann sah er auch schon die Gefahr, vor der Karin ihn so oft gewarnt hatte und panisches Entsetzen erfasste John. Zwei Wölfe belauerten Karin und liefen knurrend vor ihr hin und her. Karin hatte das Gewehr am Lauf genommen und schwang diese wie einen gefährlichen Knüppel den Wölfen entgegen, während sie die hungrigen Biester mit ziemlich heiserer Stimme anschrie. John zählte fünf tote Wölfe im Umkreis des Lichtkegels. Zu seinem Entsetzen sah er auch Clyde, der leblos zwischen den toten Tieren lag.
Bonny riss nun wie verrückt an der Leine. Auch sie spürte die drohende Gefahr, die Bonny aber nur noch mehr anstachelte.. John wollte die Hündin an einem Baum festbinden und danach die beiden Wölfe erschießen. Doch Bonnys Trieb war so heftig, dass sie ungeahnte Kräfte entwickelte und sich von John losriss. In Windeseile legte sie die knappen hundert Meter zurück und griff mit einem gefährlichen Knurren die Wölfe an.
John durfte nun keine Zeit mehr verlieren. So rasch er konnte, lief er hinter Bonny her. Jetzt hatte ihn auch Karin bemerkt, die ihm etwas zurief, das John durch das laute Gebell nicht verstehen konnte. John musste nun verdammt schnell handeln, sonst würden die Wölfe Bonny zerfleischen. Er legte das Gewehr an und zielte auf die Tiere. Doch der Kampf war dermaßen wild und erbarmungslos, so dass John nicht unterscheiden konnte, wen er gerade im Visier hatte. Es war unmöglich zu schießen, ohne dass die Hündin Gefahr lief, getroffen zu werden. Doch wenn er es nicht tat, dann würden die Wölfe Bonny töten.
„Karin ruf Bonny, sonst erschieß ich sie noch!“ schrie John verzweifelt
Karin reagierte prompt und rief nach ihr, so laut es ihre krächzende Stimme es noch zuließ.
Doch Bonny konnte sich nicht mehr befreien. Die Wölfe hatten sich zu tief in sie verbissen, sodass nur mehr ein schmerzhaftes Jaulen von ihr zu hören war.
„John, schieß, schnell!“ schrie Karin panisch vor Angst.
Und John schoss. Er hörte ein Tier laut aufheulen. John stieß ein Stoßgebet zum Himmel, dass er nicht Bonny getroffen hatte. Einer der beiden Wölfe sprang auf und suchte das Weite. Bonny und der andere Wolf waren jedoch im Schnee liegengeblieben.
Entsetzt rief Karin nach Bonny. Doch die Hündin reagierte nicht. So schnell er nur konnte, schnallte John seine Schneeschuhe ab und rannte Bonny, die leblos im Schnee lag. Im Schein der Lampe sah er, das Bonny aus vielen Wunden blutete. Doch besonders groß war der Biss am Hals. Die Hündin wedelte aber noch leicht mit dem Schwanz, als John sie berührte. ‚Gott sei Dank, sie lebt‘, dachte John erleichtert. John lief nun schnell zu Karin. Jetzt konnte er endlich nachvollziehen, wieso sie nicht aufstehen konnte. Karin ist in die Falle eines Fallenstellers geraten. Mit aller Kraft versuchte John die Klappfalle mit seinen Händen auseinander zu ziehen. Doch Spannung war viel zu groß.
„Nimm den Lauf des Gewehrs und versuch es mit der Hebelwirkung. Dann müsste es klappen.“ forderte Karin John hastig auf.
John steckte den Lauf seines Gewehres zwischen die Eisenzähne und dehnte die Eisenklappen so weit auseinander, dass Karin ihren Fuß herausziehen konnte. Dann klappte das Eisen durch die laut schnalzenden Federn wieder blitzschnell zusammen. Karins Fuß war unverletzt geblieben. Ihre dicken Boots hatten den scharfen Eisenzähnen standgehalten. Doch das war für Karin jetzt unwichtig und so schnell sie konnte lief sie zu Clyde. Doch Clyde war tot. Vor Schmerz schluchzend, drückte Karin den Kopf ihres treuen Freundes die Brust. Währenddessen hatte sich John neben Bonny niedergekniet und untersuchte sie vorsichtig. Die Hündin jaulte leise auf, als er ihre Wunden berührte. Bonnys Wimmer riss Karin aus ihrem Schmerz. Entsetzt kam sie zu John gelaufen und ließ sich neben Bonny im Schnee nieder.
„Bonny, nein, nicht auch du. Stirb bitte nicht!“ flehte sie verzweifelt ihre Hündin an und strich über blutiges Fell. John stand auf und zog seinen Parka aus.
„Was machst du?“, fragte Karin und starrte John verwirrt an.
„Deiner Hündin das Leben retten“, erwiderte er nüchtern, während er das schwer verletzte Tier in seinen warmen Daunenparka packte, so dass nur mehr Bonnys Schnauze zu sehen war.
„Aber du erfrierst bei diesen tiefen Temperaturen!“,
„Werde ich nicht“, widersprach John. „Wenn wir sehr rasch gehen und du mir den Weg weist, bleibt mein Körper warm.“
Dabei griff er nach Clydes Leine und verknüpfte diese mit der Kapuze des Parkas, so dass er Bonny wie einen Sack durch den Schnee ziehen konnte.
„Kannst du laufen?“ fragte John Karin, die nur weinend nicken konnte. Noch einmal war sie zu Clyde gegangen und strich ihm zärtlich über das kalte Fell.
„Wir müssen jetzt so schnell wie möglich nach Hause. Bonny blutet ziemlich stark. Sie muss unbedingt verbunden werden.“
„Und was machen wir mit Clyde? Wir können ihn nicht einfach zurück lassen.“
„Karin, Clyde ist tot. Er spürt nichts mehr. Hier liegt nur mehr sein Kadaver. Wir können nichts mehr für ihn tun.“ redete John eindringlich auf Karin ein, während er sich auf den Rückweg machte.
Karin wusste, dass John Recht hatte. Ein letztes Mal nahm sie den Kopf ihres toten Hundes in die Arme und drückte ihn schluchzend an sich. Dann stand sie auf, nahm ihr Gewehr und folgte
John.
Obwohl die Beiden schnell voran schritten und die rasche Bewegung John nicht einfrieren ließ, setzte ihm die Kälte doch höllisch zu. Die eisigen Böen des auffrischenden Windes im freien Gelände fühlten sich wie tausend Nadelstiche auf seiner bereits unterkühlten Haut an, die nur durch einen dünnen Wollpulli geschützt war.
Johns Zähne klapperten so schnell und laut, dass man fast den Eindruck hatte, eine elektrische Nähmaschine sei in Betrieb. Schuldbewusst blieb Karin stehen und begann den Zipp ihres Parkas zu öffnen.
„Was machst du da?“
„Du bist schon ganz blau. Zieh eine Weile meinen Parka an, damit du dich ein wenig erwärmst.“
„Kommt gar nicht in Frage. Lass ihn an. Du liegst schon Stunden im kalten Schnee und bist um einiges mehr durchgefroren als ich.“
„Aber dir ist kalt.“
„Ja, aber nicht so kalt wie dir“, erwiderte er hartnäckig. „Wir haben es nun ja nicht mehr weit. Bis nach Hause halt schon durch.“
Doch so selbstsicher wie John vorgab zu sein, war ihm absolut nicht zumute. John konnte jetzt nur hoffen, dass er mit seinem schmerzenden Bein bis nach Hause durchhalten würde, sonst hätte er ein verdammt heftiges Problem.
Jedenfalls fand John Karins Geste unsäglich liebevoll und selbstlos, sodass er für einen kurzen Moment Schmerz, Wind und sogar die Kälte vergaß.
Nachdem sie den gefährlich, schmalen Pfad durch den Canyon ohne größere Schwierigkeiten zurückgelegt hatten, konnte es nicht mehr lange dauern bis sie zu Hause waren. Lange konnte John jedenfalls nicht mehr durchhalten. Sein Oberkörper war bereits so unterkühlt, dass ere ihn kaum noch spüren konnte. Auch die Erschöpfung setzte John immer mehr zu. Sein gebrochenes Bein schmerzte mittlerer Weile so heftig, dass er es hinkend hinter sich herziehen musste.
Doch John hielt durch. Noch nie hatte er sich so gefreut nach Hause zu kommen. Karin öffnete die Tür und drehte das Licht an. Die Wärme, die ihnen entgegenschlug, tat unendlich gut. Die Welpen lagen verängstigt in der Wurfkiste und winselten leise. Sie waren hungrig und warteten auf ihre Mutter. Doch jetzt krabbelten sie glücklich und mit ihren kleinen Schwänzchen wedelnd aus ihrem Korb. John trug Bonny ins Wohnzimmer. Völlig schlaff hing die Hündin in seinen Armen und zeigte keinerlei Reaktion. Karin blickte John ängstlich in die Augen. Doch wie Karin konnte John jetzt nur hoffen, dass sie noch lebte. Behutsam legte er das schwer verletzte Tier auf den Fliesenboden in der Küche und begann mit klammen Fingern die Verschnürung zu lösen. Die Innenseite seines Parkas war völlig mit Blut durchweicht. John berührte Bonnys Körper und er atmete dann erleichtert durch. Ihr Körper war noch warm und auch ihr Herzschlag war noch zu spüren.
„Sie lebt noch“, lächelte er Karin zuversichtlich an. „Bring mir schnell heißes Wasser, Desinfektionsmittel, Verbandszeug und was zum Nähen.“
Erleichtert lächelte Karin zurück und holte dann schnell die geforderten Materialien. John desinfizierte zuerst die tiefe Bisswunde am Hals und nähte sie dann zu. Anschließend stoppte er die Blutung der weniger problematischen Wunden mit einem Druckverband. Bonny hatte ziemlich viel Blut verloren, doch ihr Herzschlag ging regelmäßig, wenn auch flach. Er bettete die Hündin auf einer alten Decke in der Nähe des Kamins, so dass sie es angenehm warm hatte. Nachdem John alles für Bonny gemacht hatte, was möglich war, brachte Karin die Jungen zu ihrer Mutter. Die Welpen waren schon ziemlich ausgehungert und begannen gierig an Bonnys Zitzen zu saugen.
Nachdem alle Tiere versorgt waren, konnte John seine Erschöpfung nicht mehr zurück halten. Total erledigt ließ er sich auf das Sofa fallen. Ihm war noch immer schrecklich kalt und seine Zähne begannen erneut zu klappern. Doch daran war nicht nur sein unterkühlter Körper schuld, sondern auch der immense Anspannung, die langsam aus ihm wich.
Karin beugte sich über ihn und streichelte zärtlich seine stoppelbärtige Wange. Langsam öffnete er wieder seine Augen und ihre Blicke trafen sich. In Ihren Augen lag so viel Wärme und Gefühl, dass ihm ganz warm ums Herz wurde.
„Ich hab dir ein heißes Bad eingelassen. Es wird dir gut tun und dich wärmen.“
„Ich bin so müde und möchte nur mehr hier liegen bleiben“, erwiderte John total erledigt.
„Nun komm schon, sonst wird das Wasser kalt. Du wirst dich dann bestimmt besser fühlen“, drängte sie und zog ihn an seiner immer noch kalten Hand hoch.
Im Badezimmer war es wirklich wohlig warm. Das heiße Wasser in der Wanne dampfte und ein angenehmer Duft von Melisse und Lavendel hing in der nebeligen Luft. John zog sich aus und stieg in die Wanne. Mit einem wohligen Gefühl der Erleichterung ließ er seinen unterkühlten Körper unter die Wasseroberfläche gleiten und schloss seine müden Augen.
Langsam begann er die vielen Eindrücke der letzten Stunden zu analysieren. John war sehr stolz auf sich, dass er Karin das Leben gerettet hat und es auch noch geschafft hatte, Bonny lebend nach Hause zu bringen. Sein Selbstwertgefühl hatte einen Level erreicht, der durch nichts in seinem bisherigen Leben zu toppen war. Seit John hier in den Bergen festsaß, hatte er heute zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass er Karin nicht unterlegen war. Es tat seinem Ego verdammt gut, dass er die Situation voll im Griff hatte und sich Karin auf ihn verlassen konnte. Außerdem schmeichelte es ihm ungemein, wie bewundernd und dankbar sie ihn angeblickt hatte.
Doch was wäre gewesen, wenn er zu spät gekommen und sie den Wölfen zum Opfer gefallen wäre? Bei dieser Vorstellung lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, der seinen Höhenflug rasch bremste. Letzten Endes war John aber doch unglaublich froh, dass dieses Abenteuer ein glückliches Ende gefunden hatte, wenn auch Clyde als trauriger Wermutstropfen zurückblieb.
Karin hatte währenddessen das Abendessen zubereitet. Bonny lag noch immer reglos auf ihrer Decke. Als John sie berührte, öffnete sie aber ihre Augen und versuchte ihren Kopf zu heben. Doch die Kraft dazu fehlte ihr noch. Als Zeichen ihrer Freude begann sie leicht mit dem Schwanz zu wedeln, während die Welpen wieder satt und zufrieden in ihrer Kiste schliefen. Erleichtert, dass die Hündin auf dem Weg der Besserung war, stand John auf und ging zu Karin in die Küche.
Erst jetzt bemerkte er, wie hungrig er war. Seit dem Frühstück hatte John nichts mehr gegessen. Mittlerer Weile war es acht Uhr abends geworden. Die mit Zwiebel und Speck gerösteten Kartoffeln schmeckten ihm vorzüglich und er langte herzhaft zu.
Karin war aber sehr still. Sie aß ziemlich wenig und ihr Blick wanderte immer wieder zu Bonny. Dann sagte sie leise: „John, was du heute für mich getan hast, werde ich dir nie vergessen. Du hast mir und Bonny das Leben gerettet. Dafür stehe ich tief in deiner Schuld.“
„Nun ja, eine Hand wäscht eben die andere“, lächelte er sie an. „Vor knapp zwei Monaten war ich in einer ähnlichen Situation. Wenn du mich nicht gefunden und mitgenommen hättest, dann wäre ich schon längst ein zu Eis erstarrtes Denkmal.“
„Ich war aber damals nicht in Gefahr, während du dich selbstlos und ohne lange zu überlegen mit deinem noch nicht wirklich belastbaren Bein auf den Weg gemacht hast, uns zu suchen. Noch dazu hast du dich bei Dunkelheit in eine verdammt gefährliche und dir völlig fremde Gegend gewagt“, erwiderte Karin voller Hochachtung. „Es gibt nicht viele, die so mutig gewesen wären.“
„Ich hatte so unglaubliche Angst um dich, dass ich weder an mein Bein, noch an die Gefahren gedacht habe. Ich war nur von dem Wunsch beseelt, dich wiederhaben zu wollen.“
Karin legte ihre Gabel in ihren Teller und blickte John einen langen Moment unverwandt an.
„Ich lebe hier nun schon das siebente Jahr alleine. In dieser Zeit bin ich kein einziges Mal in eine lebensgefährliche Situation geraten. Doch du bist jetzt erst so kurz da und rettest mir das Leben.“
„Das sind wohl die Zufälle des Lebens“, sagte John leichthin.
„Bis jetzt habe ich an so etwas wie Vorsehung nicht geglaubt“, fuhr Karin nachdenklich fort. „Doch irgendwie beginne ich nun an meiner Überzeugung zu zweifeln. Ich fand und rettete dich. Das war schon ein großer Zufall, wenn man bedenkt wie groß und menschenleer der Nationalpark besonders um diese Jahreszeit gewesen ist. Doch er lag durchaus im Bereich des Möglichen. Aber dass ich ausgerechnet in dieser kurzen Zeitspanne in eine echte Lebensgefahr geraten bin und du mich unter sehr erschwerten Umständen gerettet hast, verwundert mich schon etwas. Noch dazu, wo ich diese Strecke fast alle drei bis vier Wochen einmal gehe.“
„Ja, es ist schon eigenartig, dass es solche Zufälle gibt. Aber vielleicht sind wir ja der Schutzengel des Anderen und wir wissen es nur nicht?“ scherzte er lächelnd. Doch dann fuhr er etwas nachdenklicher fort:
„Das Schicksal ist unberechenbar. Wer weiß, mit welchen Überraschungen es für uns noch bereithält.“

 

An diesem Abend ließen sich die Beiden nicht in die bequemen Sofas vor dem Kamin nieder und plauderten munter drauf los, oder lasen in ihren Büchern. Etwas hatte sich grundlegend verändert. Eine kaum zu definierende Schwere erfüllte ihre Herzen, die die traute Leichtigkeit ihrer gegenseitigen Sympathie ziemlich in den Hintergrund drückte. Unkontrollierte Funksignale aus ihrem tiefsten Inneren schufen ein Spannungsfeld, das vor Erwartung und Erregung zu knistern begann.
„Ich bin total erledigt“, sagte Karin unruhig und stand auf. Irgendwie schaffte sie es nicht mehr länger, ruhig neben ihm sitzen zu bleiben. „Ich werde auch noch ein Bad nehmen und dann ins Bett gehen.“
„Ja, ich bin auch total hinüber. Leben retten kann ganz schön anstrengend sein“, versuchte John die befremdende Atmosphäre mit einem Scherz zu entschärfen. Doch irgendwie wollte ihm das nicht gelingen.
Während sich Karin ins Bad zurückzog, kramte John in der Lade des Couchtisches nach seinen Zigaretten. Heute Morgen war die Packung noch fast voll gewesen. Seit John in den Bergen festsaß, hatte er keine Zigarette mehr angerührt. Bis zum heutigen Nachmittag hatte er auch kein einziges Mal das Verlangen nach einer Zigarette verspürt. Mit der Angst um Karin war es aber um seine Abstinenz geschehen gewesen und John hatte sich eine nach der anderen ins Gesicht gesteckt.

 

Aufgeregt suchten seine Finger in der zusammengedrückten Packung. Hatte er denn wirklich schon alle geraucht? Doch dann spürte John den letzten dieser verdammten Glimmstängel und atmete erleichtert durch. Dankbar schob er die Glastür zur Seite und ging auf die Terrasse hinaus, wo er den Nachmittag über im kniehohen Schnee einen langen Rauchpfad getreten hatte.
Der sternenklare Himmel hatte eine kalte Nacht mit sich gebracht. Fröstelnd zog John den Kragen eines von Nicks alten Anoraks hoch und blies den Rauch mit einer dichten Dunstwolke seines Atems vermischt in die Dunkelheit hinaus.
Ziemlich benommen lief John nun wieder seinen Pfad entlang und versuchte Herr seiner wirren Gedanken zu werden. Was war bloß los mit ihm? Gefühle, die ihm bis jetzt völlig fremd gewesen waren, ergriffen immer mehr von ihm Besitz.
Bis jetzt hatte er diese latenten Empfindungen für Karin ziemlich gut wegschieben können. Doch die schreckliche Tragödie des heutigen Nachmittages hatte mit unglaublicher Wucht den Damm seiner Ignoranz gebrochen. Sein Seelenleben wurde von Eindrücken und Sinneswahrnehmungen bombardiert, die völlig neu und ungewohnt schön für ihn waren.
Erst jetzt, wo der Stress vorbei war und sein Adrenalin wieder seinen normalen Pegel erreicht hatte, wurde ihm so richtig bewusst, welch schreckliche Angst er um Karin ausgestanden hatte. Es war aber nicht nur die Angst, seine Wirtin und gute Freundin zu verlieren, nein, es war weit mehr. Es war die Angst um ihn selbst.
Noch vor einigen Wochen hatte John diese Stille hier fast durchdrehen lassen. Jede Faser seines Körpers hatte sich nach Pamela gesehnt, seinem Job und nach seinen Freunden. Doch in den letzten Tagen hatte sich John dabei ertappt, dass es stundenlange Phasen gab, wo er sein altes Leben völlig ausgeschaltet hatte. Wie ein Wirbelsturm hatte ihn Karin unbewusst mit sich gerissen. Ihr natürliches Wesen, die Dinge des Lebens auf das Einfachste zu reduzieren, klar zu denken und danach auch zu handeln, hatten John ganz andere Horizonte eröffnet. Leichte Zweifel waren aufgetaucht, ob sein altes Leben trotz aller augenblicklichen Schwierigkeiten in der Firma wirklich so perfekt war, wie John es sich immer eingebildet hatte. Doch in seinem stressigen Leben hatte er bis jetzt nie wirklich Zeit dazu gehabt, darüber ernsthaft nachzudenken.
Seit er nach dem plötzlichen Tod des Vaters die Firma zusammen mit Philipp übernehmen hatte müssen, waren seine Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, als sich über den wahren Sinn des Lebens Gedanken zu machen. Bis jetzt war Lombard Pharma neben seiner Frau der Sinn seines Lebens gewesen. In den letzten sieben Jahren hatte John kein einziges Mal hinterfragt, ob er dieses Leben auch gewählt hätte, wenn sein Vater nicht so unvorbereitet aus dem Leben geschieden wäre.
Aufgewühlt zog John an seiner Zigarette, so, als ob er an ihr Halt finden hätte können. Sein Festsitzen in den Bergen hatte nicht nur eine räumliche Distanz geschaffen. Sein Leben, das er abseits der Firma geführt hatte, fühlte sich plötzlich eigenartig leer, belanglos und oberflächlich an. Es hatte eines längeren Reifeprozesses bedurft, um sich zu erkennen, woran dieser Umstand lag. Wäre er bei dem Lawinenabgang ums Leben gekommen, dann hätte er nichts Bleibendes hinterlassen, nicht einmal ein Grab, in dem sein Leichnam ruhte. Außer der Firma, die sein Vater geschaffen und die er in seinem Sinn weitergeführt hatte, hätte John nichts hinterlassen, was von Wert und Beständigkeit gewesen wäre. Das gemietete Appartement, dessen Interieur er vom Vormieter fast genauso übernommen hatte und nichts von seiner Persönlichkeit widerspiegelte, würde Pamela bestimmt genauso wie es war an den nächsten Mieter weiter gegeben. Sicherlich hätte sie sich Pamela nach einer angemessenen Trauerzeit einen neuen Lebenspartner gesucht und ihn langsam vergessen. Und Philipp hätte Lombard Pharma bestimmt nach seinen Vorstellungen weiter geführt, sodass sein Geist auch dort bald verblichen gewesen wäre.
Irgendwie fühlte sich John wie Bleistiftkarikatur, die man einfach wegradieren konnte, ohne dass bleibende Spuren auf dem weißen Blatt zurück blieben.
Ganz unbewusst hatte ihm Karin vor Augen gehalten, was wirklich wertvoll und wichtig im Leben war. Mit ihrer Natürlichkeit, verbunden mit den archaischen Grundprinzipien in dieser abgeschiedenen Wildnis, hatte sie ganz einfache und klare Strukturen, wo es kein Wenn und Aber gab, nur ein „es ist“.
Zum ersten Mal schien ihm Pamelas Cousin Pedro gar nicht so lächerlich und bedauernswert, wie ihn der alte Canetti immer darstellte. Trotz all seiner Proteste war Pedro Priester und Missionar geworden. Er hatte dem millionenschweren Unternehmen der Canettis den Rücken gekehrt und war mit nichts als seinem Glauben nach Südamerika ausgewandert. Im Armenviertel Sao Paulos hatte Pedro eine Mission für Waise und jener Kinder geschaffen, die ihre Eltern nicht mehr ernähren konnten. Pedro hatte sich eine riesige Familie geschaffen, mit der, aus der und durch die er lebte. Zum ersten Mal beneidete John diesen Mann, der das geschaffen hatte, was ihm immer gefehlt hatte, doch bis jetzt nie wirklich bewusst geworden war.
Leise murmelte John vor sich hin: „Ein Haus bauen, einen Sohn zeugen und einen Baum pflanzen.“
Wenn er wieder zurück war, wollte er dieses Vorhaben auf seiner „To-do-Liste“ ganz oben hinsetzen. John war bald 42 Jahre alt. Viel Zeit blieb nicht mehr, um mit seinen Jungs noch Baseball zu spielen.
Mit Pamela hatte er nie über eigene Kinder gesprochen. Tief in seinem Innersten wusste John aber, dass seine Frau keine Kinder wollte. Vielleicht ließ sie ja dieser Schicksalsschlag nun auch anders denken und erkennen, dass das Leben aus viel mehr als nur Partys und schönen Kleidern bestand. Sich Pamela als Mutter vorzustellen, fiel aber selbst John ziemlich schwer. Bei diesem Gedanken kam ihm sofort wieder Karin in den Sinn. Wenn sie von ihrem Sohn sprach, dann nahmen ihre Augen einen ganz besonderen Glanz an und sie strahlte etwas ungemein heimelig Weibliches aus. Diese Aura besaßen nur liebende Mütter, die für ihre Kinder alles geben würden. Immer mehr kam John zur Einsicht, dass Karin eine Frau mit ganz besonderen Eigenschaften war. Das Besondere an ihr lag darin, dass sie auf den ersten Blick so gar nicht besonders war und nicht wirklich aus der Menge herausstach. Es hatte seine Zeit gedauert, bis John bereit war zu erkennen, dass es die Summe der positiven und richtig dosierten Eigenschaften war, die sich in Karin in wunderbarster Weise ergänzten und sie zu einem fast vollkommenen Menschen machten.

 

Die Kälte schüttelte John durch. Mit seinen Fingern schnippte er die Kippe in hohem Bogen in den Schnee und ging dann ins warme Wohnzimmer zurück. John hatte keine Ahnung, was das Schicksal für ihn noch bereithalten würde. Doch in einem Punkt war sich John völlig sicher. Er würde nicht mehr als der Mensch zurückkehren, der er noch vor einigen Wochen war.

 

John lag schon im Bett, als er Karin durch das stockfinstere Zimmer schleichen und dann ins Bett steigen hörte. Sein hellwacher Geist lag im argen Gegensatz zu seinem todmüden Körper. John hoffte, dass sich Karin heute nicht an den äußersten Rand ihres Bettes zurückziehen würde, so wie sie es sonst immer tat. Mit stiller Freude registrierte er, dass sie sich nicht nur nicht von ihm wegdrehte, sondern mit ihrem Kissen sogar ein wenig näher an ihn ran rückte. John spürte nun ihren regelmäßigen Atem auf seiner Haut.
„Schläfst du schon, John?“ flüsterte sie.
„Nein, ich bin noch wach.“
Für einen langen Moment herrschte wieder Stille.
„Mir fehlt Clyde so sehr.“ sagte sie mit Tränen erstickter Stimme.
„Oh Karin, es tut mir so schrecklich leid.“ erwiderte John mitfühlend, während er sie instinktiv an sich zog und ihren Kopf auf seine Schulter bettete. „Was ist eigentlich passiert. Du hast noch kein Wort darüber verloren.“
Schniefend wischte sie mit dem Ärmel ihres Pyjamas über ihre laufende Nase und begann mit stockender Stimme zu erzählen: „Am Hinweg verlief ganz normal, außer dass der hohe Schnee ein bisschen hinderlich war. Cathy und Joe hatten sich schon Sorgen gemacht, ob ich dieses Jahr auf sie vergessen habe. Ich entschuldigte meine Verspätung mit dem schlechten Wetter und dass ich einen Dauergast im Haus habe.“
„Und was sagten sie dazu?“
„Sie waren so vor den Kopf gestoßen, dass sie fast nicht kommen wollten. Ich musste meine ganze Überredenskunst aufwenden, um sie breitzuschlagen.“
„Hast du ihnen etwa erzählt, dass ich ein Monster bin?“
“Aber nur ein kleines“, neckte sie ihn.
„Da bin ich ja beruhigt“, schmunzelte John.
„Du musst wissen, dass die beiden nicht unbedingt auf Weiße stehen. Zu viele schlechte Erfahrungen haben bei den Indianern tiefe Spuren hinterlassen. Ich bin die große Ausnahme für sie. Doch wenn du deinen Stadtschnösel in dir versteckt hältst, hast du vielleicht auch eine Chance, akzeptiert zu werden.“
„Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich von der besten Seite zu zeigen.“
„Das wäre echt ein netter Zug von Dir“, erwiderte Karin dankbar.
„Und wie gings dann weiter?“
„Als ich mich nach dem Mittagessen mit Clyde auf den Heimweg machen wollte, drängte mich Joe zu bleiben. Ich sollte die Nacht bei ihnen verbringen und mich erst am nächsten Morgen auf den Rückweg machen. Doch du hättest dir nur unnötige Sorgen gemacht, sodass ich unbedingt aufbrechen wollte. Nur mit Mühe konnte ich Joe davon abhalten, mich zu begleiten. Es war schließlich noch helllichter Tag und alles war in bester Ordnung, so dass ich noch vor dem Einsetzen der Dämmerung zu Hause sein wollte. Doch auf halben Weg fing Clyde plötzlich gefährlich zu knurren an. Auch ich begann die Gefahr zu wittern. Es dauerte nicht lange und ich sah das Wolfsrudel, das uns mit sicherem Abstand folgte. Ich entsicherte mein Gewehr und wir gingen sehr schnell weiter. Die Wölfe rückten aber immer dichter an uns ran, bis uns nur mehr knappe fünfzig Meter trennten. Das Rudel bestand aus sieben Tieren. Sie waren ziemlich ausgehungert und hatten jede Scheu vor Menschen verloren. Auf dem freiliegenden Plateau, wo wir völlig ohne Rückendeckung waren, begannen sie uns dann einzukreisen. Schnell lief ich mit Clyde in den Wald zurück und suchte nach einer geeigneten Stelle, wo ich sie abschießen konnte. Der plötzlich aufragende Felsen war die ideale Rückendeckung. Doch einige Meter davor trat ich mit meinem Fuß direkt in eine von Joes Fallen. Die Wölfe nutzen ihren Vorteil und griffen an. Ich ließ Clyde rasch von der Leine. Ohne eine Sekunde zu zögern lief er dem hungrigen Rudel entgegen und griff es an. In der Zwischenzeit schleppte ich mich samt der schweren Falle zu dem Felsen. Dann lud ich durch und schoss einen Wolf nach dem anderen ab. Doch ich war nicht schnell genug. Denn plötzlich hörte ich Clyde schmerzerfüllt aufheulen und er brach dann im Schnee zusammen. Ich schoss noch einen Wolf ab, doch dann hatte ich keine Munition mehr.
Die letzten zwei Stunden mühte ich mich ab die Springfalle loszuwerden, während ich die beiden übrig gebliebenen Wölfe mit dem Knauf meines Gewehres auf Distanz hielt. Wären die beiden Tiere nicht verletzt und geschwächt gewesen, hätte ich wahrscheinlich keine Chance gehabt sie so lange abzuwehren.
Als die Dämmerung herein brach, wurde meine Hoffnung immer kleiner, die Wölfe in die Flucht schlagen zu können. Ich hatte schreckliche Angst. Doch wie ein Wunder bist du plötzlich aufgetaucht und ich wusste, jetzt war ich gerettet.“
Geborgen kuschelte sich Karin noch tiefer in Johns Armbeuge.
„Und nun liegt der arme Clyde da draußen im kalten Schnee, weil er mir das Leben retten wollte.“
„Gott sei Dank liegt Clyde und nicht du da draußen“, stöhnte John dankbar auf. „Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich zu spät gekommen wäre.“
Instinktiv drückte John ihren weichen und warmen Körper noch mehr an sich. Dicht an ihn geschmiegt, roch er ihren wunderbar zarten Duft nach frischen Äpfeln. Schade, dass dieser widerliche Flanellpyjama zwischen ihnen war. Wie gerne hätte er ihre samtig weiche Haut gespürt.
„Die letzten Stunden mussten schrecklich für dich gewesen sein. Ich hätte mich von dir einfach nicht abwimmeln lassen dürfen und dich begleiten sollen. Doch im Nachhinein ist man immer klüger. Das nächste Mal komme ich mit, ob du das nun willst oder nicht.“
Ohne dass es John bemerkt hatte, war Karin in seinen Armen eingeschlafen. Ein eigentümlich zärtliches Gefühl breitete sich in sanften Wellen in ihm aus. Wie ein Kind lag sie an ihn geschmiegt und schlief tief und fest.
Dieses intensive Gefühl der Nähe und des Vertrautseins, welches ihn so ganz ohne sexuelle Begierde erfüllte, war ihm bis jetzt fremd gewesen. Er wusste nicht, ob er verwirrt, glücklich oder betroffen reagieren sollte. Am Ende seiner Überlegungen entschied sich John aber für Glück und Freude, Gefühle, die er jetzt weit intensiver empfand. Sein Leben war ohnehin total aus den Fugen geraten. In diesem Ausnahmezustand konnte nichts mit normalen Maßstäben gemessen werden. So war auch sein Empfinden für diese friedlich, schlafende Frau hier ganz anders, als für jede andere Frau, die in seinem Leben bisher so wichtig gewesen war. Nicht einmal für Pam hatte er jemals diese Innigkeit empfunden, was John nun selbst ziemlich überraschte und ein schlechtes Gewissen in ihm hervorrief.
Zärtlich hielt John die schlafende Frau in seinen Armen. Als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre, hatte Karin ihr Bein über seine gelegt, während ihre Hand auf seiner Brust ruhte. Lächelnd schloss John seine Augen und schlief glücklich neben ihr ein.

 

Es war verdammt früh am Morgen, als Nelson an den geschlossenen Fensterläden zu kratzen begann. Fast ein wenig widerwillig löste sich Karin aus Johns Armen und öffnete dem Luchs das Fenster. Zufrieden schnurrend rieb er seinen kalten Kopf in Karins Hand, ehe er dem Wohnzimmer zusteuerte, wo er unter seinem Berg von Sofakissen verschwand.
Fröstelnd kuschelte sich Karin wieder unter die Bettdecke. John war enttäuscht. Er wollte sie wieder so eng an sich geschmiegt spüren, wie noch vor wenigen Sekunden. Im Dunkeln suchte seine Hand nach ihr und zog sie wieder an sich ran. Der erwartete Widerstand war ausgeblieben. Karin schmiegte sich wieder ganz eng an ihn ran und John atmete zufrieden durch. Der Zauber der letzten Nacht hielt also noch immer an.
Zärtlich bettete John ihren Kopf wieder in seine Armbeuge und drückte vertrauensvoll ihre kleine, raue Hand. Dann zog er diese ganz sachte zu seinen Lippen hoch und küsste ihre schwielige Handfläche. Das leichte Zittern ihres Körpers war John nicht entgangen. Er spürte den Widerstand ihrer Hand, die Karin instinktiv zurückziehen wollte. Doch John hielt sie fest.
Ein sehnsüchtiges Verlangen begann von nun ihm Besitz zu ergreifen. John wollte nicht nur die Innenseite ihrer Hand küssen, sondern jede Stelle ihres Körpers mit seinen Lippen erkunden.
Als Karin seine Zunge in ihrer Handfläche spürte, hielt sie ihren Atem an, wollte ihre Hand aber nicht mehr zurückziehen. Ihr stoßartiger Atem zeigte John, wie aufgewühlt sie war. Johns Hand tastete nach ihrem Kinn, dass er langsam zu sich hochzog. In der Dunkelheit konnte er sie nicht sehen, so dass seine anderen Sinnesorgane noch sensibler reagierten und jede kleinste Veränderung wahrnahmen.
Ganz sanft streichelte er mit seinem Daumen über ihre warmen Lippen. Dann beugte sich John zu ihr hinab und küsste zärtlich ihren Mund. Unter dem sanften Druck seiner fordernden Zunge, öffnete Karin schließlich ihre Lippen. Er hörte ihr kurzes, lustvolles Aufstöhnen und all ihre Vorbehalte schienen vergessen zu sein. Unglaublich weich pressten sich ihre warmen und vollen Lippen ihm entgegen, während ihre Zunge John auf zärtlichste Weise willkommen hieß. Es war unbeschreiblich, wie sehr John diese einladende Geste stimulierte.
Am liebsten hätte er jetzt seiner geballten Leidenschaft freien Lauf gelassen und Karin im Sturm erobert. Doch John wusste, dass er sich beherrschen musste und nichts übereilen durfte. Diese sonst so taffe Frau fühlte sich in seinen Armen wie ein fragiler Schmetterling an. Jeder zu harsche Vorstoß würde ihre ohnehin schwer angeschlagene Gefühlswelt erschüttern und sie zurückweichen lassen.
John hielt sich unter Kontrolle und versuchte mit ihrer zaghaft steigenden Leidenschaft im Gleichklang zu bleiben. Nur zu gut konnte er fühlen, dass Sexualität nicht auf ihrer Tagesordnung stand. Ihre Schüchternheit verblüffte John nicht nur, sondern ließ ihn auch ahnen, dass Karin seit Nicks Tod mit keinem Mann mehr geschlafen hatte. Dieser Umstand veranschaulichte John aber auch sehr deutlich, welch unglaubliches Vertrauen diese Frau in ihn setzte.
Für einen kurzen Moment fühlte sich John dieser Verantwortung nicht gewachsen. Hatte er denn ein Recht, dieses Geschenk anzunehmen?
„Was ist?“, hörte er Karin plötzlich flüstern.
„Tun wir das Richtige, Karin?“
Voller Wärme küsste sie ihn.
„Keine Ahnung. Doch es ist schon so wahnsinnig lange her, dass ich mich so lebendig gefühlt habe“, sagte Karin voller Zuversicht. „Deshalb liebe mich so, als ob es kein Morgen mehr geben würde.“
Ihre Aufforderung beflügelte John so, dass die mahnende Stimme in ihm erlosch. John drehte Karin auf den Rücken, so dass seine Arme ihren warmen und weichen Körper völlig umfangen konnten. Vorsichtig ließ er sich auf ihr nieder und küsste sie ohne Unterlass.
Seine Hand glitt unter ihren Pyjama, damit er endlich ihre Haut spüren konnte. Oh ja, sie fühlte sich genauso himmlisch an, wie er es sich seit ihrem ersten Besuch in der Grotte vorgestellt hatte. John streifte ihr scheußliches Nachtgewand ab, genauso wie er es mit seiner eigenen Pyjamahose tat. Endlich hatte er Karin so, wie er es sich seit langem ersehnt hatte. Seine wissenden Hände strichen über ihren geschmeidigen Körper, worauf Karin stöhnend reagierte. Alle Schüchternheit war nun von ihr gewichen und ohne Einschränkungen gab sie sich seinen Liebkosungen hin.
Ihr nackter Körper belebte ihn ungemein. John wusste nicht, ob seine extreme Geilheit auf den langen Sexentzug zurück zu führen war, oder weil er sich insgeheim schon so lange begehrte.
Mit seinen Lippen tastete er nun nach ihren Augen, Ohren und Mund. Seine Hände streichelten ihren Hals, ihre Arme und schließlich ihre Brüste. Oh Gott, er hatte schon ganz vergessen wie es war, wenn seine Hände und Lippen sich an einer vollen, weiblichen Brust labten. Mit seinen Händen türmte er sie zu zwei mächtig aufragenden Hügeln, zwischen denen er dankbar sein Gesicht vergrub.
Sein hartes, pulsierendes Glied rieb hart an der Innenseite ihrer Oberschenkel. Am liebsten wäre sofort in sie eingedrungen. Doch er wollte diesen süßen Moment der Erwartung so lange wie nur möglich hinauszögern. Er wollte sie locken, sie kommen lassen, bis sie ihn anbetteln würde, sie endlich zu nehmen. Seine Zunge wanderte immer tiefer, über ihren Nabel zu ihrem Venushügel, den er durch ihre leicht gekrauste Schambehaarung zu stimulieren begann. Er hörte ihren schweren Atem und wusste, dass er das Richtige tat. Mit stockendem Atem drückte sie seinen Kopf noch tiefer in sich hinein. Er spürte ihre Nässe, was ihn noch mehr geflügelte. Wie eine Schlange wand sie sich unter seinen Liebkosungen, bis sie sich ihm schließlich laut aufschreiend entzog. Zärtlich streichelte er ihren vibrierenden Körper, bis sie sich zu ihm empor hob und ihn leidenschaftlich und fordernd zu küssen begann.
Die Wellen seiner Erregung blieben nicht aus. Karin küsste sein pulsierendes Glied, worauf John hastig nach Luft schnappte. Es war ein unendlich schönes Gefühl zu spüren, wie Karin auf jeden Laut, jede Bewegung von ihm reagierte. Ihr ausgeprägtes sensitives Empfinden, das sie nun sehr bewusst einsetzte, verblüffte ihn restlos. Er war dem Zerspringen nahe. John konnte nun nicht mehr warten, bis sie ihn bat sie endlich zu nehmen. Er hob sie zu sich hoch und küsste sie voller Leidenschaft. Dann drückte er sie sanft in das Kissen und in freudiger Erwartung drang er in sie ein. Für einen Moment hielten die Liebenden von unglaublichem Glück beseelt ihren Atem an. Doch so, also ob ein imaginärer Startschuss ertönte, ließen sie plötzlich ihrer so lange aufgestauten Lust freien Lauf und mit animalischer Gier fielen sie übereinander her. Noch nie hatte John so eine Heftigkeit, wie auch Hingabe erlebt. Ihr Liebespiel glich einem argentinischen Tango. Ein wunderbares Zusammenspiel zweier Körper, die wild, hemmungslos und exzessiv aufeinander reagierten. Entrückt von Zeit und Raum tauchten sie immer mehr in den Fluss dieser mitreißenden Leidenschaft ein. Gegenseitig trieben sie sich immer höher und höher, bis ihre Körper und Seelen diesem enormen Druck nicht mehr standhalten konnten und ineinander explodierten. Nur langsam ebbte ihre Leidenschaft ab und erschöpft von zu viel Glück schliefen sie eng ineinander verschlungen ein.
Die Sonne schien schon durch die Ritzen der Fensterläden, deren helle Strahlen im Schlafzimmer in ein diffuses Licht hinterließen. John erwachte zuerst und ein unglaubliches Gefühl von Wärme stieg in ihm wieder auf, als er Karin an sich geschmiegt fühlte.
John hatte zwar vermutet, dass in Karin eine leidenschaftliche Frau steckte. Doch wie herrlich ihre Hingabe wirklich war, überschritt selbst seinen Horizont, sodass John die nachhallenden Wellen selbst nach Stunden immer noch schweben ließen.
John versuchte seinem euphorischen Höhenflug einen Riegel vorzuschieben. Bestimmt empfand er diese besondere Hingabe deshalb so intensiv, weil extreme Situationen auch extreme Begierden und Handlungen freisetzten.
Durch das automatische Streicheln ihres Arms wurde Karin langsam wach. Mit blinzelnden Augen hauchte sie ihm lächelnd ein ‚guten Morgen“ entgegen. John küsste zärtlich ihre Stirn und drückte sie wieder fester an sich. Sie roch an seinem Gesicht und Hals und sagte schließlich:
„Du riechst so wollüstig.“
„Ich glaube, alles hier riecht danach, was mich nach diesem leidenschaftlichen Intermezzo nicht verwundert“, stellte John zufrieden fest.
„Ja, das war wunderschön. Du hättest mich schon viel früher auf deine Talente aufmerksam machen sollen“, neckte sie ihn.
„Nun ja, noch ist nicht aller Tage Abend und wir können ja Versäumtes in diesen kalten Wintertagen und vor allem in den langen Nächten nachholen.“
„Sie vorsichtig, so nehme ich dich beim Wort.“
„Ich hoffe, dass du mich nicht nur beim Wort nimmst“, konterte er mit einem frivolem Lächeln auf den Lippen.
„Nein, das ist mir zu wenig“, schüttelte Karin energisch den Kopf. „Ich nehm dich mit allem was du hast.“
Dann küsste sie John schnell auf die Lippen und hüpfte aus dem Bett. „Doch vorher kommt die Pflicht.“

 

Während Karin das Frühstück vorbereitete versorgte John die Wunden Bonnys. Die Hündin war zwar noch ziemlich schwach, doch sie wedelte erfreut mit dem Schwanz, als John vorsichtig untersuchte. Auch den Welpen ging es gut. Gott sei Dank war Bonny’s Milchfluss nach diesem schrecklichen Zwischenfall nicht versiegt. Sie fraß auch wieder, was ein gutes Zeichen war.
Die Atmosphäre zwischen John und Karin hatte sich seit diesem Morgen grundlegend verändert. Obwohl beide schon seit einigen Wochen ein sehr inniges Verhältnis zueinander aufgebaut hatten, so war nun auch jene Intimität zu spüren, die ihr Miteinander erst zu einem vollständigen Ganzen gemacht hatte. Man war nun nicht mehr darauf bedacht den körperlichen Kontakt so gut wie möglich zu vermeiden, man suchte diesen nun geradezu. Jede Gelegenheit war willkommen, um den anderen zu streicheln, zu drücken und zu küssen. John kannte an sich diese Seite gar nicht. Wenn Pamela ihn berührte, so waren ihre Berührungen meist lasziv, fordern, zielorientiert. Selten kam sie auf ihn zu und nahm ihn in ihre Arme, nur weil es ihr ein Bedürfnis war, seine Nähe zu spüren. Bis jetzt war ihm dieses Detail auch nicht wirklich aufgefallen. Erstaunt stellte er fest, wie ungemein wohltuend und bereichernd diese Berührungen waren, die oft so absolut nichts mit Sex zu tun hatten.
Karin schien wie verwandelt zu sein. Sie lachte, scherzte und strahlte vor Freude und Glück. Selbst Clydes Tod lastete nun nicht mehr so bedrückend auf ihrer Seele, weil sie ganz einfach zu schweben schien. Auch John fühlte dieses Band der Leichtigkeit, der Nähe und Verbundenheit. Er konnte sich an ihren lachenden Augen, die ihr Glück so offen zeigten, einfach nicht satt sehen.

 

Doch so ganz unbeschwert wie Karin konnte er dieses Hochgefühl nicht genießen. John wusste, dass dieses harmonische Miteinander nur ein Zwischenspiel war. Seine Skrupel setzten ihm auch immer mehr zu, wenn er nachts an die Zukunft dachte. Realität war nun einmal, dass er verheiratet und Chef eines Unternehmens war, das ihn früher als ihm lieb war, wieder voll in Anspruch nehmen würde. Wenn er Pamela nur mit seinem Körper betrogen hätte, hätte John nicht wirklich ein Problem damit gehabt. Es wäre einfach nur Flüssigkeitsaustausch gewesen, der sein Testosteron im Normalbereich hielt. Doch Karin war für ihn niemals ein Mittel zum Zweck gewesen. Diese Frau war alles andere, nur kein Sexabenteuer. Sie erfüllte und bereicherte seinen Geist und seine Seele. Karin brachte Saiten in ihm zum Schwingen, von denen er nicht ahnte, sie in sich zu tragen. John konnte nichts daran ändern, dass er sich immer mehr in Karin verliebte. Doch er liebte auch Pamela. Zwei Frauen, so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und doch wirkten beide auf ihn so betörend und anziehend, dass er auf keine verzichten wollte. John wusste aber, dass er keine Wahl hatte und Karin in ein paar Wochen verlassen musste. Sein Leben fand nun einmal in einer anderen Welt statt, die absolut nichts mit dieser hier gemein hatte. Wie er es auch drehen und wenden mochte, der Schmerz am Ende dieser Zeit war so sicher wie das Amen im Gebet.
Wieder einmal begann sein schlechtes Gewissen an ihm zu nagen. Übermorgen war Weihnachten. Wo würde Pamela das Fest verbringen? Würde ihr überhaupt zum Feiern zumute sein? Sicherlich würde sie vor Sehnsucht nach ihm vergehen, während er hier einen netten und fröhlichen Abend genießen würde.
John war verzweifelt. Vorsichtig löste er sich aus Karins Armen und stand auf. Es war noch etwas Glut im Kamin, auf die John einige Scheite legte. Sofort fingen sie Feuer und die hellen Flammen warfen ein weiches Licht in den dunklen Raum.
Seufzend ließ sich John auf das breite Sofa nieder und beobachtete den unruhigen Tanz der Flammen. So tief in seine Gedanken versunken, hörte er Karin nicht, die plötzlich hinter ihm stand und ihre Hände sanft auf seine Schulter legte. Zärtlich küsste sie sein wirres Haar:
„Kannst du nicht schlafen?“
„Nein, ich bin ziemlich aufgewühlt und versuche gerade das Chaos meiner Gedanken zu ordnen.“ erwiderte er traurig.
Für kurze Zeit schwiegen beide, bis Karin mit sanfter Stimme fragte:
„Du machst dir Gedanken, was sein wird, wenn die Schneeschmelze einsetzt, nicht wahr?“
John nahm Karins Hände von seinen Schultern und drückte sie zärtlich an seine Brust.
„Ja, sie wollen mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.“
„Und wo liegt das Problem?“
„Komm her“, forderte er Karin auf und zog sie zu sich aufs Sofa. Auf seinem Schoß kuschelte sie sich in seine Arme und drückte ihre Lippen auf seine bärtige Wange. Diese liebevolle Geste machte es ihm nicht unbedingt einfacher, die passenden Worte zu finden.
„Ach Karin, du hast keine Ahnung wie zerrissen ich bin“ sagte er traurig. „Mit dieser Veränderung hatte ich nicht gerechnet. Es war so einfach, sich hier fallen zu lassen, so mühelos meine Sorgen und Nöte zu vergessen, so unkompliziert mich auf dich einzustellen und zu erkennen, dass es im Leben noch so vieles mehr gibt, das es wert ist zu erforschen und kennen zu lernen.“
„Und darunter leidest du?“ fragte sie erstaunt und strich ihm zärtlich die dunkle Haarlocke aus seiner Stirn.
„Ja, weil ich weiß, dass diese Zeit hier eine gestohlene Zeit ist. Und je länger ich hier bin und mich mit den Dingen zu identifizieren beginne, umso mehr beginne ich auch an ihnen zu hängen. Mein anfänglicher Widerwille wandelte sich im Laufe der Wochen in ein äußerst positives Empfinden. Und der Auslöser dafür warst du. Auf deine natürliche und unaufdringliche Art hast du mir beigebracht, die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu erkennen und zu verstehen.“
Mitfühlend lächelte sie ihn an: „Ach John, wieso bist du nur so entsetzlich kleinkariert und egoistisch zu dir selbst? Wieso betrachtest du diese Zeit hier nicht als eine Art Weiterbildungsseminar? Du nimmst dir so viel Schönes, weil du jetzt schon Vorschuss auf Zores nimmst. Im Leben kann man nicht alles haben. Doch wenn du beginnst zu akzeptieren, diese geliehene Zeit als Geschenk zu sehen und im Jetzt und Heute zu leben, anstatt mit deinem Schicksal zu hadern, so wirst du bald erkennen, dass Dein Fühlen und Denken ein wesentlich breiteres Spektrum gewinnt, das dir niemand mehr nehmen kann und das durch keine Grenze beschnitten und eingeengt wird.“
Lange Zeit sah John auf Karin herab. Ihre Aussage verblüffte ihn. Sie, die letztendlich viel mehr verlieren würde als er, weil ihr Leben dann noch einsamer sein wird, als es vorher schon war, sprach im Trost und Zuversicht zu.
„Aber denkst du nicht daran, dass wir uns vielleicht nie mehr wieder sehen werden, wenn ich einmal weg bin?“
Unergründlich lächelte sie ihn an: „Wer weiß schon, was das Leben uns noch bringt? Wenn es uns wirklich bestimmt sein sollte, dass wir uns nie mehr wieder sehen werden, so werde ich das akzeptieren. Doch niemand kann mir die Erinnerung an diesen besonderen Winter nehmen. Du hast mir ein Glück geschenkt, mit dem ich nicht mehr gerechnet habe. Und dafür bin ich zutiefst dankbar. Darum versuche nicht ständig alles zu hinterfragen und dir den Kopf über die Zukunft zu zerbrechen, sondern nimm das Geschenk an und genieße diese Zeit, die wir miteinander haben.“
Langsam stand sie auf und zog ihn mit sich hoch. Im Schlafzimmer öffnete zuerst ihren, dann seinen Bademantel und begann John zärtlich zu küssen und zu streicheln. Bedacht darauf, dem Anderen zu zeigen, wie sehr man ihn schätzte und mochte, war dieser Akt kein hemmungsloses Spektakel der Ekstase, das in einem wilden Crescendo der Lust und Leidenschaft sein furioses Finale fand, sondern die eher sinnliche Vereinigung des Geistes und der Seele, wo Demut und Dankbarkeit für all das Schöne, dass sie miteinander erleben durften, in diesem Moment der Verschmelzung eine besondere Betonung erfuhr.

 

Seit dieser Aussprache hatte John das Gefühl, dass eine schwere Last von seinen Schultern gefallen war. Er war ruhiger geworden und erfreute sich wieder an den kleinen Besonderheiten, die das Leben hier bot. Doch die Wehmut, dass er sie verlieren würde, verließ ihn nie ganz. Seit dieser besonderen Nacht war sich John gewiss, wie sehr er Karin liebte.

 

 

- 6 -

 

Weder Pamela noch Philipp waren begeistert, die Weihnachtsfeiertage gemeinsam verbringen zu müssen. Doch der Schein musste nun einmal gewahrt bleiben. Pamela war daher heilfroh, dass sie und von ihrem Onkel zu den Weihnachtsfeiertagen in sein Haus eingeladen wurde. Der kleine Wermuttropfen war aber Philipp, der leider auch mitkommen musste. Doch unter den vielen Gästen konnte Pamela ziemlich gut untertauchen, um den anklagenden Blicken dieses Jammerlappen zumindest stundenweise zu entgehen.
Nachdem Philipp aus Jasper zurückgekehrt war, zog er umgehend bei Pamela ein. In der Öffentlichkeit spielten sie das glückliche Ehepaar. Doch kaum waren sie in ihren vier Wänden alleine, herrschte Eiseskälte zwischen ihnen. Dieser Umstand hatte Pamela aber nicht davon abgehalten, mit ihm ins Bett zu gehen. Pamela war nicht unbedingt für sexuelle Enthaltsamkeit geschaffen. Und wenn sie Philipp schon erdulden musste, dann sollte zumindest ein bisschen Spaß dabei rausspringen. In der jetzigen Situation konnte sich Pamela absolut keinen Lover leisten. Die Gefahr war einfach zu groß ins schiefe Licht zu geraten. Außerdem waren Philipps Liebeskünste gar nicht so schlecht gewesen, auch wenn er sich ihrem Druck nur widerwillig gebeugt hatte.
Anfänglich hatte Pamela seine Abscheu so richtig angetörnt, weil sie es immer wieder schaffte, ihn gegen seinen Willen scharf zu machen. Es hatte ihr gefallen, Philipp zu beherrschen und ihn zu ihrer Marionette zu machen. Doch nachdem ihre Lust gestillt war, blieben trotz sexueller Höhenflüge nur ein bitterer Nachgeschmack und eine verdammt große Leere zurück. Philipp war eben nicht John, auch wenn Pamela noch so bemüht war, ihren Mann zu vergessen.
Ihr Unbehagen gegenüber Philipp verstärkte sich aber zusehends, sodass auch Pamelas sexuelles Verlangen immer geringer wurde, bis es schließlich völlig verschwunden war. Ihr Ziel war jetzt nur mehr dahin ausgerichtet, dieses makabre Schauspiel zu beenden, um endlich wieder ein normales Leben nach ihrer Vorstellung führen zu können.
Pamela freute sich auf ihren Onkel. Weihnachten war die einzige Zeit im Jahr, wo Ernesto Canetti einen Gang zurückschaltete. Es würde eine Wohltat sein mit ihm wieder einmal über andere Dinge als nur über Geschäfte zu sprechen, mit ihm lange Spaziergänge unternehmen und zusammen seine Lieblingslokale aufsuchen. Sicherlich würde man nicht drum herum kommen, die weitere Vorgangsweise bei Lombard Pharma und das Forschungsprojekt RNV3 zu besprechen. Dies war auch einer der Gründe, wieso Philipp eingeladen wurde.
Während Pamela durch das stille Haus ging, war ihr nicht entgangen, dass ihre gottesfürchtige Tante Emilia immer skurriler wurde. Nicht nur, dass sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Frömmigkeit zur Schau trug, so nahm auch der sakrale Touch im ehrwürdigen Haus der Canettis mit jedem Jahr zu. Immer mehr Heiligen- und Märtyrerbilder ersetzten die Ölbilder und Aquarelle der alten Meister an den hohen Wänden des riesigen Backsteinhauses. Aber auch auf den Tischen und Kommoden hatten Konfektschalen und Familienfotos kitschigen Engelsstatuen und anderem sakralen Zeugs weichen müssen. Als besonders schrecklich empfand Pamela die kleinen, aber aufwendig geschmückten Altäre zu Ehren des heiligen Ignazius von Loyola und der unbefleckten Jungfrau, die ihren fixen Platz in den weitläufigen Gängen des Hauses gefunden haben.
Im Rausch ihres ausufernden Größenwahns hatte Tante Emilia eine Kapelle im Park errichten lassen, zu der Pamela gerade unterwegs war. Anfänglich hätte es eigentlich nur ein größerer Bildstock mit einer aus Stein gemeißelten Pieta werden sollen. Doch der geschäftstüchtige Architekt hatte ein bei Tante Emilia ein lukratives Geschäft gewittert und sie zu einer kleinen Kapelle überredet, die Onkel Ernesto ein kleines Vermögen gekostet hatte.
Pamela konnte sich noch gut an den Tobsuchtsanfall ihres Onkels erinnern, als ihm Tante Emilia die Rechnung vorlegt hatte. Dabei war Tante Emilias Hals immer länger geworden. Mehr denn je erinnerten ihre Hakennase und die leicht vorstehenden Augen an einen Geier. Die grenzenlose Verachtung für ihren Mann stand der hageren Frau ins Gesicht geschrieben, während sie die Standpauke reglos über sich ergehen ließ. Als Onkel Ernesto endlich die Luft ausgegangen war, stand sie auf und zischte ihn mit kalter und hasserfüllter Stimme an:
„Am Jüngsten Tag wird dich Gott in die tiefste und finsterste Höllengrube schleudern, wo du in den lodernden Flammen und unter schrecklichem Schwefelgestank und lautem Getöse für deine Sünden unter größten Qualen büßen wirst.“
„Das mag vielleicht sein“, schrie er sie von unbändigem Zorn erfüllt an. „Doch es ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich jetzt eine Rechnung zu bezahlen habe, die weit über die veranschlagten Kosten hinausgehen.“
Unbeeindruckt zog Tante Emilia ihre dürren Schultern hoch. „Na und?“, erwiderte sie herausfordernd. „Mit der Mitgift, die dir mein Vater in den Rachen geschoben hat, hätte man locker zehn Kapellen bauen können. Also tu nicht so, als ob du jetzt den großen Gönner spielen müsstest.“
Ohne noch eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich von ihrem wütenden Mann ab und ging zur Tür. Doch bevor sie sein Büro verließ, drehte sie sich noch einmal um schleuderte ihm entgegen: „Sieh es als kleine Wiedergutmachung für all das Böse, das sich in deiner verdammten Seele angehäuft hat.“
Und ohne Pamela auch nur eines Blickes zu würdigen, rauschte sie durch den langen Gang davon.
Natürlich war Pamela auf die Kapelle neugierig, die vor mehr als zwei Monaten so viel Missstimmung zwischen dem Ehepaar verursacht hatte.
Onkel Ernesto hatte den Streit aber auch gleich als willkommene Gelegenheit genutzt, in sein gediegenes Appartement in der Innenstadt zu ziehen. Um den Schein zu wahren, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Weihnachtsfeiertage im Kreise der Familie verbringen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sein Sohn nach langen Jahren der Abwesenheit dieses Weihnachtsfest zu Hause feiern würde.
Die Christmette war die erste offizielle Messe, die in der Kapelle abgehalten werden sollte. Und niemand geringerer als der eigene Sohn sollte sie einweihen. Sein Auftritt als Priester würde Tante Emilias ganz besonderes Highlight sein. Schon seit Monaten war sie für diesen besonderen Tag aktiv geworden, damit diese Festlichkeit mit größter Perfektion und Sorgfalt über die Bühne gehen konnte.
Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als Pamela durch den Park ging. Während der letzten beiden Tage war ziemlich viel Schnee gefallen. Doch Tante Emilia hatte bereits einen breiten Weg zwischen dem Haus und der Kapelle schaufeln lassen, um den Gästen einen ungehinderten Zugang zu bieten.
Überrascht betrachtete Pamela nun das zierliche Gotteshaus, das unter der schweren Schneedecke fast zu ersticken drohte. Man konnte ihrer Tante vieles nachsagen, aber nicht, dass sie stillos war und keinen Geschmack besessen hätte. Ihr ausgeprägter Sinn für Ästhetik hatte sich in diesem kleinen Kunstwerk voll entfalten können. Das im italienisch-gotischen Baustil gehaltene Kirchlein bestach durch seine klare, einfache Form. In den großen, spitz zulaufenden Fenstern war buntes Glas eingeschnitten, aus dem nun gedämpftes Licht nach außen drang. Das steile Dach mit seinem hohen, spitzen Glockentürmchen strebte förmlich zu Gott empor. Nur der durch Säulen getragene Eingang wirkte auf Pamela ein wenig protzig.
Die schwere Eichentür des einschiffigen Gotteshauses war nur angelehnt. Sofort stieg Pamela der aromatische Duft des Weihrauchs in die Nase, der in Pamela die verhassten Erinnerungen an die sonntäglichen Kirchgänge mit Tante Emilia und Pedro wachriefen.
Doch schnell vergaß sie diese wieder, als sie die harmonische Innengestaltung überrascht innehalten ließ. Auch hier drinnen standen die vertikalen Bauelemente im Vordergrund. Die angedeuteten Säulen gingen in ein kunstvolles Gewölbe über, so wie es in den großen Kathedralen der Fall war. Das Prunkstück war aber der aus rohem Sandstein gearbeitete Altar, der auf einer erhöhten Plattform am Ende des Kirchenschiffes stand. Der Opfertisch wirkte durch seine einfache und plumpe Form ein wenig widersprüchlich zu den zierlichen Kirchenbänken und den feinen Glasmalereien in den Bleiglasfenstern. Doch gerade dieser Kontrast stellte einen besonderen Reiz dar. Einziger Schmuck des Altars war das Kruzifix, das wie ein Auswuchs des Sandsteines wirkte.
„Hallo Pam“, hallte plötzlich eine tiefe Stimme durch die Kapelle und Pamela erschrocken zusammenzucken ließ. „Dass gerade du der erste Gast bist, der Gott seine Aufwartung macht, lässt mich doch etwas staunen.“
„Wer sind sie?“, fragte Pamela neugierig und versuchte den im Halbdunkeln sitzenden Mann in der letzten Kirchenbank zu erkennen.
Der fremde Mann stand auf und ging langsam auf Pamela zu.
„Habe ich mich denn so verändert, dass du mich nicht mehr wiedererkennst?“, fragte er erstaunt und trat in den matten Lichtkreis der brennenden Kandelaber.
„Pedro?“, fragte sie zweifelnd und ging einen Schritt auf ihn zu.
Das letzte Mal hatte Pamela ihren Cousin bei seiner Weihe zum Priester in der St. Mary’s Cathedral gesehen. Damals hatte er noch den Ansatz roter Pausbacken gehabt. Außerdem war seine damalige Soutane bestimmt um einige Nummern größer gewesen, als die, die er jetzt trug. Von dem pummeligen Jungen, der im Pausenhof so oft das Opfer Halbstarker geworden war und für den Pamela in die Bresche springen musste, war absolut nichts mehr übrig geblieben. Entbehrungen und harte Arbeit spiegelten sich nun in seinem schmalen und wettergegerbten Gesicht wider. Doch aus seinen dunklen Augen strahlte Güte und eine stille Heiterkeit, die ihn jetzt so ganz anders erscheinen ließ. Obwohl er das Abbild seiner Mutter war, konnte man ihm eine gewisse Attraktivität nicht absprechen, besonders dann, wenn er lächelte. Pedro war erwachsen geworden und sein selbstsicheres Auftreten schüchterte Pamela ein wenig ein.
„Ich hab nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen“, sagte Pamela, die noch immer ziemlich durcheinander war.
„Wo sollte ich denn sonst sein, wenn nicht hier?“, lächelte Pedro seine Cousine nachsichtig an und schloss sie in seine Arme.
„Wie schön dich zu sehen, kleine Pam. Du bist ja richtig erwachsen geworden und schöner denn je.“
Mit einem Mal freute sich Pamela, dass Pedro da war. In ihrer traurigen Kindheit war er einer der wenigen Menschen gewesen, der freundlich zu ihr gewesen war und ihre Anwesenheit nicht als lästig, sondern als genehm empfunden hatte. Und selbst jetzt konnte Pamela spüren, dass seine Freude, sie nach so langer Zeit wiederzusehen, echt war.
„Ich nehme an, du bist nicht hierhergekommen, um zu beten?“ fragte er ein wenig spöttisch.
„Nein, nicht wirklich. Du weißt ja, dass ich ein eher gespaltenes Verhältnis zu Gott habe“, erwiderte Pamela nüchtern. „Mich trieb nur die Neugier her.“
„Und wie findest du Mutters neueste Anschaffung?“
„Ziemlich beeindruckend und sehr exquisit“, sagte Pamela zurückhaltend.
„Ich würde sagen, ihr Größenwahn steigt mit ihrem zunehmenden Alter“, kritisierte Pedro seine Mutter.
„Das hat nichts mehr mit Gottesfürchtigkeit zu tun, sondern mit Hochmut. Anscheinend reicht es ihr nicht mehr, dass das Haus immer mehr einem Museum sakraler Kitschkunst gleicht, jetzt hat sie auch noch eine hauseigene Kirche samt des hauseigenen Priesters, der für eine Schar privilegierter Gäste die Christmette halten muss“, fuhr er voller Sarkasmus fort.
Pedro nahm Pamela beim Arm und führte sie zum Altar vor. Hier vermischte sich der Duft des Weihrauchs und dem brennenden Kerzenwachs mit dem würzigen Duft der frisch geschnittenen kleinen Tannen, die neben dem Tabernakel standen.
Traurig ließ er seinen Blick durch das kleine Kirchenschiff wandern.
„Welch eine Verschwendung“, seufzte er unglücklich. „Mit dem vielem Geld, das in der Kapelle steckt, hätte ich locker zwei weitere Missionsstationen und eine Schule für meine Kinder eröffnen können.“
„Du solltest aber auch ein wenig stolz darauf sein, Pedro. Denn schließlich ist dies hier ein Haus Gottes“, hielt Pamela dagegen.
„Ich glaube kaum, dass Gott seine Zeit hier mit einer selbstgefälligen, alternden und verbitterten Frau verbringen will. Gott ist dort zu finden, wo er gebraucht wird, wo Gutes geschieht, wo Freude und Liebe gedeiht und wächst. Im dankbaren und glücklichen Lächeln meiner Kinder finde ich Gott wieder und nicht hier.“
Mit unverhohlenem Respekt betrachtete Pamela ihren Cousin. Hier stand ein Mann, den sie absolut falsch eingeschätzt hatte. Mit einer gewissen Abfälligkeit hatte sie immer den Pfaffen und Betbruder in ihm gesehen. Doch Pedro schien weit mehr als nur ein Priester sein. Er war ein selbstloser Mann, der die Menschen liebte, für sie da war und sich an ihrem Gedeihen und Wohlergehen erfreute. Reichtum und Macht bedeutenden ihm nichts. Geld war für ihn nur Mittel zum Zweck, um zu helfen und Gutes zu tun, um die Welt ein bisschen besser zu machen. Pamela, die einen ganz anderen Zugang zu Geld hatte, fühlte sich in seiner Nähe plötzlich klein, unbedeutend, doch vor allem schuldig.
„Wie ist es dir ergangen Pamela? Hat sich jenes Glück bei dir eingestellt, dem du so lange nachgejagt bist?“, riss er sie aus ihren Gedanken. Pamela wollte ihn nicht belügen und erwiderte ausweichend:
„Das Glück ist immer relativ. Traum und Wirklichkeit sehen immer ein bisschen anders aus. “
Mit einem tiefgründig-fragendem Blick betrachtete Pedro seine kleine Cousine, die sich irgendwie durchschaut fühlte.
„Ja, das Glück lässt sich nicht zwingen und offenbart sich manchmal ganz anders, als man es vermuten würde. Man muss eben nur darauf achten, es nicht zu ignorieren“, sagte er und lächelte Pamela wissend an.
Sofort musste Pamela an John denken. John war ihr Glück gewesen. Doch sie war blind wie ein Maulwurf gewesen und hatte durch ihre grenzenlose Gier nach Anerkennung und Macht dieses Glück zerstört.

 

 

- 7 -

 

Am frühen Nachmittag des Weihnachtsabends erreichte Philipp die Stadtgrenze von Vancouver. In einer knappen halben Stunde würde er das Anwesen der Canettis erreicht haben. Ihm graute bereits jetzt schon bei dem Gedanken mit diesen gewissenlosen Halsabschneidern die Feiertage verbringen zu müssen, deren Scheinheiligkeit und Falschheit gerade zu Weihnachten ja bis zum Himmel stinken musste. Wenn es Gott wirklich gibt, dann müsste ER Pamela samt des alten Canettis mit dem leuchtenden Blitz der Vergeltung direkt in die Hölle befördern.
Philipp schluckte seine Verbitterung hinunter und konzentrierte seine Gedanken wieder auf seine Zukunftspläne. In den letzten Wochen hatten diese immer mehr Gestalt angenommen und standen nun vor der Verwirklichung. Während der Fahrt hatte Philipp an nichts anderes gedacht. Jedes Detail seines Plans hatte er sich noch einmal durch den Kopf gehen lassen, um ja alle Schwachstellen so gut wie nur möglich auszuräumen.
Nachdem Philipp erkannt hatte, dass er das Lebenswerk seines Vaters an diese skrupellose Verbrecherbande verloren hatte und es auch keine Möglichkeit mehr gab, den Betrieb zurück zu gewinnen, wollte er diesem Hyänenpack auf keinen Fall ein intaktes Unternehmen hinterlassen. Diese Schweine sollten für das bluten, was sie ihm, John und Alex angetan hatten.
Canetti hatte kurz nach Johns Tod weitere fünf Millionen Dollar locker gemacht, um diese in das Forschungsprojekt zu pumpen. Seiner Ansicht nach brauchte das Unternehmen mehr qualifizierte Wissenschaftler, die den Rückstand aufholen und schnellere Fortschritte bei der Entwicklung von RNV3 erzielen sollten.
Alex Summer hatte von dieser Personalaufstockung jedoch nichts wissen wollen. Sein Team, das an RNV3 arbeitete, war ein sehr bewährtes und äußerst kompetentes. Durch zusätzliche Mitarbeiter, die sich natürlich profilieren wollten, wäre die Gefahr einer neuerlichen Stagnation zu groß gewesen. Alex hatte Angst gehabt, dass die Arbeit von Jahren dann völlig den Bach runter gehen würde.
Die Stimmung zwischen Alex Summer und seinem vermeintlichen Boss war in den letzten Wochen ohnehin ziemlich getrübt gewesen. Doch als Philipp den Leiter der Forschungsabteilung in sein Büro rufen hat lassen und ihn davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass ab sofort mehr Forschungspersonal für RNV3 bereitgestellt wird, brachte das Fass zum Überlaufen. Zwischen den beiden Männern war es zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen. Alex hatte seinem Chef vorgeworfen, dass er einfach nicht mehr der alte war. Außerdem hatte sich John fast überhaupt nicht mehr in der Forschungsabteilung blicken lassen, geschweige denn, dass er aktiv am Entwicklungsprozess des Medikamentes mitgearbeitet hätte. Alex war verärgert gewesen, dass John nur fürs Management da war und seine Crew völlig im Stich gelassen hatte.
Während dieses Streites war Philipp nicht entgangen, dass Alex immer mehr Verdacht zu schöpfen begonnen hatte, dass hier ein falsches Spiel gespielt wurde. Summer hatte John viel zu gut gekannt, als dass ihm die radikale Sinnesveränderung seines Freundes nicht aufgefallen wäre. Alex hatte versucht, Philipp aufs Glatteis zu führen, indem er ihn in ein Gespräch verwickeln hatte wollen, wo es um spezifische Fragen aus der Biotechnologie und Mikrobiologie ging. Philipp hatte natürlich absolut keine Ahnung von diesen Dingen gehabt. Alex hatte ihn immer mehr in die Enge getrieben, so dass es Philipp vor Panik heiß und kalt über den Rücken gelaufen war. Gott sei Dank hatte sein Handy geläutet, sodass Philipp die Besprechung abbrechen konnte. Doch bevor Alex ging, hatte er Philipp gedroht, dass er nicht eher ruhen werde, bis er wisse, welche krumme Nummer hier abläuft.
Philipp hatte Pamela von der Auseinandersetzung mit Summer erzählt. Doch sie hatte ihm nur kommentarlos zugehört.
Keine zwei Tage später waren Philipps Bedenken aus der Welt geschaffen gewesen. Alex Summer war mit seinem Auto einen 50 Meter tiefen Steilhang hinabgestürzt, wo der Wagen auf einem Felsen zerschellte und explodierte. Nach dieser enormen Explosion war es unmöglich gewesen, welcher Ursache der Absturz zu Grunde gelegen war.
Ein weiteres Mal hatte Philipp feststellen müssen, wie schnell und problemlos sich die Canettis Menschen vom Hals zu schaffen wussten, die nicht dieselbe Kragenweite hatte. Dieses Mal war es Alex gewesen, an dessen Tod Philipp nicht unwesentlich beteiligt war und in ihm erneut tiefe Gewissensbisse geweckt hatte. Würde Philipp der Nächste sein, wenn er diesen Schweinen nicht mehr von Nutzen war?
Soweit wollte es Philipp aber nicht kommen lassen. Er war nur so lange sicher, solange sie ihn brauchten. Nachdem er seinen Zweck erfüllt hätte, würde ihn Canetti ziemlich sicher entsorgen lassen. Deshalb musste Philipp sein Eisen schmieden, solange es noch heiß war.
Es war reiner Zufall gewesen, dass er auf dem Rückflug von Kolumbien neben einem ehemaligen Schulkollegen saß, der aus Südamerika Kaffee, Bananen und Baumwolle importierte. Von ihm hatte er erfahren, dass aufgrund einiger aufeinander folgenden Missernten im Hochland Kolumbiens etliche Kaffeeplantagen günstig zum Kauf angeboten wurden. Im Land war das Geld knapp geworden, so dass man dringend finanzkräftige Investoren suchte, die der Wirtschaft wieder neue Impulse verschaffen würde.
Damals hatte Philipp diesem Mann ohne sonderlich großes Interesse zugehört. Doch nachdem sich die Lage bei Lombard Pharma so zugespitzt hatte, fand er an der Idee eine Kaffeeplantage zu kaufen und zu bewirtschaften, immer mehr Gefallen.
Philipp war nach Bogota geflogen, um sich an Ort und Stelle von dem verlockenden Angebot zu überzeugen. Schon nach den ersten Eindrücken hatte er das gute Gefühl, hier sesshaft werden zu wollen. Kolumbien war ein Land voller Kontraste. Hier gab es lang gestreckte, weiße Strände am karibischen Meer und ausgedehnte Ebenen mit ihren Grassteppen, sowie die riesigen Regenwälder des Amazonas, wo tropisch warmes Klima herrschte, während es im Hochland entsprechend kühler und trockener war. Und diese üppige Flora und Fauna bot überall eine berauschende Vielfalt. Auch die Menschen waren aufgeschlossen und voller Lebensfreude, obwohl bittere Armut oft nur wenige Schritte von unvorstellbarem Reichtum entfernt lag.
Philipp würde Kanada mit seiner vordergründig so hoch anständigen und durch und durch bornierten Gesellschaft, doch vor allem dieser unerträglich langen und kalten Winter nicht wirklich fehlen.
Ein Makler hatte einige interessante Objekte in einem entlegenen Teil des Hochlandes für ihn ausfindig gemacht. Philipp hatte vor gehabt, zwei bis drei kleine Plantagen zu kaufen und diese zusammen zu legen. Das Glück war ihm hold geblieben. Er hatte genau das gefunden, wonach er gesucht hatte; eine größere und zwei kleinere nebeneinander liegende Plantagen, die einen neuen Besitzer suchten. Guter Boden, der zum Pflanzen von Kaffeesträuchern bestens geeignet war. Obwohl er das Land billig erwerben hatte können, musste selbst ein Laie wie Philipp erkennen, dass er in diese Farmen noch ein hübsches Sümmchen für Investitionen locker machen musste. Neue Felder mussten angelegt, alte verbrauchte Felder hingegen gerodet werden, die Schäl- u. Trockenmaschinen mussten überholt oder gar ausgetauscht werden und ein großes Lagerhaus mit dichtem Dach war unabdingbar. Außerdem brauchte er Feldarbeiter, die im Laufe der Jahre abgewandert waren und in den Städten nach Arbeit suchten. Überall, wo man auch hinsah, fehlte es. Nicht umsonst waren die die Plantagen so günstig zum Kauf angeboten worden.
Philipp würde viel Zeit, Kraft und vor allem eine Menge Geld brauchen, um die herunter gewirtschafteten Plantagen zu einem einzigen florierenden Betrieb umzuwandeln. Doch er wollte sich unbedingt dieser Aufgabe stellen, nicht zuletzt schon deshalb, um Kanada rasch zu vergessen und sein Selbstwertgefühl wieder zu steigern.
Und morgen würde Philipp den nächsten Schritt setzen, um seinem Ziel wieder ein Stück näher zu kommen. Er würde von Canetti eine weitere Finanzspritze von 3 Millionen Dollar verlangen.
Der Alte würde seine Forderung bestimmt ablehnen. Doch Philipp war sich ziemlich sicher, dass er das Geld bekommen würde, wenn er die baldige Produktion von RNV 3 in Aussicht stellte und es an läppischen 3 Millionen Dollar scheitern würde.
Dieses Sümmchen war jedoch nicht für die Forschung bestimmt, sondern für die eigene Tasche. In den letzten Monaten hatte er bereits begonnen, Firmengelder auf seine Konten in der Schweiz und in Liechtenstein abzuzweigen. Mit diesem Geld und den weiteren drei Millionen von Canetti würde Philipp ein ausreichendes Startkapital zur Verfügung stehen.
Sobald er das Geld hatte, würde er sich in das nächste Flugzeug nach Kolumbien setzen und für immer verschwinden. Philipp hatte die Plantagen über einen Strohmann gekauft, sodass nirgends wo sein Name auftauchte. Ob dieser Vorsicht war sich Philipp ziemlich sicher, dass ihn die Mafia in der hintersten Ecke der Welt finden würde.
Philipp kam gerade von einem Notar in Toronto, mit dem beglaubigten Kaufvertrag und den beurkundeten Auszügen des Grundbuchregisters in der Tasche. Mit diesen Unterlagen war er nun der rechtmäßige Besitzer der Plantagen im Hochland Kolumbiens.
Nach Summers Tod hatte Philipp die Leitung für das Forschungsprojekt einem der neuen, jungen Wissenschaftler übertragen. Bei diesem Mann hatte er das gute Gefühl, dass er die wenigste Kompetenz von allen Bewerbern besaß, dafür aber verdammt überheblich und selbstgefällig war und sich unbedingt profilieren wollte. Aufgrund seiner Forschungsberichte war das Medikament bereits so ausgereift, das es in die letzte Testphase übergehen konnte. Philipp konnte jetzt nur hoffen, dass die Affen und Ratten nicht wieder so schnell krepieren würden, bevor das Medikament problemlos in Produktion gehen konnte.
Diese Berichte wollte er Canetti vorlegen. Wenn er den Köder schluckte, dann würde Philipp im besten Fall schon zu Silvester am weißen Sandstrand Cartagenas mit kühlen Cocktails und schönen Frauen den Jahreswechsel feiern und dieses schreckliche Leben hier würde endgültig der Vergangenheit angehören. Philipp würde die Katastrophe, die dieses neue Wunderpräparat angerichtet hat, nur mehr mit einem schadenfrohen Lächeln in den Zeitungsberichten mitverfolgen. Und endlich würde dann auch die Zeit der Rache für die ehrenwerten Familie Canetti gekommen sein, deren Ärsche garantiert auf Grundeis gehen würden.
Niemand würde ihn belangen können, denn Philipp würde wieder seine eigene Identität angenommen haben, sodass jeder Verdacht auf seinen verstorbenen Bruder fallen würde. Denn selbst die Unterschrift, die die Freigabe von RNV3 bewilligte, stammte von John. Pamela hatte sie ihm gestohlen, in dem sie ihm ein leeres Blatt mit dem Firmenlogo untergejubelt hatte.
Mittlerer Weile war Philipp am großen, Schmiedeisentor von Canettis Besitz angekommen. Angewidert blickte er in die Videokamera, die an einem der Seitenpfeiler angebracht war. Nach wenigen Sekunden öffnete sich automatisch das Tor und Philipp fuhr in seinem Aston Martin die Straße durch den weitläufig angelegten Park entlang. Wehmütig glitt seine Hand über das Armaturenbrett seines Wagens. Sein geliebtes Auto musste er leider hier lassen. In Kolumbiens Hochebenen könnte er nichts mit diesem Nobelschlitten anfangen, außer diesen in der Garage langsam verrosten zu lassen. Bevor er wegflog wollte Philipp sein Baby verkaufen. Der Verkauf würde wieder ein bisschen Geld bringen, das er sicherlich gut gebrauchen konnte.

 

Wider Erwarten war der Weihnachtsabend gar nicht so schrecklich verlaufen, wie Philipp befürchtet hatte. Die Gäste waren durchwegs in heiterer Festtagsstimmung und ihr lockeres und fröhliches Geplauder ließ das stille Haus nicht mehr so düster und bedrohlich wirken.
Philipp wusste zwar, dass der alte Canetti einen Sohn hatte, doch dass dieser ausgerechnet ein Pfaffe war, empfand Philipp als besonders pikante Ironie des Schicksals. Pedro hatte bis auf die dunklen Augen absolut keine Ähnlichkeit mit der gedrungenen Gestalt seines Vaters. Und selbst diese Augen unterschieden sich von jenen Canettis durch Sanftmut und Wärme. Pedro war groß und schlank wie seine Mutter. Gott sei Dank war er nicht so abgrundtief hässlich wie sie.
Doch nicht nur vom Habitus hatte Pedro mit seinem Vater wenig gemeinsam, stellte Philipp angenehm überrascht fest. Auch charakterlich hätten die beiden nicht unterschiedlicher sein können. Für Pedro hatte Macht und Reichtum keine besondere Wertigkeit. So gesehen musste der alte ja Canetti heilfroh gewesen sein, dass Pamela in die Familie in sein Haus schneite und in seine Fußstapfen trat.
Der Grund, wieso Pedro dieses Weihnachtsfest in Vancouver verbrachte, war nicht nur jener, weil er in seiner Funktion als Priester und als Mitglied der Familie die Kapelle seiner Mutter einweihte, sondern auch, weil er dringend Geld für seine Mission brauchte. Es wurden immer mehr Kinder und es fehlte an allen Ecken und Enden an Barem.
Nach dem dritten Eierpunsch erzählte Pedro seinem vermeintlichen Schwager, dass er mit seiner Mutter unter einer Decke stecke. Auf seinen Wunsch hin hatte sie so viele vermögende Freunde und Bekannte wie nur möglich zu diesem Weihnachtsfest eingeladen.
Schließlich war die Weihnachtszeit auch jene Zeit des Jahres, wo die Herzen der Menschen ein wenig weicher wurden und ihnen das Geben dadurch auch leichter fiel. Und – wie sollte es anders sein – ging es in der mitternächtlichen Predigt natürlich um seine Kinder, die nach einer Herberge suchten und auch fanden, wie einst Jesus mit Maria und Josef. Denn in jedem seiner Kinder, wohnte ein Teil von Jesus Christus.
Pedro hatte genau gewusst, welche Worte er wählen musste, um die Portemonnaies dieser reichen Säcke zu öffnen. Und je mehr er auf ihre Tränendrüse gedrückt hatte, umso tiefer griffen sie hinein. Gott würde ihm seine Schamlosigkeit sicherlich vergeben, denn der Zweck heiligt die Mittel. Es war echt schade, dass Weihnachten nur einmal im Jahr stattfand.
Angetan von Pedros Engagement und Selbstlosigkeit musste Philipp aber doch erkennen, dass Pedro auch ein Gen des alten Canetti vererbt bekommen hatte; und das war sein Geschäftssinn. Nur dieses zielte in eine ganz andere Richtung als jenes seines Vaters.
Philipp hatte das Gefühl, dass Pedro dieselbe Sympathie für ihn empfand, wie Philipp für ihn, sodass dieser Weihnachtsabend für die beiden Männer eine richtige Bereicherung war. Es tat absolut gut in dieser Familie einem Menschen zu begegnen, der noch ein gutes Herz in sich trug.

 

Nach dem reichhaltigen Christtagsbrunch traten die meisten Gäste wieder ihre Heimreise an. Auch Philipp wollte nach der Besprechung mit Canetti und Pamela so schnell wie möglich dieses beklemmende Haus verlassen, das eher einer Aufbahrungshalle als einer gemütlichen Wohnung glich. Dieser Eindruck war noch durch Emilia Canetti verstärkt worden, die locker als Schwester Quasimodos durchgehen hätte können. Mit ihrem distanzierten und bigott-strengen Getue wäre sie als Türsteher eines Klosters besser geeignet gewesen und nicht als Gastgeberin einer pseudoelitären Abendgesellschaft.
Die Unterredung fand in Canettis Arbeitszimmer statt. Als Philipp die Tür öffnete, waren Pamela und ihr Onkel schon anwesend und in ein Gespräch vertieft. Dieses brachen sie aber sofort ab, als Philipp den Raum betrat. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn die Stimmen verstummten, sobald man erschien.
„Nun, was gibt es denn so Wichtiges, dass dies nicht bis nach die Feiertage hätte warten können?“ begrüßte ihn Canetti ziemlich unwirsch.
Canettis schroffe Frage brachte John ein wenig aus dem Gleichgewicht. Eigentlich war es Canettis Wunsch, dass man über das neue Präparat sprechen wollte. Rasch holte Philipp den letzten Forschungsbericht aus der Mappe.
„Ich will es kurz machen. Der neue Leiter der Forschungsabteilung gab mir diese Auswertung vor drei Tagen. Aus diesem Bericht geht hervor, dass man weitgehend die gefährlichen Substanzen durch nicht Gesundheitsschädigende ersetzen konnte. Die Tierversuche sind über Wochen hindurch allesamt positiv verlaufen und es wurden keine Veränderungen an Leber, Milz und im Blut festgestellt. Der Blutdruck sei zwar immer noch ein wenig erhöht, doch bei gesunden Menschen nicht mehr wirklich bedenklich.“
„Das ist ja eine äußerst positive Information“, stellte Canetti zufrieden fest. „Und wie geht’s nun weiter?“
Nun war die Stunde der Wahrheit gekommen. Philipp war nervös und er spürte, wie seine Hände feucht wurden, die er aber schnell an seiner Anzughose trocken rieb.
„Nichts steht nun mehr im Wege, RNV3nun an Menschen zu testen. Parallel dazu sollte man aber schon die Werbetrommel rühren, das Medikament patentieren lassen und die benötigen Grundsubstanzen für die Produktion beschaffen und einlagern. Dazu fehlen aber noch ca. 3 Millionen Dollar, die augenblicklich nicht aus der Firma rauszuholen sind.“
Canetti stand auf und ging zum Fenster. Die letzten Gäste stiegen in ihre Autos und verließen das Anwesen. Ohne den Blick von den langsam abfahrenden Autos zu werfen, stellte Canetti nüchtern fest:
„Ich nehme an, dass du die drei Millionen von mir haben willst.“
Philipp wurde heiß. Sein Mund war trocken, so dass er kaum sprechen konnte.
„Nun ja, es wäre schade, wenn wir jetzt nicht weiter machen könnten. Schließlich käme der Schlankmacher gerade zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt. Gerade nach den Feiertagen wollen viele Menschen die raufgefutterten Kilos wieder weg haben und eine Diät durchziehen. Und jeder will natürlich ohne Hungergefühle abnehmen.“
Canetti ging zum Tisch zurück und setzte sich wieder in seinen Sessel.
„Ok, ich gebe Dir das Geld.“
Philipp fühlte, wie der riesige Stein von seinem Herzen rollte. Das Licht am Ende des Tunnels wurde immer heller.
Pamela, die die ganze Zeit über wie zu einer Salzsäule erstarrt schien, wurde nun aktiv.
Mit feindseligem Blick fuhr sie ihn an:
„Das Geld, dass Dir Onkel Ernesto gibt, ist aber für die Forschungsabteilung bestimmt und nicht für die eigene Tasche, ist das klar?“
Philipp fühlte sich für einen Moment so, als ob man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.
„Ich kann dir nicht folgen, Pamela“, erwiderte Philipp verwirrt.
Mit einem zynischen Lächeln zog sie aus ihrer Mappe die Kopie des Kaufvertrages über die Plantagen in Kolumbien und knallte ihm diesen vor die Nase. Außerdem holte sie noch Kontoauszüge von den europäischen Banken hervor, wo seit Monaten Geldbeträge von Lombard Pharma überwiesen wurden. Auf der letzten Transaktion wurde fast alles Geld von den Konten auf eine kolumbianische Bank auf drei verschiedene Kontoinhaber überwiesen.
„Für wie dumm hältst du uns eigentlich? Glaubtest du wirklich, dass wir nicht jeden deiner Schritte überprüfen? Wir wissen genau, dass du dich aus dem Staub machen willst. Diese Rechnung hast du aber ohne den Wirten gemacht“, sagte sie mit kalter Stimme.
Innerhalb weniger Sekunden zerplatzten Philipps rosige Zukunftspläne wie eine Seifenblase. Benommen rang Philipp nach den richtigen Worten. Gerade, als ihm Pamela einen weiteren Dämpfer versetzen wollte, schnitt Canetti seiner Nichte das Wort ab, worauf sie sofort verstummte.
„Solange das Medikament nicht frei von gravierenden Nebenwirkungen ist und nicht bedenkenlos verabreicht werden kann, wirst du hier bleiben und dich nicht nach Südamerika absetzen. Wenn dies der Fall ist und du deine Gesellschafteranteile an Pamela abgetreten hast, werde ich dir die drei Millionen Dollar geben und du verziehst dich hoffentlich auf nimmer Wiedersehen in die Pampas. Sollte es Schwierigkeiten geben, dann wirst du diese Suppe aber schön mit uns auslöffeln. Du weißt ja was passiert, wenn man nicht mit uns kooperiert? Hast du das verstanden Philipp?“
Canetti saß seelenruhig da und sprach zu ihm wie mit einem debilen Kind.
Philipps Körper fühlte sich an, als ob er seine Hand zu lange in einer Steckdose mit Starkstrom gehalten hatte. Der Schweiß floss von den Schläfen in seinen Hemdskragen hinein und seine Knie schlotterten vor Angst. Philipp wusste, wenn er versuchen sollte zu fliehen, würde er ein toter Mann sein.
Canetti stand auf und stützte sich mit seinen Händen an der Tischplatte ab. Mit kalten Augen sah er auf Philipp herab.
„Ob du mich verstanden hast, fragte ich dich?“ Canettis Stimme war nun leise und gefährlich.
„Absolut. Ich werde mich noch heute um die weitere Abwicklung kümmern.“

 

 

- 8 -

 

Am Morgen des Heiligen Abend gingen John und Karin in den Wald und sie suchten nach einer passenden Tanne. Es dauerte nicht allzu lange, bis die beiden einen schönen großen Baum fanden, der bis ins Giebeldach des Wohnzimmers hinauf reichen würde.
Immer mehr ging Karins besondere Festtagsstimmung nun auch auf John über. Auch die Hunde spürten, dass heute etwas anders war. Ausgelassen, ja völlig überdreht tollten die Welpen mit ihrer Mutter im hohen Schnee herum, der sie kleinen Racker fast verschluckte.

Joe und Cathy hatten sich für den Nachmittag angekündigt, so dass noch genügend Zeit blieb, um alles für das Fest vorzubereiten. John war ein wenig nervös. Es lag nun schon eine ganze Weile zurück, seit er das letzte Mal Kontakt mit anderen Menschen, außer Karin hatte. Irgendwie hatte er kein besonders großes Bedürfnis, diesen Abend in Gesellschaft verbringen zu wollen. Er fühlte sich absolut wohl so wie es war, alles Fremde würde nur stören. Doch Karin freute sich schon so sehr auf die Beiden, sodass John seinen Unwillen bei Seite schob und sich mit Karin freute. Schließlich hatte sie hier oben ja kaum soziale Kontakte.
Während aus dem Radio stimmige Weihnachtsmusik ertönte, schmückten Karin und John den Baum mit bunten Glaskugeln, Strohsternen und Bienenwachskerzen. Das Haus roch wunderbar nach der frisch geschnittenen Tanne und nach dem Punsch, den Karin am Vormittag schon zubereitet hatte. Karin war rundherum glücklich und lächelte John immer wieder verliebt an. Aber auch John fühlte sich wohl wie schon lange nicht mehr. Alles fügte sich so harmonisch ineinander, schien so perfekt, dass John manchmal glaubte, das sei alles nur ein sehr kitschiger Traum. Doch dass dies keine Traumwelt war, wurde ihm nur zu sehr bewusst, wenn sich seine Frau vor sein inneres Auge schob und ihn anklagend und unglücklich ansah. Doch schnell verbannte er dieses Bild wieder in die hinterste Ecke seines Denkens. Für Pamela war hier absolut kein Platz.
Zur Feier des Tages hatte Karin für John eine von Nicks Hosen aus feinem, dunklem Wollstoff abgeändert, damit er nicht die alten, ausgewaschenen und viel zu großen Jeans tragen musste. Das weiße Hemd aus feinem Batist war zwar ebenfalls ein wenig weit, aber das fiel nicht so sehr ins Gewicht. Heute war Weihnacht und Karin wollte, dass auch John in den festlichen Rahmen passte.
Als für das Fest alles fertig war, zog sich auch Karin um. John brachte vor Staunen kein Wort über die Lippen, als sie ins Wohnzimmer trat. Sie sah total verändert aus. Noch nie hatte John Karin in einem Kleid gesehen. Völlig verblüfft starrte er Karin an, die sich ihm in diesem figurbetonten kleinen Schwarzen präsentierte. Karin trug schwarze Seidenstrümpfe und hochhackige schwarze Lackpumps. Ihr Haar hatte sie kunstvoll hochgesteckt und ein zartes Rot glänzte auf ihren Lippen. Sie sah umwerfend elegant aus, sodass sie fast ein wenig fremd auf John wirkte.
„Nun wie gefall ich Dir?“ fragte sie und drehte sich erwartungsvoll im Kreis.
Ergriffen starrte er sie an, um jede Einzelheit ihrer Veränderung in sich aufzunehmen. Dann erhob sich John von seinem Sofa und kam langsam auf Karin zu. Er kannte sie ja nur in ausgewaschenen Jeans, dicken, schlabbernden Rollkragenpullis, durchgebeulten Trainingsanzugshosen und liebestötenden Frotteepyjamas.
„Du überraschst mich immer wieder. Ich habe noch nie eine schönere Frau gesehen.“
Das Lächeln auf ihren Lippen erlosch.
„Meinst du das ehrlich?“
„Ja, noch nie war ich so berührt von so viel Schönheit und Liebreiz“.
Karin kam auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich.
„Oh John, du weißt gar nicht, wie glücklich du mich machst.“
„Du mich auch“, erwiderte John ehrlich und dachte dabei an Pamela. Solche Momente der tiefen Freude hatten in ihrer Beziehung immer gefehlt.

 

Als das Indianerpaar am Nachmittag an die Tür klopfte, war Karins Freude perfekt. Mit aufgeregtem Bellen lief Bonny zur Tür, die Karin öffnete und die Beiden aufs herzlichste begrüßte. Ungläubig betrachtete John die Gäste. Irgendwie hatte er den Eindruck, als ob die zwei aus dem anthropologischen Museum ausgebüchst waren. Beide waren in der traditionellen Tracht der Stoneys erschienen, die aus einer Tunika und Beinkleidern aus weichem, hellbraunem Wildleder gefertigt war. An den Nähten der Tunika waren reiche Verzierungen angebracht. Die Hemden darunter waren ebenfalls aus Wildleder, an dessen Ärmeln Fransen hingen. Wie John später erfahren sollte, trug Joe als besonderes Kennzeichen von Mut und Kraft ein Halsband aus Bärenkrallen. Hingegen war Cathys Kleidung mit weniger imposanten Wapitihirschzähnen verziert. Beide trugen über ihr Hemd einen langen Brustschmuck aus dünnen Röhrenknochen. Bei Joe waren diese horizontal und bei Cathy vertikal auf dünne Lederriemen aufgezogen, die bei traditionellen Tänzen einen besonders rhythmischen und optischen Effekt erwirkten. Außerdem waren bunte Glasperlen und Muscheln und an Hosen und Hemd genäht. Auf den prächtigen Kopfschmuck haben beide jedoch verzichtet. Joe trug daher nur ein bunt verziertes Stirnband aus Leder, während Cathys Band breiter war und zusätzlich noch mit Glasperlen geschmückt war. Auch in ihre grauen Zöpfe hatte sie bunte Bänder eingeflochten, die John ein wenig an die Power Flower-Zeit der 60iger Jahre erinnerten. Das Paar sah jedoch sehr würdig und imposant in ihrer traditionellen Stammestracht aus.
Beide gaben sich anfänglich sehr zurückhaltend, weil sie den fremden Gast nicht kannten. Doch nachdem ihnen John das Gefühl gab, nicht nur willkommen zu sein, sondern auch sehr an ihrer Lebensweise und Kultur interessiert war, legten die beiden ziemlich rasch ihre Scheu ab.

 

Joe und Cathy waren nicht im christlichen Glauben erzogen worden. Doch das hinderte sie nicht daran, gerne an diesem Fest teilzunehmen, das ein wenig Abwechslung in ihr eintöniges Leben brachte.
Bald entwickelte sich eine lockere Atmosphäre, wobei diese sicherlich durch Karins süß-aromatischen Punsch unterstützt wurde. Der gebratene Lachs schmeckte vorzüglich, sodass alles bis zur letzten Flosse verzehrt wurde. Obwohl die Indianer mit der Bescherung nicht viel anzufangen wussten, erfasste sie doch auch dieses besondere Hochgefühl, als sie unter dem bunt geschmückten und hell erleuchteten Tannenbaum standen.
Karin hatte für jeden ein Geschenk. Joe bekam eine große Dose Zigarettentabak und für Cathy hatte sie eine riesige Schachtel mit erstklassigen Pralinen. Beide freuten sich sehr über Karins Präsent. Doch noch glücklicher war Karin, die beschenken durfte. Zum Schluss holte sie ein kleines Päckchen unter dem Baum hervor und überreichte es John.
„Ein frohes Fest John“, flüsterte sie mit belegter Stimme und küsste ihn auf seine Wange
Überrascht nahm er das Päckchen und begann es zu öffnen. Es waren hellbraune Wildlederhandschuhe, die Karin für ihn genäht hatte.
John zog sie sofort über und sie passten perfekt. Sprachlos vor Staunen betrachtete er das fein gearbeitete Leder an seinen Händen. Wann hatte sie die nur genäht, schoss es ihm durch den Kopf. Doch vor allem, wieviel Zeit hatte Karin dafür aufgewendet. Sogar sein Monogramm hatte sie auf den Handschuhrücken eingenäht. Niemals zuvor hatte John ein so wundervolles Weihnachtsgeschenk bekommen.
Das letzte Jahr hatte er von Pamela Montblanc Manschettenknöpfe geschenkt bekommen, die sicherlich ein Vermögen gekostet hatten. Doch in diesen Handschuhen steckte kein materieller Wert, sondern all die Liebe, die Karin für ihn empfand.
Sofort begann John das schlechte Gewissen zu drücken.
„Ich hab leider kein Geschenk für dich.“
Doch Karin schenkte ihm nur ein warmes Lächeln und sagte: „Doch hast du. Die Zeit mit dir ist mein Geschenk.“
Für einen kurzen Moment war ein Anflug von Wehmut in ihrem Gesicht zu erkennen. Doch schnell war dieser wieder weg und pure Freude spiegelte sich in ihren Augen wider. Nichts hätte John jetzt lieber getan als sie an sich gedrückt und zärtlich geküsst. Doch er wollte sie vor ihren Freuden nicht kompromittieren und streichelte nur liebevoll ihre Wange.
„Du bist etwas ganz besonderes Karin.“
„Das ist gut, denn nur für dich will ich besonders sein.“

 

Dieser Abend dauerte noch sehr lange und war für John unglaublich interessant. Joe erzählte vom Stamm der Stoney-Indianer, die sich selbst Wapamakθé nannten. Sie waren die Nachfahren der Dakota-, Lakota- und Nakotaindianer, die einst große Gebiete der Prärie Nordamerikas und der Rocky Mountains bevölkerten. Jetzt waren die meisten der Stoneys in Reservaten im Südwesten von Alberta untergebracht. Auch Joe und Cathy hatten dort gelebt. Doch das Leben in den modernen Baracken mit Fernsehschüsseln und Supermärkten und hatte nichts mehr mit den alten Rieten und Traditionen gemeinsam, wie Joe sie kannte. Nicht einmal die Ursprache der Stoneys war den jüngeren Indianern mehr geläufig, so dass es nach dem Erwachsenwerden ihrer Kinder nichts mehr gab, was sie in dem Reservat mehr halten konnte.
Nachdem ihre beiden Söhne für sich selbst sorgen konnten und eigene Familien gründeten, hatte das Paar still und heimlich das Reservat verlassen und sich für die Wälder der Rocky Mountains zurückgezogen, dort, wo früher die alten Kultstätten und Jagdgründe der Wapamakθé waren.
In einer verlassenen Trapperhütte hatten sich die beiden niedergelassen und diese zu einer stabilen, winterfesten Behausung ausgebaut. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, stellten sie traditonelle Wildlederbekleidung und Mokassins her. In den langen Wintermonaten webte Kathy außerdem noch bunte Teppiche und Joe schnitzte kleine Indianerfiguren aus Holz. Doch ihre Haupteinnahmequellen waren einerseits das Suchen nach Ammoliten, seltener opaleszierender Edelsteine, die nur hier in den östlichen Hängen der Rocky Mountains zu finden waren, aber auch der Verkauf von Biber-, Fuchs- u. manchmal auch Bärenfällen. Natürlich war das Handel mit Fellen hier strengsten verboten, doch Joe hatte in seinen Söhnen verlässliche Verbündete, die all seine „Produkte“ bestens an den Mann brachten. So stiegen sie einige Male im Jahr voll bepackt mit ihrer Ware ins Tal hinunter, wo diese verkauft wurden. Eingedeckt mit all den Dingen, die im Alltag unentbehrlich waren, kehrten sich nach einigen Tagen wieder in die Stille und Abgeschiedenheit der Wälder zurück. Wenn das Leben hier auch hart war, so fühlten sich die Beiden doch frei und unabhängig.
Fasziniert hörte John dem Indianer zu. Je später der Abend wurde, umso haarsträubender wurden seine Geschichten. Doch niemand stieß sich daran, wenn seine Erzählungen zwischen Traum und Wirklichkeit hin- und her pendelten. Cathy sprach fast nichts. Zufrieden lächelnd nippte sie an ihrem Punsch und freute sich, dass sie da sein durfte.
In jeder Hinsicht war dieser Abend für John etwas Besonderes. Dieses Weihnachtsfest war ganz einfach nur heiter, fröhlich und unbeschwert, so wie er es schon seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte.
Als Karin mit Cathy weit nach Mitternacht das Nachtlager für Joe und Cathy im Wohnzimmer aufschlug, gingen die beiden Männer vors Haus und probierten Joes neuen Tabak. John konnte sich noch gut an den Tag erinnern, wann seine letzte Zigarette geraucht hatte. Diesen Tag und auch die folgende Nacht würde er sicherlich niemals mehr vergessen.
Der aromatische Geschmack des frischen Tabaks war nun ein wahres Erlebnis. Während die beiden Männer die ersten Züge ihrer selbstgedrehten Zigaretten genossen, blickten sie in die kalte, sternenklare Nacht hinaus.
„Wie lange bleibst du?“, fragte Joe ganz unvermittelt.
„Bis zur Schneeschmelze, dann muss ich wieder zurück.“
„Hmm, du solltest bleiben. Du gehörst zu Karin.“ stellte Joe in seiner nüchternen Einfachheit fest.
„Das ist nicht so einfach Joe. Ich habe Verpflichtungen und außerdem bin ich verheiratet.“
„Mag wohl sein. Ich bin Indianer und lebe in einer Welt der Symbole, Zeichen und Sinnbilder, in der das Spirituelle und das Gewöhnliche das Gleiche sind. Für einen Indianer sind Sinnbilder Teil der Natur, ein Teil von uns selbst. Wir bemühen uns nicht mit dem Verstand zu verstehen, sondern mit dem Herzen. Du und Karin seid wie zwei Quellen, die sich gefunden haben, um sich zu verbinden und gemeinsam den Weg des Lebens zu fließen. Man kann sie nicht mehr trennen. Und selbst wenn man sie entzweit, so wird ein Teil von Dir immer in ihr sein, sowie in ihr immer ein Teil von dir fließen wird.“
John wusste nichts darauf zu sagen. Nach kurzer Zeit des Schweigens klopfte Joe vertraulich auf die Schulter und ging ins Haus. John blieb noch draußen stehen und dachte über seine Worte nach. Er verstand zwar nicht ganz, was Joe sagte, aber John fühlte, dass ins Joes Statement viel Wahres lag. Doch konnte er es ändern? War es wirklich so offensichtlich, was ihm Karin bedeutete?
Nach dem Frühstück trat das Paar wieder seine Heimreise an. Bevor Cathy aber auf den Weg machte, drehte sie sich noch einmal um, lächelte John und Karin mit einem tiefgründigen Blick an und sagte: “ In einer indianische Weisheit heißt es: ’So vielfältig sind die Wunder der Schöpfung, dass diese Schönheit niemals enden wird. Die Schöpfung ist hier. Sie ist in dir, so wie es schon immer gewesen ist. Die Welt ist ein Wunder. Die Welt ist Magie. Die Welt ist Liebe. Und sie ist hier und jetzt.’
Das war das einzige Mal seit Cathy da war, wo sie das Bedürfnis hatte, zu sprechen. Lächelnd wandte sie sich um und folgte ihrem Mann, der schon voran gegangen war.
Karin und John hatten keine Ahnung, was Cathy ihnen sagen wollte. Für einen Moment dachte John, dass Karin vielleicht schwanger sein konnte. Doch das konnte unmöglich der Fall sein. Karin hatte erst vor zwei Tagen ihre Periode gehabt. Und John war verdammt vorsichtig geworden, wenn sie miteinander schliefen. Da letzte, was er wollte, war, dass Karin von ihm ein Kind erwarten würde. Dass Cathys geheimnisvolle Worte aber eine besondere Bedeutung hatten, dessen war sich John bewusst.

 

Die nächsten Wochen und Monate vergingen wie im Flug. Mit dem neuen Jahr zog auch die Kälte ins Land. Minus 20 Grad war keine Seltenheit. Das kalte Wetter hielt John und Karin aber nicht davon ab, fast jeden Tag Ausflüge zu unternehmen. Seit Johns Bein wieder soweit belastbar war, dass er Karin mühelos folgen konnte, war er die Triebfeder, der Karin zu den unterschiedlichsten Unternehmungen aufforderte. Selbst wenn Karin ihn nicht begleitete, hielt es John im Haus nicht aus. Die Welpen waren mittlerer Weile so groß, dass Bonny nicht mehr viel Zeit mit ihren Jungen verbrachte, sondern lieber John bei seinen Ausflügen begleitete. Mit dem Gewehr, Nick’s altem Fernstecher und einer Digitalkamera, die John in einer Lade gefunden hatte, verschwand er mit der Hündin im Wald.
Karin hatte zwei Walky-Talkys mit einer Reichweite von mehr als sechs Kilometer hervorgeholt. Seit dem schrecklichen Zwischenfall mit den Wölfen war Karin wohler zumute, wenn sie in Funkkontakt standen.
Beim Abendessen erzählte John dann fasziniert von seinen Erlebnissen und Beobachtungen, die er in den tief verschneiten Bergen und Wäldern gemacht hatte. Er fotografierte Elche, Karibus, Dallschafe, aber auch Füchse, Biber und Flussotter, die sich an den offenen Wasserstellen tummelten. Manchmal sah er in der Ferne auch Wölfe, die durch den Wald streiften, doch niemals einen Bären.
Insgeheim bedauerte John, dass er den Frühling hier oben nicht mehr miterleben würde. Er wäre so gerne da gewesen, wenn das Leben wieder aus allen Ritzen und Poren drang und diese stille Gegend mit betriebsamer Aktivität erfüllen würde.
Ein- bis zweimal in der Woche gingen sie zu ihrer heißen Quelle. Es war wunderschön im angenehm warmen Wasser zu schwimmen und Zärtlichkeiten auszutauschen. Diese Ausflüge zählten ganz bestimmt zu Johns besonderen Highlights.
Die Indianer ließen sich nun auch öfters blicken. Es schmeichelte Joe sehr, dass John ihm so große Hochachtung und Ehrerbietung aufgrund seines großen Wissens und seiner enormen Erfahrung entgegenbrachte. Außerdem genoss er es sich mit einem Mann zu unterhalten und nicht immer nur mit Frauen.
Joe war Schamane, sowie es schon sein Vater und sein Großvater war. Manchmal kam es John vor, als ob Joe dem realen Leben entrückt war und zwischen dem Jenseits und Diesseits zu wandeln schien. Sein Vertrauen in John ging so tief, dass Joe seinem neuen Freund jene geheimnisvollen Kultstätten und heiligen Orte der Stoney-Indianer zeigte, die normaler Weise beinahe jedem weißen Mann vorenthalten wurden. John wusste diesen Freundschaftsbeweis auch sehr zu schätzen und er war Joe echt dankbar, dass er ihm einen Einblick in das Leben dieser waschechten Ureinwohner ermöglichte, die es bald nicht mehr geben würde. Selbst hier so hoch im Norden Amerikas hatte die Globalisierung nicht halt gemacht, sodass Rassenvermischungen mehr und mehr die Ursprünglichkeit der ethischen Gruppen verblassen ließ. Doch Joe und Cathy waren schon seit vielen Generationen hindurch waschechte Stoneys, die stolz auf ihre Herkunft waren, ihre Traditionen pflegten und hoch hielten. Mit all diesen Erfahrungen und Eindrücken bekam John auch eine ganz andere Sichtweise, die ihn nun sehr von dem Menschen unterschied, der er noch vor einem halben Jahr war.
John nahm daher auch gerne die Einladung an, an einer Schwitzhütten-Zeremonie teilzunehmen. Dies war ein ganz besonderer Gunstbeweis, wenn man dazu eingeladen wurde.
Joe’s Schwitzhütte bestand aus einem igluförmigen Gerüst aus Weidenzweigen, das mit Decken und Fellen abgedeckt war. In der Mitte der niedrigen Schwitzhütte war eine Vertiefung, wo große, runde Flusssteine auf Holzspänen lagen. Cathy hatte schon alles vorbereitet und die Steine schon einige Zeit vorher zum Glühen gebracht. Nachdem sich die beiden Männer in der eisigen Kälte entkleidet und sich mit kräuterdurchwirktem Schneewasser gereinigt hatten, krochen sie auf allen Vieren durch die niedrige Öffnung des dunklen Verschlags.
Joe goss Wasser auf die Steine, das Cathy mit verschiedenen Kräutern angereichert hatte, so dass aromatische Dampfwolken aufstiegen. In der völligen Finsternis, die nur durch den schwachen Schein der glühend roten Steine ein wenig erhellt wurde, wurden alle Sinne plötzlich sehr intensiv und der Schamane forderte John auf nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen zu sehen.
Cathy und Karin waren von diesem Ritual ausgeschlossen. Sie bereiteten in der Zwischenzeit das Abendessen vor. Die Behausung der Indianer unterschied sich grundlegend von dem Haus, in dem Karin wohnte. So befand sich in der Mitte der Blockhütte eine offene Feuerstelle im Boden, die mit Steinen eingegrenzt war. Darüber lag ein Eisenrost, auf dem ein Eintopf köchelte. Die Bettstatt in dem Einzelraum war eine aus Holz zusammen genagelte Kiste, in der eine Unzahl von Tierfällen lag. Bunte Teppiche lagen auf dem hart getretenen, unebenen Waldboden. Die Hütte war sehr einfach eingerichtet und bot so gut wie keinen Luxus. Um die Feuerstelle lagen aber bunte Kissen verteilt, auf die man sich beim Essen nieder ließ. Auf den Bretterboarden lagen neben dem wenigen Koch- und Essgeschirr Lebensmitteln, Amulette, Trommeln, Rasseln, Glöckchen, Tonfiguren, Federn eines Seeadlers, kleine verzierte Dosen unbekannten Inhalts, Holztafeln mit rätselhaften Motiven und noch vieles mehr, das zu Joes Zauberwelt gehörte.
Erschöpft und müde kamen die beiden Männer wieder in die Hütte zurück. John war ungewohnt still und beteiligte sich nur sehr einsilbig an der Unterhaltung. Er war völlig in sich gekehrt, ja zerstreut und reagierte oft erst, nachdem man ihn einige Male ansprach. John fühlte, dass sein Verhalten Karin ziemlich beunruhigte. Sie wusste, dass er in der Schwitzhütte etwas gesehen oder erfahren haben musste, das schwer auf sein Gemüt drückte.
Auch Joe war ein wenig sonderbar. Er wusste um Johns Unruhe und beobachtete ihn. Irgendwann stand Joe auf und hockte sie vor John. Vertrauensvoll legte er ihm seine Hand auf die Schulter und sagte ernst:
„John, deine Zeit ist gekommen. Das Schicksal klopft an deine Tür. Doch hab keine Angst. Der große Geist ist in dir und weist dir den Weg, so wie er dich hier her geführt hat, damit deine blinden Augen sehend wurden, dein Herz fühlen und zu verstehen lernte. Du bist stark und wirst den Gefahren trotzen, genauso wie du wissen wirst, wohin dich dein Weg führt.“
„Joe, ich hab verdammte Angst, weil ich nicht weiß, was mich erwartet.“
„Angst ist gut, solange du dich von ihr nicht beherrschen lässt. Hab Vertrauen in den großen Geist und bete zu ihm. Dann wird dir nichts geschehen, denn er begleitet dich.“
John und Karin brachen vor Einbruch der Dämmerung auf. Die bedrückte Stimmung hatte alle erfasst, als man sich voneinander verabschiedete. Als John Joe umarmte fragte er den Indianer:
„Weißt du, ob wir uns wieder sehen?“
„Wenn du den richtigen Weg einschlägst bestimmt“, erwiderte Joe zuversichtlich.

 

Am Nachhauseweg fragte Karin endlich: „Was hast du in der Schwitzhütte gesehen?“
Nach einer halben Ewigkeit antwortete John:
„Anfänglich gar nichts. Joe wies mich dann an, meinen Oberkörper rhythmisch zu seinem Gesang zu bewegen.Durch das Einatmen des Rauchs aus den ätherischen Ölen merkte ich, wie ich langsam in Trance verfiel. Ich wurde von einer nahenden Gefahr erfasst, die sich so anfühlte, als ob ich vor einem Auto herliefe, das immer näher und näher rückt, um mich zu überfahren.“
„Hast du eine Ahnung, was diese Vision bedeuten könnte?“
„Nicht wirklich. Doch ich vermute, dass es mit der Firma zu tun hat. Lombard Pharma hatte in der letzten Zeit einige Tiefschläge hinnehmen müssen. Außerdem steckte die Firma in finanziellen Schwierigkeiten.“
Den restlichen Rückweg legten sie schweigend zurück. John hing wieder seinen Gedanken nach und auch Karin schwieg, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie ihm helfen konnte. Instinktiv wusste John, dass die Zeit mit Karin bald vorbei sein würde. Der Gedanke sie zu verlieren, war ihm unerträglich geworden. Doch John hatte keine Wahl. Er musste bald zurück.
Es dämmerte bereits, als sie nach Hause kamen. Karin ließ die Hunde ins Freie, damit sie sich ein wenig austoben konnten. Doch Nelson wich nicht von Johns Seite. Er fühlte, dass John anders war als sonst und klebte wie ein Schatten an ihm.
Damit das Schweigen nicht so bedrückend auf ihnen lastete, schaltete Karin das Radio ein. Es spielte einen Hit von Christina Aguilera, der jedoch durch die stündlichen Nachrichten unterbrochen wurde.
John wollte gerade seine und Karins Boots in die Abstellkammer tragen, als ihn der Radiosprecher plötzlich aufhorchen ließ:
„Noch immer gibt es keine Spur von John Lombard, der seit Sonntagmorgen untergetaucht ist. Die Polizei arbeitet auf Hochtouren den Flüchtigen zu finden. Sie nimmt an, dass sich Lombard noch in Kanada befindet, da sofort nach seinem Verschwinden alle Flug- und Schiffshäfen und auch die Highways kontrolliert wurden.
Lombard Pharma hat vor einem Monat ein Präparat gegen Fettleibigkeit auf den Markt gebracht, das nach längerer Einnahme bei einigen Personen zu Herzversagen und Hirnschlag führte. Mittlerer Weile gibt es drei Todesfälle und knapp 50 Personen wurden in Spitäler eingewiesen, wobei sich 19 Erkrankte in den Intensivstationen befinden. Nachdem der erste Todesfall aufgetreten war, rief der Geschäftsführer John Lombard, eine Pressekonferenz ein, in welcher er jeglichen Zusammenhang bestritt, dass das Medikament in Verbindung mit dem Herztod einer 35jährigen Frau stand. Doch nachdem kurz nach der Pressekonferenz ein zweiter Todesfall mit selben Symptomen gemeldet wurde, war Lombard plötzlich unauffindbar. Eine breit angelegte Suche läuft und man hofft den Flüchtigen bald habhaft zu werden.“
Nachdem der Beitrag zu Ende war, schaltete Karin das Radio wieder aus und sah in Johns entsetztes Gesicht. Er erhob sich vom Sofa, auf das er sich fallen hat lassen und begann nervös auf und ab zu laufen.
„Was ist da nur passiert?“ John fuhr sich mit der Hand nervös durch sein nun wieder kurzes Haar, dass Karin ihm vor einigen Tagen geschnitten hatte.
„Hat Philipp ohne die Zustimmung der Gesellschafter RNV3 in Produktion gehen lassen?
Doch wieso bin ich im Spiel und wieso sucht man nach mir?“ sagte er mehr zu sich selbst als zu Karin.
„Alex hätte nie zugelassen, dass Philipp an das Medikament herankommt.“
Karin holte eine Flasche Bourbon und zwei Gläser aus dem Schrank und schenkte diese halbvoll.
„John beruhige dich erst einmal und trank einen Schluck. Durch dieses ständige auf und ab laufen wird die Situation auch nicht besser.“
John setzte sich zum Küchentisch und trank das halbvolle Glas in einem Zug leer. Dann griff er zur Flasche und füllte sein Glas nochmals, doch diesmal voll.
„Ich muss nach Vancouver zurück und mich der Polizei stellen, damit dieses Missverständnis aufgeklärt wird.“
„Das würde ich an deiner Stelle vorerst bleiben lassen. Du solltest einmal die Lage checken bevor du dich stellst, sonst hängst du vielleicht noch eigenhändig deinen Hals in die Schlinge.“
„Aber ich werde wie ein Verbrecher verfolgt, obwohl ich unschuldig bin. Schließlich kann ich meine Unschuld ja beweisen“, erwiderte John empört.
„John, du hast absolut keine Ahnung was los ist. Hier wird ein böses Spiel mit dir gespielt. Man versucht dir den schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben. Und wenn du nicht aufpasst, dann wanderst du noch ins Gefängnis“, warnte ihn Karin eindringlich.
Sie zog einen Stuhl zu John heran und setzte sich ihm gegenüber. Mitfühlend blickte Karin in seine verzweifelten Augen und drückte beruhigend seine Hände.
„John, könnte es nicht sein, dass Philipp deine Identität angenommen hat und im Unternehmen als John Lombard agiert? Schließlich bist du derjenige von euch beiden, der das Vertrauen der Gesellschafter genießt und dessen Wort mehr Gewicht hat.“
„Daran hab ich auch schon gedacht. Doch den Gedanken habe ich wieder verworfen, denn schon nach kürzester Zeit wäre dieser Schwindel aufgeflogen. Selbst wenn Philipps Augenfehler jetzt korrigiert ist und er denselben Kurzhaarschnitt trägt wie ich, so ist sein Auftreten ein ganz anderes als meines. Doch auch wenn er mich so gut imitieren könnte, dass er die Gesellschafter täuscht, so könnte er nie und nimmer Pamela, Alex, unseren Firmenanwalt Sam Porter und auch meine Sekretärin hinters Licht führen.“
Karin nickte nachdenklich. Sie stand auf und ging zum Fenster. Der Himmel war bewölkt. Doch es waren keine dunklen Schneewolken mehr. Der Frühling hatte seinen Einzug gehalten. Schweren Herzens sagte sie:
„John, wir brechen morgen früh auf und steigen ins Tal hinunter. Du bist nun ziemlich gut durchtrainiert und wenn wir zügig vorankommen, dann könnten wir es in zwei Tagen schaffen in Japser zu sein.“
„Aber was ist mit den Hunden? Sie sind ja fast noch Welpen.“ gab John zu bedenken.
„Sie sind stark und werden den Abstieg schaffen. Wenn wir Glück haben, so wird das Wetter die nächsten zwei bis drei Tage halten. Also müssen wir jetzt gehen, solange es trocken ist.“
Karin ging zu John und setzte sich wieder ihm gegenüber. Zuversichtlich blickte sie ihm in die Augen und versuchte so aufmunternd wie möglich zu sagen:
„John, je früher du dieses Dilemma hinter dich bringst, umso besser. Du wirst sehen, es wird alles halb so heiß gegessen wie es gekocht wird. Ich weiß, dass du es schaffst in dieses Chaos wieder Ordnung zu bringen.“

 

Karin bereitete noch am Abend alles für den Abstieg vor. Sie stapelte die notwendige, für den langen Marsch unerlässliche Ausrüstung auf dem Küchentisch. Angefangen vom Zweimannzelt, den Schneeschuhen, Munitionsschachteln, Spiritusbrenner, Hundefutter, Schlafsäcken, Lebensmittel, Seilen und und und musste alles in den beiden Tramperrucksäcken Platz finden.
Die Hunde waren nervös und spürten die Veränderung. Und Nelson blieb nach wie vor in Johns Nähe.
Am späten Abend war alles so weit fertig, dass man am nächsten Morgen zum Aufbruch bereit war. Sowohl John als auch Karin wurden immer wortkarger. Beide wussten, dass sich nach dem Abstieg ihre Wege trennen würden. Und jeder scheute davor zurück dieses Thema anzusprechen, das wie eine schwere Gewitterwolke in der Luft hing. Karin konzentrierte sich völlig auf das Packen, während John mehr oder weniger herumhing und seine Gedanken um die Firma, Philipp, seine Frau und nicht zuletzt um Karin kreisten.
John beobachtete Karin wie sie alles zum wiederholten Male die Sachen kontrollierte und schließlich in die Rucksäcke stopfte.
Er war jetzt fast fünf Monate her, dass ihn Karin halb erfroren im Schnee gefunden hatte. In dieser Zeit hatte eine Welt kennen gelernt, die ihm neue Horizonte eröffnet und ihm eine völlig neue Sicht der Dinge beschert hatte. Obwohl sein Sinnen und Trachten all die Zeit über dahin gehend ausgerichtet war, wieder nach Hause zurückkehren zu können, hatte er nun das beklemmende Gefühl etwas zu verlieren, das ihm unglaublich wertvoll geworden war. Vielleicht war es die Einfachheit, die hier das Leben bestimmte. Bald hatte er gelernt, sich nach der Natur zu richten und mit ihr im Einklang zu leben. Hier war nichts kompliziert und verschwommen, nichts falsch und bösartig. Hier gab es keinen Hass und Neid, keinen Größenwahn und Habgier. Hier war alles klar und unverdorben. Vielleicht ein wenig brutal und hart, aber man weiß schließlich, wonach man sich richten muss und wie man sich zu verhalten hat. Es ist ein ehrliches Leben, das ihn in dieser kurzen Zeit lehrte, in die eigene Seele zu blicken und mit sich selbst im Einklang zu schwingen. Dass diese Klarheit und Erkenntnis so schnell bei ihm Fuß gefasst hatte, verdankte er zweifelsohne Karin. Sie hatte ihm mit ihrem unkomplizierten, ehrlichen, aufmerksamen und liebevollen Wesen gezeigt, welche Schönheiten das Leben auch abseits des Mainstreams zu bieten hatte. Er fühlte sich hier wohl und immer mehr Zuhause, obwohl er wusste, dass er nicht für immer hier bleiben konnte.
Karin war nun soweit mit dem Packen fertig und John half ihr die Rucksäcke zur Tür zu stellen. Sie wurde immer stiller und vermied es John in die Augen zu sehen. Er fühlte, wie sie sich voneinander entfernten und es tat ihm in der Seele weh, diese imaginäre Mauer zu spüren. Doch er konnte nichts dagegen tun. John würde in ein paar Tagen wieder in Vancouver bei seiner Frau sein und Karin wieder hier in den Bergen ihr stilles und einsames Leben weiter führen, so als ob es ihn nie gegeben hätte.
Es war die letzte Nacht, die sie in diesem Haus miteinander verbringen würden. Und zum ersten Mal seit vielen Wochen schmiegte sich Karin nicht an ihn, als sie im Bett lagen. Es war so ungewohnt und befremdend, dass sie reglos in ihrer Betthälfte lag und John nur ihren regelmäßigen Atem in der Dunkelheit hörte. Er konnte nicht so teilnahmslos neben ihr liegen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre. John musste sie diese eine Nacht noch einmal fühlen, riechen und sich an ihrer zarten Haut reiben. Bei diesem Gedankten konnte er nicht mehr anders, als Karins weichen, warmen Körper energisch an sich zu drücken und ihren besonderen Duft tief einzuatmen.
„Karin, ich kann nicht so neben dir liegen und so tun, als ob es die vergangenen Monate zwischen uns nicht gegeben hätte. Ohne dass ich es richtig wahrnahm, bist du ein Teil von mir geworden.“ flüsterte ihr John zerknirscht ins Ohr und umarmte sie leidenschaftlich.
„Du bist auch mir wichtig John. Ich dachte nicht, dass es mir so schwer fallen würde, dich gehen zu lassen.“
Ihre unglückliche, von Tränen erstickte Stimme zeugte von tiefer Wehmut, die sie nun nicht mehr unterdrücken konnte.
John hielt Karin fest und küsste ihr tränennasses Gesicht wieder und wieder. Ihre Lippen fanden sich zu einem leidenschaftlichen Kuss, in dem sich ihre Verzweiflung und Trauer widerspiegelte. Und ein letztes Mal liebten sich mit aller Hingabe, Inbrunst und Liebe, die sie füreinander empfanden…..

 

 

- 9 -

 

Seit den frühen Morgenstunden läuteten die Telefone heiß, sodass Philipps Sekretärin alle Hände voll zu tun hatte, um ihn den lästigen Journalisten abzuschirmen. Tags zuvor hatten Vertreter der Gesundheitsbehörde mit dem nötigen Gerichtsbeschluss bei Philipp vorgesprochen, die die sofortige Rückholung des Medikamentes aus dem öffentlichen Bereich forderten.
Philipp hatte geglaubt in ein tiefes Loch zu fallen, als er von dieser niederschmetternden Hiobsbotschaft in Kenntnis gesetzt wurde. Die schweren, durch RNV3 verursachten Komplikationen hatten einer Person den Tod gebracht und fünf andere kämpften auf den Intensivstationen ums Überleben. Kurz darauf ging eine Verständigung der Staatsanwaltschaft ein, dass gegen Lombard Pharma ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet wurde.
Immer mehr Reporter und Schaulustige fanden sich vor dem Haupteingang der Firma ein und lauerten darauf, dass Philipp ihnen in die Hände fiel. Doch Philipp hütete sich vor die Tür zu treten und diesem sensationsgeilen Pack Rede und Antwort zu stehen.
Nach der unliebsamen und äußerst ernüchternden Unterredung mit Canetti und Pamela war Philipp Arsch ordentlich auf Grundeis gegangen. In den letzten Wochen vor Weihnachten hatte er dem Schlankmacher nur mehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Philipp war sich so sicher gewesen, Anfang des kommenden Jahres nicht mehr in Kanada zu sein, dass er jetzt keinen Plan B in petto hatte.
Noch während der Feiertage hatte Philipp alle Forscher, die mit der Verbesserung von RNV3 in Verbindung standen, in die Firma beordert. Auf Hochtouren wurden noch einmal die Test in verschiedenen Dosieren und leicht abgewandelten Rezepturen an Affen und Ratten durchgeführt. Doch wie schon bei den letzten Tierversuchen zeigten sich keine allzu gravierenden Nebenwirkungen, sodass man sich dazu entschlossen hatte, das Medikament an Testpersonen zu prüfen. Wider Erwarten hatte RNV3 auch ziemlich gut angeschlagen. Es waren zwar bei einigen leichte Kopfschmerzen diagnostiziert worden. Auch der leicht erhöhte Blutdruck hatte nach wie vor ein kleines Problem dargestellt, das aber nicht wirklich bedenklich gewesen war. Bei jeder Testperson hatte sich das Gewicht innerhalb von vier Wochen rasant verringert, ohne dass ein körperlicher Abfall, Konzentrationsprobleme oder Hungergefühle festgestellt worden waren.
Philipp hatte gewusst, dass die Überprüfungsphase viel zu kurz war. Für die Tests waren auch nur gesunde Personen mit Übergewicht ausgewählt worden. Wie das Medikament auf Diabetiker, oder jene Menschen reagierte, die ohnehin unter Bluthochdruck litten, gab es absolut keine Erfahrungswerte. Doch Philip war die Zeit im Nacken gesessen. Die Lüge, dass RNV3 ausgereift sei, hatte ihn nun mächtig unter Druck gesetzt und Canetti forderte Ergebnisse.
In der Hoffnung, dass die vier Wochen ausreichend waren, hatte Philipp die Testberichte den Gesellschaftern vorgelegt, die dem vermeintlichen John Lombard voll und ganz vertrauten. Mit ihrem Sanctus hatte das Medikament endlich für die Produktion freigegeben werden können. Philipp hatte nur hoffen können, dass die vier Wochen Testzeit ausreichend waren.
Seitdem Pamela über seine Aktivitäten in Kolumbien Bescheid wusste, war das Verhältnis zwischen ihnen mehr denn je unterkühlt. Sie versuchten sich so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Sex gab es ohnehin schon lange nicht mehr, was Philipp dankbar zu Kenntnis genommen hatte. Philipp hatte es auch immer mehr vorgezogen, in seiner Wohnung oder in einem Hotel zu übernachten. Der Anblick dieser roten Hexe war ihm abgrundtief zuwider geworden. Per E-Mail hielt er mit Pamela Kontakt und unterrichtete sie über die Fortschritte des Medikaments, doch persönlichen Kontakt gab es keinen mehr.
Das wenige, was Philipp mit Pamela noch verbunden hatte, war der Hass und dass dieses verdammte Medikament so rasch wie möglich auf den Markt geschmissen werden konnte.
Philipp hätte Ende April aus der Firma ausscheiden sollen. Der neue Geschäftsführer hatte bereits Anfang Jänner seinen Dienst angetreten. Wider Erwarten war der Mann kein ehrenwertes Mitglied des Canetti Clans. Philipp hätte den Mann in die Geschäftspraktiken der Firma einführen sollen. Doch Philipp hatte keinen Finger gerührt. Im Gegenteil, wo er den neuen Eigentümern schaden konnte, hatte er es getan.
Philipp hatte schon alles für seinen Umzug vorbereitet, obwohl das Wohnhaus auf der Plantage noch nicht renoviert und bezugsfertig war. Das Haus musste ganz einfach noch warten, denn die für den Betrieb notwendigen Installationen und Renovierungsarbeiten hatten Vorrang. Sein Verwalter Emilio Mendez arbeitete aber zu seiner vollsten Zufriedenheit. Mendes war Philipp zutiefst dankbar, dass er ihn eingestellt hatte. Gute Jobs waren im Hochland Kolumbiens echte Mangelware. Bis Philipp sich von Kanada verabschieden konnte, ließ er Mendez auch freie Hand, die Plantagen wieder aufzubauen und profitfähig zu machen.
Alles schien sich wieder zum Guten gewandt zu haben, sodass Philipp wieder guter Hoffnung war und den Tag herbei sehnte, wo er Kanada und diesem Mörderpack endlich den Rücken kehren konnte.
Doch durch einen einzigen Telefonanruf wurden seine Träume zum zweiten Mal zu Nichte gemacht und seine fast schon greifbaren Zukunftspläne rückten wieder in weite Ferne. Alle Medien berichteten inzwischen über den Todesfall, den RNV3 verursacht hatte. Während er den zugestellten Klagebescheid las, wurde plötzlich die Tür aufgerissen und wie eine Furie stürzte Pamela auf ihn zu.
„Du verdammtes Arschloch, was ist da schief gelaufen?“, fuhr sie ihn aufgeregt an. „In den Nachrichten hört man nichts anderes, als dass es einen Toten gibt, der durch RNV3 krepiert ist. Außerdem soll es noch etliche andere geben, die mit ärgsten Herzproblemen und Schlaganfällen kurz vor dem Abkratzen stehen.“
Philipp stand auf und sah in ihre wild funkelnden, von Hass erfüllten Augen. Für einen kurzen Moment durchströmte ihn ein unsäglich angenehmes Gefühl der Genugtuung. Endlich wurde auch ihr einmal ein Schuss vor den Latz geknallt, der ihrem Höhenflug ein plötzliches Ende setzte. Doch dieser Triumph währte nicht lange und machte schnell jenem Gefühl der Ungewissheit und Angst Platz.
„Halt die Klappe und schließ die Tür“, fuhr er sie harsch an.
Für einen Moment war Pamela benommen. Noch nie hatte Philipp so derb mit ihr gesprochen. Doch wortlos drehte sie sich um und schlug die Tür zu.
„Ich will endlich wissen, wie das geschehen konnte“ forderte sie von Philipp eine Erklärung.
Doch er lächelte sie nur verbittert an und ließ sich in seinen Sessel fallen.
„Du willst wissen, was passiert ist? Ganz einfach, meine Liebe. RNV3 war offensichtlich zu unausgereift, als es in Produktion ging.“
„Willst du damit sagen, dass du ein Medikament freigegeben hast, dass noch nicht völlig ausgetestet war?“, rief sie empört. Bebend vor Zorn hatte sie sich auf dem Schreibtisch abgestützt und wartete auf seine Antwort.
Ihre Morgentoilette hatte Pamela an diesem Tag sträflich vernachlässigt. Die roten Locken fielen unordentlich über ihre Schulter und dunkle Ringe um ihre müden Augen ließen auf eine sehr kurze Nacht schließen. Erste Falten wurden um Mund und Augen sichtbar, die heute noch nicht unter einer dicken Make-up- und Puderschicht begraben wurden. Nun ja, das wilde Nachtleben forderte selbst bei Schönheiten wie Pamela ihren Tribut, stellte Philipp zufrieden fest.
„Genau, RNV3 hätte mindestens noch ein Jahr oder auch länger getestet werden müssen. Doch diese Zeit hatte ich nicht mehr.“
„Unsinn, du hattest alle Zeit der Welt.“
„Meinst du?“ erwiderte Philipp provokant.
„Onkel Ernesto stellte dir die geforderten Geldmittel und das nötige Personal zu Verfügung, damit du rasch und effizient arbeiten konntest. Doch niemand setzte dir ein Zeitlimit.“
„Liebe Pamela, wenn du und dieser fette Canetti nicht so unglaublich gierig und selbstgefällig gewesen wäret, dann wäre es niemals so weit gekommen.“
„Was willst du damit sagen?“ fragte Pamela verwirrt.
„Meinen Betrieb, den du dir und dein ehrenwerter Onkel so skrupellos für eure billige Geldwäsche unter den Nagel gerissen habt, ist mehr als das 20-fache der Wechselsumme zuzüglich der drei Millionen Dollar wert, die ich als kleine Abfindung von euch wollte. Damit wollte ich mir ein neues Leben aufbauen, nachdem ihr mir alles genommen habt, was mir wert und teuer war. Das bisschen Geld hätte dieser reiche Sack aus seiner Portokassa nehmen können und es wäre nicht einmal aufgefallen“, sagte Philipp voller Bitterkeit.
„Ich verstehe nicht, was das jetzt mit unserem Problem zu tun hat.“
„Sehr viel, meine Liebe“, lächelte er Pamela hasserfüllt an. „Ich wollte so schnell wie möglich untertauchen und es war mir scheißegal, was mit dem Schlankmacher und der Firma wird. Mir war damals durchaus bewusst gewesen, dass ich ein toter Mann sein würde, nachdem meine Dienste nicht mehr von Nöten waren. Aus diesem Grund habe ich euch auch gesagt, dass RNV3 kurz vor der Freigabe stünde. Doch dem war nicht so. Das Medikament war noch lange nicht ausgereift. Ich stand Canetti aber im Wort. Daher musste ich mit allen Mitteln die Freigabe vorantreiben und hoffen, dass alles gut gehen würde.“
„Du verdammter Idiot“, schrie ihn Pamela aufgebracht an. „Wieso hast du nichts gesagt!“
„Um dann noch früher zu sterben?“
„Das sind doch reine Hirngespinste.“
„Pamela, meine Naivität hat das Leben meines Bruders und auch jenes von Alex Summer gekostet. Daher habe ich in den letzten Monaten ziemlich rasch dazugelernt und erkannt, wie schnell die Mafia unliebsame Mitwisser entsorgt, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Wenn ihr erkannt hättet, dass RNV3 völlig unausgegoren und nicht reif zum Testen ist, dann hätte ich für euch keine Verwendung mehr gehabt. In aller Ruhe hätte man an dem Medikament weiter arbeiten können, bis es wirklich reif gewesen wäre, um es an die richtigen Testpersonen zu verabreichen. Ich wäre dann leicht ersetzbar gewesen, denn die Anteile an der Firma habe ich ja schon mit der Nichteinlösung des Wechsels an dich abtreten müssen.“
„Aber noch bist du der Geschäftsführer und steckst jetzt mächtig in der Scheiße.“
„Ich würde sagen, zumindest so tief wie du und dein Onkel“, setzte Philipp süffisant nach.
„Was willst du damit sagen?“
„Ganz einfach, es geht nicht nur um meinen Arsch, sondern ihr beide hängt genau so tief drinnen wie ich“, schleuderte er Pamela boshaft ins Gesicht. „Sollte es zu einem Prozess kommen, kannst du sicher sein, dass ich auspacken und euch beide missratenen Kreaturen mit in den Abgrund reißen werde. Und sollte mir ein kleiner unvorhersehbarer Unfall mit Todesfolge ins Haus stehen, so wie es John und Alex passiert ist, habe ich bereits alles in die Wege geleitet, dass nach meinem plötzlichen Ableben bestimmte Unterlagen sofort an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden und du dreckiges Miststück samt des alten Canettis endlich einmal dran kommt.“
Es bereitete Philipp ein tierisches Vergnügen, Pamela einmal so richtig seine Meinung sagen zu können und ihr seinen Abscheu entgegenzuschleudern. Außerdem verspürte er eine tiefe Genugtuung, als er ihre Reaktion auf sein unerwartetes Statement sah. Völlig benommen ließ sie sich in den Sessel vor dem Schreibtisch nieder. Pamela hatte sich so sicher gefühlt, dass sie nicht damit gerechnet hatte, von Philipp einen Strick um den Hals gelegt zu bekommen, den er aus ihrer eigenen Dummheit und Nachlässigkeit gedreht hatte.
„Wie ich sehe, hast du deine Hausaufgaben gemacht. Ich muss sagen, du überraschst mich. Aber nur ein wenig, denn du vergisst eines, dass du nichts in Händen hast, womit du uns festnageln kannst. Außer einem ausgestellten Wechsel, den du nicht einlösen konntest, gibt es nichts, womit du uns belangen könntest.“
„Wenn Du meinst, dass Alex und Johns plötzliche und unmittelbar aufeinander folgende Tode die Staatsanwaltschaft nicht stutzig macht?“
Philipp schien es, als ob er in Pamelas Augen ein wenig Respekt schimmern sah.
„Ok, dann sitzen wir ja alle im selben Boot“, sagte Pamela nüchtern. „Da wir ja für den Fall, dass Komplikationen auftreten würden, vorgesorgt haben, wirst du bis nach der Pressekonferenz, die du geben musst, die Rolle von John weiterspielen. Danach wirst du mit Hilfe meines Onkels untertauchen und nach Südafrika geflogen werden. Dort wirst du wieder deine Identität annehmen und vorgeben, dass du seit mehr als einem Jahr nicht in Kanada warst. Die nötigen Alibis deiner jeweiligen Aufenthalte werden wir dir verschaffen. Du wirst dir das Auge wieder zu einem schielenden zurückoperieren und dein Haar verlängern lassen, damit du absolut nicht mehr mit John zu vergleichen bist. Du wirst zurückkommen und die Agenden deines untergetauchten Bruders übernehmen. Gott sei Dank war ich so weitsichtig, dass ich mir die Unterschriften von John erschlichen habe und diese einem forensischen Schriftgutachten standhalten werden, wenn es zu einer Überprüfung des Schreibens kommen sollte, auf dem grünes Licht für die Produktion gegeben wurde. So gesehen sind wir alle aus dem Schneider, denn der Schuldige wird John sein. Natürlich werden die Schadenersatzzahlungen für das Unternehmen immens hoch sein und sicherlich schwer an der Substanz rütteln. Dann wird man sowieso überlegen müssen, ob man die Firma den Bach runter gehen lässt oder die Zahlungen in Kauf nimmt.“
Pamela stand auf und ging zum Fenster. Immer mehr Demonstranten versammelten sich vor dem Eingang und riefen nach John Lombard. Einige hielten Protestplakate hoch, auf denen unter anderem auch zu lesen war ‚nieder mit dem Kapitalismus’. Wie auf jeder Demo mischen sich immer einige Aufwiegler darunter, die nur um des Protestes willen bei solchen Ansammlungen dabei sind, egal ob es um die Gleichberechtigung der Frauen handelte oder um den Krieg im Nahen Osten. Dann wandte sie sich wieder Philipp zu.
„Sobald der Schnee weg ist, müssen wir die Leiche Johns suchen und diese verschwinden lassen, sofern diese noch vorhanden ist“, sagte sie nüchtern. „Ich hätte auf Onkel Ernesto hören und einen Profikiller auf John ansetzen sollen, dann hätten wir jetzt das Problem nicht. Es war dumm von mir auf dich zu hören. Wenn die Leiche von jemand anderem gefunden wird, hätten wir ein mächtiges Problem.“
Pamela nahm ihre Tasche und suchte nach Ihrem Autoschlüssel.
„Ich werde nach Hause fahren und mich frisch machen. Dann werde ich alles in die Wege leiten, damit du untertauchen kannst. Sicherlich wird es dann nicht mehr lange dauern, bis die Polizei zu Hause auftauchen wird.“
Pamela ging zur Tür. Doch bevor sie diese öffnete, drehte sie sich noch einmal Philipp zu und blickte ihm kalt in die Augen:
„Wenn das hier überstanden ist und wir heil aus dieser Misere raus kommen, werde ich dafür sorgen, dass du mittellos bist. Die Schadenersatzzahlungen werden jeden einzelnen deiner gestohlenen Dollars auffressen. Du wirst genauso bluten wie ich, darauf kannst du Gift nehmen.“
Dann fiel die Tür ins Schloss und ließ Philipp mit ihren Androhungen alleine.

 

 

- 10 -

 

Noch vor dem Morgengrauen standen John und Karin auf. In dieser Nacht hatten beide keinen Schlaf gefunden. Immer wieder hatten sie sich berührt, einander gestreichelt und die vielen zärtlichen Küsse ganz intensiv gefühlt. Sie hatten nur mehr diese Nacht, um so viel wie möglich vom anderen in sich bewusst aufzunehmen. Eindrücke, Empfindungen und Erinnerungen war das Einzige, was zurückbleiben würde und von denen man zehren musste.
Karin bereitete ein ausgiebiges Frühstück vor, bevor sie aufbrachen. Keinem der beiden war nach Essen zumute. Doch sie wussten, um bei Kräften zu bleiben, brauchten sie Kraft und Energie. Fast widerwillig schlangen sie daher den gerösteten Speck mit den Eiern hinunter.
Die Morgendämmerung zog bereits über den Bergkamm, als John und Karin mit ihren riesigen Tramperrucksäcken auf ihren Rücken und den geschulterten Gewehren durch den noch harten und kniehohen Schnee des Waldes stapften. Die Hunde liefen wie eine Eskorte vor ihnen her. Auch Nelson war dabei. Er lief aber nicht mit den Hunden voraus, sondern blieb in Johns Nähe.
Mit dem Wetter hatten die Beiden Glück. Nach einer Stunde Fußmarsch begann sich der Hochnebel zu lichten und die Sonne strahlte immer intensiver durch die sich langsam lösende Nebelschicht.
Im Laufe der letzten Wochen hatte John durch die langen und ausgedehnten Wanderungen eine tolle Kondition gewonnen. Er hielt nicht nur mit Karin Schritt, sie musste sich sogar anstrengen, um nicht zurück zu fallen. Zwischen dem Mann, den Karin vor einigen Monaten hier in der Nähe halb tot aufgelesen hatte und jenem, der nun neben ihr her schritt, lagen nun Welten. Nichts ist mehr übrig geblieben von diesem feinen und arroganten Schnösel, der Probleme hatte seine Notdurft auf einem Klo zu verrichten, das keine Wasserspülung hatte oder der sich am Ausweiden eines erlegten Wildes gestoßen hatte. Der Winter in den Bergen hatte John völlig verändert. Mittlerer Weile bewegte er sich genauso lautlos und geschmeidig durch das Unterholz wie Karin. So wie er es von Karin gelernt hatte, hielt sein wachsamer Blick ganz automatisch Ausschau nach eventuellen Gefahren. Sein vom Wetter gegerbtes Gesicht hatte zwar ein wenig mehr Falten, wirkte aber gesund und frisch. Und sein dichter, schwarzer Bart erinnerte eher an Che Guevara als an ein distinguiertes Mitglied der gehobenen Gesellschaft Vancouvers.
Karin hatte sich zum Ziel gesetzt, am späten Nachmittag den Athabasca River zu erreichen und am Ufer des Flusses ihr Nachtlager aufschlagen. Ihr Weg führte durch dichte Laub- und Nadelwälder, die noch nie durchforstet worden waren. Umso mühsamer war es auch die Strecke zu bewältigen, da man ständig über entwurzelte Baumstämme klettern oder das dichte Unterholz umgehen musste. Oft versank man unangekündigt bis zum Oberkörper im Schnee, weil eine Schneewechte das Loch eines entwurzelten Baumes verdeckte. Ständig musste man auf der Hut sein nicht zu stolpern, um sich nicht zu verletzen. Auch die Schneeschuhe waren hier nicht zu gebrauchen, weil man damit immer wieder über Äste stolperte und sich an Felsen stieß. Am frühen Nachmittag waren beide schon so erschöpft, dass sie nur mehr sehr langsam weiterkamen. Für jede Lichtung war man nun dankbar.
Auch die Hunde wurden immer müder. Ihre anfängliches Herumtollen und freudiges Bellen nahm sukzessive ab, bis sie schließlich mit hängendem Kopf und Schwanz müde hinter ihrer Mutter, John und Karin her trotteten.
Einmal kreuzte ein bereits aus dem Winterschlaf erwachter Grizzly ihren Weg. Doch Karin, John und die Hunde machten so viel Lärm, dass er fluchtartig in den Tiefen des Waldes untertauchte. Auch Wölfe bekamen sie ab und zu vors Auge. Doch die härteste Zeit des Winters war vorbei, sodass der Speiseplan der Wölfe wieder reicher gedeckt war und diese keine Gefahr mehr waren.
Am frühen Abend erreichten sie endlich ihr Ziel. Die Schneeschmelze hatte schon eingesetzt, so dass der Athabasca River ziemlich schnell ins Tal floss. Eisschollen und vereinzelt auch Baumstämme trieben auf der grau dahin fließenden Oberfläche und verliehen diesem ansonsten sehr imposanten Fluss ein eher trauriges Aussehen.
Müde ließen sich John und Karin auf einem vorgelagerten Felsen nieder und betrachteten die braun-graue Brühe, die unter ihnen vorbei floss.
„Den anstrengenden Teil der Strecke hätten wir hinter uns gebracht. Dafür beginnt jetzt der gefährliche Abschnitt.“
John sah in Karins müdes Gesicht und fragte:
„Was meinst du mit gefährlich?“
„Wir müssen rüber auf die andere Seite des Flusses. Auf dieser Seite kommen wir nicht weiter. Wir können unmöglich die Felsen auf und ab klettern. Das würde Tage kosten, bis wir in Jasper sind. “
„Gibt es hier denn keine eine nette, kleine Brücke, wo man bequem über diesen plätschernden Bach gehen könnte oder sollen wir wie Moses übers Wasser wandeln?“ scherzte John deprimiert.
„Brücke kann ich leider keine anbieten und auch mit der Schwerelosigkeit schaut es nicht sonderlich gut aus. Doch ca. 200 Meter nach der Flussbiegung hab ich ein Kanu hinter einem Felsen versteckt.“
Erfreut drückte John Karin an sich.
„Was würde ich nur bloß ohne dich tun? Ich wäre ich absolut verloren.“
Das Lächeln erlosch auf ihren Lippen, als sich beide dem doppelten Sinn seiner Worte bewusst wurden. Schnell wandte sie sich ab und nach den Hunden und Nelson. Dann gingen sie mit den Tieren zudem Felsen vor, wo das Boot versteckt war.
Karin entschied, dass sie erst am nächsten Morgen den Fluss überqueren sollten. Im Augenblick waren sie viel zu erledigt, als dass sie fähig gewesen wären, das Boot sicher ans andere Ufer zu bringen. Zwischen zwei schützenden Felsen schlugen die sie ihr Nachtlager auf und entzündeten ein helles Lagerfeuer. Sowohl Mensch als auch Tier waren nun dankbar für die Wärme des Feuers. Die Hunde und der Luchs bekamen ihr Trockenfutter und Karin teilte sich mit John eine Dose Bohnen mit Speck. Danach krochen sie völlig erschöpft in das kleine Zelt, wo sie sich in ihre dicken Schlafsäcke wickelten und sofort in einen bleiernen Schlaf fielen.
Beide erwachten erst, als die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel stand.
„Verdammte Scheiße“, fluchte Karin, während sie auf ihre Uhr blickte. „Wir haben verschlafen. Es ist schon nach 9.00 Uhr. Seit mindestens zwei Stunden sollten wir schon unterwegs sein.“
„Wo liegt das Problem?“
„Das Problem ist, dass wir unter Umständen nochmals im Freien biwakieren müssen. Wir können in der Nacht nicht marschieren. Im Dunkeln ist der Weg viel zu schwierig und auch zu gefährlich.“
Karin baute das Zelt ab und verstaute es zusammen mit ihren Schlafsäcken in den Rucksäcken. Währenddessen entfachte John wieder das kleine Lagerfeuer und kochte heißes Wasser. Der bittere Löskaffee schmecke abscheulich und auch die belegten Brote hatten weitgehend ihren Geschmack verloren. Das war aber augenblicklich das kleinste Problem der Beiden. Nachdenklich betrachtete John den träge dahin fließenden Fluss.
„Was ist, wenn wir mit dem Kanu den Fuß hinunter fahren. So könnten wir die verlorene Zeit spielend aufholen und vielleicht sogar noch früher als geplant in Jasper sein?“
„Wäre es ein oder zwei Monate später im Jahr, dann würde ich das auch tun. Doch schau auf den Fluss. Überall schwimmen Eisplatten und Treibholz, das im Zuge der beginnenden Schneeschmelze weg gebrochen ist und mit großer Geschwindigkeit den Athabasca River hinunter schießt. Es wäre zu gefährlich mit dem Boot stromabwärts zu fahren. Das Boot ist bei diesem Tempo nur schwer lenkbar und es ist schwierig, diesen vielen Hindernissen rechtzeitig ausweichen zu können. Auch die Stromschnellen darf man nicht unterschätzen. Außerdem haben wir fünf Tiere im Boot, für die das Schaukeln ziemlich beängstigend sein wird. Sie werden versuchen auszubüchsen. Wenn wir kentern, dann haben wir ein mächtiges Problem, denn das Wasser ist eiskalt und wir würden keine fünf Minuten überleben.“
„Doch wenn wir versuchen das Boot in der Nähe des Ufers zu halten, wo das Wasser nicht so schnell fließt und man sich jederzeit ans Ufer retten könnte, ohne völlig nass zu werden, dann könnte es doch funktionieren, oder nicht?“
Karin überlegte einen Moment und ließ ihren Blick über den schnell fließenden Fluss gleiten.
„Nun ja, einen Versuch wäre es zumindest wert. Wenn nicht müssen wir eben wieder zu Fuß weiter.“
Karin trank den letzten Schluck ihres Kaffees, während sie noch einmal die beiden Flussufer genau betrachtete.
„Es wird uns aber trotzdem nichts anderes übrig bleiben, als das Boot auf die andere Seite des Flusses zu bringen. Auf dieser Seite des Athabascas gibt es fast kein Ufer, weil das Felsmassiv hier ziemlich lang den Fluss entlang führt und die Strömung an den Felsen sehr stark ist.“
„Nun gut, dann lass uns aufbrechen. Vielleicht haben wir Glück und wir schaffen es bis zum Abend.“ John schüttete den letzten Rest seines Kaffees ins Feuer, das die Glut zischte und dampfte und stand auf.
Das Kanu war aus Hartplastik, an dessen Innenseite zwei Paddel festgezurrt waren. John und Karin drehten es um und zogen es ins seichte Wasser. Wie Karin befürchtet hatte, machten die Hunden Probleme. Sie wollten partout nicht in das schaukelnde Boot springen. Mit eingezogenem Schwanz und angelegten Ohren begannen sie zu winseln, als ihnen Karin das Kommando zum Springen gab. Anstatt ins Boot zu hüpfen, versteckten sie sich hinter dem Felsen, wo sie ängstlich hervor lugten. Es kostete Karin einiges an Nerven und gutem Zureden, bis sie sich endlich zaghaft ins Kanu bewegen ließen. Karin band sie an einem Seil fest, damit sie während der Fahrt nicht aus dem Boot springen konnten. Obwohl Bonny ziemlich ruhig blieb, tänzelten ihre Jungen unentwegt herum. Karin musste ständig auf den Welpen einreden, damit er sich halbwegs ruhig verhielt. Nelson hatte sich sofort am Bug neben John niedergelassen und blieb reglos zu seinen Füssen liegen. Nachdem Karin das Boot in tieferes Gewässer geschoben hatte, sprang sie auf und nahm im Heck Platz. Beide begannen nun zügig zu paddeln, damit sie so rasch wie möglich in die Mitte des Flusses gelangten.
Erst jetzt konnte man die vielen Eisschollen knapp unterhalb der Wasseroberfläche treiben sehen, die mehr oder weniger hart gegen das Boot prallten und dieses gefährlich ins Schwanken brachte. Durch dieses Schaukeln wurden die Hunde noch unruhiger und versuchten aus dem Boot zu springen. Karin hatte alle Hände voll zu tun, die Tiere in Schach zu halten und mit ihrem Paddel das Boot durch die Eisschollen und Stromschnellen zu manövrieren, während John ununterbrochen paddelte, um aus der reißenden Strömung zu gelangen.
Knapp bevor sie das andere Ufer erreichten, stieß eine zu spät gesichtete Eisscholle dermaßen hart gegen das Boot. Nur unter Aufbietung all ihre Kräfte schafften es John und Karin, dass das Boot nicht kenterte. Einer der Welpen war außer sich vor Angst und wollte flüchten. Doch das kurze Seil, an dem das Tier festgebunden war, verhinderte, dass der Hund ganz im Wasser landete. So hing sein schmächtiger Körper nur zum Teil in dieser kalten Schlammbrühe. Durch sein panisches Strampeln zog sich die Schlinge immer enger um seinen Hals, so dass seine Zunge bald weit aus dem Maul hing und die Augen in Todesangst hervortraten. Doch Pamela konnte ihm nicht helfen. Sie mussten zuerst das Boot in eine ruhige Lage bringen, bevor sie sich um den Welpen kümmern konnte. Rasch zog sie dann den zitternden Welpen aus dem Wasser und bettete das keuchende Tier auf den Boden des Bootes, wo es vor Angst zitternd liegen blieb.
Erschöpft, aber froh halbwegs trocken am anderen Ufer angekommen zu sein, ließen sie das Boot im seichten Wasser langsam dahin treiben. Karin nahm schnell eine Decke aus dem Rucksack und rieb dem unter Schock stehenden Hund das Fell trocken. Mit ihrer weichen, einfühlsamen Stimme sprach sie so lange auf das arme Tier ein, bis sein Zittern endlich nachließ.
Gott sei Dank erwiesen sich Karins Befürchtungen als unbegründet. Weder Eisschollen noch sonstiges Treibgut behinderte ihre Fahrt entlang des seichten Flussufers. Die Beiden mussten aber darauf achten, dass sich das Kanu nicht im angeschwemmten Treibholz verfing oder im Sand stecken blieb. Ansonsten ging die Fahrt ziemlich zügig dahin.
Um Zeit zu gewinnen, legten sie keine Pausen ein, sondern fuhren solange den Fluss abwärts, bis sie kurz nach Mittag in unmittelbarer Nähe der Athabasca Falls ankamen.
„John, hier endet die Fahrt vorerst einmal“, rief ihm Karin zu. „In knapp 200 Meter beginnen die Wasserfälle.“
„Und was machen wir mit dem Kanu?“
„Das müssen wir mitnehmen. Denn bis nach Jasper sind es noch einige Kilometer. Wenn du nicht laufen willst, dann wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als mit dem Boot den Wasserfall zu umgehen.“
Um den Wasserfall herum gab es einen breiten und gepflegten Spazierweg mit Brücken und verschiedenen Aussichtspunkten für Touristen, um den laut tosenden Athabasca River in allen Varianten in die Schlucht stürzen zu sehen. Obwohl es noch sehr kühl war, bestaunten schonb dutzende Reisebustouristen nicht nur dieses Naturereignis, sondern auch das Boot, das auf vier Beinen ging, die bellenden, nicht an Menschen gewöhnte Hunde und nicht zuletzt den Luchs, der zwischen Karin und John teilnahmslos dahin trottete.
Am Ende des Pfades ließen die Beiden das Boot wieder ins Wasser gleiten und setzten ihren Weg fort. Ohne Probleme kamen sie in der Abenddämmerung endlich in Jasper an. John und Karin versteckten das Boot am Ufer zwischen den hier bereits knospenden Sträuchern und setzten ihren Weg zu Fuß fort. Es war ein Glück, dass Karins Haus ein wenig außerhalb des Ortes lag und ihre Anwesenheit unbemerkt blieb.
Man spürte, dass das Haus schon längere Zeit unbewohnt war. Ein untrügliches Zeichen hierfür war der am Gartenzaun angebrachte Briefkasten, der vor Reklamezuschriften fast zu bersten schien. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen, nachdem Karin die Tür aufgesperrt hatte. Karin öffnete alle Fenster und zog die leicht graustichigen Laken von Sofas und Sesseln, mit denen sie auch gleich den Staub von den glatten Oberflächen der Möbel wischte. Im Haus war es eiskalt. John holte aus dem angrenzenden Schuppen Holz und entfachte ein helles Feuer im Kamin, so dass sich die kalte Luft bald angenehm erwärmte. Karin vermied es das Licht anzuschalten, damit man nicht auf sie aufmerksam wurde. Einzig der matte Schein des Feuers warf ein schattenhaftes Licht ins Wohnzimmer. Der Raum war ähnlich eingerichtet wie der Wohnraum in der Jagdhütte. Doch hier fehlten die Heimeligkeit und Wärme. Dafür gab es einen Fernseher und ein Telefon. John drehte sofort das Gerät auf und suchte den lokalen Sender mit den Nachrichten. Doch mehr als Werbeblocks bekam er nicht zu sehen oder zu hören.
„John, ich werde uns Essen holen und dir etwas zum Anziehen besorgen. Mit diesen übergroßen Jeans und der knallroten Jacke fällst du auf wie ein bunter Hund.“
„Ok, ich werde einstweilen das Fernsehgerät nicht aus den Augen lassen. Vielleicht gibt es wichtige Neuigkeiten für mich.“
Karin machte sich zu Fuß auf den Weg in den Ort. Die Kapuze ihres dunklen Parkas zog sie tief ins Gesicht, um soweit wie möglich unerkannt zu bleiben. Im Supermarkt kaufte sie für John Jeans, einen Sweater, Jacke, Schuhe und Mütze in der Hoffnung, dass ihm die Kleidung auch passen würde. Mit zwei großen Papiersäcken in der einer riesigen Pizzaschachtel in der anderen Hand kam sie vollbepackt nach Hause.
Im Wohnzimmer war es mittlerer Weile behaglich warm geworden. Die Tiere lagen erledigt auf dem Boden und schliefen, nachdem sie John mit zwei Dosen Hundefutter verköstigte, die er im Küchenschrank gefunden hatte. Er hatte es sich im Lehnstuhl vor dem laufenden Fernsehgerät bequem gemacht und war wie die Hunde eingeschlafen. Seine Erschöpfung war offensichtlich, denn er hörte Karin nicht einmal, als sie polternd das Zimmer betrat.
Sanft schüttelte Karin an seiner Schulter
„John, wach auf, ich hab etwas zu Essen gebracht“.
Erschrocken fuhr John hoch. Doch als er Karin sah atmete er beruhigt durch.
„Gott sei Dank, du bist es. Ich hatte geträumt, dass die Polizei uns im Boot auf dem Fluss verfolgt.“
„Sei froh, dass ich dich nur mit einer Pizza verfolge, damit sie nicht kalt wird.“ scherzte sie liebevoll.
Karin öffnete den Karton der Pizza und ein wunderbar würziger Duft nach Salami, Pizzakäse und Pomodoro hing in der Luft. Hungrig machten sich beide über die noch warmen Pizzastücke her, während sie die Nachrichten hörten.
Plötzlich wurden Karin und John hellhörig, als im folgenden Beitrag das Debakel von Lombard Pharma zur Sprache kam.
Routiniert teilte die blonde, ein wenig zu grell geschminkte Nachrichtensprecherin mit sachlichem Ton ihrer Sehergemeinschaft mit: ‚Noch immer tappt die Polizei im Dunkeln, wo sich der auf der Flucht befindende Geschäftsführer John Lombard von Lombard Pharma, versteckt halten könnte. Groß angelegte Suchaktionen blieben bis jetzt erfolglos. Durch das rasche Handeln des Gesundheitsministeriums wurde das Medikament RNV3 aus dem Verkehr gezogen, sodass keine weiteren Opfer mehr zu Schaden kamen. Mittlerer Weile meldete sich Philipp Lombard, der Zwillingsbruder von John Lombard. Philipp Lombard hatte sich vor knapp einem Jahr aus der Firma zurückgezogen, da es unüberwindliche Differenzen zwischen ihm und John Lombard bezüglich der Firmenideologie und –führung gegeben hatte. Am späten Vormittag ist er aus Südafrika zurückgekehrt, um sich um das führungslose und schwer unter Beschuss geratene Unternehmen nun kümmern. Wir schalten nun nach Vancouver, wo unsere Korrespondentin Claire Brown Philipp Lombard interviewt.’
Eine junge, dunkelhäutige Frau lächelte mit einem Mikrofon in der Hand vor dem Firmenportal des Pharmaunternehmens in die Kamera. Ihr zur Seite stand Philipp, der darauf wartete, dass das Wort an ihn gerichtet wird. Nachdem sie lange genug gelächelt hatte, begann sich endlich mit energiegeladener Stimme:
„Ich befinde mich hier vor dem Haupteingang des Pharmakonzerns Lombard, der in den letzten Tagen durch ziemlich schwerwiegende Vorfälle Beschuss geriet. Das bis vor wenigen Tagen hoch integre Unternehmen soll Schuld daran tragen, dass mittlerer Weile drei Menschen durch die Einnahme des neuen fettreduzierenden Medikamentes RNV3 gestorben sind und weitere 12 Personen noch immer auf den Intensivstationen der Krankenhäuser behandelt werden müssen. Mir zur Seite steht nun Philipp Lombard, der Bruder des untergetauchten Chefs des Unternehmens John Lombard, der nun versuchen will, den immensen Schaden, der durch die unbedachte Freigabe dieser vermeintlichen Wunderpille entstand, einzudämmen.“
Sie drehte sich nun zu Philipp, der in seinem schwarzen, perfekt sitzenden Anzug sehr seriös und Vertrauen erweckend wirkte. Überrascht stellte John fest, dass er wieder seinen Pferdeschwanz trug.
„Mr. Lombard, was sagen sie zu diesen schrecklichen Ereignissen der letzten Tage?“
Philipp drehte sich zur Kamera, die ihn nun voll im Visier hatte.
John sprang auf und ging zum Bildschirm.
„Das gibt es doch nicht, Philipp schielt wieder.“ stellte John ungläubig fest.
„Sagtest du nicht, dass er sich operieren hat lassen?“
„Ja, sein Silberblick war völlig verschwunden gewesen, als wir uns zum Ski fahren trafen. Ich kann mich noch gut erinnern wie er sich freute, als er mich damit überraschen konnte“, sagte John. „Doch schau ihn dir an, der Blick seines rechten Auges ist wieder völlig starr. Außerdem trägt er wieder seinen pomadisierten Pferdeschwanz. Das ist doch unmöglich, dass ihm innerhalb der letzten fünf Monate so schnell sein Haar nachwachsen konnte.“
„Nun ja, ein guter Friseur macht es möglich“.
John ließ sich unmittelbar vor dem Bildschirm am Boden nieder, ohne Philipp auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen.
„Ich muss gestehen, ich war zutiefst erschüttert als ich durch die Medien von dieser Hiobsbotschaft erfuhr. Ich rief sofort meinen Bruder an und verlangte Aufklärung. Ich habe von ihm erfahren, dass er das Medikament nicht der vorgeschriebenen Testphase unterzog worden war und er RNV3 wesentlich früher freigegeben hatte und in Produktion gehen ließ. Mehr habe ich selbst nicht erfahren, da er dringend zu einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz musste. John wollte mich zurück rufen, doch bis heute hörte ich nichts mehr von ihm.“ erwiderte Philipp benommen.
„Wieso sind sie erst nach knapp zwei Wochen wieder nach Kanada zurück gekehrt, wo das Unternehmen doch augenblicklich Kopf steht.“ bohrte die Journalistin weiter.
„Nun, erstens waren keine zwei Wochen, sondern zehn Tage. Und zweitens konnte ich deshalb nicht früher kommen, da ich einen befreundeten Ornithologen zum oberen Lauf des Orinocos begleitet hatte. Ich bewegte mich zu dieser Zeit fernab von allen Medien, Telefon und Internet. Als ich zurück kam und von diesen schrecklichen Vorfällen erfuhr, rief ich natürlich umgehend meinen Bruder an. Als er mich jedoch nicht mehr zurück rief und ich ihn auch nicht mehr erreichte, buchte ich äußerst beunruhigt den nächsten Flug nach Kanada.“
Mit diesem plausiblen Statement stellte er sich klar als Unschuldsengel dar, der nun in dieser schwierigen Situation den Fels in der Brandung spielen wollte.
„Und was werden sie jetzt tun; Mrs. Lombard?“, fragte ihn die Reporterin. „Hohe Schadensersatzklagen stehen dem Unternehmen ins Haus und ein Prozess wegen fahrlässiger Tötung.“
„Ja, viele Probleme kommen nun auf mich, auf die Firma. zu. Ich habe bereits kurz mit den Gesellschaftern und mit unseren Anwälten gesprochen. Es kann aber nicht sein, dass unschuldige Menschen in der Firma aufgrund des Fehlverhaltens meines Bruders denunziert werden. Jedenfalls werden wir alle zusammen versuchen, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen und hoffen, dass John zur Vernunft kommt und sich stellt. Auf jeden Fall ist Lombard Pharma bemüht, die Opfer angemessen mit Schadenersatzzahlungen zu entschädigen.“
John drehte das Gerät ab, stand auf und sah Karin fassungslos in die Augen.
„Das kann doch nicht wahr sein, was ich da eben hörte.“
„John du steckst echt in der Scheiße. Und wenn du jetzt nicht vorsichtig bist, dann erstickst du darin.“ stellte Karin nüchtern fest.
Karin stand auf und schlang tröstend ihre Arme um ihn.
„Du kannst dich unmöglich der Polizei stellen“ warnte sie ihn. „Philipp hat bestimmt alles so gedreht und gewendet, dass du als Schuldiger dastehst. Ich bin überzeugt, dass Philipp glaubt, du seist tot. Jetzt kann er dich mit all dem belasten, was in deiner Firma falsch gelaufen ist.“
„Ja, so ähnlich sehe ich das auch.“
„Hast du Freunde, auf die du dich verlassen kannst und die dir vielleicht Informationen beschaffen können?“
„Nun in der Firma gibt es meinen Freund Alex Summer und auch meine Sekretärin Alice, die völlig loyal mir gegenüber ist. Auch unserem Firmenanwalt Sam Porter kann ich vertrauen. Und natürlich vertraue ich voll und ganz meiner Frau.“
John löste sich aus Karins Umarmung und ging nervös auf und ab.
„Ich muss so schnell wie möglich nach Vancouver zurück“.
„Ich weiß, doch heute ist es schon zu spät. Du musst versuchen dich auszuruhen und ein wenig zu schlafen. Ich kann mir vorstellen, dass du die nächsten Tage nicht wirklich dazu kommen wirst.“
„Ja, aber wie komm ich morgen in die Stadt?“ sagte John mehr zu sich selbst als zu Karin.
„Ich hab ein Auto in der Garage stehen.“ beantwortete Karin seine Frage.
Erfreut sah er Karin an.
„Und du würdest es mir leihen?“
„Nein, John, ich werde dich fahren.“
„Das ist doch nicht notwendig.“
„Lieber John, selbst wenn du jetzt aussiehst wie ein Holzfäller, so wirst du ohne Ausweis nicht durch die Straßensperren kommen. Man sucht überall nach dir. Und die Highways werden voll von Polizeikontrollen sein.“
„Das würdest du wirklich für mich tun?“ fragte er sie verwundert?
„Ja, und wenn nötig noch viel mehr“, erwiderte sie voller Entschlossenheit.

Eng einander gekuschelt lagen die beiden in dem ungewohnten Bett. Weder John noch Karin verspürten nun mehr Lust auf Zärtlichkeiten. Die Angst saß John viel zu sehr im Nacken, als dass er sich auf angenehmere Dinge konzentrieren hätte können. Ständig wurde er wach und versuchte einen Weg aus diesem fürchterlichen Schlamassel zu finden. In diesen Momenten wurde sich John nur zu sehr der Tatsache bewusst, wie bald er schon von Karin Abschied nehmen musste und sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Niemals zuvor hatte sich John so unglücklich und zerrissen gefühlt wie in diesem fremden und unbequemen Bett.
Beovr noch der Morgen dämmerten, standen die Beiden auf. John zog nun die neuen Kleider an, die ihn Karin besorgt hatte. Zum ersten Mal nach langer Zeit trug er wieder Jeans, die ihm einiger Maßen passten und nicht um zwei Nummern zu groß waren.
Nach dem Frühstück half John Karin die Batterie in den alten Chrysler Voyager anzuschließen. Sie hatten Glück, denn nach zwei Startversuchen sprang der Wagen beim dritten Mal an und lief so rund, als ob er gestern erst gefahren worden wäre. Karin ließ die Hunde und den Puma ins Auto springen und die Fahrt nach Vancouver konnte beginnen. So zeitig am Morgen war auf dem Highway noch nicht sehr viel los. Doch nach und nach füllte sich die Straße und sie gerieten in den träge fließenden Morgenverkehr.
Plötzlich platzte es entsetzt aus John heraus: „Shit, da vorne ist schon ein Checkpoint. Wir müssen ihn umfahren.“
„Nein John, wir sind viel zu nahe, sodass es den Polizisten auffallen würde, wenn wir jetzt umkehren. Klettere schnell nach hinten zu den Hunden, leg dich zwischen die Vorder- und Rücksitze auf den Boden und wirf dir die Decke über dich, auf der die Hunde liegen. Dann lass die Hunde auf dir herumtrampeln.“
Verdutzt blicke John Karin an. Sie lächelte ihn aber optimistisch zu und sagte: „Vertrau mir, ich hab mir genau überlegt was ich tu“. Er kletterte nach hinten und versteckte sich so unter der Decke, wie es ihm Karin geraten hatte. Nach und nach begann sich die Geschwindigkeit des Autos zu verringern, bis der Wagen nur mehr im Schritttempo vorwärts kam.
Nervös fingen die Hunde zu bellen an. Sie waren weder den Straßenlärm, noch die vielen Menschen und Autos gewohnt. Nicht zuletzt fühlten sie auch die Anspannung, die von Karin und John ausging. Selbst unter der dicken Decke spürte John die schmerzhaften Krallen der Hunde, die aufgeregt und verdammt rücksichtslos auf ihm herum trampelten.
Als Karin beim Checkpoint hielt, ließ sie das Fenster herunter. Wie auf Kommando kläfften die vier Hunde mit hochgezogenen Lefzen nach vor, sodass der Polizist automatisch zurückschreckte. Eingeschüchtert durch die Aggressivität der Hunde fragte er Karin:
„Guten Tag Lady. Wir sind auf der Suche nach diesem Mann auf dem Foto hier. Kennen Sie den Mann vielleicht, oder haben sie ihn gesehen?“
Dabei hielt er Karin in sicherem Abstand das Bild eines freundlich lächelnden und sehr seriös wirkenden John unter die Nase. Karin betrachtete es eingehend und schüttelte schließlich verneinend den Kopf.
„Wer ist das?“ fragte sie ahnungslos.
„Ein Verbrecher, der untergetaucht ist“, antwortete der Polizist, ohne die kläffenden Hunde aus den Augen zu lassen.
„Tut mir leid Officer, aber diesen Mann kenn ich nicht“, log sie ohne mit der Wimper zu zucken.
„Was ist los mit diesen Biestern?“ wollte der genervte Polizist wissen.
„Oh, sie müssen entschuldigen, die Hunde sind keine Menschen gewöhnt. Bis gestern lebten sie völlig abgeschieden in einer Berghütte im oberen Teil des Nationalparks. Ich züchte Deutsche Schäfer für Großgrundbesitzer, die Schutzhunde brauchen. Jetzt fahre ich nach Vancouver zu einer Ausstellung, wo ich hoffe Käufer zu finden. Aber vorher muss ich sie noch ein bisschen an Menschen gewöhnen, damit sie nicht gleich jeden anfallen, der ihnen über den Weg läuft. Doch aus Erfahrung weiß ich, dass das nicht allzu lange dauert, weil ich…“
„Ok, ok, ich verstehe, fahren sie weiter“, unterbrach sie der gereizte Polizist, der auf eine Durchsuchung des Wagens verzichtete. Das letzte, wonach ihm jetzt war, war eine anstrengende, redselige Frau, die ihm über ihre Scheiß Köter einen Vortrag halten wollte. Außerdem wollte er von diesen bisswütigen Tieren nicht angefallen werden.
Karin beschleunigte langsam das Tempo. Nachdem sie sicher war, dass kein Polizist mehr auf das Auto achtete, atmete sie erleichtert durch und rief John zu:
„Du kannst hervorkommen, die Gefahr ist vorbei.“
Die Hunde bellten noch immer, als sich John unter der Decke hervorkroch und wieder auf den Beifahrersitz kletterte. Auch Nelson musste mit John unter der Decke versteckt gehalten werden, sonst hätte es sicherlich Probleme gegeben. Dem Luchs war das Gekläffe nun zu laut und er verkroch sich im hinteren Teil des Wagens
Verwundert betrachtete John Karin, die spitzbübisch vor sich hin lächelte.
„Wie viele Seiten hast du noch an dir, die ich nicht kenne? Du kannst ja lügen, dass sich die Balken biegen. Und ich dachte, du bist die pure Ehrlichkeit in Person.
Ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden, erwiderte Karin:
„Nun, es gibt eben Situationen, wo man über seinen Schatten springen muss. Schließlich habe ich versprochen dir zu helfen. Und ohne kleine Notlügen schaffen wir es nicht bis nach Vancouver.“
Noch zweimal musste Karin an einer Straßensperre halten und das Prozedere vom letzten Checkpoint nahm erneut seinen Lauf. Jedes Mal reizte Karin die Hunde so lange, bis sie laut und aggressiv zu bellen begangen, während John sich mit Nelson unter der Decke versteckt hielt. Und wie beim ersten Mal kamen sie ohne Schwierigkeiten durch die Prüfstellen.
Ansonsten verlief die Fahrt bedrückend still. John hörte ständig die Nachrichten, um an eventuelle Informationen zu gelangen, die für ihn wichtig sein konnten. Doch bis auf den Umstand, dass der Nachrichtensprecher nach wie vor erwähnte, dass John flüchtig sei, war nichts Neues zu erfahren.
Karin und John gerieten vor den Toren Vanocuvers in den sich bereits in den letzten Zügen befindenden Morgenstaus, so dass die Fahrt streckenweise schleppend voran ging.
Die vielen Menschen auf den Gehsteigen und in den Autos machten John nervös. Die Angst erkannt zu werden, kreiste wie ein Damoklesschwert über ihm. Nachdem sie fast an ihr Ziel erreicht hatten, bat er Karin, die nächste Straße einzubiegen. Karin fuhr an einer lang gestreckten, schon ziemlich verfallenen Fabrikhalle entlang und parkte auf dem dazugehörigen Parkgelände, wo nebst Karins Voyager nur noch eine ausrangierte Autoleiche abgestellt war.
Karin hatte den Motor abgestellt und blickte John unverwandt an. Beide wussten, dass der Abschied nun gekommen war. Der Kloß in Johns Hals wurde immer größer. Wie sehr hatte er doch noch vor einigen Monaten diesen Augenblick herbeigesehnt, endlich wieder in Vancouver, in der Zivilisation zu sein. Und nun, wo es soweit war, war alles ganz anders geworden.
Die letzten Tage waren so hektisch und problematisch gewesen, so dass er sich nicht wirklich auf diesen Abschied vorbereiten hatte können. John fühlte nur, dass er Karin nicht verlieren wollte. Und doch musste er gehen, um diesen Hexenkessel in seiner Firma wieder in Ordnung zu bringen. Doch wie würde er es schaffen dem Wirrwarr seines Herzens Herr zu werden? John stand zwischen zwei Frauen, die nicht unterschiedlicher hätten sein können, doch die er mit gleicher Intensität liebte.
Der Kummer in Karins traurigen Augen zog sein Herz zusammen. Seufzend griff er nach ihrer Hand und presse sie auf seine Lippen.
„In meinem Leben ist mir noch nie etwas so schwer gefallen, als dich zu verlassen. Ich wollte dir noch so viel sagen, doch ich bin wie vor den Kopf geschlagen.“
„Sag ganz einfach nichts“, flüsterte sie mit belegter Stimme. „Wir wissen ja ohnehin, wies im anderen aussieht.“
Karin versuchte zu lächeln. Doch mehr als eine Grimasse wurde nicht daraus. Mit tränennassen Augen berührte sie mit ihrer kalten Hand seine bärtige Wange. Für einen Moment verharrten sie dieser wundervoll vertrauten Geste und Zeit und Raum waren vergessen.
Doch viel zu schnell war dieser Augenblick vorüber. Ernüchtert griff Karin in die Seitentasche ihres Parkas und holte die Bilder heraus, die John mit der Kamera oben am Lake Pleasure geknipst hatte. Überrascht sah John auf die Bilder.
„Woher hast Du die?“
„Ich hab sie Jasper entwickeln lassen, während ich einkaufen war und die Pizza für uns besorgte. Ich dachte, damit du uns nicht ganz vergisst.“
„Glaubst du wirklich, dass ich diese Fotos bräuchte, um diese wunderbare Zeit zu vergessen? Du hast dich unauslöschlich in mein Gedächtnis, doch vor allem in mein Herz eingebrannt.“
„Dann willst du sie nicht?“, fragte Karin bestürzt.
„Oh doch“, bestand John auf die Fotos und nahm sie Karin aus der. „Sie werden mich begleiten, wo immer ich auch hingehe.“
Zutiefst gerührt sah er die Aufnahmen durch und nahm dann jenes heraus, das er am Morgen des Weihnachtstages geschossen hatte. Einen langen Moment betrachtete er das Foto, wo Karin mit den Hunden ausgelassen im Schnee gespielt hatte und ihn mit ihren roten Backen glücklich anlächelte. Dann steckte er es in die Brusttasche seines Parkers, während er die anderen Bilder in seinem, kleinen Rucksack verstaute.
Karin begann hektisch in ihrer Handtasche zu kramen und lächelte erleichtert, als sie das Kuvert fand und es John reichte.
„Darauf hätte ich jetzt fast vergessen.“
„Was ist da drinnen?“ wollte John wissen.
„Was wohl, Geld natürlich.“
John war unangenehm berührt, dass Karin ihm Geld geben wollte.
„Aber das kann ich nicht annehmen.“ „Das glaub ich dir gerne. Doch ohne einen Cent in der Tasche wirst du nicht weit kommen“, sagte sie nüchtern. „Es sind nur 500 Dollar. Weit wirst du damit ohnehin nicht kommen.“ „Du beschämst mich, Karin.“ sagte John und nahm das Kuvert.
„Nein, nur ein Trick, um dich vielleicht wieder zu sehen. Es ist nämlich nur geborgt. Denn wenn alles wieder im Lot ist, verlange ich es zurück“, versuchte sie zu scherzen. Doch John war sich durchaus bewusst, dass hinter diesen locker gesagten Worten weit mehr steckte.
Er verstaute das Kuvert hinter dem Bild in der Brusttasche seines Anoraks.
„Du bist wirklich unglaublich Karin. Und das meine ich nicht nur, weil ich dich liebe“.
„Ich weiß John. Ich weiß.“ Und ein letztes Mal küsste sie ihn sanft auf seine Lippen.

 

 

 

 

 

 

2. BUCH

 

 

 


-11 -

 

Mit schnellem Schritt ging John ging in Richtung Zentrum. Mit seinem dunklen Vollbart, dem vom Wetter gegerbten Gesicht und mit der tief in die Stirn gezogenen Nike-Mütze fühlte er sich halbwegs sicher. Der aufgestellte Kragen seines Anoraks und seine dunkle Sonnenbrille vervollständigten seine Anonymität. John mied aber trotzdem die belebten Straßen, die zu seiner Wohnung in Glastown führten.
In den vergangenen Monaten hatte John die Erfahrung gemacht, dass ihn Laufen beruhigte und seine Konzentration förderte. Denn klare und durchstrukturierte Gedanken waren für ihn jetzt das Allerwichtigste. So ganz wollte es ihm aber nicht gelingen, bei der Sache zu bleiben. Immer wieder drängte Karin in sein Denken, die ihm mit ihren großen, sanften Rehaugen unglücklich nachgesehen hatte. Der Abschied von ihr hat John mehr zugesetzt, als er wahrhaben wollte und sein Innerstes war völlig in Aufruhr geraten. Mit aller Willenskraft musste er sich zwingen, seine wunderbare Geliebte aus seinem Kopf rauszuhalten und den stechenden Schmerz in seiner Brust ignorieren.
Für die Probleme, die jetzt auf ihn zukommen würden, braucht er absolute Konzentration und äußerst sensibilisierte Sinne, damit ihm ja kein Fehler unterlief. John wusste aber, dass die Zeit kommen würde, wo sich Karin nicht mehr zur Seite schieben lassen würde.
Energisch schüttelte John seinen Kopf, so, als ob er damit diese tiefschürfenden Gedanken so einfach abschütteln könnte. Zu aller erst musste er Pamela sehen. John musste seiner Frau endlich Bescheid geben, dass er am Leben war. Wie würde sie reagieren, wenn er plötzlich vor der Tür stand? Würde sie ihn überhaupt noch erkennen, so wie er jetzt aussah? Nicht nur seine wilde Lockenpracht und der Vollbart ließ ihn völlig anders aussehen. Auch sein nun ziemlich durchtrainierter Körper war um einiges schlanker als vorher. Doch diese Veränderung mochte nur auf den ersten Augenblick schockierend wirken. Mit einem scharfen Rasiermesser und einem Besuch beim Friseur würde er nach außen hin fast wieder wie der alte John aussehen. Doch seine mentale Veränderung war weder durch eine Rasur, noch mit einem schicken Messerhaarschnitt aus der Welt zu schaffen.
Die Freude und die Erleichterung, endlich wieder in seiner Stadt zu sein, wollten sich einfach nicht einstellen. Dieser Umstand lag sicherlich nicht nur daran, dass ihm die katastrophalen Zustände der Firma schwer im Magen lagen. Johns Weltbild hatte sich einfach verändert. Je näher er dem Stadtkern kam, umso schicker, aber auch hektischer wurden die Menschen, die ihm in den Straßen begegneten. Die unglaubliche Hast ließ ihn unwillkürlich an einen schwärmenden Bienenstock denken. Noch vor einem halben Jahr hatte John diese Geschäftigkeit als inspirierend und äußerst lebendig empfunden. Doch nun sah er in diesen erfolgreichen Managertypen und karrierebewussten Strebern nichts anderes als Getriebene ihrer selbst, die ohne Rast und Ruhe irgendwelchen Idealen nachjagten und innerlich verdorrten.
Ob Pamela diesen neuen John auch noch lieben würde? Eine beunruhigende Mischung aus Angst, Enttäuschung und Zweifel bemächtigte sich seiner. Was ist, wenn sie ihn schon vergessen hatte und absolut nicht erfreut war, dass er noch lebte? Vielleicht hatte sie ja auch schon einen anderen Mann? John wusste, dass sexuelle Enthaltsamkeit nicht unbedingt zu ihren großen Stärken zählte. Und in einem halben Jahr konnte viel passieren.
Doch John wollte jetzt keine deprimierenden Szenarien in seinem Kopf durchspielen. Er wollte positiv denken und sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau freuen. Doch es gelang ihm nicht wirklich, jenes Glücksgefühl heraufzubeschwören, von dem er noch am Anfang seines ungewollten Aufenthaltes in den Bergen geträumt hatte.
John beschleunigte seinen Schritt. Er wusste, dass Pamela eine Langschläferin war und meist erst am späten Vormittag die Wohnung verlassen würde. Wenn er sie nicht verpassen wollte, dass musste er sich beeilen. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sie von einer Telefonzelle aus anzurufen. Doch diese Idee verwarf er wieder. John wollte sie überraschen und sehen wie sie auf sein unerwartetes Auftauchen reagieren würde.
Nach knapp zwei Stunden Fußmarsch bog er von einer schmalen Seitenstraße in die breit angelegte Water Street ein. Ein kalter Nordwind fegte durch die Straßen und machte den ohnehin schon trüben Apriltag noch kälter. Keiner der Passanten achtete auf John. So schnell wie möglich wollte jeder dieser schneidenden Kälte entgehen und man hastete rasch seinem Zielort entgegen.
Den in seinem Gesicht brennen Wind nahm John aber nur am Rande wahr. Viel zu aufgeregt ging er die vertraute Straße entlang, bis er vor dem imposanten, viktorianischen Backsteinhaus angekommen war, in dem er mit Pamela das Dachterrassenappartement bewohnte.
John wollte gerade auf die Drehtür seines Wohnhauses zusteuern, als er gerade noch rechtzeitig das hinter dem Zeitungskiosk geparkte Polizeiauto wahrnahm. In dem Wagen saßen zwei junge Polizisten. Gelangweilt beobachteten sie Passanten, die in das Haus ein und ausgingen. Ganz unauffällig hatte John die Richtung wieder geändert und bewegte sich nun in einer kleinen Menschentraube versteckt über den geregelten Straßenübergang. Mit eingezogenem Hals und aufgestelltem Kragen steuerte er direkt auf das kleine, italienische Cafe zu, von dem er einen ungehinderten Blick auf die Garage seines Wohnhauses hatte. Gott sei Dank war seine Tarnung so hervorragend, dass ihn keiner der Kellner wieder erkannte. Hinter einer Zeitung versteckt, wartete er nun darauf, dass Pamela in ihrem Auto das Haus verließ. John konnte nur hoffen, dass sie ihre alten Gewohnheiten beibehalten hatte und wie immer an einem Dienstag um die Mittagszeit in ihr Fitnessstudio fahren würde.
John wurde immer unruhiger. Seit zwei Stunden saß er nun schon in dem Cafe und wartete auf ihr Auftauchen. Es schien aber so, als ob Pamela ihre Gewohnheiten wirklich geändert hatte, denn nach wie vor war nichts von ihr zu sehen. John hatte keine Ahnung was er jetzt tun sollte. Bald würde das Personal des Cafes auf ihn aufmerksam werden, wenn er noch länger ohne Gesellschaft hier sitzen bleiben würde. Aber wo sollte er hin. In die Wohnung konnte er unmöglich hochfahren. Das war bestimmt genauso gefährlich, wie sie von einem Münzsprechapparat anzurufen. Sicherlich würde ihre Telefonleitung überwacht werden.
Noch während er verzweifelt überlegte, wie er an sie rankommen konnte, öffnete sich das Garagentor und Pamelas roter Porsche fuhr langsam die Auffahrt hoch. Hastig warf John ein paar Dollar auf den Tisch und verließ das Cafe. So schnell wie möglich drängte er nun durch die Menschenmenge. John musste es unbedingt bis zur nächsten Grünphase der Ampelschaltung schaffen, die ca. 50 Meter von ihm entfernt war. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, versuchte er mit nicht zu schnellem Schritt an dem gegenüber liegenden Polizeiauto vorbeizukommen. Pamelas Wagen hatte sich mittlerer Weile in den dichten Straßenverkehr eingereiht und rollte langsam auf die geregelte Kreuzung zu. Gott sei Dank staute es auf der Fahrbahn und der Porsche konnte sich nur im Schritttempo vorwärts bewegen, sodass er eine Ampelphase abwarten musste. Unauffällig hatte sich der Polizeiwagen einige Autos hinter Pamelas Porsche in die zähe Verkehrsschlange eingliedert. Ein großer Transportwagen drängte von einer Seitenstraße in die Hauptfahrbahn, sodass die Sicht der Polizisten auf Pamelas Wagen nun durch den hohen Aufbau des Lieferwagens blockiert war. Diese Chance durfte sich John nicht entgehen lassen. Blitzschnell lief er auf die Straße. Dann öffnete John die Tür des Porsches und nahm neben Pamela auf dem Beifahrersitz Platz.
„Hallo Pamela,“ begrüßte John seine Frau aufgeregt. Zutiefst erschrocken begann Pamela hysterisch zu schreien, während sie ihn mit angstvoll geweiteten Augen anstarrte: „Verschwinden Sie aus meinem Wagen, sonst rufe ich die Polizei!“
„Pamela, hör auf zu schreien“, fuhr er sie nervös an. „Die Leute um uns herum werden schon aufmerksam. Erkennst du mich denn nicht? Ich bins, John.“
John hatte zwar keine genaue Vorstellung was er erwartet hatte, wenn ihn Pamela nach so langer Zeit wieder sehen würde. Doch sicherlich hatte er nicht mit dieser Überreaktion gerechnet. Enttäuscht nahm er Mütze und Sonnenbrille ab, damit sie ihn endlich erkannte.
Pamela wollte gerade wieder zu einem lauten Schrei ansetzen. Doch dieser erstarb auf ihren Lippen und sie blickte ihn großen Augen an.
„John, Du lebst?“, flüsterte sie erschüttert.
John hatte ganz vergessen, wie bezaubernd schön und anmutig sie war. Ihr glänzendes, rotblondes Haar fiel in sanften Wellen über ihre zarten Schultern. Sie trug ein extravagantes, eng anliegendes Kostüm im Tigerlook und hauchdünne, schwarze Strümpfe, die ihre langen Beine unter dem ziemlich kurzen Rock noch länger erscheinen ließen. Aber auch ihre Brüste zogen seinen Blick an, die hart gegen den Ausschnitt ihrer tief dekolletierten Jacke pressten. John musste dem Drang widerstehen, Pamela an sich zu drücken und ihr schönes Gesicht zu küssen. Doch er hielt sich bewusst zurück und lächelte sie nur voller Zärtlichkeit an. Pamela war völlig durcheinander und wusste nicht, was sie sagen, oder sich verhalten sollte.
Die Ampel hatte mittlerer Weile auf Grün gewechselt und ein ungeduldiges Hupkonzert begann hinter ihnen.
Der fette, rotgesichtige Fahrer des riesigen Lastautos hinter Pamelas Wagen hatte die Scheibe herunter gekurbelt und seinen massigen Oberkörper durch das offene Fenster gezwängt. Mit einem vulgären Grinsen schrie er obszön nach vorne:
„Was ist los mit dir du geile Henne. Fährst du oder fickst du?“
Ernüchtert drückte Pamela hart auf das Gaspedal, so dass die Reifen quietschend am Asphalt durchdrehten und der Sportwagen ruckartig nach vor hüpfte.
„Schnell, bieg die nächste Straße links rein. Hinter dem Lastauto verfolgt dich ein Polizeiwagen, der vor unserem Haus auf dich gewartet hatte“, wies John seine Frau an.
Pamela reagierte sofort. Mit abermals quietschenden Reifen nahm sie die Kurve und bog in das schmale Einbahngässchen ein. Dann fuhr Pamela einmal um den Häuserblock, bis sie wieder in Water Street landete und erneut an einer Ampelphase warten musste. Erleichtert atmete John durch. Das Polizeiauto hatten sie abgehängt und auch sonst zeigte niemand Interesse an ihnen.
John wusste, dass seine Frau einige Zeit brauchte, um sich vom Schock seines unerwarteten Auftauchens zu erholen. Die Aufregung stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Doch dann wandte sie sich demonstrativ John zu.
„Ich dachte, du bist tot!“, fuhr sie ihn vorwurfsvoll an. „Seit einem halben Jahr hast du kein Lebenszeichen von dir gegeben. Und nun steigst du einfach in mein Auto und tust so, als ob es die letzten sechs Monate nie gegeben hätte.“
Mit dieser Begrüßung hatte John allerdings auch nicht gerechnet. Im Stillen hatte er gehofft, dass sie vor Freude außer sich wäre und in Tränen ausbrechen würde. Doch dieses erhoffte Hochgefühl wurde rasch durch eine kalte Dusche ersetzt.
Pamelas Blick hatte sich wieder der Straße zugewandt, während sie mit verkrampften Händen das Lenkrad festhielt. Keine liebevolle Geste, kein glückliches und erlöstes Lächeln, kein Wort der Freude und Dankbarkeit wollte über ihre Lippen kommen. Enttäuscht sackte John in dem Schalensitz zusammen und betrachtete mit leerem Blick die vorüber ziehenden Geschäftslokale mit den einladenden Osterdekorationen in ihren Auslagen.
„Ich fand es nicht unbedingt schlau mich unter den gegebenen Umständen lautstark anzukündigen“, erwiderte er mit sachlicher Nüchternheit. „Was ich so aus den Nachrichten erfahren habe, dürfte ich mir ja in meiner Abwesenheit einige Probleme eingeheimst haben.“
John wartete auf eine Antwort, doch Pamela schwieg.
„Wo fährst du hin?“ wollte John wissen.
„Keine Ahnung. Wohin willst du?“
John war von Pamelas kühler Zurückhaltung ziemlich irritiert. Er wusste nicht, wie er auf ihr unpersönliches Verhalten reagieren sollte. Doch nachdem John sich auf diese Distanz eingestellt hatte, erwiderte er ziemlich kühl: „Ich muss die nächsten Tage irgendwo untertauchen. In unsere Wohnung kann ich nicht, da diese bestimmt überwacht wird.“
„Ja, es sind auch einige Sicherheitsbeamte im Haus, die auf deine Rückkehr warten.“
„Dann wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als bei Alex unterzutauchen.“
„Ich kenn ein kleines, unauffälliges Hotel am Fraser River, wo man nicht viel fragt, wenn man im Vorhinein bezahlt“, schlug Pamela vor. Dieser Unterschlupf ist vielleicht besser, als bei Alex unterzutauchen.“
„Da hast du vielleicht Recht. Es wäre nicht ok von mir, ihn in meine Probleme mit hineinzuziehen.“
Pamela nahm die nächste Abfahrt und schweigend fuhren sie in den Westen der Stadt zurück.
John fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Selbst nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, gab es keine Anzeichen der Freude und Erleichterung, dass er noch am Leben war. Dafür stand sie nach wie vor hochgradig unter Spannung.
Doch dann fasste sich John ein Herz und nahm vorsichtig ihre rechte Hand vom Lenkrad. Liebevoll begann er ihre kalte Hand zu streicheln und küsste sie ganz zärtlich. Es war so unglaublich lange her, als er sie das letzte Mal berührt hatte und alte Empfindungen begannen nun wieder in ihm hoczusteigen.
„Du brauchst keine Angst zu haben, mein Engel. Ich bin noch immer der alte John, wenn ich auch augenblicklich nicht so aussehe. Irgendwie wird es mir schon gelingen diese schreckliche Angelegenheit aus der Welt zu schaffen“, redete er mit zuversichtlicher Stimme auf sie ein.
So selbstsicher seine Stimme auch geklungen mochte, in seinem Inneren sah es ganz anders aus.
Zaghaft lächelte sie ihm zu und erwiderte den Druck seiner Hand.
„Ja, da bin ich mir sicher.“
Und zum ersten Mal nach langer Zeit verspürte John wieder einen Hauch von Verbundenheit.

 

Pamela parkte ihren Porsche gegenüber einem mehrstöckigen Haus, das ziemlich abgewirtschaftet aussah. Die Fassade hatte einen verschmutzten rosa Anstrich, dessen Mörtel schon an einigen Stellen fehlte war und das rohe Ziegelwerk zu sehen war. In schwarzen, dicken Lettern stand „HOTEL“ über der breiten weißen Eingangstür, deren Türdrücker die Form eines knallroten, lächelnden Frauenmundes hatte. Der bronzene Türklopfer in der oberen Hälfte des Türblattes hatte die Form eines erigierten Phallus, an dessen Ansatz ein mächtiger Hodensack hing, der den dumpfen Klopflaut erzeugte.
Verwundert sah John Pamela an:
„Woher kennst du solch zwielichtige Absteigen?“
„Das Hotel gehört Onkel Ernesto“, sagte Pamela nüchtern. „Du weißt doch, dass er einige Nachtklubs und Hotels besitzt.“
„Und du denkst wirklich, dass ich dort sicher bin?“
„Ich glaube kaum, dass dich dort jemand vermuten wird. Es ist eigentlich Stundenhotel, in dem vorwiegend Schwule und Lesben verkehren.“
„Oh“ erwiderte John unangenehm überrascht. Doch nach einigen Überlegungen gefiel ihm die Idee
Ziemlich gut. Das Hotel lag direkt am Fraser River, der an diesem unwirtlichen Frühlingstag grau und träge dahin floss. Nur wenige Menschen waren zu dieser Tageszeit auf der Straße unterwegs, was John nur recht sein konnte.
John zog seine Mütze nun wieder tiefer ins Gesicht und setzte seine Sonnenbrille auf, während Pamela aus dem Wagen stieg und die Straße überquerte. Rasch drückte sie gegen die rote Oberlippe und verschwand gleich darauf hinter der sich wieder schließenden Tür. Es dauerte nicht lange bis sie wieder heraus kam und John lächelnd zu sich winkte.
Wenn er bis jetzt nicht gewusst hätte, dass dieses Hotel eine Schwulenabsteige war, so spätestens ab dem Zeitpunkt, wo er das Haus betrat. Das Interieur des Empfangsraums wies sehr feminine Züge auf. Überall lagen rosa oder schwarze Satinkissen auf den Sofas verstreut und der lachsfarbige Anstrich an den Wänden spiegelte einen dezenten Ton von Wärme wider. Die Bilder an den Wänden zeigten zumeist das laszive Treiben von zwei oder gar mehreren nackten Personen in sehr eindeutigen Posen. Doch das auffälligste Merkmal war der Concierge, der hinter dem schwarz lackierten Dresen stand. Er war ein kleiner, sehr zarter Latino, dessen langes, schwarzes Haar seidig glänzend über seine Schultern fiel. Mit seinen falschen, aufgeklebten Wimpern klimperte er aufreizend, während sein rotes Kussmündchen ein kehliges „Hallo, ihr Süßen“ gurrte. Mit seinen protzig beringten Fingern schüttelte er geziert einen goldenen Schlüssel, an dessen Anhänger ein rotes Herz mit einer schwarzen Nummer baumelte.
„Darling, du weißt, abends wird es hier immer ein bisschen laut. Und das kann oft bis tief in die Nacht hinein dauern. Also schlafen solltet ihr unter Tags, denn nachts ist hier die Hölle los, wenn du weißt was ich meine“, sagte der Concierge und verzog seine knallroten Lippen zu einem verschwörerischen Lächeln und ließ den Schlüssel geziert in Pamelas Hand gleiten.
„Ich weiß Cleo. Du brauchst keine Angst haben. Wir werden uns nicht beschweren“, lächelte Pamela auf den kleinen Mann hinab.
Cleo beugte sich in seiner ausladenden weißen Rüschenbluse über den Dresen und flüsterte Pamela mit vertraulich, anbiedernder Stimme ins Ohr, so dass es John aber doch hören konnte:
„Möchtest du mich nicht diesem schmucken Hengst vorstellen?“ Abermals klimperte der Concierge mit seinen falschen Wimpern aufreizend in die Johns Richtung.
„Cleo, vergiss ihn, er ist total hetero. Du hast absolut keine Chance bei ihm zu landen“, brachte Pamela den kleinen Mann auf den Boden der Realität zurück.
„Das ist aber sehr bedauerlich. So ein strammer Holzfäller käme mir gerade recht“, erwiderte Cleo enttäuscht. Noch einmal zwinkerte er John verführerisch zu. Doch John verzog keine Miene. Es war ihm äußerst unangenehm, dass ihn diese kleine, schwule Ratte als Freiwild betrachtete.

 

Auch das Zimmer spiegelte den klaren Stil des Hauses wider. John fühlte sich nach wie vor von dieser lustschwangeren Atmosphäre befremdet. Zumindest war der Raum sauber und hell und der Blick aus dem Fenster bot eine uneingeschränkte Sicht zum Fluss und auf die Straße. Das sprach für das Zimmer. John drehte sich wieder vom Fenster weg und betrachtete Pamela, die an die Tür gelehnt stand und ihn neugierig beobachtete.
„Wie verändert du ist, John.“
Langsam kam sie auf ihn zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen.
„Du hast einiges an Gewicht verloren und siehst verdammt durchtrainiert aus. Ganz abgesehen von deinem sonnengebräunten Gesicht und dem Dschungel, der in deinem Gesicht und am Kopf wuchert.“
Zärtlich strich sie mit ihrer Hand über seine Wange. Die Berührung ließ John unmerklich zusammenzucken und erinnerte ihn nun schmerzlich an Karin, die in ihm sofort sein schlechtes Gewissen weckte. Doch schnell verbannte er ihren anklagenden Blick in das hinterste Eck seiner Phsyche.
„Ja, ich weiß“, erwiderte John. „Die letzten Monate verbrachte ich in einer Welt, die sehr wenig mit meinem normalen Leben zu tun hatte.“
John nahm ihre Hand und drückte sie sanft: „Es ist auch für mich nicht so einfach, mich hier wieder zurecht zu finden.“
„Ja, ich brauche wohl auch einige Zeit, dir wieder vertraut zu ein“, lächelte sie ihn um Verzeihung bittend an. John konnte nun seinem Verlangen nicht mehr länger widerstehen, Pamela an sich zu drücken. Mit geschlossenen Augen sog er ihren vertrauten Duft in seine Nase und spürte ihre Wärme. Dann blickte er sehnsüchtig in ihre Augen und flüsterte mit heiserer Stimme: „Du hast mir so gefehlt.“
Ihr lasziver Blick und ihre feuchten, geöffneten Lippen ließen keinen Zweifel aufkommen. Sie war genauso geil wie er. John konnte ihre sinnlichen Lockstoffe riechen, die ihn plötzlich unglaublich antörnten. Johns Hand griff nach ihrem seidig weichen Nackenhaar und zog ihren Kopf sanft nach hinten, so dass sich ihre feuchten Lippen noch mehr öffneten und darauf warteten, endlich geküsst zu werden. John konnte sein Verlangen nicht mehr länger bändigen und fuhr hemmungslos auf ihren einladenden Mund nieder. Ja, die alte Leidenschaft für sein bezauberndes Weib hatte nun wieder voll Besitz von ihm ergriffen. Ungeduldig nestelte er an den Knöpfen ihrer geschlossenen Kostümjacke herum, bis er sie ungeduldig mit einem heftigen Ruck aufriss. Die zu Boden fallenden Knöpfe hörte John gar nicht. Viel zu sehr war er auf Pamela konzentriert, sodass er nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Sein einziges Sinnen und Trachten war jetzt auf seine Geilheit fokussiert, die er an Pamela stillen wollte.
Schnell waren sie entkleidet und John warf Pamela auf die schwarze Bettdecke. Ihr zarter Körper hatte nichts von seiner Perfektion verloren, während sich ihre wie Alabaster schimmernde Haut markant von der dunklen Tagesdecke abhob.
Wollüstig lächelnd spreizte sie ihre langen Beine und gewährte ihm tiefe Einblicke in ihren Lusttempel. Langsam und lasziv begann sie ihre Scham zu streicheln. Johns geiler Blick stierte wie gebannt auf das Spiel ihrer Finger an ihrem makellosen Körper. Pamela massierte abwechselnd ihre feuchte Klitoris und streichelte dann wieder ihre rosa Brustwarzen, bis diese schließlich wie leuchtende Patronenhülsen von ihren zartrosa Höfen abstanden. Dann lutschte sie an ihrem feuchten Finger und sah John dabei aufreizend an. Nun konnte John keine Sekunde mehr länger warten. Er warf sich auf Pamela und nahm sie mit einer Härte, die ihr den Atem verschlug. Damit hatte sie nicht gerechnet. Doch schnell stellte sie sich auf diesen wilden Stier ein, dessen Heftigkeit ihr nur zu willkommen war. Pamelas Sexualtrieb mochte es so brutal genommen zu werden. Nur zu gern hielt sie John kraftvollen Stößen stand, die sie sehr schnell auf den wunderbaren Wellen ihrer Lust wandeln ließ. Dieses kurze, aber enorm Kraft raubende Liebespiel trieb sie schnell zu einem exorbitanten Höhepunkt, den die Beiden laut hinaus brüllten. Nachdem die Wogen ihrer Geilheit verebbt waren, sank das Paar erschöpft in die weichen Kissen zurück.
Nachdem Pamela wieder zu Atem gekommen war, beugte sie sich über John und streichelte seine nun behaarte Brust, die früher immer penibel glatt rasiert war. Es gefiel ihr mit der Hand in seiner dichten Brustbehaarung zu wühlen. Diese Naturbelassenheit, die John nun bot, hatte etwas Animalisches an sich, was Pamela noch gieriger gemacht hatte.
„Du bist wirklich ein anderer geworden. Viel scheint von dem sanften Mann nicht mehr übrig geblieben zu sein, der du einmal warst.“
John setzte sich auf und betrachtete sie, während er mit einer Locke ihres Haar spielte.
„Findest Du? Aber vielleicht hast auch du dich verändert.“
Ihr verträumter Blick ging in einen ziemlich ernsten über und Pamela zog die Decke über ihre nackten Brüste.
„Nun ja, ich hatte es die letzten Wochen und Monate nicht gerade einfach.“ erwiderte sie ernüchtert.
„Zuerst der Schock, dass ich meinen Mann bei einem Lawinenabgang verloren habe und dann die schrecklichen Ereignisse, die es in der Firma mit dem neuen Medikament gab, zerrten sehr an meinen Nerven.“
„Was ist da eigentlich passiert?“ hakte John interessiert nach und sein Verlangen sie noch einmal zu nehmen, war mit einem Schlag verraucht.
„Durch die Nachrichten habe ich erfahren, dass man nach mir wie nach einem Schwerverbrecher fahndet, obwohl ich schon monatelang nicht mehr im Betrieb gewesen bin“, fuhr er erregt fort.
Plötzlich schluchzte Pamela laut auf und vergrub ihr Gesicht in ihre Hände. Nachdem John keine Anstalten machte, sie tröstend in seine Arme zu nehmen, ließ sie diese rasch wieder sinken. Verzweifelt blickte sie John an.
„Ach John, du hast ja keine Ahnung was ich durchgemacht habe. Es war die reinste Hölle und du warst nicht da.“
John ließ sich durch ihren Gefühlsausbruch aber nicht hinreißen und blickte ihr ernst in ihre tränennassen Augen.
„Sag mir endlich, was los ist?“
Pamela wischte sich die Augen trocken und schniefte noch einmal, bevor sie zaghaft zu sprechen begann:
„Ich wollte mich gerade mit meinem Onkel zum Lunch treffen und mich wegen unserer Taktlosigkeit entschuldigen, dass wir so sang- und klanglos von seiner Cocktailparty verschwunden sind. Da läutete plötzlich das Telefon und Philipp teilte mir völlig verzweifelt mit, dass dich eine Lawine erfasst und mit in die Tiefe gerissen hat. Er hatte Glück nicht in die Lawine geraten zu sein und fuhr so schnell wie möglich ins Tal, um die Bergrettung zu verständigen. Doch trotz des raschen Einsatzes von Hubschraubern, Suchhunden und Ortungsgeräten konnte man dich nicht finden und man brach die Suche nach zwei Tagen ab. Philipp kam dann zu mir nach Hause und der nächste Schock ereilte mich. Für einen Moment war ich unbeschreiblich glücklich, weil ich annahm, dass du vor mir stündest und man dich doch gefunden hat. Doch es war Philipp, der auf einmal genau so aussah wie du. Er trug nun kurzes Haar und Philipp schielte auch nicht mehr.
Durch einen dummen Zufall nahm auch die Bergrettung an, dass Philipp unter den Schneemassen begraben wäre und nicht du. Und nachdem selbst ich Probleme hatte, ihn zu erkennen, hatte Philipp die Idee geboren deine Identität anzunehmen.
Ich war empört und weigerte mich dieses Spiel mitzuspielen. Doch Philipp erpresste mich und drohte mir, dass ich keinen müden Cent mehr bekommen würde, wenn ich nicht mitspielte. Schließlich bist du tot und niemand könnte dich mehr zum Leben erwecken. Verzweifelt und todunglücklich wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich hatte solche Angst und war so hilflos, dass ich mich von ihm überreden ließ und mitspielte. Doch schon bald stellte sich heraus, dass das ein großer Fehler war. Ich war dumm und habe in meiner Verzweiflung nicht gewusst, was ich tat.“
„Du meinst, er hat dich benutzt, um in meinem Namen agieren zu können?“
“Ja, Philipp sagte, dass es wesentlich einfacher wäre, Lombard Pharma in deiner Person weiterzuführen, weil die Gesellschafter dir mehr vertrauten als ihm. Ihr hättet ja bereits in Japser besprochen, dass RNV3 freigegeben werden kann. Doch das sei alles nicht schriftlich belegt und niemand würde ihm glauben, dass du in die Freigabe eingewilligt hast. So sei es besser, wie für so vieles anderes in der Firma auch, wenn er in deine Identität schlüpft.“
Mit einem bitteren Lächeln sagte John: „Ja, so konnte er sich nicht nur die Firma unter den Nagel reißen, sondern auch gleich meine Frau, oder?“
Empört erwiderte Pamela: „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mit deinem Bruder ins Bett gegangen bin?“
„Nun ja, soweit ich das richtig verstanden habe, lebt ihr ja seit November wie Mann und Frau zusammen. Und ich nehme an, dass er auch in unserem Appartement wohnt.“
„Ja, das stimmt. Doch diese Rolle spielten wir nur für die Außenwelt. Glaubst du denn wirklich, dass ich dich so einfach vergessen konnte? Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe.“
„Wie man es nimmt“, zweifelte John Pamelas Worte an: „Viel Unterschied zwischen mir und Philipp war ja dann nicht mehr.“
Eine schallende Ohrfeige unterstrich ihren Protest.
„Was bildest du Mistkerl dir eigentlich ein? Tauchst aus dem Nichts auf und lässt mich ein halbes Jahr voll in der Scheiße sitzen. Ich war verzweifelt, am Boden zerstört, weil ich glaubte, dich verloren zu haben. Und jetzt wirfst du mir auch noch vor, dass ich mit deinem Bruder in die Kiste gehüpft bin?“
Unter der Wirkung des dröhnenden Schlages sah John ein, dass er zu weit gegangen war. Er nahm seine schluchzende Frau in die Arme und drückte sie zärtlich an sich, während er ihr ins Ohr flüsterte:
„Pamela, verzeih mir. Das wollte ich nicht. Ich bin ja selbst total durcheinander, dass ich nicht mehr weiß, was ich denken soll.“
Langsam begann sich Pamela wieder zu beruhigen und lächelte John zaghaft an.
„Ok, die Situation überfordert uns wohl alle und zerrt an unseren Nerven.“
Nachdem sich Pamela wieder einiger Maßen beruhigt hatte, bat John seine Frau fortzufahren.
„Philipp zog zu mir in unser Penthouse und wir lebten nach außen hin das Ehepaar, das wir nicht waren. Wir hatten vor uns offiziell scheiden zu lassen, wenn RNV3 vermarktet war. Ich hätte dann genügend Unterhalt bezogen, so dass ich ein sorgenfreies Leben an jedem Ort der Welt hätte führen können. Doch dann passierten vor zwei Wochen diese schrecklichen Todesfälle und irgendwie geriet alles aus den Fugen. Ständig war die Polizei hier und fragte mich nach dir aus.“
„Als ich gestern die Lokalnachrichten sah, dürfte Philipp jedenfalls wieder zu seiner ursprünglichen Identität mit schielendem Auge und langem Haar zurück gefunden haben.“
„Ja, er sagte mir, dass er für ein paar Tage nach Südafrika fliegen würde, um das Auge wieder in seinen alten Zustand rückoperieren zu lassen.“
John stand auf und holte sich ein Glas Wasser. Dann setzte er sich in das abgenutzte Samtfauteuil und ließ noch einmal Pamelas Bericht durch den Kopf gehen.
„Da hab ich ja einen wirklich netten Bruder“ stellte er deprimiert fest.
„Zuerst lässt er mich sterben, um in meiner Identität in der Firma besser durchgreifen zu können. Und als das Chaos dann komplett ist, schiebt er mir auch noch den schwarzen Peter in die Schuhe. Man muss ihm wirklich gratulieren. Der Plan war gut und bis ins kleinste Detail überlegt. Und das Beste ist, er steht nun auch noch als Guter da, der Retter der Firma.“
„Glaubst du denn wirklich, dass er dich umbringen wollte?“ fragte Pamela erstaunt.
John lächelte sie verbittert an:
„Ich fürchte ja. Zu vieles weist darauf hin. Die losten Puzzlestücke ergeben langsam ein richtig hässliches Bild.“
„Was meinst du damit?“
„Nun, wir hatten beide dieselbe Jacke an, als wir mit dem Helikopter in die Berge flogen. Nur ich bemerkte nicht, dass Philipp die Jacken in dem kleinen Cafe vertauschte, sodass ich seine und er meine trug. Folglich hatte er all meine Kreditkarten, Ausweise und Schlüssel bei sich. Außerdem fiel mir auf, dass Philipp ständig stürzte und weit hinter mir nachhinkte, obwohl er immer der bessere Schifahrer von uns beiden war. Und gerade in dem Augenblick, als er mir nach einem weiteren Sturz mit gehobenem Skistock zu verstehen gab, dass bei ihm alles in Ordnung sei, ging die Lawine ab. Also könnte er mit diesem Zeichen Jemanden grünes Licht gegeben haben, die Lawine auszulösen. Erschwerend kommt noch dazu, dass ich fast zwei Tage auf meine Rettung wartete. Doch ich hörte weder einen Hubschrauber, noch sah irgendwelche ich Suchtrupps, obwohl Philipp genau wusste, wo die Lawine abgegangen war.“
Pamela sah John entsetzt an.
„Ich kann nicht glauben was du sagst. Auch wenn ihr nicht den besten Draht zu einander hattet, aber er ist schließlich dein Bruder.“
„Wie du siehst, die Kain und Abel Geschichte wird immer wieder neu interpretiert. Dass ich den Lawinenabgang überlebt habe, war reiner Zufall gewesen.“
„Und was willst du jetzt tun?“
„Ich werde mich der Polizei stellen und meine Rehabilitierung verlangen. Für dieses Schlamassel halte ich sicherlich nicht den Kopf hin. Wenn ich mich stelle, so ist das schon einmal ein Beweis dafür, dass ich gewillt bin, Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen.“
„Und wie willst du beweisen, dass du unschuldig bist?“
„Ganz einfach, du bist mein Entlastungszeuge, und außerdem kann ich beweisen, dass ich den Winter in den Bergen verbracht habe.“
„Und wie, wenn du dort oben ganz alleine warst?“
„Ich sagte nicht, dass ich alleine war. Eine in den Bergen lebende Einsiedlerin hat mir das Leben gerettet. Sie pflegte mich die Wintermonate über gesund, nachdem ich einige Knochenbrüche beim Sturz in die Tiefe davon getragen hatte. Sie wird bezeugen, dass ich gar nicht fähig gewesen wäre, ins Tal hinab zu steigen.“
„Nun, wenn das der Fall ist, dann kann dir ja wirklich nichts mehr passieren“, erwiderte Pamela erleichtert. „Und wo ist diese Einsiedlerin jetzt?“
„Ich nehme an, sie ist wieder in die Berge zurückgekehrt, nachdem sie mich bis nach Vancouver gefahren hat.“
„Bis in die Stadt hat sie dich begleitet?“ hackte Pamela hellhörig geworden ein.
„Ja, sie hat mich mit ihrem Auto an den Kontrollpunkten vorbei geschleust, sonst hätte ich es nie so schnell geschafft hierher zu kommen.“
Pamela setzte sich ruckartig auf und sah John lauernd in die Augen.
„Wie alt ist diese Frau?“
Plötzlich wusste John, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. Er hätte Karin vor Pamela nicht erwähnen sollen. John fühlte sich nun ziemlich unwohl in seiner Haut und rutschte in dem Fauteuil nervös hin- und her.
Nachdem John nichts sagte, wurde Pamela etwas schroffer.
„Einsiedlerinnen sind normalerweise alte und hässliche Weiber, die keiner mag und die deshalb abgeschieden von der restlichen Welt leben, oder?“ forderte Pamela John auf ihr Bild zu bestätigen.
„Nun ja, das trifft wohl bei dieser nicht so ganz zu.“
„Was soll das heißen?“
„Diese Frau ist weder alt noch hässlich. Sie lebt schon seit einigen Jahren völlig abgeschieden in den Bergen des Nationalparks. Der Zufall wollte es, dass mich ihre Hunde mehr tot als lebendig im Schnee liegend gefunden haben. Sie nahm mich mit in ihre Hütte und pflegte mit gesund.“
„Und pflegte sie nur deine Wunden und Brüche, oder auch Deinen Schwanz?“ fuhr ihn Pamela eifersüchtig an.
„Pamela, bleib am Boden, zwischen mir und Karin war nichts.“ log John nicht gerade überzeugend.
„Schau einer an, du nennst sie sogar beim Vornamen. Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Du lebst beinahe ein halbes Jahr mit einer Frau auf engstem Raum zusammen, die weder alt noch hässlich ist und du glaubst wirklich, ich würde dir das abnehmen?“
„Pamela hör auf. Die Frau lebt deshalb so abgeschieden, weil sie den Tod ihres Mannes und Kindes nicht verkraften kann, an dem sie sich die Schuld gibt. Karin hat überhaupt kein Interesse an anderen Männern,“ versuchte sich John glaubhaft zu rechtfertigen.
„Ich spreche nicht von anderen Männern, sondern von Dir. Was hätte dieser Schlampe wohl Besseres passieren können, als sich von dir in ihrem unendlichen Leid trösten zu lassen. Schließlich wäscht eine Hand die andere. Pflegedienste werden mit Liebesdiensten vergütet. Ein echt super Deal.“ fauchte sie ihn an.
„Schluss jetzt. Du bist ja völlig verrückt. Und selbst wenn es so gewesen wäre, so wäre das für jedermann nachvollziehbar. Schließlich bin ich ein Mann.“ schrie er zurück.
„Also hast du doch mit ihr geschlafen.“ flüsterte Pamela erschüttert.
Seufzend stand John auf und setzte sich wieder zu Pamela aufs Bett.
„Pamela, zwischen mir und Karin war nichts. Im Gegenteil, wir brauchten lange, bis wir uns überhaupt aneinander gewöhnten und akzeptierten. Karin war absolut nicht der Typ von Frau, der mich ansprach, sowie ich auch nicht der Mann war, auf den sie scharf war. Für sie war ich der degenerierte Städter, gegen die sie im Allgemeinen große Abneigung empfindet. Erst nachdem ich mich halbwegs an die Gegebenheiten und an ihren Lebensstil anpasste, akzeptierte sie mich und es entstand eine Art distanzierte Freundschaft. Sie rettete mein Leben, so wie auch ich ihr einmal das Leben gerettet habe. Wir fühlten uns für einander verantwortlich. Doch mehr spielte sich zwischen uns nicht ab.“
Schniefend lehnte sich Pamela an Johns Brust, während er zärtlich über ihr wirres Haar streichelte. In diesem Augenblick hasste er sich abgrundtief. Noch vor drei Tagen lag er mit Karin im Bett und konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als sie zu spüren. Und nun log er mit einer Kaltblütigkeit, nur weil er nicht den Mumm hatte, seiner Frau die Wahrheit zu sagen.
Pamela lächelte ihn zaghaft an und sagte mit stockender Stimme:
„Ok, John. Ich will versuchen dir zu glauben. Diese furchtbare Situation hier ist so schrecklich aus allen Fugen geraten, die uns noch um das letzte bisschen Verstand bringt. Wir sind hier in einem Schwulen-Bordell gelandet, weil dich die Polizei sucht, obwohl du nichts getan hast. Dein Bruder spielt Chamäleon und wechselt seine Identität so wie es ihm gerade passt, während die Firma am Rande des Abgrundes steht. Ich kann es schon nicht mehr erwarten, dass dieser Spuk endlich vorbei ist und wir wieder ein normales Leben führen können.“
„Ja, das wünsch ich mir auch“, erwiderte er. Doch John hatte absolut keine Ahnung, wie ein normales Leben für ihn nun aussehen mochte.

 

Unter der Dusche fasste John noch einmal Pamelas Informationen zusammen. Jedenfalls wusste er nun, was er zu tun hatte. Pamela musste ihn zur Polizei fahren, wo er diesem Verwirrspiel endlich ein Ende setzen würde. Mit seinen Beweisen und seinem hieb- und stichfesten Alibi konnte er seine Unschuld bestätigen und als Ehrenmann rehabilitiert werden.
Doch Philipp würde für seine Verbrechen an ihm und den Menschen, die er durch RNV3 auf dem Gewissen hatte, teuer bezahlen. Für sehr, sehr lange Zeit würde sein feiner Bruder ins Gefängnis wandern. Johns Mitleid für Philipp hielt sich in Grenzen. Seine Gier nach Macht und Geld hatte selbst vor Brudermord nicht zurückgeschreckt.
An die Probleme, die durch die Todes- und Krankheitsfälle dem Unternehmen entstanden sind, wollte John jetzt noch gar nicht denken. Doch selbst ohne Fakten war John klar, dass es ein sehr langer und schwerer Kampf werden würde, die Firma zu retten und ihre alte Seriosität wieder herzustellen.
Die vielen Türen, die sich in den Bergen immer mehr geschlossen hatten, begannen sich nun schnell wieder zu öffnen. Er fühlte seinen alten Rhythmus zurückkehren und die alte, geschäftsmäßige Wendigkeit ergriff wieder von ihm Besitz.
Bevor John zur Polizei fuhr, musste er mit Sam Porter sprechen. Es war wichtig mit ihm die Einzelheiten durchzugehen, bevor er sich stellte. Sam war zwar kein Strafverteidiger, doch als langjähriger Firmenanwalt wusste er über den Schlankmacher, sowie über die Statuen und die finanzielle Gebarung des Unternehmens bestens Bescheid. Außerdem musste er seine Sekretärin anrufen, damit sie einige wichtige Termine bei den Banken für ihn koordinierte. Dringendst musste er auch mit Alex sprechen, damit er endlich erfuhr, wie ausgereift RNV 3 wirklich war, als es freigegeben worden war.
Noch während sich John auf die anstehenden Probleme zu konzentrierte und seine To-do-Liste durchging, fühlte er ein flaues Gefühl der Orientierungslosigkeit in sich aufsteigen. Unter dem heißen Wasserstrahl der Dusche hielt er plötzlich inne und fragte sich: will ich das denn auch noch alles? Möchte ich dieses alte Leben wieder so aufnehmen und weiterführen? Was ist, wenn dieser Spuk vorbei ist und die Firma noch einmal mit einem blauen Auge davon kommen sollte, werde ich dort anknüpfen können, wo es im November geendet hat? War dies hier das normale, das wirklich erstrebenswerte Leben, das mich nun bald wieder fest im Griff hatte? Ein Leben, wo es für die eigentlichen Dinge fast keine Zeit gab?
Deprimiert betrachtete er die vom nebeligen Wasserdampf beschlagenen Fliesen, wo die schwer gewordenen Wassertropfen nach und nach ihre Spur nach unten zogen.
Mit einem Mal fühlte John wieder, wie sehr er sich verändert hatte. In Zukunft würde sein Leben unbedingt mehr brauchen als beruflichen Stress, Anerkennung und Erfolg. John hatte in den letzten Monaten nur zu gut erkannt, dass das Leben aus wesentlich mehr Segmenten als aus Arbeit und Partys bestand. Niemals hatte er sich die Zeit genommen, sich ernsthaft mit anderen Dingen auseinanderzusetzen, als mit der Herstellung von Medikamenten. Wozu auch, er hatte doch alles gehabt, was sein Herz begehrte. Mit ein wenig Glück würde er weiterhin der Chef von Lombard Pharma bleiben. Er hatte ein schönes Zuhause und eine Frau, um die ihn jeder beneidete. Offensichtlich war er doch der absolute Glückspilz, wenn sich auch vorübergehend das Blatt gewendet hat. Und doch, war er damit wirklich glücklich, oder hatte er sich im Laufe der Jahre dieses Gefühl nur selbst suggeriert, weil er sich der Problematik und Vielschichtigkeit, die das Leben bot, nicht stellen wollte und sie ganz einfach ignoriert hatte.
Seit der kurze Verdacht bestanden hatte, dass Karin eventuell schwanger sein könnte, hatte ihn der Gedanke an ein eigenes Kind nicht mehr losgelassen. Sein Sehnen Vater sein zu wollen, hatte damals einen unmerklichen Anfang genommen, der aber im Laufe der Wochen und Monate immer mehr Gestalt gewonnen hatte. John wollte einen Sohn, er wollte sein Wissen, sein Können, sein Vermächtnis weitergeben und nicht ohne Spuren hinterlassen zu haben, aus dem Leben zu scheiden.
Doch verbunden mit dem Gedanken an ein eigenes Kind war ihm niemals Pamela in den Sinn gekommen. Sie als Mutter zu sehen war genauso grotesk, wie ein Blinder in einer Bildergalerie.
Es war immer nur Karin gewesen, die John mit seinem Wunsch in Verbindung gesehen hatte. Ihr weiblicher Urinstinkt verbunden mit ihrem fruchtbaren Körper wäre die ideale Symbiose gewesen, seinem Sohn den besten Einstieg ins Leben zu ermöglichen.
Doch Karin war weg. Die Sehnsucht nach ihr begann nun schmerzhaft in ihm zu bohren. Selbst das Wiedersehen und der Sex mit seiner Frau hatte dieses Gefühl nicht mildern oder gar verdrängen können. Im Gegenteil. John fühlte sich voller Reue, so, als ob er Karin betrogen hätte.
Nichts, absolut nichts war von seinem gefestigten Leben übrig geblieben. Ziellos trieb John wie ein Blatt im stürmischen Herbstwind dahin, ohne zu wissen, wo er ankommen würde.

 

Die ins Schloss fallende Tür riss ihn aus seiner ziemlich konfusen Gedankenwelt. John hatte Pamela gebeten, ihm saubere Kleidung zu besorgen, damit er halbwegs zivilisiert und sauber aussah, wenn er sich der Polizei stellte.
Nicht nur diese existenzielle Zerrissenheit seiner Frau war John aufgefallen, auch diese imaginäre Wand, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte. John hatte keine Ahnung, ob es an ihm oder an ihr lag. Der Sex war nach wie vor großartig mit ihr. Doch das Gefühl der Intimität drang nicht wirklich bis zu seinem Herzen vor. Er wollte die Wärme und Liebe spüren, die er in für sie bewahrt hatte. Doch irgendwie stellte sie sich nicht ein und ein Gefühl der Leere und Unzufriedenheit blieb zurück.
Vielleicht lag es auch daran, dass sich John gegenüber seiner Frau schuldig fühlte. Zum ersten Mal hatte er ihr nicht die Wahrheit gesagt. Doch wie hätte er Pamela erklären können, was ihn mit Karin verband? Sie hätte es nicht verstanden.
John wusste nur, dass ihn diese wunderbare Frau in den Bergen völlig verändert und umgekrempelt hatte. Dass er das Problem mit Philipp und der Firma in den Griff bekommen würde, ließ ihn keinen Moment zweifeln. Doch was war dann, wenn sich der Wirbel gelegt hatte und alles wieder im Lot war? Würde er wieder zu Pamela zurück finden und ihre manchmal verletzende Oberflächlichkeit, ihren nervenden Egoismus, ihre fast schon krankhafte Eitelkeit und ihr sehr beschränktes Interesse an der Firma wieder kritiklos zur Kenntnis nehmen? John hatte die letzten Monate erfahren, wie es ist, wenn jemand Anteil an seinen Problemen, aber auch Wünschen und Träumen nimmt. Diese Erkenntnis hatte ihm gezeigt, wie einsam er vorher eigentlich gewesen war. Zum ersten Mal hatte er sich durch Karin rundherum angenommen gefühlt.

 

 

- 12 -

 

Nachdem Karin John ein letztes Mal geküsst hatten, war er aus dem Wagen und hatte die Tür zugeschlagen. Karin hatte ihm nicht nachgesehen, als er mit aufgestelltem Kragen seines Parkers und mit tief ins Gesicht gezogener Mütze raschen Schrittes in die nächste Seitengasse einbog. Ihr Blick war starr auf das alte, langegezogene Fabrikgebäude gerichtet, einem mehrstöckigen Fertigteilbau, dessen Welleternitdach an einigen Stellen schon durchlöchert war. Auch das Glas der unzähligen kleinen Fensterscheiben diente bestimmt als Zielescheibe verschiedenster Geschosse, so dass keine davon heil geblieben war. Das Gebäude war nur mehr eine Ruine, die längst geschliffen gehörte. Doch wahrscheinlich kostete schon alleine die Entsorgung des asbestverseuchten Daches ein Vermögen, das niemand aufbringen wollte.
Mit diesen unnötigen Gedanken versuchte sich Karin abzulenken. Ihre Psyche konnte noch nicht akzeptieren, dass das Unausweichliche nun wirklich eingetreten war. John war weg. Er hatte sie verlassen. Der Schmerz, der langsam und wellenförmig ihren Körper zu durchfluten begann, trieb immer mehr Tränen in ihre Augen, die in dünnen Rinnsalen über die Wangen flossen und in ihrem roten Rollkragenpulli versiegten.
Karin wusste nicht wie lange sie so da gesessen hatte und auf die mit Graffiti bemalte Fabrikmauer starrte. Sie spürte weder die Kälte, die langsam ihre Füße starr werden ließ, noch ihre laufende Nase, die langsam dunkelrot wurde.
Irgendwann wurden die Tiere aber unruhig. Winselnd begannen sie auf der Rückbank nervös hin und her zu laufen. Die Situation war auch für sie verdammt ungewohnt. Einerseits die völlig fremde Umgebung und dann verhielt sich ihr Leittier auch noch ziemlich seltsam.
Nelson war auf den Beifahrersitz gesprungen und hatte John nachgesehen, bis er hinter der nächsten Straßenecke verschwunden war. Noch immer starrte der Luchs in die Richtung und hoffte, dass John jeden Augenblick wieder auftauchen würde. Schluchzend griff Karin in das Nackenfell des Tieres und graulte ihn zärtlich
„Nelson, John ist weg, er wird nicht mehr zu uns zurückkommen.“
Die Tragweite ihrer eigenen Worte verdeutlichten ihr nun erst in aller Klarheit diese Endgültigkeit, die vorher nur schemenhaft in ihr Fuß gefasst hatte.
Schniefend trocknete sie sich mit dem Ärmel ihres Anoraks ihre laufende Nase und wischte mit klammen Fingern die letzten Tränen aus den Augen. Dann startete Karin den Wagen und fuhr langsam die Strecke zurück, die sie mit John gekommen war.
Die Fahrt zurück nach Jasper ging weit zügiger dahin, als die Anfahrt. Der Rückreiseverkehr würde erst in Stunden einsetzen, so dass jetzt die Straße noch ziemlich frei war. In Jasper angekommen, ließ Karin die Hunde raus. Sie entsorgte sie die leere Pizzaschachtel und richtete das Bett. Nichts sollte darauf hinweisen, dass Karin nicht alleine hier gewesen war. Dann nahm sie ihr altes Handy von der Steckdose und drückte Davids Nummer.
„Hi David. Du wirst es nicht glauben, doch ich bin gestern Abend mit den Hunden ins Tal runter gestiegen.“
Karin hoffte, dass ihr fröhlicher Plauderton echt klang und David keinen Verdacht schöpfte.
„Hallo Karin, das ist aber eine Überraschung“, rief er erfreut ins Telefon. „Ich habe erst in frühestens in einem Monat mit dir gerechnet.“
„Ja ich weiß, doch ich habe einem Kunden versprochen, dass ich ihn bis spätestens Ende April einen Welpen überlasse, da er in die Staaten übersiedelt. Er hat ihn schon abgeholt und jetzt bräuchte ich ein Taxi. Kannst Du mich und die Hunde vielleicht zum Lake Pleasure hoch fliegen?“
„Natürlich. Aber möchtest du nicht noch einen Tag hier bleiben? Wir könnten ja zusammen Abendessen und ich flieg dich morgen früh zurück.“
Das letzte, was Karin jetzt wollte, war Gesellschaft. Unter anderen Umständen hätte sie die Einladung ihres Schwagers nur zu gern angenommen. Doch gerade heute hatte Karin so überhaupt keine Lust eine Maske aufzusetzen. Mit ihrer Trauer und diesem tiefen Schmerz in sich wollte sie einfach alleine sein. Schnell suchte Karin nach einer glaubhaften Ausrede, damit David keinen Verdacht schöpfte.
„Oh David, das wäre wundervoll. Doch ich kann leider nicht. Ich muss dringend in die Berge zurück. Cathy liegt mit Fieber im Bett und wartet auf das Antibiotikum, dass ich ihr besorgt habe.“
Karins spürte, dass er ein wenig eingeschnappt war.
„Komm schon David, in einem Monat bin ich ja wieder zurück. Dann holen wir den verlorenen Abend nach ok?“
„Nur sehr ungern, aber wenn es nicht anders geht, werde ich mich wohl noch ein wenig gedulden müssen“, erwiderte David bedauernd. “Ich lass den Hubschrauber noch auftanken und hol dich ca. in einer halben Stunde ab.“
David war Karins einziger Freund. Doch dieses Naheverhältnis hatte sich erst nach dem Tod ihres Mannes entwickelt und bedeutete Karin sehr viel. David war ein Mann, auf den man sich unter allen Umständen verlassen konnte. Jedes Mal, wenn sie ins Tal hinunter stieg und für einige Wochen blieb, verbrachte sie sehr angenehme Abende mit ihrem Schwager. Bis jetzt waren sie immer die Highlights des Jahres gewesen, denn David erzählte ihr alle Klatsch- und Tratschgeschichten, die während der letzten Monate in Jasper die Runde gemacht hatten.
Karin wusste natürlich, dass David irgendwann angefangen hatte, mehr als nur Freundschaft für seine Schwägerin zu empfinden. Solange Nick gelebt hatte, hatte ihr David keine große Beachtung geschenkt. Er hatte auch nicht viel Gelegenheit gehabt, sie zu sehen, da Karin und Nick fast jede freie Minute im Jagdhaus am Lake Pleasure verbracht hatten. Damals war sie aber auch absolut nicht sein Typ gewesen. Sein Fokus war auf Megatittenblondinen mit langem Wasserfall und wenig Grips in der Birne gerichtet gewesen. Eigenschaften, mit denen Karin nicht wirklich mithalten konnte und auch wollte. Je unkomplizierter die auserkorenen Damen waren, umso lieber zog er sie in sein Bett.
Mit sehr gemischten Gefühlen sah Karin dem Tag entgegen, wo David endlich eine Frau finden würde, die auch seiner Mutter passte. Ob es dieses übernatürliche Wesen jemals geben würde, bezweifelte Karin sehr. Doch bis jetzt hatte David auch noch keine großen Anstrengungen unternommen, diese Frau wirklich finden zu wollen. Karin wusste zwar, dass es zwei, drei sehr lustbetonte Damen in Jasper gab, die er des Öfteren beglückte. Aber keine dieser Frauen kamen wirklich in Betracht, einmal den Namen Davis tragen zu dürfen. Sollte David aber diese besondere Frau wirklich finden, dann würde ihre Beziehung zwischen ihnen in der Form sicherlich nicht mehr bestehen bleiben können. Keine Ehefrau würde eine solche Freundschaft dulden, wo der Ehemann weit mehr als nur verwandtschaftliche Gefühle für eine verwitwete Schwägerin empfand.
Karin würde jedoch für David nie mehr empfinden als Freundschaft. In vielem ähnelte er Nick, obwohl David weit schlanker und feingliedriger gebaut war als ihr verstorbener Mann, der mehr von einem Grizzly als von einem Menschen an sich hatte. David hatte ebenfalls hellbraunes Haar und wenn er lächelte, war es Karin, als ob Nick sie anlächelte. Doch David war eben David und nicht Nick. Und das wusste David auch.
Der Kontakt zu David war auch der einzige, den Karin in Jasper pflegte. Wenn sie im Tal war, versuchte Karin ihre Anwesenheit so gut wie möglich geheim zu halten, um den lästigen Besuchen ihrer gehässigen Schwiegermutter zu entgehen. Bis jetzt war Karin das aber noch nicht wirklich gelungen. Das vorzüglich funktionierende Spionagenetz im Ort informierte die alte Dame sofort über alles, was im Umkreis von 10 Kilometern vorging. Ihre nervenden Besuche blieben daher nicht aus. Meist trugen ihre bissigen Bemerkungen und abfälligen Statements dazu bei, dass Karin früher als ursprünglich gewollt wieder in die Berge verschwand.
Wie versprochen holte David seine Schwägerin in seinem alten Pickup ab. An seinem liebevollen Lächeln konnte Karin nur zu gut ablesen, wie sehr er sich freute, sie zu sehen. Sie erwiderte sein Lächeln und ließ sich von ihm herzhaft in die Arme nehmen.
„Nun, wie geht’s meiner Lieblingsschwägerin?“
„Jetzt gut, wo ich dich sehe“. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, doch sie wollte David auf keinen Fall beunruhigen.
Er hielt sie ein Stück von sich entfernt, damit er sie besser betrachten konnte. Verwundert stellte er fest:
„Wie kann es sein, dass ich immer älter und hässlicher werde und du immer jünger und schöner.“
„Es wird Zeit, dass du dir neue Kontaktlinsen ohne Weichzeichner besorgst.“
David lächelte über ihren Scherz. Doch langsam erlosch das Lächeln und er betrachtete Karin genauer: „Du siehst so anders aus, so, als ob du ein wenig strahlen würdest. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde man meinen, du bist verliebt.“
Karin hatte nicht damit gerechnet, dass man ihr diese Gefühlsveränderung so ansehen würde.
„Natürlich, weil in den Bergen das Angebot an heiratswütigen Männern ja so groß ist, besonders im Winter“, versuchte sie zu scherzen.
Karin löste sich aus seiner Umarmung, drehte sich ein wenig zur Seite, um einen der Hunde zu streicheln. Sie wollte nicht, dass David sie weiterhin so direkt musterte und vielleicht noch mehr in ihrem offenen Blick lesen würde.
„Ich bin heute eben doppelt glücklich“, schmetterte sie. „Einerseits freue ich mich, dich wiederzusehen und andererseits habe ich vorhin eben einen Welpen verkauft. Obwohl er noch nicht ausgebildet war, bekam ich den vollen Preis für das Tier.“
David betrachtete nun die Hunde. Der Luchs versteckte sich hinter einem Stapel Holz und wartete darauf von Karin gerufen zu werden.
„Wo ist denn Clyde?“ wollte David wissen und hielt nach dem Rüden Ausschau. Sofort huschte ein wehmütiger Schatten über Karins Gesicht.
„Clyde ist tot. Wölfe haben ihn vor Weihnachten angefallen und getötet.“
Sofort erlosch Davids heitere Meine und er wirkte nun ziemlich besorgt.
„Dir ist doch hoffentlich nichts passiert?“
Mit einer Handbewegung spielte sie den Vorfall herunter.
„Es war vor Weihnachten und ich spielte mit den Hunden vor dem Haus. Der Winter war dieses Jahr ziemlich hart und hatte auch früh eingesetzt. Die Wölfe verloren vor Hunger ihre Scheu vor Menschen. Soweit hatten sie sich noch nie dem Haus genähert. Einer der Welpen lief zu weit in den Wald hinein. Ich erkannte er zu spät die Gefahr, als sich ein Rudel Wölfe an den Welpen heran machen wollte. Bonny und Clyde reagierten sofort und kämpften wie besessen. Doch bis ich das Gewehr bei der Hand hatte und auf die Wölfe schießen konnte, war Clyde bereits tot und Bonny schwer verletzt.“
Karin hasste sich, weil sie David nur einen Teil der Wahrheit erzählen konnte. Doch sie musste John schützen. Nicht einmal David durfte wissen, dass er bei ihr war.
Bestürzt und ängstlich zugleich forderte er von Karin:
„Ich hoffe, dass das der letzte Winter war, den du dort oben alleine verbracht hast“, forderte er voller Bestürzung. „Jedes Jahr mache ich mir dieselben Sorgen um dich. Es wäre gut, wenn du zumindest die kalte Zeit über im Tal bleibst. Dieser schreckliche Vorfall müsste dir doch zu denken geben. Statt dem Hund hätten die Wölfe genauso gut dich töten können.“
Im Stillen dachte Karin: du hast ja keine Ahnung wie knapp ich dem Tod entronnen bin.
„Versprochen, den nächsten Winter verbringe ich im Tal.“
„Ist das jetzt ernst gemeint, oder machst du dich wieder einmal lustig über mich?“
„Nein mein Lieber, ich verspreche Dir hoch und heilig, das war der letzte Winter, den ich in den Bergen verbracht habe“.
Davids zweifelnder Blick sagte ihr aber, dass sie ihn nicht restlos überzeugen konnte.
„Dann ist ja alles ok. Dann verbringst du also den nächsten Winter hier in Jasper. Ich werde dich daran erinnern, solltest du es vergessen.“
„Das glaube ich kaum“ erwiderte Karin sie leise und horchte tief in sich hinein.

 

Den kurzen Flug zum Lake Pleasure legten die beiden ziemlich schweigend zurück. David konzentrierte sich auf das Fliegen und Karin hing ihren Gedanken nach. Außerdem war das Motorengeräusch des Hubschraubers so laut, dass man sowieso nur jedes zweite Wort verstehen konnte.
Instinktiv berührte Karin mit der Hand ihren Bauch. Ein wundervolles Glücksgefühl erfasste sie. Zum ersten Mal spürte sie, dass das kleine Wesen, das in ihrem Leib heranwuchs, nach ihr trat. Karin war bereits im vierten Monat schwanger und langsam begann ihr flacher Bauch sich zu wölben. Glücklich lächelte sie vor sich hin. Seit knapp zwei Monaten wusste Karin, dass sie schwanger war. Als sie sicher wusste, dass sie im Sommer ein Baby erwarten würde, kamen ihr auch wieder Cathys geheimnisvolle Worte in den Sinn. Zu Weihnachten hatte sie ihre Worte noch nicht deuten können, weil noch einmal ihre Periode eingesetzt hatte. Doch die alte Indianerin hatte bereits in ihren Augen gelesen, dass sie ein Kind erwarten würde.
Als John vor einer Woche aufgefallen war, dass sie zugenommen hatte, erklärte sie ihm, dass sie sich den Winter über immer eine kleine Speckschwarte anfraß, die sie aber schnell wieder verlieren würde, wenn sie sich wieder mehr im Wald bewegen konnte. Damit hatte er sich John Gott sei Dank zufrieden gegeben.
Eigentlich hatte Karin kein Kind mehr gewollt. Zu groß war die Angst und der Schmerz es wieder zu verlieren. Karin hatte auch nicht damit gerechnet, schwanger zu werden. Schon bei ihrer ersten Schwangerschaft hatte es Jahre gedauert, bis sie empfangen hatte.
Doch als die morgendliche Übelkeit einsetzte und ihre Brüste zu schmerzen begonnen hatten und immer praller wurden, wusste Karin, dass sie wieder ein Kind erwarten würde. Der anfängliche Schock legte sich aber bald wieder und ging in unermessliche Freude über. Ohne dass John es wusste, hatte er ihr das schönste Geschenk gemacht, dass man einer liebenden Frau nur bereiten konnte. Sein Sohn würde sie immer an ihn erinnern und ihrem Leben einen neuen Sinn geben. Der Schmerz, John verloren zu haben, war groß. Aber nicht mehr so groß, denn ein Teil von ihm würde in ihrem gemeinsamen Kind weiterleben.
In diesem Punkt hatte sie David nicht angelogen. Dieser Winter war nicht nur der schönste, er war auch der letzte, den sie in den Bergen verbracht hatte. In spätestens zwei Monaten würde sie das Jagdhaus dicht machen und wieder in ihr Haus in Jasper ziehen.
Ein wenig schadenfroh lächelte Karin in sich hinein. Wenn ihre Schwiegermutter erfuhr, dass sie schwanger war, würde sie bestimmt einen Herzanfall bekommen. In ihren Augen war ihre Schwiegertochter sowieso nicht standesgemäß gewesen. Doch dann würde sie auch noch die Bestätigung haben, dass sie auch eine Hure ist. Und solch eine schamlose Frau trägt nach wie vor den ehrwürdigen Namen Davis. Wieder einmal lud Karin Schande auf die ehrenwerte Familie Davis. Doch leider würde auch jener Wehrmutstropfen bleiben, dass sie David mit ihrer neuerlichen Mutterschaft ziemlich verletzen würde. Ihn als Freund zu verlieren, wäre dann ein verdammt harter Schlag für Karin.
Als der kleine, grüne Bergsee in Sicht kam, verringerte David die Fluggeschwindigkeit und setzte zur Landung an. Bald wurde auch das Holzhaus zwischen den Nadelbäumen sichtbar. Karin sah den letzten Wochen, die sie hier noch alleine verbringen wollte, ein wenig wehmütig, aber auch optimistisch entgegen. Diese Zeit wollte Karin nicht nur nutzen, über John hinweg zu kommen. Es war auch genug Zeit zum Überlegen, wie sie ihr neues Leben gestalten wollte..

 

 

- 13 -

 

Pamelas Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ihren ansonsten klaren und kühl rechnenden Verstand konnte nur selten etwas aus der Bahn werfen. Doch heute war einer dieser seltenen Momente gewesen. Pamela musste sich sehr anstrengen, um ihre die Panik- und Hysterieattacken, zu unterdrücken.
Das Schlimmste, was passieren konnte und womit absolut niemand mehr rechnet hatte, war nun eingetreten. John ist von den Toten auferstanden und forderte nun Rechenschaft.
Bis jetzt hatte sie schon deshalb keinen klaren Gedanken fassen können, weil sie ständig durch Johns Fragen gelöchert wurde. Pamela musste haarscharf aufpassen was sie sagte. Auf keinen Fall durfte John an ihrer Integrität den geringsten Zweifel hegen. John musste ihr unter allen Umständen vertrauen, sonst würde er sich schneller aus dem Staub machen, als ihr lieb wäre.
Endlich war er ins Bad gegangen. Diese kurze Verschnaufpause musste Pamela nützen, um einen neuen Plan auszuarbeiten. Um jeden Preis musste sie verhindern, dass John sich stellte. Sollte dies der Fall sein, so wäre es nur mehr eine Frage der Zeit bis man wusste, wer die wirklichen Drahtzieher waren.
Pamela schloss ihre Augen. Sie musste sich schnellsten konzentrieren und eine Lösung finden. Die einzige Möglichkeit, womit sie sich einen zeitlichen Vorsprung verschaffen konnte, war jene, dass sie John zuvor kam und der Polizei einen Hinweis gab, wo er steckte. Wenn sie in fassten, noch bevor er sich stellen konnte, dann würde John mit seinen Aussagen unglaubwürdig wirken. Noch dazu, wo er in diesem Schwulenhotel Zuflucht gesucht hat. Im Großen und Ganzen konnte eigentlich nicht viel schief gehen. Die Unterschrift Johns zur Freigabe von RNV 3 war echt, daran konnte nicht gerüttelt werden. Philipp hatte hieb- und stichhaltige Alibis. Der einzige Freund Johns war Tod, seine Sekretärin seit November fristlos entlassen und Sam Porter hatte man schon vor Monaten die Vollmacht gekündigt. Absolut niemand konnte mit Sicherheit bestätigen, dass Philipp Johns Identität angenommen hatte. Und so schwer es Pamela auch fallen würde, sie musste John erneut den Todesstoß versetzen, um ihre eigene Haut zu retten. Sie musste bestätigen, dass John niemals vermisst wurde.
Die einzige Schwachstelle, die diesen fast perfekten Plan verderben konnte, war diese Frau in den Bergen, die John das rettende Alibi und somit Glaubwürdigkeit verschaffen konnte. Diese Frau musste man unbedingt finden und aus dem Weg schaffen.
Nachdem Pamela nun wusste, wie sie vorgehen musste, sprang sie aus dem Bett und zog sich rasch an. Bevor sie John verraten würde, musste sie noch mit Onkel Ernesto telefonieren und ihn von der unerwartet neuen Situation unterrichten und ihn von ihrem neuen Plan in Kenntnis setzen. Das war schon alleine aus dem Grund wichtig, dass sie vielleicht etwas übersehen haben könnte. Auch Philipp musste sie benachrichtigen, dass John lebte. Er würde bestimmt der einzige sein, der daran seine Freude hatte.
Pamela zog ihre Kostümjacke an, an der nun die Hälfte der Knöpfe fehlte. Aufgeregt begann sie nach den schwarzen Samtknöpfen zu suchen. Wie hatte sie nur so blöd sein können, sich von John die Jacke vom Leib reißen zu lassen. Wenn man auch nur einen Knopf fand, dann konnte sich dieser Fund zu einem echten Problem entwickeln.
Die ersten beiden Knöpfe fand sie mühelos. Doch der dritte schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Pamela hob Johns Hose und Parka hoch und schüttelte diese ein wenig. Da sprang der dritte Knopf auch schon auf den Boden. Dabei fiel aber auch aus der Brusttasche des Parkas ein einzelnes Foto zu Boden. Neugierig bückte sich Pamela und hob es auf. Sofort wusste sie, dass es sich bei der auf dem Foto abgebildeten Frau um Karin handelte. Ein herber Anflug von Eifersucht schnürte ihr die Kehle zu. Diese Frau war attraktiv, zu reizvoll, um nicht schwach zu werden. Mit zwei Hunden saß sie ihm Schnee und lächelte mit ihren wunderschönen Augen und einem verdammt sinnlichen Mund in die Kamera. Mit den weichen Zügen, ihrem warmen Blick, der von dichtem, kastanienbraunem Haar umrahmt war, war Karin absolut nicht die Frau, die ein Mann von er Bettkante stoßen würde.
Pamela war so in die Betrachtung des Fotos und in ihre schwelende Eifersucht vertieft, dass sie erst wieder hellhörig wurde, als John den Duschhahn abgedreht hatte. Hastig ließ sie das Bild in ihrer Tasche verschwinden und verließ das Zimmer.
Im Auto holte sie jenes Handy hervor, bei dem sie absolut sicher war, dass sie nicht abgehört wurde und wählte die Nummer ihres Onkels. Sofort meldete sich am anderen Ende der alte Canetti.
„Onkel Ernesto, John ist aufgetaucht“ flüsterte sie so, als ob sie jemand hätte hören können. Am anderen Ende der Leitung war für einen langen Moment nichts zu hören.
„Das ist keine gute Neuigkeit. Weißt du wo er steckt?“
„Ja, ich habe ihn in deinem Hotel am Fraser-River untergebracht.“
„Ich schicke einen Mann vorbei, der ihn erledigt.“
„Ich glaube nicht, dass es eine sinnvolle Lösung ist, John im Hotel durch einen Killer beseitigen zu lassen. Das Risiko ist einfach zu groß, dass etwas schief geht. John ist extrem vorsichtig und misstrauisch geworden. Außerdem ist die Zeit sehr knapp. Er will sich so schnell wie möglich stellen. Und wenn ich nicht innerhalb der nächsten 30 Minuten bei ihm wieder auftauche, wird er Verdacht schöpfen und sich alleine auf den Weg machen.“
„Verdammt“, hörte sie ihren Onkel am Ende der Leitung fluchen. „Und was schlägst du vor?“
„Ich hab mir gedacht, dass ich der Polizei einen Wink gebe. Schließlich haben wir ja alle Trümpfe in der Hand.“
„Du meinst, Du willst ihn durch die Polizei ins Messer laufen lassen?“
„Genau“, erwiderte Pamela. „Entweder sie erschießen ihn, oder es kommt zu einem Prozess, wo er sicherlich den Kürzeren ziehen wird.“
„Wenn ich es mir recht überlege, dann macht dein Plan echt Sinn.“
„Ja, das denke ich auch. Es gibt aber ein kleines Problem“, fuhr Pamela mit tonloser Stimme.
„Was für ein Problem?“ wollte Canetti wissen.
„In den Bergen gibt es eine Frau, die John das Leben gerettet und ihn gesund gepflegt hat. Sie muss weg, denn sie kann John das rettende Alibi verschaffen.“
„Ok, verstehe. Ruf die Polizei an und fahr dann nach Hause. Ich schick Dir einige Männer vorbei“, sagte Canetti nüchtern. „Gut, dass Philipp heute eingetroffen ist. Ich schick ihn dir gleich mit. Ist vielleicht ganz gut, wenn er dabei ist. Dann steckt er noch tiefer in der Scheiße und kommt auf keine dummen Gedanken. Außerdem weiß er, wo John die Lawine erfasst hat.“
„Onkel Ernesto?“
„Was gibt’s noch?“
„Ich hab Angst“, flüsterte Pamela mit zittriger Stimme.
Wieder entstand ein langes Schweigen.
„Pamela, du wirst irgendwann meinen Job übernehmen“, sagte Canetti eindringlich. „Wenn du da Angst zeigst, bist du weg vom Fenster. Doch wenn dir dieser Coup gelingt, kannst du dir der Hochachtung auch jener Verbündeten sicher sein, die bis jetzt noch nicht wirklich von dir überzeugt waren. Also sieh diese Operation als dein Meisterstück. Denn welche Frau hat schon die Härte und Kaltblütigkeit und liefert ihren eigenen Mann der Polizei ans Messer, damit die Interessen des Syndikats gewahrt bleiben.“
„Glaubst du wirklich?“
„Nein, ich bin 100%ig davon überzeugt“, erwiderte Canetti voller Zuversicht. „Wenn diese leidige Angelegenheit erledigt ist, dann melde dich bei mir.“
Das Besetztzeichen zeigte Pamela, dass ihr Onkel bereits aufgelegt hatte.
Wie so oft schon fühlte Pamela nun wieder diesen kalten Schatten der Einsamkeit und den bitteren Geschmack des Verlassenseins ihrer Kindertage. Sie hatte auf den seelischen Beistand ihres Onkels in dieser so unerwartet brenzligen Situation gehofft. Doch in Canettis Welt gab es keinen Platz für Gefühle und Schwäche. Er erwartete, dass Pamela wie immer ihr Bestes gab. Niemals fragte er, wie es in ihrem Inneren aussah. Dass ein Teil in ihr ganz einfach auch Frau war, die fühlte, interessierte ihren Onkel nicht.
Pamela startete ihren Wagen und ließ ihn langsam die Straße entlang rollen. Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihr Leben war dahin ausgerichtet, das zu tun, was ihr Onkel von ihr verlangte. Mehr denn je erkannte Pamela, dass sie nicht mehr als das Werkzeug in seiner Hand war. Seitdem sie für ihren Onkel arbeitete, verlangte Canetti bedingungslosen Gehorsam. Ihre ureigenen Bedürfnisse hatte sie seit frühester Kindheit unterdrücken müssen, so dass diese im Laufe der Jahre langsam verkümmert waren. Viel zu spät hatte sie erkannt, dass auch sie ein Leben und ein Recht auf Liebe hatte. Zu dieser bitteren Erkenntnis war sie aber erst gelangt, als sie John aus dem Weg räumen musste. Um ihren unersättlichen Geltungsdrang zu stillen und ihr Können unter Beweis zu stellen, besser als jeder Mann zu sein, war ihr jedes Mittel recht gewesen. Und in diesem ausufernden Selbstbetrug und dem akribischen Bemühen, ihrem Onkel zu gefallen, von ihm gelobt und vielleicht sogar ein wenig geliebt zu werden, hatte sie völlig ignoriert, dass sie ihren Mann wirklich liebte.
Und jetzt, wo John wieder von den Toten auferstanden ist, musste sie ihm ein zweites Mal ans Messer liefern. Wie gerne hätte sie noch einmal von vorne begonnen und ihre Gefühle für ihn endlich zugelassen. Doch dieser Zug war abgefahren.
Pamela griff in ihre Tasche und holte Karins Bild hervor. Unangenehm berührt musterte sie abermals das Bild der schönen Frau. Sie war also der Grund, wieso John so verändert war. Aber war es nicht gerade dieser neue John von dessen unverfälschter und unbewusst zur Schau getragenen Männlichkeit sich Pamela noch mehr als früher angezogen fühlte?
John konnte noch so heftig bestreiten, dass er mit dieser Frau kein einziges Mal geschlafen hatte. Ihre weibliche Intuition sagte ihr, dass er nicht ein einziges Mal, sondern viele Male mit ihr Sex gehabt hatte. Doch das war für Pamela eher das kleinere Übel. In seinen Augen hatte sie ein ganz besonderes Leuchten wahrgenommen, als er von ihr sprach. John hatte mit dieser Frau eine Liebesbeziehung.
Unglücklich, verwirrt und ohne Aussicht auf eine eventuell positive Wendung des Schicksals steckte sie das Foto wieder in ihre Tasche. Dann wählte sie die Nummer der Polizei, während erneut Tränen ihre Augen füllten.

 

 

- 14 -

 

John stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. In einer halben Stunde wollte Pamela wieder zurück sein. In der Zwischenzeit zog er seine alte Kleidung wieder an. Sicher war sicher. Schließlich befand er sich in einem Stundenhotel für Schwule. Da konnte man nie wissen, ob ein Homo bei der Tür herein schneien würde und ihn zu vernaschen versuchte, wenn er nackt im Bett lag.
Gerade als John seinen zweiten Turnschuh anzog, blickte er aus dem Fenster. Irgendetwas machte ihn dort draußen auf der Straße stutzig. John ging näher zum Fenster, um einen breiteren Blickwinkel zu haben. Da sah er plötzlich einen Mann ziemlich schnell über die menschenleere Straße hasten, der sich hinter einer Litfassäule versteckte. Der Mann trug Straßenkleidung und keine Uniform. Doch John hatte das untrügliche Gefühl, dass ihm die Polizei auf den Fersen war. Schnell blickte er in die andere Richtung und sah an der nächsten Straßenecke uniformierte und bewaffnete Männer aus einem dunklen Kleinbus springen, die Deckung hinter den geparkten Autos und in Hauseingängen suchten.
Ein heftiger Adrenalinstoß jagte durch Johns Körper. Mit einem Mal hatte er Angst. Was war passiert? Hatten sie Pamelas Überwachungspersonal doch nicht ganz abschütteln können? Wie auch immer. Jetzt war keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. John musste so schnell wie möglich verschwinden. Wenn man ihn zu fassen bekam, waren seine Chancen bei weitem nicht so gut, als wenn er sich selber stellen würde. Außerdem sagte ihm seine innere Stimme, dass irgendetwas verdammt faul war. Rasch griff er nach seiner Jacke, seiner Mütze und den Sonnenbrillen und öffnete vorsichtig die Tür. Im Korridor war niemand zu sehen, was ihn erleichtert aufatmen ließ. John musste durch den Hinterausgang flüchten. Jetzt konnte er nur hoffen, dass dieser noch nicht kontrolliert wurde. Mit diesen Gedanken lief er so leise wie nur möglich die Treppe hinab. Entsetzt blieb er stehen, als er zwei Polizisten vor der offenen Haustür positioniert sah. Noch standen sie mit dem Rücken zu ihm. Doch es würde nicht lange dauern, bis sie sich ihm zuwandten. Schnell lief er die Treppe weiter hinunter Richtung Hinterausgang. Doch dieser war versperrt. Fluchend drehte er um und lief den Weg zurück. Vielleicht konnte er ja auch über das Dach flüchten. Noch während John die Treppe wieder hinauf lief und nachdachte, wo eine Dachluke sein könnte, öffnete sich eine Tür. Eine Hand griff blitzschnell nach ihm, die ihn mit aller Kraft ins Zimmer zog. Rasch fiel die Tür wieder ins Schloss.
„Sunnyboy, die Bullen suchen nach dir, nicht wahr?“
John brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an das Halbdunkel des Raumes gewöhnt hatten. Nicht gleich erkannte er den Concierge, der ihn mit fragwürdigem Lächeln anblickte. Seine Stimme war jetzt normal männlich und erinnerte nicht mehr an den weinerlichen Singsang einer Frauenstimme, die er imitiert hatte, als er Pamela und ihn begrüßte. Auch sein Schwulenoutfit hatte er abgelegt und er trug Jeans mit Rollkragenpulli. Sein schwarzes Haar trug er jetzt zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Einzig der perfekt gezupfte, schmale Bogen seiner ansonsten ziemlich breit wuchernden Augenbrauen und eine zarte Schicht von Make-up ließen darauf schließen, dass er vom anderen Ufer war.
„Ja, die Polizei ist hinter mir her“ keuchte John in Panik.
„Du bist Pamelas Mann, nachdem man überall sucht, oder?“
„Ja, das bin ich. Aber ich bin unschuldig, obwohl mir das augenblicklich schwer fällt zu beweisen“, beteuerte John aufgeregt. „Kannst du mir vielleicht helfen Cleo?“
„Du weißt noch wie ich heiße?“ stellte der Latino angenehm überrascht fest.
„Natürlich, ich vergesse selten einen Namen, insbesondere deinen. Außerdem läuft mir nicht jeden Tag ein Mann über den Weg, der versucht mich anzubaggern.“
John wurde immer unruhiger. Das laute Getrampel und die hektischen Stimmen, die Befehle weitergaben, wurden immer intensiver.
„Bitte Cleo, hilf mir. Ich steck echt in der Scheiße.“ drängte John den kleinen Mann
„Ok, was ist es dir wert, wenn ich Deine Haut rette?“
„Ich hab bloß 500 Dollar in der Tasche.“
„Oh, das ist aber nicht gerade viel. Zu wenig, wenn wir auffliegen sollten“, stellte Cleo enttäuscht fest.
„Mehr habe ich im Augenblick nicht. Wenn ich es aber schaffe freizukommen, bekommst du zu den 500 Dollar noch einmal 5000 dazu. Ist das ein Angebot?“
Der Lärm im Korridor wurde immer intensiver. Männerstimmen waren nun vor der Tür zu hören und rasche Schritte, die in die obere Etage führten.
„Einverstanden. Ich mach es. Aber nur, weil du Pamelas Mann bist. Schließlich lege ich mich nicht gern mit ihrem Onkel an, der ja mein Chefs ist.“
„Wie auch immer, hilf mir“ bat John inständig.
Cleo ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Vom oberen Stockwerk hörte man, wie Türen lautstark aufgerissen wurden und wieder ins Schloss fielen. Laute und hektische Männerstimmen waren nun überall zu hören. Offensichtlich war man in das leere Zimmer eingedrungen, in dem John und Pamela waren. Dass er verschwunden war, verursachte nun noch mehr Wirbel und systematisch begann man alle Zimmer zu durchsuchen. Schnell schloss der Latino wieder die Tür und begann sich auszuziehen. Verdutzt sah John den Mann an.
„Los worauf wartest du? Zieh dich aus!“ befahl er John.
„Wozu soll ich mich ausziehen?“
„Tu was ich dir sage, sonst hast du in Kürze wirklich ein mächtiges Problem.“
Widerwillig begann John sich zu entkleiden. Mittlerer Weile stand Cleo völlig nackt vor ihm. Schnell ging er zu dem billigen Schminktisch und band sich eine schwarze Fliege um den Hals. Dann zog er halterlose Strümpfe über seine rasierten Beine und schlüpfte in hochhackige Lackpumps. Cleo sah echt grotesk aus, dass John sich genierte, ihn anzusehen.
Bis auf seine Shorts war nun auch er entkleidet. Mit einer fordernden Bewegung seiner Finger wies in Cleo an: „Los runter mit der Wäsche. Du musst nackt sein.“
Die Schritte im Korridor wurden immer lauter. Anscheinend hatten die Polizisten das obere Stockwerk schon durchsucht und begannen nun in dieser Etage nach John zu suchen.
Rasch ließ John die Hüllen fallen.
„Leg dich ins Bett und sei einfach still“, befahl Cleo.
Unmittelbar nachdem sich John in das breite Himmelbett legte, warf sich auch schon der schwule Latino auf ihn und begann ihn zu küssen. Eine schallende Ohrfeige unterbrach diesen Kuss.
„Hör zu du kleines, schwules Arschloch. Wenn du mir noch einmal deine grässliche Zunge in den Hals steckst, bring ich dich um“. drohte John dem überraschten Concierge.
„Du blöder Idiot, denk doch einmal scharf nach? Wonach glaubst du suchen die Bullen? Nach einem hochkarätigen Unternehmer im Nadelstreif, oder nach einem schwulen Kunden, der gerade drauf und dran ist, einem Callboy den Arsch zu ficken“, stieß Cleo zornig hervor.
„So weit musst du aber nicht gehen. Doch küssen und streicheln wirst du mich schon müssen, damit wir auch glaubwürdig erscheinen.“
John überlegte kurz und kam zur bedauerlichen Einsicht, dass Cleo Recht hatte. Das Haus war umstellt und er hatte keine Möglichkeit zu fliehen. Seine einzige Chance zu entkommen, war dieses unglaublich widerliche Spiel mitzuspielen.
„Oh Gott“, seufzte John angeekelt und schloss die Augen, während Cleo seine Lippen auf Johns presste und ihn abermals zu küssen begann. Er musste den Brechreiz unterdrücken und an etwas Schönes denken, während die Zunge des Concierge in seiner Mundhöhle nach seiner suchte und seine Hände Johns nackten Körper streichelten. Cleo begann auf seinen Lenden herum zu rutschen, so dass es für einen Außenstehenden so aussehen musste, als ob es die Beiden miteinander trieben.
Vor wenigen Minuten hätte es John nicht für möglich gehalten, dass er die Polizei herbei sehnen würde. John spürte, wie das Glied des Mannes erigierte und hart in seine Leisten drückte. Er wollte ihn angewidert wegstoßen. Doch er hatte Angst, dass Cleo ihn auffliegen lassen würde. So hielt er still und wartete, während er die nassen und gierigen Küsse über sich ergehen lassen musste und Cleos drängender Schwanz heftig an ihm rieb.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und zwei junge Polizisten standen mit erhobener Pistole im Zimmer, während Cleo wie ein Wilder auf John herum ritt und ihn dabei gierig küsste. Die beiden Männer waren sichtlich schockiert. Mit diesem Szenario hatten sie nicht gerechnet. Eingeschüchtert und sprachlos vor Entsetzen blieb ihnen der Mund offen stehen.
Cleo nutzte die Gelegenheit, sprang in seinen halterlosen Strümpfen mit den Lackpumps, dem nun offenen Haar und der schwarzen Seidenfliege schnell von John herunter und baute sich vor den beiden Polizisten auf, die entsetzt auf Cleos erigiertes Glied blickten. Der Concierge baute sich so vor den Polizisten auf, so dass den beiden Männern das Blickfeld auf John verwehrt war. Der Latino spielte den Empörten und fuchtelte mit seinen Händen vor den Männern herum und seine nun wieder sehr weiblich klingende Stimme schimpfte:
„Was bildet ihr schlimmen Polizisten euch eigentlich ein? Dringt ganz einfach in das Boudoir ein und verletzt die Intimsphäre einer Lady, die ihren Gast gerade verwöhnt. Ich werde eine Beschwerde über euch beide einreichen und ihr werdet mächtig Ärger bekommen, das verspreche ich euch. Und nun verschwindet. Ihr seht doch, dass ihr stört.“
Der ältere, der beiden Polizisten fing sich rascher und sagte peinlich berührt, während er ein Foto unter Cleos Nase hielt:
„Wir suchen diesen Mann hier. Wir haben Informationen, dass er sich in diesem Hotel aufhalten soll.“
Cleo betrachtete das Foto, wo John mit kurzem Haar und ohne Bart abgebildet war. Während er auf das Foto starrte, masturbierte er seelenruhig seinen Schwanz. Die beiden Männer wussten vor Verlegenheit nicht, wohin sie blicken sollten.
„Ja, der Mann hat heute vor nicht einmal zwei Stunden das Zimmer 25 gemietet.“ erklärte Cleo mit singender Stimme.
„Ist er denn nicht mehr dort?“
„Nein, das Zimmer war leer. Wissen sie, wohin er gegangen ist.“
„Sorry, mein Guter. Ich war die ganze Zeit hier mit diesem wilden Stier dort beschäftigt und wies auf John, der träge im Bett lag und eine Zigarette rauchte, in dessen Rauchnebel er nur schwer zu erkennen war.
Doch dann lächelte Cleo wollüstig die beiden Polizisten an.
„Aber vielleicht wollt ihr schnell zusehen, wie wir uns den Schwanz gegenseitig in den Arsch schieben. 50 Mäuse und ihr seid dabei. Dann könnt ihr hautnah miterleben, wie ich die Tunte dort aufspieße?“
Das war den beiden Polizisten endgültig zuviel.
„Entschuldigen sie die Störung. Aber wir haben Weisung, jedes Zimmer zu durchsuchen.“
„Nun gut, nachdem ihr gesehen habt, dass hier niemand sonst als ich und mein Freier sind, wird es Zeit, dass ihr euch verabschiedet. Husch, husch, verschwindet, sonst fällt er mir noch zusammen.“ Und wies auf seinen immer noch prallen Phallus.
Als die Tür ins Schloss fiel, atmete John erleichtert durch. Auch Cleo schloss die Augen und war froh, dass sich die Bullen so einschüchtern ließen. Doch noch war die Gefahr nicht gebannt und sie hörten, wie die restlichen Zimmer durchsucht wurden. Es dauerte noch einige Zeit bis wieder Ruhe einkehrte. John ließ es aber nicht mehr zu, dass der Mann ihn bestieg. Enttäuscht, dass John keinen Gefallen an seinen Aufmerksamkeiten und Reizen fand, ließ er sich beleidigt in das Plüschsofa fallen.
John wusste, dass er ihn bei der Stange halten musste. Noch waren die Polizisten im Haus. So sagte er schließlich anerkennend:
„Cleo, eines muss ich schon sagen, die Performance, die du hier geboten hast, war oskarreif. Du solltest dein Talent nicht in einer so billigen Absteige verkümmern lassen, sondern aus deiner Begabung etwas machen.“
„Findest du wirklich, dass ich gut war?“ hackte Cleo erfreut ein und die Enttäuschung war wie weggeblasen.
„Du warst hervorragend. Der beste Beweis, dass ich die Wahrheit sage, ist doch, dass ich noch immer hier bin.“
Der Concierge freute sich wie ein Hündchen, dass man streichelte. Gedankenverloren blickte er durch das Fenster und sagte wie dann ziemlich theatralisch: „Ich ahnte immer schon, dass ein großes Talent zur Dragqueen in mir schlummert. Doch nun ist vielleicht der richtige Zeitpunkt gekommen.“
„Bevor du das tust, kannst du vielleicht nachsehen, ob die Luft rein ist.“ bat John den Schwulen.
Cleo checkte die Lage. Doch weit und breit war kein Polizist mehr zu sehen. John hatte sich schnell angezogen und wartete auf grünes Licht. Bevor sie das Zimmer verließen, gab John seinem Helfer all das Geld, das er von Karin bekam und verabschiedete sich.
„Wohin willst du nun?“
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“
„Hast du jetzt Geld?“
„Nein, ich gab alles Dir.“
Cleo blickte auf die 600 Dollar in seiner Hand und zog einen 100 Dollar Schein aus dem dünnen Bündel und reichte ihn John.
„Dann bekomm ich 5.100 Dollar von dir, wenn die Sache vorbei ist, ok?“
John nahm den Schein und lächelte Cleo dankbar an.
„Dich zum Freund haben muss echt super sein. Schade, dass ich nicht schwul bin.“
„Nun ja, was nicht ist, kann ja noch werden.“ scherzte der Concierge und erwiderte Johns Lächeln mit einem hoffnungsvollen Augenaufschlag.

 

 

- 15 -

 

Sein schielendes Auge und das halblange, zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebundene Haar waren nun wieder Philipps Markenzeichen. Wäre nicht so viel auf dem Spiel gestanden, hätte es Philipp diesen Silberblick niemals mehr zugelassen. Mit beiden Augen uneingeschränkt sehen zu können, hatte schon ein enormes Gefühl von Freiheit vermittelt. Es würde nun wieder einige Zeit dauern, bis er sich an die reduzierte Sicht gewöhnt hatte.
Doch dieses Problem war augenblicklich sicherlich das kleinste Übel. Vor einer knappen Stunde hatte Canetti angerufen und ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass John noch am Leben ist. Zuerst war Philipp schockiert gewesen. Doch dann durchströmte ihn ein wunderbares Gefühl der Erleichterung und Dankbarkeit. Fast wäre er glücklich gewesen, denn die schwere Last, am Tod seines Bruders Schuld zu sein, war nun wie weg gewischt.
Doch dieses Hochgefühl hatte nur kurz gedauert. Ziemlich rasch war Philipp bewusst geworden, welch immensen Probleme mit Johns Auftauchen einhergingen. Man würde ihn wegen versuchter und fahrlässiger Tötung, sowie schweren Betrugs schuldig sprechen, sodass er mit einer verdammt langen Haftstrafe rechnen musste. So sehr es Philipp auch widerstrebte, so blieb ihm nichts anderes übrig, als mit Pamela am selben Strang zu ziehen, wenn er nicht ganz untergehen wollte.
Philipp wartete in seinem Appartement auf Pamela. Die Wohnung bot im grellen Licht der von der Zimmerdecke hängenden Glühbirnen einen verlassenen, ja deprimierenden Eindruck. Die Schritte auf dem nackten Parkett hallten in den leeren Räumen kalt wider. Im Laufe der vergangenen Monate hatten Spinnen in einigen Mauerecken ihre zarten Netze gewoben, in die sich in der noch kalten Jahreszeit keine Fliege verirrt hat. Bis auf sein Bett, einem riesigen Schrank und der Einbauküche sah sein Appartement ziemlich leer und verlassen aus. Eine Klappleiter lehnte noch an einer Wand, mit der er schon vor Wochen die Beleuchtungskörper abmontiert hatte. Das meiste Inventar hatte Philipp schon längst verkauft oder verschenkt. Und die paar wertvollen Möbelstücke, Bilder, Skulpturen und Teppiche, samt der riesigen Kartons mit Büchern waren in einem Depot in Bogota zwischengelagert, bis sein Haus im Hochland bezugsfertig war.
Philipp saß auf dem zerwühlten Bett. Am liebsten hätte er sich wieder in dieses verkrochen, um zu schlafen und alles zu vergessen. Es graute ihm davor, mit Pamela und einem Trupp von Canettis Bluthunden nach Jasper aufzubrechen und nach dieser Einsiedlerin suchen. Wieder musste ein unschuldiger Mensch sterben, weil er zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war.
Wie oft hatte Philipp schon mit dem Schicksal gehadert, dass er Pamela begegnet war und ihr blindlings in die Falle ging. Wie viele Tote würde es noch geben, bis sie endlich das hatte, was sie unter allen Umständen will?
Ein Signalton seines Handys riss ihn aus seinen unglücklichen Gedanken. Eine SMS war angekommen. Philipp wusste, dass Pamela diese Nachricht schickte. Auf dem gelb aufleuchtenden Display war die kurze und nüchterne Mitteilung zu lesen: ‚Komm runter, wir sind da.‘
Resigniert stand er auf, nahm seinen Parka von der anderen Betthälfte und ging aus der Wohnung.
In dem vor dem Haus parkenden schwarzen Kleinbus warteten Pamela und sechs Männer, die ihm völlig unbekannt waren. Schon der Ausdruck ihrer Gesichter verriet, dass es sich bei diesen Typen nicht um brave Chorknaben, sondern um jene brutale Spezies von Männern handelte, die lieber erst einmal hinschlug, bevor Fragen gestellt wurden. Und dieses mächtige Aufgebot an Killern galt einer armen, schwachen Frau, die absolut keine Ahnung hat, dass sie morgen nicht mehr leben würde.
Mit einem kurzen Wink wies ihn Pamela schweigend an, auf dem freien Beifahrersitz Platz zu nehmen. Dann setzte sich der Wagen in Bewegung.
Um 17.00 Uhr durch die Stadt zu fahren, war nicht gerade die günstigste Zeit aus der Stadt zu fahren. Die Stoßzeit war in vollem Gange, sodass man teilweise nur im Schritttempo voran kam. Doch kaum hatten sie die Stadtgrenze passiert, ging die Fahrt zügig dahin, obwohl noch immer eine Menge Autos auf den Straßen unterwegs waren.
Pamela saß ungewohnt schweigsam im Fonds des Wagens. In den schwarzen Jeans, dem schwarzen Rollkragenpulli und der dunklen Lederjacke wirkte sie eher wie ein halbstarker Teenager als eine Femme Fatale. Ihr rotes Haar trug sie zusammen gebunden unter einer schwarzen Nike-Schirmkappe. Ohne Lippenstift und Make-up wirkte sie eher blass und verletzlich und unterstrich ihr jungenhaftes Aussehen.
Die bittere Erkenntnis ihren Mann nochmals zu verlieren, belastete sie schwer. Für ein Zurück war es aber zu spät. Dieses Mal würde John leider wissen, woher der Dolchstoß kam. Er würde sie für das hassen, was sie ihm angetan hatte und noch mehr für das, was sie nun tun musste. Er würde sie hassen, weil sie diese Frau töten ließ, die ihm weit mehr bedeutete, als er vorgab. In den langen Stunden der Fahrt nach Jasper wurden ihre Eifersucht und der Neid auf diese Frau immer intensiver. Immer wieder zog Pamela das Foto aus der Brusttasche ihrer Jacke und betrachtete Karin in den kurzen Momenten, wo das Licht der Straßenlaternen in das Innere des Wagens fiel. Pamela malte sich aus, wie diese Frau ihren Mann um den Finger gewickelt und so verführt hatte, dass John dabei völlig seine Frau vergessen hatte. Bestimmt wäre er noch länger geblieben, wenn er nicht über die Medien von den Todesfällen durch den Schlankmacher informiert worden wäre.

 

 

- 16 -

 

Der heftige Wind hatte sich so ziemlich gelegt, als John die nächste U-Bahn-Haltestelle erreichte. Kurz nach 18:00 Uhr hatte er das Hotel durch den Hinterausgang verlassen. Jetzt konnte John nur hoffen, dass er nicht beobachtet und verfolgt wurde. Immer wieder hatte er sich nach eventuellen Verfolgern umgedreht, doch niemand folgte ihm.
In den belebteren Straßen war diese Zeit ein hektisches Gedränge. Überall strömten Menschen aus den Büros, Kaufhäusern und Werkstätten und emsiges Treiben belebte die Straßen. Keiner achtete auf ihn, so dass er in der Menge unbemerkt untertauchen konnte und mit der U-Bahn in die Stadt zurück fuhr.
Pamela hatte er nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hatte sie die Flucht ergriffen, als sie die vielen Polizeiautos vor dem Hotel stehen sah. John wollte sie aber auch nicht anrufen, weil ihr Handy bestimmt überwacht wurde. Deshalb hatte er Cleo gebeten Pamela anzurufen, dass er sich melden würde, sobald er sicher war, dass sie nichts mehr zu befürchten hatte.
Von einer Telefonzelle aus versuchte John Alex Summer zu erreichen. Doch er hob nicht ab. So blieb John nichts anderes übrig, als zu Summers Wohnung zu fahren und zu hoffen, dass er zu Hause war. Auf dem Weg dorthin fragte sich John immer wieder, wieso Alex zugelassen hatte, dass das Medikament freigegeben wurde. Niemand anderer wusste besser um die gefährlichen Nebenwirkungen von RNV3 Bescheid als er. Alex war auch derjenige gewesen, der sich strikt dagegen verwehrt hatte, den Schlankmacher auch schon an Testpersonen auszuprobieren. Was hatte Philipp gegen ihn in der Hand gehabt, dass sich Alex so manipulieren hat lassen?
Vor Summers Appartementhaus suchte John nach dem Namensschild seines Freundes. Doch nachdem er die Auflistung der der Bewohner zum dritten Mal durchging ohne Alex darauf zu finden, wurde John stutzig. Dort, wo früher Summer gestanden hatte, war ein neues Namensschild angebracht worden. Alex musste in seiner Abwesenheit die Wohnung gewechselt haben. Vielleicht war er auch gar nicht mehr in der Stadt, ging es John durch den Kopf. Das konnte auch der Grund sein, wieso Alex den Schlankmacher nicht zurück gehalten hatte. Sein Freund hatte seinen Job gekündigt.
Unschlüssig dachte er nach, wo er etwas über Alex erfahren konnte. Die einzige Person, die ihm jetzt noch weiter helfen konnte, war seine Sekretärin. Sally Stevenson lebte mit ihrem Mann in einem kleinen Häuschen am westlichen Stadtrand. Den Weg dorthin kannte John noch ziemlich gut. Als er mit seinem Bruder nach dem plötzlichen Tod des Vaters die Firma übernehmen hatte müssen, war ihm Sally eine große Hilfe gewesen. Oft war sie mit ihm bis nach Mitternacht geblieben, bis beide dann ziemlich erledigt das Büro verließen. Damals hatte Sally noch kein eigenes Auto gehabt. John hatte sie aber zu so später Stunde nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren lassen wollen, sodass er sie entweder in ein Taxi setzte, oder sie selbst nach Hause brachte.
Sally hatte schon für seinen Vater gearbeitet. Damals war sie aber nur eine kleine Tippse gewesen, die im Hinterzimmer für die Chefsekretärin die unangenehmen Arbeiten erledigte. Mrs. Burk hatte penibel darauf geachtet, dass ihr ihre Stellung als Chefassistenin, so wie sie sich ausdrücklich bezeichnet wissen wollte, durch niemanden streitig gemacht wurde. Unter ihrem Zepter hatte Sally niemals eine Chance gehabt, sich zu profilieren.
Gezwungener Maßen hatte John die Sekretärin seines Vaters übernehmen müssen, da ihm in vielen Dingen noch das nötige Know How fehlte. Gemocht hatte er diese alternde Barbiepuppe jedoch nie.
Doch wie es der Zufall gewollt hatte, zog sich Mrs. Burk beim Skifahren einen ziemlich komplizierten Knochenbruch an ihrem Bein zu, der sie für viele Wochen von der Firma fern hielt. Sally hatte diese unerwartete Gelegenheit zu nutzen gewusst und ihren Fleiß, ihr Organisationstalent, ihre Wendigkeit und absolute Loyalität unter Beweis gestellt. Obwohl Sally mit ihren Pausbacken, dem glanzlosen, braunen Haar und ihren ausladenden Hüften keine besonders attraktive Erscheinung gewesen war, so hatte sie diesen Makel mit ihrem fröhlichen Wesen, durch ihre Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft schnell wettgemacht. Niemals war sie schlecht gelaunt oder gar aggressiv gewesen, was bei Mrs. Burk eigentlich an der Tagesordnung gestanden hatte. Man musste Sally ganz einfach gern haben, obwohl sie sich durchaus durchzusetzen wusste und auch ziemlich stur und unnachgiebig sein konnte.
Als Mrs. Burk wieder in die Firma zurückgekehrt war, drückte ihr Sally ein weißes Kuvert in die Hand und sagte voller Genugtuung: ‚ab sofort sind Sie in den Vertrieb versetzt. In der Chefetage sind sie nicht mehr erwünscht.‘
In den vergangenen sieben Jahren entwickelte sich zwischen John und seiner Sekretärin eine distanzierte Nähe, die von Hochachtung und Respekt füreinander geprägt war. Die Zusammenarbeit verlief mit Sally wesentlich harmonischer als mit Mrs. Burk. Vielleicht lag das auch daran, dass Sally in John verliebt war. Doch niemals hatte sie ihre zarten Gefühle für ihn offensichtlich gezeigt. Sally war viel zu intelligent gewesen, um John auf ihre Empfindungen aufmerksam zu machen. Und John hatte immer so getan, als ob er sie nicht bemerkte.
Als John dann Pamela kennenlernte und sie kurz darauf heiratet hatte, war Sally sehr betroffen gewesen. Doch John hatte nicht gewusst, wie er Sally vor diesem Schlag bewahren sollte. Sally hatte sich ziemlich zurückgezogen und einige Monate später heiratete sie ihren langjährigen Freund.

 

John stand nun vor ihrer Haustür und drückte die Glocke, worauf im Haus ein helles Ding-Dong zu hören war. Rasche Schritte näherten sich der Tür, die kurz darauf einen schmalen Spalt geöffnet wurde. In einem hellblauen Hausanzug und mit einem Geschirrtuch in der Hand und sah sie ihn unverwandt an und sagte unfreundlich: „Was wollen Sie?“
John nahm seine Mütze und Sonnenbrillen ab und lächelte seine Sekretärin zaghaft an: „Hallo Sally.“
Überrascht riss Sally ihre Augen auf. Ihr zurückhaltender Gesichtsausdruck wandelte sicher innerhalb einer Sekunde in einen sehr feindselig-aggressiven.
„Wie unverschämt muss man sein, dass Sie sich trauen, hier aufzutauchen“, fauchte sie ihn an. „Verschwinden Sie, sie verdammter Scheißkerl.“
Sally wollte die Tür zuschlagen. Doch John war geistesgegenwärtig genug, um in letzter Sekunde seinen Fuß in den Türspalt zu stellen.
„Sally, hören Sie mir bitte zu!“, bat John eindringlich und drängte gegen die Tür.
„Hauen Sie ab, sonst ruf ich die Polizei“ hörte er sie durch den Türspalt drohen.
John nahm seine drückenden Hände von der Tür. Seinen Fuß ließ er aber dort, wo er war. John konzentrierte sich die passenden Worte zu finden, um sie so schnell wie möglich von dem Missverständnis überzeugen konnte und er kein unnötiges Aufsehen in der Nachbarschaft erregte.
„Sally, bitte, hören Sie mir einen Moment zu“, begann John noch einmal und versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben.
„Ich bin heute nach fast einem halben aus der Wildnis zurückgekehrt“, flüsterte John so laut, dass ihn Sally gerade noch verstehen konnte. „Wie Sie vielleicht noch wissen, war ich mit meinem Bruder Anfang November zum Ski fahren nach Jasper gefahren. Dort entkam ich mit knapper Not einer Lawine. Ich hatte dabei einige Knochenbrüche davongetragen, so dass ich den Winter über in einem abgelegenen Jagdhaus verbringen musste. In dieser Zeit hatte ich keine Möglichkeit meine Angehörigen zu informieren, dass ich überlebt habe.“
John wartete auf eine Reaktion. Doch hinter der Tür blieb es still.
„Sally, schauen Sie mich doch an. Sehe ich so aus, als ob ich die letzten Monate in einem Büro verbracht hätte?“, versuchte John so eindringlich wie möglich an den gesunden Menschenverstand seiner Sekretärin appellieren. „Ich seh aus wie ein Holzfäller. Glauben Sie denn wirklich, dass diese Veränderung innerhalb einiger Tage möglich ist?“
Noch immer reagierte sie nicht, sodass John langsam in Panik geriet. Menschen, die vor dem Haus vorbei gingen, wurden schon auf ihn aufmerksam und blieben neugierig stehen. In einem Fenster des Nachbarhauses sah er, wie sich die Gardinen bewegten. John musste unbedingt aus dem Visier dieser Gaffer gelangen.
„Sally, ich weiß nicht was Ihnen Philipp angetan hat, aber sicherlich nicht mehr als mir. Bitte helfen Sie mir. Ich brauche Sie. Ich hab sonst keinen Menschen mehr, an den ich mich wenden könnte.“
Aber nach wie vor trafen seine Worte ins Leere.
„Ok, ich lasse Sie schon in Ruhe“, sagte John enttäuscht und zog seinen Fuß zurück und sofort die Tür schnappte zu. Rasch setzte er seine Mütze und die Sonnengläser wieder auf und ging schnellen Schrittes den schmalen Kiesweg zur Straße zurück.
Doch dann hörte er endlich Sallys Stimme, die ihm nachrief: „Mr. Lombard, kommen Sie zurück.“
Erleichtert atmete John durch und lief schnell zu Sally zurück, die ihn verunsichert entgegen lächelte.
„Danke Sally“, sagte er zutiefst erleichtert und drückte dankbar ihre Hand.
John folgte ihr in die Küche. Ein verführerischer Duft von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Als ob Sally wusste, woran er gerade dachte, fragte sie ihn:
„Sie haben Hunger, nicht wahr?“
„Ja, besonders jetzt, wo es hier so gut nach Essen duftet.“
„Dann ziehen Sie Ihre Jacke aus und nehmen Sie Platz“, forderte sie ihn auf und holte einen sauberen Teller aus dem Küchenschrank. Diesen belud sie mit einem riesigen Steak, dem Rest des Gemüses und Kartoffeln, die vom Abendessen noch übrig geblieben waren.
„Essen sie erst einmal“, sagte Sally freundlich, während sie sich zu John an den Küchentisch setzte.
„Danke Sally.“
John schnitt ein Stück des Fleisches ab und steckte es in seinem Mund.
„Oh Gott, ist das gut“, murmelte er genüsslich vor sich hin. „Wo ist ihr Mann?“
„Er hat heute die Nachtschicht und ist vor 20 Minuten in die Firma gefahren.“
John war erleichtert, dass er mit Sally alleine war. Während er das Essen ins sich hinein stopfte, bat er Sally:
„Erzählen Sie mir bitte, was in meiner Abwesenheit passiert ist.“
Mit einem deprimierten Seufzer schenkte sie zwei Becher Kaffee voll und schob eine davon John hin. „Zwei Tage, nachdem John Lombard aus Jasper zurückkamen, haben er mich fristlos entlassen.“
„Was!“ fuhr John mit vollem Mund hoch.
„Ja, er hat mir vorgeworfen, dass ich Betriebsspionage betrieben habe. Man fand auch die nötigen Beweise in meinem Schreibtisch. Es war alles so offensichtlich und aufgelegt, dass ich überhaupt keine Chance hatte, mich zu verteidigen. Man fand Tabellen, Formeln, Laborberichte und noch einiges mehr, was für eine schöne, fristlose Entlassung wichtig war. Dabei hatte ich noch Glück gehabt, dass mir keine Anzeige ins Haus geflattert ist. Jedenfalls wusste ich sofort, dass gegen mich ein Exempel statuiert hatte und man mich aus dem Weg haben wollte. Nur habe ich nicht verstanden wieso.“
Langsam ging John ein Licht auf. Philipp musste all jene Personen aus dem Weg räumen, die ihn genauer kannten, sonst wäre seine falsche Identität über kurz oder lang aufgeflogen. Und Sally war sicherlich eine jener Personen, die ihn als erste enttarnt hätte und wurde somit auch als erste entsorgt.
„Was ist mit Alex Summer und unserem Anwalt Sam Porter?“
Ein bitteres Lächeln zeigte sich in Sallys Gesicht.
„Mr. Porter hat man zeitgleich mit mir, aber ohne Angaben von Gründen die Vollmacht gekündigt. Und Mr. Summer ist Mitte November bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.“
Mit einem Schlag hatte John seinen Appetit auf das köstliche Steak verloren und ein ziemlich flaues Gefühl begann seinen Magen auszubreiten.
„Alex ist verunglückt?“ fragte er bestürzt.
„Das ist zumindest die offizielle Version“, sagte Sally ziemlich tiefschürfend. „Doch wenn Sie mich fragen, so glaube ich, dass es Mord war.“
„Mord?“, rief John entsetzt. „Aber wieso hätte man ihn ermorden sollen?“
„Nun ja, aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass es in Ihrem Büro eine ziemlich heftige Auseinandersetzung zwischen Mr. Lombard und Summer wegen des Schlankmachers gegeben hat. Summer soll gesagt haben, dass da etwas ordentlich stinke und er nicht eher ruhen werde, bis er dem Übel auf den Grund gegangen ist. Kaum zwei Tage später ist sein Wagen einen Steilhang hinabgestürzt. Durch die ungeheure Explosion konnte nicht mehr nachgewiesen werden, wie es zu diesem Absturz gekommen ist. Jedenfalls waren in Summers Blut weder Alkohol noch Drogen zu finden gewesen.“
Mit einem Schlag hatte John seinen Appetit verloren und schob den Teller von sich.
„Haben sie vielleicht ein Glas Whisky für mich?“
„Klar doch“, antwortete Sally und holte die Flasche aus dem Wohnzimmer. Der halbe Glas Whisky brannte wie die Hölle seinen Rachen hinunter. Die belebende Wirkung blieb aber nicht aus.
„Dann hat Philipp also all jene Menschen aus dem Weg geräumt, die ihm gefährlich werden konnten.“
„Sie meinen Ihren Bruder?“ fragte Sally und blickte ihn verwirrt an.
„Ja, natürlich“, bestätigte John deprimiert. „Philipp hat auch den Lawinenabgang inszeniert, bei dem ich ums Leben hätte kommen sollen. Ich hatte aber Glück im Unglück und die Lawine ging über mich hinweg, während ich gegen einen Baum prallte und mir dabei etliche Knochen brach. Der Zufall war mir aber gnädig und eine in den Bergen lebende Frau hat mich gefunden, die mich den Winter über gesund gepflegt hat. Durch den bedauerlichen Umstand, dass diese Frau weder ein Satellitenhandy, noch ein Funkgerät besaß, konnte ich niemanden informieren, dass ich überlebt habe.“
„Aber Philipp hat genauso wie Sie ausgesehen.“
„Ich weiß“, sagte John. „Als ich ihn beim Helikopterlandeplatz nach einem halben Jahr wieder gesehen habe, war er mein totales Spiegelbild. Zu guter Letzt hat er noch unsere beiden Parkas vertauscht, so dass er alle meine Kreditkarten und anderen Ausweise hatte. Und nachdem ich mich nicht mehr gemeldet habe, nahm er an ich sei tot und er konnte mit der Scharade beginnen.“
Langsam begann Sally die Zusammenhänge zu erfassen.
„Wenn ich jetzt richtig kombiniere, dann hat Philipp nach ihrem Tod ihre Identität angenommen, um leichteres Spiel zu haben, den Schlankmacher auf den Markt zu bringen. Er musste aber das Risiko aufzufliegen, so klein wie möglich halten. Deshalb schaffte er sich all jene Personen vom Hals, die den wahren John Lombard genauer kannten und ihm gefährlich werden konnten.“
„Sie haben es haarscharf erfasst“, bestätigte John ihre Schlussfolgerung. „Wie sich jetzt herausstellt, hat es auch einen zweiten Vorteil, sich als John Lombard ausgegeben zu haben. Die Schuld, die er mit RNV3 auf sich geladen hatte, kann er jetzt getrost auf mich abwälzen, nachdem er wieder als Philipp Lombard in Erscheinung getreten ist und sich als Retter der Firma darstellt.
„Das wäre ja echt ein raffiniert guter Plan gewesen, wenn Sie bei dem Lawinenabgang umgekommen wären.“
„Das bin ich aber nicht, so dass ich jetzt echt verdammt tief in der Scheiße stecke“, erwiderte John ziemlich verzweifelt. „Mit knapper Not bin ich heute der Polizei durch die Lappen gegangen. Wenn mir der Concierge des Hotels am Fraser River nicht geholfen hätte, dann hätte ich echt die Arschkarte gezogen.“
Natürlich erwähnte John nicht, was er über sich ergehen lassen musste, damit die Cops nicht auf ihn aufmerksam geworden waren.
„Was haben sie denn in dieser zwielichtigen Gegend gemacht?“, fragte Sally verwundert.
„Es war Pamelas Vorschlag dort unterzutauchen. Das Hotel gehört dem alten Canetti und ist eine ziemlich tiefe Schwulenabsteige. Pamela hatte angenommen, dass ich dort sicher wäre. Doch dem war leider nicht so. Anscheinend haben wir das Polizeiauto, das Pamela gefolgt ist, doch nicht abhängen können.“
Sally nahm einen kleinen Schuck von ihrem Whisky und blickte John nachdenklich an:
„Wenn nach Ihnen überall auf Hochtouren gesucht wird, wäre es da nicht besser, wenn Sie sich freiwillig stellen, als dass sie von den Cops geschnappt werden?“
„Das hab ich auch vor. Doch vorher brauche ich unbedingt einige Infos, um Klarheit zu bekommen.“
Sally war aufgestanden und ging nachdenklich auf und ab. John wusste, dass sie immer dann hin und herlief, wenn sie nach einer Lösung eines Problems suchte.
„John, mein Riecher sagt mir, dass an der ganzen Sache irgendetwas nicht stimmt. Dieser Coup passt nicht zu Philipp. Dieses Wagnis ist einfach eine Nummer zu groß für Ihren Bruder. Philipp ist kein Krimineller und ganz sicher kein Mörder. Ich vermute, dass hinter dieser leidlichen Angelegenheit weit mehr steckt und Philipp da irgendwas hinein geschlittert ist.“
„Das ist auch der Grund, wieso ich mit Sam dringend sprechen muss. Er weiß sicherlich mehr und kann mir auf die Sprünge helfen.“
„Was ist eigentlich mit Ihrer Frau? Welche Rolle spielt sie dabei?“
„Pamela wird durch Philipp erpresst. Er hat ihr gedroht, falls sie nicht mitspielen sollte, würde er es so zu drehen und zu wenden wissen, dass sie keinen müden Dollar aus der Firma mehr bekommen würde. Und jetzt steckt sie so tief in der Sache drin, dass sie nicht mehr zur Polizei gehen kann.“
„Sind Sie sicher, dass sie Ihnen die Wahrheit sagt?“, fragte Sally vorsichtig.
„Natürlich! Ich vertraue meiner Frau. Pamela würde mir niemals schaden wollen“, erwiderte John voller Überzeugung. „Aber wieso fragen Sie mich das?“
„Mich würde brennend interessieren, wessen Unterschrift auf dem Freigabeschein für RNV3 steht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie den Schein unterschrieben haben. In so einer heiklen Angelegenheit darf man sich absolut keinen Schnitzer leisten. Die Unterschrift muss hieb-und stichfest sein und jedem forensischen Gutachten standhalten.“
John konnte Sally nicht gleich folgen. Doch dann ging ihm ein Licht auf und er fragte ziemlich aufgebracht: „Wollen Sie etwa behaupten, dass Pamela mir diese Unterschrift gestohlen hat?“
„John wie oft ist Ihre Frau ins Büro gekommen und brauchte von Ihnen Unterschriften für Einladungen, Grußkarten, Rechnungsbelegen und weiß Gott was noch alles. Kein einziges Mal haben Sie angesehen, was sie da alles unterschrieben haben. Es wäre für Pamela sicherlich ein Leichtes gewesen, eine Blankounterschrift auf einem Briefpapier mit dem Firmenlogo zu erschwindeln.“
John wehrte sich gegen den Gedanken, dass Pamela zu so einer Tat fähig gewesen wäre. Doch er musste seiner Sekretärin rechtgeben. In der Zeit ihrer Ehe hatte es genug Möglichkeiten gegeben, sich seine Unterschrift zu erschleichen.
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Pamela damit etwas zu tun hat. Meine Frau hatte niemals auch nur einen Hauch von Interesse an der Firma gezeigt.“
„John, ich will Pamela nichts unterstellen. Doch man muss alle Möglichkeiten und Eventualitäten in Betracht ziehen.“
„Das ist schon ok. Doch Pamela kann nicht einmal einer Fliege was zu Leide tun. Es ist völlig unmöglich, dass sie mit dem Tod von Sam etwas zu tun haben könnte.“
Mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck blickte ihn Sally an.
„War Ihre Frau die ganze Zeit über mit Ihnen zusammen, seid Sie wieder zurück sind?“
Langsam ging es John auf die Nerven, dass Sally nicht davon abließ, seine Frau ins Visier zu nehmen.
„Ja, das waren wir“, erwiderte er ziemlich widerwillig. „Ich bin auf der Straße in ihr Auto gesprungen und wir sind dann ins Hotel gefahren. Nachdem sie mir alles erzählt hatte, bat ich sie, mir von zu Hause saubere Klamotten zu holen.“
„Und wie lange hat es dann gedauert, bis die Polizei aufgetaucht war?“
„Ca. 20 Minuten später“, überlegte John.
„Wenn Sie wirklich von der Polizei verfolgt worden wären, dann hätten die bestimmt zugeschlagen, als Pamela noch bei Ihnen gewesen war, denn dann hätte man Pamela eine Mithilfe zur Flucht anhängen können. 20 Minuten ist genau der passende Zeitrahmen, wo sie die Polizei verständigen und dieser sagen konnte, wo sie zu finden sind.“
John überlegte einen Moment und sagte dann ziemlich verunsichert.
„Sie glauben, dass Sie mich bei der Polizei auffliegen hat lassen?“
„Nun es ist zumindest nicht von der Hand zu weisen“, stellte Sally in den Raum. „Wenn Pamela wirklich durch Philipp erpresst wurde, dann war dies bestimmt ein äußerst günstiger Augenblick ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, um dafür ihren eigenen Mann ans Messer zu liefern.“
Niedergeschlagen schüttelte John seinen Kopf.
„Aber das macht doch alles keinen Sinn, Sally! Wieso sollte sie mir das antun wollen? Pamela ist meine Frau. Wir lieben uns. Außerdem hat sie alles, was ihr Herz begehrt. Die Firma interessiert sie nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall. Kurz bevor ich mich mit Philipp in Jasper getroffen habe, hat sie mich bedrängt, aus der Firma auszusteigen und meine Anteile Philipp zu überlassen, damit wir endlich mehr Zeit füreinander hätten. Das passt doch alles nicht zusammen.“
„Also so unzusammenhängend ist diese Situation auch wieder nicht“, sagte Sally nüchtern. „Wenn RNV3 den gewünschten Erfolg und damit verbunden viel Geld gebracht hätte, wäre sie sicherlich eine verdammt reiche Frau, die sich jeden nur erdenklichen Luxus hätte leisten konnten. Es wäre dann ziemlich egal gewesen, ob sie diese Scheinehe mit Philipp aufrechterhalten sollte, oder sich von ihm scheiden lassen würde.“
„Das kann und will ich nicht glauben. Pamela ist absolut nicht berechnend und geldgierig. Sie wuchs in einem reichen Haus auf. Geld war nie Thema gewesen. Außerdem wird sie darauf vorbereitet, in die Fußstapfen ihres Onkels zu treten, da er seinem Sohn als Geistlichen sicherlich nicht den Fischhandel überlassen würde. Der alte Canetti hat absolut keine Lust, sein hart erworbenes Vermögen nach seinem Tod der Kirche in den Rachen zu stopfen. So gesehen wird Pamela in absehbarer Zeit ohnehin eine sehr reiche Frau sein, denn das Firmenvermögen der Canettis ist mindestens so viel wert wie unser Betrieb.“
„Dann verstehe ich nicht, wieso sich Pamela von Philipp erpressen lässt, da sie ja letztendlich auf das Geld von Lombard Pharma nicht angewiesen ist.“
Sally dachte angestrengt nach, ob es nicht noch andere Beweggründe geben könnte.
„Und was ist, wenn etwas ganz anderes dahinter steckt. Vielleicht sind Philipp und Pamela ineinander verliebt und sie sind ganz einfach nur im Weg gewesen. Dies wäre doch ein guter Grund sie, wieso man Sie weg haben wollte. So gesehen schlägt man zwei Fliegen mit einem Schlag. Das Problem des unnütz gewordenen Ehemanns hätte sich erledigt und die halbe Firma fiele zusätzlich noch an Pamela.“
„Wenn das alles so ist, wie sie sagen, dann hat es Pamela hervorragend verstanden, mich hinter Licht zu führen.“
Sally erwiderte nichts auf sein Statement, doch ihr zweifelnder Gesichtsausdruck sprach mehr als tausend Worte.
„Welche Möglichkeiten haben Sie, um Ihre Unschuld zu beweisen?“ wechselte Sally das Thema.
„Die einzigen Menschen, die beweisen können, dass ich unschuldig bin, ist meine Retterin Karin und ein Indianerpaar in den Rocky Mountains.“
„Zumindest ein kleiner Lichtblick. Wenn es diese Menschen nicht gäbe, dann hätten sie ein echt mächtiges Problem.“
Sallys schnell dahin gesagte Worte, jagten John plötzlich einen heftigen Schauer über den Rücken. Schnell griff er in die Seitentasche seiner Jacke und suchte nach Karins Bild.
„Stimmt was nicht?“, fragte Sally vorsichtig.
„Ich habe Pamela von Karin erzählt. Daraufhin zuckte sie völlig aus, weil sie vermutete, dass ich mit ihr eine Affäre gehabt hätte.“
„Nun ja, wenn man ein halbes Jahr mit einer Frau auf engstem Raum lebt, kann viel passieren. Ihr Ausraster ist daher durchaus nachvollziehbar.“
Nervös kramte John alle Taschen seiner Jacke durch.
„Was suchen sie denn?“
„Ich kann das Bild nicht finden, wo ich Karin mit den Hunden fotografiert habe.“
Sally fragte nun das, was John nicht wahrhaben wollte:
„Kann es sein, dass Pamela das Photo in einem unbeobachteten Moment Ihrer Jackentasche gestohlen hat“
„Ich stand schon unter der Dusche. Bevor sie ging, hatte sie bestimmt genug Zeit gehabt, die Taschen meiner Jacke und meinen Rucksack durchsuchen.“
„John, haben Sie Pamela auch von dem Indianerpaar erzählt?“
„Nein dazu war ganz einfach keine Zeit. Meine Frau weiß nur von Karin.“
„Weiß sie auch wo die Frau zu finden ist?“
“Nein, sie weiß nur, dass Karin im hintersten Eck des Nationalparks in Jasper völlig abgeschieden lebt.“
„Das heißt, wenn es Philipp und ihr gelingt sie aus dem Weg zu räumen, dann wäre für die beiden der vermeintlich einzige Zeuge weg, da sie ja von den Indianern keine Ahnung haben.“
„Das ist ja absurd“, winkte John ab. „Ich kann nicht glauben, dass Pamela zu so einem Schritt fähig ist.“
„John, werden sie endlich wach?“, redete Sally eindringlich auf ihn ein. „Was wissen Sie eigentlich von ihrer Frau, außer, dass sie ein Dessous-Modell war und die Nichte eines reichen Geschäftsmannes ist?“
John überlegte und kam zu der nüchternen Erkenntnis, dass er wirklich verdammt wenig über Pamela wusste. Nur sehr vage hatte sie ihm von ihrer traurigen Kindheit erzählt und dass sie bei den Canettis ein neues Zuhause gefunden hat. Doch wie es dabei in ihrem Inneren ausgesehen hatte, hatte sie ihm nie erzählt. Auch ihre Träume und Wünsche hatte Pamela stets vor ihm verschlossen gehalten. Mit ihrer charmanten und liebenswürdigen Umgangsart hatte sie immer gewusst, wie sie jene Momente überspielen konnte, wo es ans Eingemachte ging und man seinem Partner in seine Karten schauen lassen musste.
John wusste auch, dass Pamela nicht so ganz ein naives Dummchen war, wie sie ihm immer vermitteln wollte. In seiner Ehe hatte es einige Situationen gegeben, wo er einen kurzen Blick hinter ihre Maske werfen hatte können. Und dahinter hatte er eine ganz andere Pamela entdeckt, die er eigentlich nicht kennenlernen wollte.
Doch tief in seinem Inneren ahnte John, dass Pamela ihre Maske nun abgelegt hat und jene Charaktereigenschaften zum Tragen kamen, die John befremdet hatten. War er so verliebt in sie gewesen, dass er gegenüber ihrem wahren Ich blind und taub sein wollte? War nun der Zeitpunkt gekommen, wo ihm das wahre Ausmaß seiner Ignoranz präsentiert werden sollte?
„Ich muss schnellstens in die Berge zurück, sonst passiert noch ein weiteres Unglück“, flüsterte er erregt und stand auf.
„Wäre es nicht besser, wenn sie sich vorher der Polizei stellten, damit die ihnen behilflich sein könnten?“
„Daran habe ich auch schon gedacht. Doch bis ich die Polizei so weit habe, dass die mir glauben, kann Karin schon tot sein.“
Ein weiteres Mal schüttelte es John durch.
„Sally, können Sie mir ihren Wagen leihen? Vielleicht gelingt es mir noch vor Philipp und Pamela bei Karin zu sein. Sie wissen nicht genau wo sich das Jagdhaus liegt. Zuerst müssen die beiden in Jasper recherchieren, was bestimmt eine Weile dauern wird. Diese Zeit muss ich nutzen, um ihren Vorsprung aufzuholen.“
Sally erhob sich und schob den Teller wieder in Johns Richtung.
„Ich werde Sie nach Jasper fahren. Aber erst essen Sie auf und legen sich dann für zwei, drei Stunden aufs Ohr. Sie müssen unbedingt ein wenig schlafen, sonst werden Sie das, was vielleicht auf sie zukommt nicht schaffen.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage“, lehnte er entschieden ab. „Ich bin völlig fit. Ich muss unbedingt aufbrechen, aber ohne Sie. Ich will Sie da nicht mit hinein ziehen.“
„Ich bin schon mitten drin, ob Sie es nun wollen oder nicht“, erwiderte Sally nüchtern.
John wollte wieder in seine Jacke schlüpfen. Doch Sally drückte ihn sanft in den Stuhl zurück.
„Es fällt mir schwer Ihnen zu sagen was sie tun sollen. Normaler Weise ist das nicht mein Job. Doch jetzt tun Sie was ich ihnen sage. Sie scheinen in den letzten Tage ziemlich wenig geschlafen haben, wenn ich in Ihr erschöpftes Gesicht schaue. Wenn Sie schlapp machen, dann gefährden Sie ihr Leben und auch jenes von dieser Karin.“
„Doch was ist, wenn diese Verbrecher schon in den Rocky Mountains unterwegs sind.“
„Dann kommen Sie sowieso zu spät. Außerdem, wenn wir jetzt wegfahren, kommen wir mitten in der Nacht in Japser an.“
John sah ein, dass Sally Recht hatte. Er würde sich eine Stunde hinlegen und sich ein wenig ausruhen. Schlafen konnte er sowieso nicht. Doch als Sally ihn auf das Sofa im Wohnzimmer drückte und mit einer weichen Wolldecke zudeckte, fielen ihm innerhalb weniger Sekunden die Augen zu und er fiel erschöpft in einen tiefen Schlaf.

 

Sally rüttelte sanft an seiner Schulter.
„John, wachen Sie auf, es wird Zeit.“
Sofort war er wach, doch er brauchte einige Zeit, um sich zu Recht zu finden.
„Wo bin ich?“ fragte John verwirrt.
„In Sicherheit“, beruhigte ihn Sally und lächelte freundlich auf ihn hinab.
„Wie spät ist es?“
„Kurz nach Mitternacht.“
„So spät? Wir sollten schon längstens unterwegs sei“, rief er ungehalten und schlug die Decke zurück.
„Sie brauchten dringend einige Stunden Schlaf. Und vor dem Morgen wird ihnen auch in Japser niemand eine Auskunft geben, oder gar einen Hubschrauber vermieten, der uns zu dieser Berghütte fliegt. Aber vielleicht haben Sie ja Glück und die Polizei borgt ihnen einen.“
Sallys Sarkasmus war John nicht entgangen. Er schluckte seinen Unmut hinunter, weil er wusste, dass sie wie so oft Recht hatte. Diese paar Stunden Schlaf hatte er wirklich dringend nötig gehabt, so dass er sich nun wieder völlig frisch fühlte.
John zog seine Jacke und Schuhe an. Auch Sally hatte ihren Hausanzug gegen Jeans, einen Pulli und einer Jacke getauscht und wartete mit dem Autoschlüssel in der Hand auf John. Rasch stiegen sie ins Auto und fuhren in Richtung Berge. Um diese Zeit war es schon ziemlich ruhig auf den Straßen. Sallys Haus lag an der Peripherie Vancouvers, wo der Highway direkt nach Albert führte, sodass sie nicht durch die Stadt fahren mussten und dadurch viel Zeit sparten.
Johns Ungewissheit setzte ihm verdammt heftig zu. Um nicht völlig zu verzweifeln, erzählte er Sally von Karin und dem Leben in den Wäldern, das so ganz anders war, als jenes, dass er bisher geführt hatte. Es beruhigte ihn in diesen wundervollen Erinnerungen zu schwelgen. Je mehr er nun von Karin erzählte, umso mehr begann er sich nach ihr zu sehnen. Er vermisste ihr Lächeln, ihre abendlichen Gespräche, die Ausflüge in den Wald und den Badespaß in ihrer Grotte, ihren warmen, weichen Körper, der die ganze Nacht an ihn gepresst lag, ihre liebevolle aber auch leidenschaftliche Hingabe, doch vor allem, ihr Interesse an ihm.
Erst jetzt, wo John langsam erkennen musste, wer Pamela wirklich war, vermisste er Karin nur noch mehr.
„Sie lieben diese Frau wohl sehr, nicht wahr?“
In der Dunkelheit konnte John nicht Sallys Gesicht sehen. Ihre schleppende Stimme drückte eine Traurigkeit aus, die ihm sagte, dass Sally Gefühle für ihn doch noch nicht ganz erloschen waren. Doch ihre Worte ließen ihn noch etwas anderes ganz klar und deutlich erkennen. Bis jetzt hatte sich John immer gewährt, seine Empfindungen für Karin klar zu definieren, weil er sich gegenüber Pamela schuldig gefühlt hatte. Doch diese Skrupel waren nun nicht mehr da und ein unglaublich helles und warmes Licht begann in ihm zu leuchten.
„Ja, ich liebe diese Frau. Ich liebe Karin so sehr, dass jede meiner Zellen mit ihrer Wärme, ihrem Charme und ihrer Güte durchwirkt ist.“
„Und was ist mit ihrer Frau, sollten wir uns irren und ihr unrecht tun?“
„Dann werde ich versuchen müssen, Karin zu vergessen.“
Verwirrt wandte sich Sally ihrem Chef zu.
„Obwohl ihnen diese Frau so viel bedeutet, wollen sie sie vergessen? Das verstehe ich nicht.“
„Es ist ja nicht nur das Problem, dass ich verheiratet bin, sondern auch jenes, dass wir in völlig unterschiedlichen Welten leben. Mein Leben spielt sich unter Menschen, im Lärm und in der Hektik der Großstadt ab, während Karin die Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Berge und Wälder wählte. Und sie lebt ja nicht erst seit gestern in den Bergen, sondern schon über sieben lange Jahre. Und noch bevor ihr Mann und ihr Sohn verunglückt waren, verbrachte sie mit ihrer Familie jede freie Minute dort. Sie liebt und sucht diese Einsamkeit, weil sie sich nur dort sicher und zu Hause fühlt. Ich glaube kaum, dass sie sich in dieser lauten und manchmal sehr bizarren Welt hier unten zurechtfinden würde.“
„Erwidert diese Frau denn ihre Gefühle?“
„Ja, ich glaube schon. Doch wir beide haben von Anfang an gewusst, dass diese Zeit nur ein Zwischenspiel ist, dass es kein ‚später’ geben kann.“
„So wie Sie mir ihre Gefühle gerade beschrieben haben, glaube ich kaum, dass Sie sich an diesen Vorsatz halten werden können, wenn der Zauber hier vorüber ist.“
„Ja, das kann durchaus der Fall sein. Ich fühle ja jetzt schon die Zerrissenheit, die in mir eine immer tiefere Kluft schlägt“, sagte John unglücklich. „Nicht nur, dass mir Karin so viel bedeutet wirft Probleme auf. Auch jener Umstand, dass mir die Stadt fremd geworden ist. Karin hat mich mit ihrem Virus infiziert. In diesen langen Monaten habe ich diese harte und unberechenbare Wildnis so fern von jeder Zivilisation lieben gelernt. Diese Zeit hat mich ziemlich verändert, sodass ich nicht mehr weiß, wo ich hingehöre.“

Die restliche Fahrtzeit verlief schweigend. Sally konzentrierte sich auf das Autofahren und John versuchte eine Möglichkeit zu finden, wie er so schnell wie möglich zu Karin gelangen konnte. Er konnte jetzt nur hoffen, dass Philipp und Pamela noch nicht wussten, wo sich das Jagdhaus befand. Aber vielleicht war Karin auch noch in Jasper, was die Situation aber noch problematischer machen konnte.
Als Sallys Wagen um fünf Uhr morgens durch Jasper fuhr, lag der Ort noch in tiefem Schlaf. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und ein heller Lichtstreifen am Horizont kündigte einen strahlend sonnigen Tag an.
Sally fuhr ihren kleinen, roten Honda aus dem Ort zu Karins Häuschen. Das Haus wirkte aber ziemlich verlassen. John stieg aus und suchte nach dem Schlüssel, welchen Karin in einer Mauerritze versteckt hielt. John war enttäuscht. In seinem Innersten hatte er gehofft, dass sie noch da wäre. Doch andererseits war es vielleicht ganz gut, dass sie bereits in die Berge aufgebrochen war. Für Philipp und für Pamela wäre es sicherlich ein Leichtes gewesen, sie hier zu finden. Ihr einsames Haus am Lake Pleasure lag hingegen zu versteckt, als dass man es ohne Hinweise entdecken konnte.
John musste unbedingt Karins Schwager aufsuchen. Für den Aufstieg würde Karin sicherlich zwei Tage brauchen. Wenn er den Mann überreden konnte, ihn mit seinem Hubschrauber hinauf zum Lake Pleasure zu fliegen, dann konnte er sie im Jagdhaus erwarten und sie rechtzeitig warnen.
John konnte sich noch gut an den Abend erinnern, als Karin ihm ihre Lebensgeschichte erzählt hatte. Darin war auch ihr Schwager David vorgekommen, der seit dem Tod seines Bruders nun alleine den Besitz seiner Familie verwaltete. Soweit sich John erinnern konnte, lebte David im Hotel seiner Eltern. Er musste also das Hotel finden, denn dann hatte er auch ihn.
„Sally wir müssen nach dem Hotel Davis suchen. Es ist eines der größten in Jasper und dürfte nicht so schwer zu finden sein.“
Es dauerte dann aber doch mehr als eine halbe Stunde, bis sie das Hotel fanden. Es lag versteckt auf einer kleinen Anhöhe ein wenig außerhalb des Ortes. Das lang gestreckte, eingeschossige Haus mit seinen Erkern, Terrassen und dem großen Wintergarten sah sehr gediegen und einladend aus. Mit seinem rustikalen Stil passte es jedenfalls wunderbar in diese Gegend.
Mittlerer Weile war es hell geworden und vom wolkenlosen Himmel schien eine helle und wärmende Frühlingssonne. In der Ebene war der Schnee schon fast weg geschmolzen. Doch ab der Mittelstation lag noch genügend Schnee, so dass das Ski fahren noch problemlos möglich war.
„Sally, bitte gehen Sie ins Hotel und fragen Sie nach David Davis. Wenn Sie in gefunden haben, bringen Sie ihn bitte zu mir“, bat John seine Sekretärin. „Mittlerer Weile werde ich wahrscheinlich auch hier schon gesucht. Es wäre zu gefährlich für mich, wenn ich mich öffentlich zeigte. Würden sie das noch für mich tun?“
„Ja, aber nur unter einer Bedingung“, forderte sie.
„Und die wäre?“, fragte John überrascht.
„Wenn hier alles gut über die Bühne gegangen ist, will ich wieder meinen alten Job zurück.“
Erleichtert atmete John durch.
„Oh Sally, selbst wenn Sie mir in dieser schrecklichen Situation nicht behilflich wären, so hätte ich keinesfalls auf Ihre Unterstützung in der Firma verzichten wollen. Sie wissen doch, wie sehr ich Sie schätze und brauche.“
„Ok, dann sind wir also wieder im Geschäft.“ lächelte sie John geschmeichelt an.
„Für mich war es niemals anders.“

 

Das Reinigungspersonal war bereits drauf und dran, das Hotel wieder auf Hochglanz zu bringen.
Sally stieg aus dem Auto und ging ins Hotel. Vom Wagen aus hatte John einen guten Einblick zur Rezeption, sodass er Sally genau beobachten konnte, wie sie mit der Rezeptionsdame zu diskutieren begann. Allem Anschein wollte die Frau hinter dem Tresen ihren Chef um diese Zeit noch nicht wecken.
Sally’s Gebärdensprache wurde aber immer heftiger, so dass die genervte Frau dann endlich zum Telefon griff und eine Nummer wählte. Nach einem kurzen Gespräch legte sie auf. Erbost sah sie auf Sally herab. Doch Sally ignorierte ihren wütenden Blick, drehte sich um und zwinkerte John mit erhobenem Daumen zu.
Es dauerte nur wenige Minuten und John sichtete einen großen und schlanken Mann im Foyer. Man sah diesem an, dass er über diese frühmorgendliche Störung nicht gerade erfreut war. John konnte nicht verstehen was Sally zu ihm sagte, doch irgendwie schaffte sie es, dass er ihr zu ihrem Wagen folgte. Neugierig sah David in das Auto, worauf John nun ebenfalls ausstieg. Erleichtert ging er auf David zu und wollte ihm die Hand geben. Doch dieser ignorierte diese und fragte ziemlich barsch: „Was wollen Sie von mir?“
„Mr. Davis, ich bin John Lombard, jener Mann, der augenblicklich von der Polizei in ganz Kanada gesucht wird.“
„Davon wurde ich durch die Medien in Kenntnis gesetzt. Doch ich glaube kaum, dass ich Ihnen helfen kann und auch will.“ unterbrach David John ziemlich verärgert und wollte wieder ins Hotel zurückgehen.
„Ich bitte Sie inständig, warten Sie noch einen Moment. Es geht nicht um mich, sondern um Karin.“
Als David Karins Namen fallen hörte, blieb er abrupt stehen und drehte sich um. Feindselig blickte er John an.
„Was wollen Sie von Karin?“
„Ich muss sie schnellstens finden und Sie warnen. Ich habe genügend Gründe zur Annahme, dass sie in Lebensgefahr schwebt.“
„Wie darf ich das verstehen?“ Davids genervter Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig in einen sehr misstrauischen.
„Mr. Davis, ich möchte hier draußen nicht über diese Angelegenheit sprechen. Können wir vielleicht ins Haus gehen?“
David überlegte einen Moment. Doch dann sagte er: „Kommen Sie mit.“
Das Büro des Chefs war im Gegensatz zum gediegenen Stil des Hotels eher spartanisch eingerichtet. Ein großer Schreibtisch mit einem Laptop und PC, einem Drucker, Fax, Telefon und Kopierer belegten fast vollständig die riesige Fläche des Schreibtisches. Eine Unzahl von grauen Aktenordnern, die in dem offenen Kasten hinter dem Schreibtisch standen, vervollständigte das nüchterne Inventar. In der Ecke standen zwei kleine schwarze Ledersofas und ein kleiner schwarzer Couchtisch, auf denen David seine ungebetenen Gäste bat, Platz zu nehmen.
„Also, was wollen Sie von mir?“
„Mr. Davis, ich wende mich deshalb an Sie, weil ich sonst niemanden kenne, der mir in meiner jetzigen Situation behilflich sein könnte“, sagte John eindringlich. „Wie Sie wissen werde ich von der Polizei gesucht, obwohl ich völlig unschuldig bin.“
„Ja, das sagen sie alle“, erwiderte David abfällig. „Jedenfalls sind Sie der Mann, der mit dieser gewichtsreduzierenden Pille einige Menschen auf dem Gewissen haben soll.“
„Ja, offensichtlich sieht es so aus. Doch die Medaille hat immer zwei Seiten. Doch damit ich meine Unschuld beweisen kann, brauche ich Ihre Schwägerin.“
„Karin?“, fragte David ungläubig. „Ich glaube da irren Sie gewaltig. Meine Schwägerin lebt in einer Gegend des Nationalparks, wo sich die Füchse Gutenacht sagen.“
„Mr. Davis, ich verbrachte den Winter mit Karin zusammen in ihrem Jagdhaus.“
Misstrauisch schüttelte David den Kopf.
„Das ist sicherlich nicht der Fall. Davon hätte sie mir bestimmt erzählt.“
„Dazu wird sie noch keine Gelegenheit gehabt haben“, erwiderte John. „Nachdem wir übers Radio von der Schreckensmeldung gehört haben, sind wir gleich am nächsten Tag ins Tal hinab gestiegen. Als mich Karin gestern mit ihrem Wagen nach Vancouver zurückgebracht hatte, sagte sie mir, dass sie nach ihrer Rückkehr sofort wieder zum Jagdhaus aufsteigen wollte.“
„Nun es stimmt, dass Karin gestern hier war und mich bat, sie zum Lake Pleasure hochzufliegen.“
„Verdammt“, fluchte John und sprang wie von einer Tarantel gestochen auf. „Karin schwebt in höchster Lebensgefahr. Ich muss sie unbedingt warnen.“
„Wovon sprechen sie eigentlich?“, fuhr in David nervös an.
John mahnte sich zur Ruhe und setzte sich wieder auf seinen Platz. Wenn ihm David helfen sollte, dann musste er ihm die ganze Wahrheit sagen.
„Im November letzten Jahres bin ich beim Heliskiing von einer Lawine erfasst worden, die mein Bruder absichtlich ausgelöst hatte. Nur mit knapper Not entging ich dem Tod. Karin rettete mich. Aufgrund meiner Knochenbrüche musste ich den Winter in ihrem Haus verbringen, weil es keine Möglichkeit gab ins Tal zu kommen. In meiner Abwesenheit nahm mein Zwillingsbruder meine Identität an und agierte in meinem Namen in der Firma. Er brachte jenes Medikament auf den Markt, das viel zu verfrüht und unausgereift freigegeben wurde. Nach den Todesfällen bekam er kalte Füße und tauchte unter, um als Philipp Lombard wieder aufzutauchen, der augenscheinlich von der ganzen Angelegenheit nichts wusste. Er schob mir die Schuld in die Schuhe, weil er mich ja ohnehin tot glaubte. Doch nun hat er erfahren, dass ich doch noch ziemlich lebendig bin. Um sich schadlos zu halten, muss er beweisen, dass ich schuldig bin. Dies wäre an sich kein Problem, wenn er nicht wüsste, dass es Karin gibt, die mir das Alibi für die letzten sechs Monate liefern kann.“
David brauchte einen Moment, bis er die Infos auf eine Reihe brachte.
„Wenn ich sie richtig verstehe, so heißt das, dass ihr netter Bruder jetzt nach Karin sucht und sie aus dem Weg räumen will“, kombinierte David erregter Stimme.
„Genau das befürchte ich. Deshalb muss ich sie so schnell wie möglich warnen.“
„Und wieso haben sie sich nicht schon längst an die Polizei gewandt Mr. Lombard?“, schrie ihn David zornig an.
„Das wollte ich auch tun, wenn ich nur mehr Zeit gehabt hätte. Bis ich die Polizei aber überzeugt habe, wie der Hase läuft, könnte Karin schon längst tot sein. Auf Eventualitäten kann ich mich in der jetzigen Situation ganz einfach nicht einlassen.“
Langsam wurde David die vollständige Tragweite dieser haarsträubenden Geschichte bewusst.
„Sie brauchen mich, damit ich sie mit dem Heli zum Lake Pleasure rauf fliege, nicht wahr?“
„Genau! Das ist die einzige Möglichkeit, um Karin noch vor dem Eintreffen des Killerkommandos abzufangen und ihr das Leben zu retten.“
„Dann ist es höchste Zeit, dass wir aufbrechen.“ David langte nach seinem Handy und wies einen Angestellten an, dass er den Helikopter sofort auftanken und bereithalten sollte.
„Sally, nachdem wir weg sind, fahren sie bitte zur Polizei und erklären den Typen dort die Sachlage. Sie sollen so schnell wie möglich nachkommen.“
„Ok, mach ich“, erwiderte sie und stand auf.
Gerade als die drei das Hotel verlassen wollten, kam eine große, ältere Frau auf David zu. Es war offensichtlich, dass sie Davids Mutter war.
„Guten Morgen David“, begrüßte sie ihren Sohn. „Wenn du dann kurz Zeit hast, möchte ich mit dir den kommenden Wochenplan durchbesprechen.“
„Mutter, ich hab jetzt keine Zeit. Wir müssen die Einteilung auf morgen verschieben. Ich muss jetzt dringend zum Lake Pleasure hoch fliegen.“
„Und wieso?“ wollte Mrs. Davis wissen und der feindselige Zug um ihr spitzes Kinn war unverkennbar.
„Ich muss Karin eine wichtige Information zukommen lassen“, antwortete David und steuerte mit steuerte mit John und Sally dem Ausgang zu. Doch bevor sie die große Drehtür erreicht haben, rief Mrs. Davis ihrem Sohn überrascht nach: „Was ist denn los mit Karin? Zuerst hört man von ihr monatelang überhaupt nichts, sodass ich mich schon gefragt habe, ob sie überhaupt noch lebt und dann besteht auf einmal ziemlich reges Interesse an ihr.“
Wie vom Blitz getroffen blieben alle drei stehen und sahen einander betroffen an. David wandte sich seiner Mutter zu und fragte sie ziemlich barsch: „Wann war das und wer hat nach ihr gefragt?“
Über die unerwartete Heftigkeit seiner Frage war Mrs. Davis überrascht und erwiderte schnippisch: „Irgendwelche Leute eben, die Karin kennen und sie besuchen wollen.“
„Mutter, wer waren diese Leute?“ drängte David erregt und sein sorgenvoller Blick jagte Mrs. Davis Angst ein.
„Was ist mit Karin?“
„Wenn Du mir jetzt nicht bald sagst, wer diese Leute waren, dann ist mit Karin bald gar nichts mehr!“ schrie er sie nun wütend an.
„Nun, es war gestern am späten Abend“, stotterte Mrs. Davis aufgeregt. „Ich wollte gerade die Buchungslisten ins Büro zurück bringen, als eine attraktive, rotblonde Frau ins Hotel kam und sich nach einer Karin erkundigte, die hier völlig abgeschieden in den Bergen leben soll. Ich vermutete natürlich sofort, dass sie sich nach meiner Schwiegertochter erkundigte. Doch als sie mir das Foto zeigte, auf dem Karin mit ihren widerlichen Kötern zu sehen war, war ich mir sicher, dass sie nach Karin suchte.“
John und David wechselten einen sorgenvollen Blick.
„Hast du ihr gesagt wo sie zu finden ist?“
Mrs. Davis drückte herum. Sie ahnte, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
„Nun ja, ich gab ihr die Koordinaten. Schließlich wollte sie Karin ja besuchen.“
„Was, du hast ihr gesagt, wo die Hütte liegt? Du weißt doch nicht einmal wer die Frau war?“
Mrs. Davis wich vor Davids Zornausbruch überrascht einen Schritt zurück.
„Sie hat sich schließlich als ihre Cousine ausgegeben und mir auch ein Foto von Karin dabei. Woher sollte sie denn das haben, wenn nicht von ihr selbst. Außerdem wirkte sie sehr vertrauenswürdig.“ versuchte Mrs. Davis sich zu rechtfertigen.
„Das nennst du vertrauenswürdig, wenn sie nicht einmal den Familiennamen ihrer Cousine weiß?“ fuhr David seine Mutter voller Zorn an.
John mischte sich nun in das Streitgespräch ein:
„Mr. Davis, es bringt jetzt nichts, wenn sie ihrer Mutter Vorwürfe machen. Tatsache ist, dass sie wissen, wo sie lebt.“
John drängte David zur Seite, so dass er sich der sich Mrs. Davis voller Aufmerksamkeit gewiss war: „Mrs. Davis, haben Sie noch andere Personen in Begleitung dieser Frau gesehen?“
Nervös fuhr sich die alte Frau durch ihr silberglänzendes Haar und dachte angestrengt nach.
„Soweit ich mich erinnern kann, kam sie alleine in die Rezeption. Doch als ich ihr nachsah, stieg sie vor dem Haus in einen dunklen Kleinbus, in dem ich mehrere Personen erkennen konnte.“
John wandte sich wieder an David:
„Ok, dann ist wohl alles klar. Es ist höchste Zeit, dass wir aufbrechen. Sally, Sie wissen was sie zu tun haben.“
„Mach ich. Soll ich denen sagen, dass Sie auch dort oben stecken?“
„Na klar, dann kommen die Typen bestimmt noch schneller.“
John wandte sich nun erneut an David.
„Kann ich auf Sie zählen? Helfen sie mir Karin zu finden, Mr. Davis?“
„Natürlich.“
Dann reichte David John seine Hand.
„ Ich heiße übrigens David.“
Bevor sie das Hotel verließen, lief David noch einmal zurück und holte aus der Waffenkammer für sich und John ein Gewehr und eine Pistole mit passender Munition. Wenn es zu einer Auseinandersetzung mit Kriminellen kam, wollte er zumindest dagegen gewappnet ein.
Die beiden Männer brauchten keine zehn Minuten zum Landeplatz des Hubschraubers, den John ja schon kannte. Der Heli wartete bereits auf die beiden. Innerhalb weniger Minuten waren sie in der Luft und flogen in nordwestliche Richtung. Eine strahlende Sonne warf ihr helles und freundliches Licht über schier unendlich weite Wälder, die nach einem langen und harten Winter nun endlich in einem frischen Grün erstrahlten. Als John das letzte Mal dieses Szenario sah, waren die Bäume in einen dicken, weißen Mantel verpackt und dunkelgraue, bedrohlich wirkende Schneewolken hingen über den Bergspitzen.
Damals wollte er Skifahren und war überzeugt, den Zwist zwischen seinem Bruder und ihm begraben zu können. Er war optimistisch gewesen und freute sich auf ein paar Tage der Ruhe und Entspannung. Nie und nimmer hätte er für möglich gehalten, dass ihm sein Bruder nach dem Leben trachtete und ihm zum Sterben in die Berge lockte.
Doch nun beflügelte ihn kein Optimismus mehr, sondern die schreckliche Vorahnung lastete schwer auf seiner Brust, dass es ein Unglück geben würde, sofern es dieses nicht schon gab. Obwohl er versuchte äußerlich ruhig zu bleiben, lagen seine Nerven blank. John wusste nicht mehr was er glauben und denken sollte. Innerhalb weniger Tage hatte sich seine Welt abermals auf den Kopf gestellt. Seine Existenz, alles was er sich aufgebaut hatte, wurde in Frage gestellt. Die Vermutungen verdichteten sich nun immer mehr, dass Pamela bei weitem nicht so schuldlos war, wie sie vorgegeben hatte zu sein. Und dass sein eigener Bruder ihn aus reiner Machtgier töten wollte, lastete schwer auf seiner Seele.
Was ist, wenn Philipp Karin schon gefunden hatte? Karin hatte ja keine Ahnung, was sich seit gestern abgespielt hatte. Vertrauenswürdig, ja glücklich würde sie vielleicht auf Philipp zugehen, weil sie glaubte, es sei John. Mit einer Sonnenbrille und einer Mütze, in der er sein halblanges Haar verstecken konnte, würde er Karin bestimmt lange genug täuschen können, um sich ihr problemlos zu nähern und sie dann zu erschießen. Karin tot in einer Felsspalte zu finden, löste in John einen heftigen Adrenalinstoß aus und ließ sein Blut heiß und kalt durch seine Adern strömen.

 


- 17 -

 

An diese einst so vertraute Stille musste sich Karin erst wieder gewöhnen. Es war ein befremdendes Gefühl nun wieder alleine zu sein. Anfänglich war es mit John ja wirklich ziemlich mühsam gewesen.
Aber seit dem Zeitpunkt, wo er begonnen hatte, seine Großstadtflausen abzulegen und dieses Leben hier zu akzeptieren, ja sogar Gefallen daran zu finden, hatte Karin seine Nähe wirklich zu genießen begonnen. Und jetzt, wo John wieder in sein altes Leben zurückgekehrt war, fehlte ihr nicht nur seine physische Präsenz. Karin empfand ihre innere Einsamkeit nun größer als je zuvor.
Noch waren seine Spuren überall sichtbar. Das noch im Hackstock steckende Beil hatte er in der Eile vergessen, wegzuräumen. Das zerwühlte Bett, in dem sie sich ein letztes Mal so zärtlich geliebt hatten, das Buch über die Jagd, in dessen Seiten sein Lesezeichen steckte, die Kamera, die immer griffbereit auf der Kommode lag, seine nicht ausgetrunkene Kaffeetasse auf dem Küchentisch, der ölige Lappen auf dem kleinen Holzstoß neben dem offenen Kamin, mit dem er die Gewehre noch einmal gereinigt hatte, bevor sie ins Tal hinabgestiegen waren. Fast hätte man glauben können, dass er jeden Augenblick zur Tür hereinschneien und sie liebevoll anlächeln würde.
Die Anzeichen seiner Anwesenheit würden immer mehr verschwinden, sodass bald nur mehr die Erinnerung zurückblieb, die in ihrem Herzen aber niemals verblassen würde. Noch suchte Nelson in jeder Ecke nach ihm. Doch auch er würde schon bald die Ausschau nach John aufgeben und ihn langsam vergessen.
Unglücklich starrte Karin ins Leere. Sicherlich würde es aber noch Wochen dauern, bis das Leben wieder seinen gewohnten Gang nahm. Plötzlich spürte Karin ein leichtes Zucken in ihrem Inneren und ihre Depression wandelte sich von einer Sekunde auf die andere in ein wunderbares Glücksgefühl. Mit einem dankbaren Lächeln strich sie über die Wölbung ihres Bauches. Das Schicksal war oft grausam und ungerecht. Aber manchmal konnte es auch großzügig sein und dann, wann man nie damit gerechnet hätte, in einem überschwänglichen Ausmaß beschenken.
Johns Baby erinnerte Karin daran, dass sie nie mehr in ihren alten Rhythmus zurückfallen konnte. Und das war gut so. Die letzten Wochen, die Karin noch in der Abgeschiedenheit ihrer geliebten Berge verbringen würde, wollte sie dazu nutzen, um in sich zu gehen und sich neu zu orientieren. Mit diesem Kind war sie endlich dazu bereit, ihre Trauer um Nick und Chris abzuschließen, an die sie aber immer voller Liebe zurückdenken würde.
Für Karin war die Zeit gekommen, zu neuen Ufern aufzubrechen. Für ihr Kind musste sie stark sein. Dieses kleine Wesen in ihrem Bauch war Johns Vermächtnis. Irgendwann einmal würde sie ihm voller Stolz seinen Sohn präsentieren.
Doch das war alles Zukunftsmusik. Jetzt war sie nur erschöpft und todmüde. Der mühsame Abstieg ins Tal hatte verdammt hart an ihren Kraftreserven gezerrt. Und die Schwangerschaft intensivierte diesen Zustand noch mehr.
Nachdem sie Feuer gemacht und die Tiere gefüttert hatte, streifte sie ihre Kleidung ab und ließ sich in das zerwühlte Bett fallen. Noch einmal sog sie voller Sehnsucht Johns Geruch ein, der noch in der Bettwäsche hing, und schlief mit den Gedanken an ihn ein.
Kurz nach 23.00 Uhr wurde Karin durch Nelsons geweckt. Wie üblich kratzte er am Fensterbrett und wollte raus. Wie gerädert kroch Karin aus dem Bett und öffnete dem Luchs den Fensterflügel, durch den eine ziemlich kalte Luft drang. Karin fröstelte. Am liebsten wäre sie wieder zurück ins warme Bett gestiegen, um weiterzuschlafen. Doch ihr Magen knurrte so laut, dass sie ihn unmöglich ignorieren würde können. Mit klappernden Zähnen schlüpfte sie in ihren warmen Jogger ging sie dann ins Bad. Schnell bürstete Karin ihr wirres Haar durch, das sie zu einem festen Zopf flocht. Das kalte Wasser, mit dem sie ihr Gesicht wusch, versetzte ihr noch einen zusätzlichen Kälteschock.
Die Hunde begannen zu winseln. Seit mehr als acht Stunden waren sie nicht mehr draußen gewesen. Aber auch Karin musste einmal für kleine Mädchen. Schnell schlüpfte sie in ihre festen Schuhe und zog ihre warme Fliesjacke über. Dann nahm sie ihr Gewehr vom Haken und ging mit den Hunden ins Freie.
Noch durchgefrorener als vorher kam sie zurück. Karin wusste, dass dieses intensive Kälteempfinden auf ihre Hormonumstellung zurückzuführen war. Bei ihrer ersten Schwangerschaft war es genauso gewesen. Jetzt konnte Karin nur hoffen, dass sie nach der Halbzeit nicht auch diese entsetzlichen Hitzewallungen heimsuchen würden. Im Hochsommer würde das besonders nervend sein.
Karin zog weder Jacke noch Schuhe aus, als sie in die Küche ging. Viel zu erledigt, um sich etwas Ordentliches zu kochen, öffnete sie eine weitere Dose mit Speckbohnen, die sie in einer kleinen Kasserolle am Herd wärmte. Dann zündete Karin den Docht der großen Petroleumlampe an, so wie es John jeden Abend getan hatte. Ihr weiches Licht füllte neben dem hellen Kaminfeuer fast den ganzen Raum aus. Karin seufzte. Wie oft hatten sie in diesem heimeligen Ambiente auf dem breiten Sofa gesessen und einander ihre Geschichten erzählt.
Im Haus herrschte eine nun ziemlich belastende Stille. Selbst die Hunde fühlten sich nicht wohl und mit hängenden Köpfen und eingezogenen Schwänzen verzogen sich in ihren riesigen Korb. John fehlte ihnen genauso wie Karin. Das tiefe Loch, das er hinterlassen hatte, war für jeden im Haus eine Belastung.
Karin drehte das Radio an und sofort erfüllte Seals samtweiche Soulstimme mit „Kiss from a Rose“ den Raum. In zehn Minuten gab es die Nachrichten. Vielleicht hatte sie Glück und würde in den Nachrichten etwas von John erfahren.
Karin zog die brodelnden Bohnen vom Herd und stellte auf die heiße Platte den großen Wasserkessel. Heißer Früchtetee würde die Kälte in ihrem Körper bestimmt schnell vertreiben. Während Karin die Bohnen gleich aus der Kasserolle löffelte und das mit dem Küchenmesser abgeschnittene Brot dazu aß, überlegte sie, ob sie nicht gleich morgen zu Cathy aufbrechen sollte. Karin musste dringend mit jemanden sprechen und zwar mit einer Frau, die ihre Nöte verstand. Dass Karin ein Baby erwarten würde, war für Cathy nichts Neues. Doch dass John nach Vancouver zurückgekehrt war und Karin in einigen Wochen ihren Wohnsitz am Lake Pleasure aufgeben und wieder in Jasper leben wollte, würde den Beiden sicherlich ein Schock versetzen. Seit Weihnachten hatte sich der Kontakt zu dem Indianerpaar ziemlich intensiviert. Das war an John gelegen, der in Joe einen Mentor und Freund gefunden hatte. Mindestens einmal in der Woche besuchten sie einander, so dass das ehemals eher distanziert-liebenswürdige Verhältnis einer richtigen Freundschaft gewichen war. Cathy und Joe würden sich daran gewöhnen müssen, dass ihr stilles Leben nun nicht mehr durch diese kurzweiligen Treffen bereichert wurde.
Obwohl Karin hungrig war, fehlte ihr doch der Appetit. Ohne besonderes Interesse schlang sie den heißen Eintopf mit dem trockenen Stück Brot hinunter. In den nächsten Wochen würde sie sich dazu zwingen müssen, auf ihre Ernährung zu achten. Auch die langen und anstrengenden Wanderungen wollte sie in Zukunft unterlassen. Es war ja schon Risiko gewesen, John ins Tal zu begleiten. Jedenfalls würden die Fleischvorräte bis zu ihrem Abstieg reichen, so dass Karin auch nicht mehr jagen musste. Mit nichts, absolut nichts durfte sie das Leben ihres Sohnes in Gefahr bringen.
Nachdem Seals Schmuserock geendet hatte, erfüllten die Pointer Sisters ihrem energiegeladenen Song „I’m so exited“ so sehr den Raum, dass Bonnys leises Knurren in dem Lärm völlig unterging. Erst als die Hündin aus dem Hundekorb stieg und mit gefletschten Lefzen und aufgestellten Nackenhaaren wie ein lauernder Puma zur Eingangstür schlich, wurde Karin aufmerksam. Die Welpen ahmten Bonny nach und positionierten sich in ähnlicher Drohgebärde hinter ihrer Mutter.
Aufmerksam geworden, legte Karin ihren Löffel auf den Tisch und blickte nun ebenfalls gespannt zur Tür. Karin fühlte nun auch die Bedrohung, die draußen lauerte. Wölfe und Bären, die der Hunger im Winter ab und an in die Nähe des Hauses getrieben hatte, kamen nun nicht mehr in Frage. Der Frühling war da, sodass für alle Tiere des Waldes der Tisch ausreichend gedeckt war. Und die ohnehin äußerst seltenen Besucher kamen bei Tag und nicht mitten in der Nacht vorbei. Karin versuchte zu horchen, doch die laute Musik verschluckte jedes Geräusch.
Wie üblich war die Eingangstür unverschlossen. In all den Jahren, wo Karin hier wohnte, hatte sie noch kein einziges Mal das Bedürfnis verspürt, die Türe zu versperren. Doch heute fühlte sie sich zum ersten Mal unsicher. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stand Karin auf, um den Riegel vorzuschieben. Danach wollte sie das Radio ausschalten und vorsichtshalber eines der Gewehre aus der Halterung nehmen. Doch plötzlich wurde die Tür aufgerissen und John stand im Türrahmen. Für einen kurzen Moment fiel alle Spannung von Karin ab und überglücklich lief sie ihm entgegen. ’Er ist zu mir zurück gekommen’, war ihr erster Gedanke. Doch dieser Augenblick der Freude währte nur kurz, denn die Hunde verhielten sich John gegenüber extrem aggressiv. Bonny wollte schon zum Sprung ansetzen, wenn Karin die Hündin nicht zurück befohlen hätte. Karin betrachtete den Mann mit der tief in die Stirn gezogenen Schirmkappe und den dunklen Sonnenbrillen genauer. Er sah zwar aus wie ein rasierter John, war es aber nicht. Die nun fast greifbare Gefahr ließ sie automatisch schneller atmen.
Der Mann lächelte Karin freundlich an. Es war zwar Johns Lächeln. Und doch war dieses Lächeln ein anderes. Karin war sich sicher, dass dieses Lächeln niemals seine Augen erreichte.
„Hallo Karin, du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben. Ich bin es doch, John“, sprach der Mann beruhigend auf sie ein.
Doch Karin hörte seine Worte kaum noch. Sie wusste nur, dieser Mann war nicht John und sie in höchster Gefahr schwebte. Ohne lang zu überlegen rief sie ihrer Hündin zu: „Bonny fass!“
„Kaum war der Befehl ausgestoßen, hatte das Tier auch schon zum Sprung angesetzt. Im letzten Moment konnte der Mann zurück weichen, so dass Bonny nur sein Bein zu fassen bekam. Die Welpen versuchten es der Mutter gleichzumachen und begannen aber eher spielerisch am anderen Hosenbein und der Jacke zu schnappen.
Karin wollte zu ihrem Gewehr laufen, das immer geladen an der Wand hing. Doch dann fiel ein Schuss, dessen ohrenbetäubende Detonation selbst die Pointer Sisters für einen Moment zum Schweigen brachte. Die Kugel pfiff haarscharf an ihrer Stirn vorbei und bohrte ein rundes, kleines Loch in den Verputz der Mauer. Erschrocken zuckte Karin zurück. Der Schütze versuchte mit einigen anderen Männern den falschen John aus der Tür zu drängen. Doch das war nicht so einfach. die vier Hunde hatten sich in den Hosenbeinen und Ärmeln des Mannes verbissen, der vor Angst und Schmerz laut aufschrie und sich zu befreien versuchte. In diesem Tumult fielen nun erneut Schüsse, die aber wieder ihr Ziel verfehlten. Ohne ihr Gewehr rannte Karin zum Tisch zurück, nahm die Kasserolle, die Teetasse und die volle Kanne heißen Tees und warf den Hausrat den Eindringlingen entgegen. Doch die Männer wichen ihren Geschossen geschickt aus, sodass diese an der Wand landeten und zu Boden krachten, wobei das Porzellan der Tasse in unzählige Scherben zerbrach. Nur die Teekanne verfehlte ihr Ziel nicht ganz. Das Geschoß hatte jenen Mann getroffen, dem es gelungen war die Hunde abzuschütteln und in den Wohnraum vorzudringen. Mit seiner gezogenen Pistole wollte er gerade auf Karin schießen, als ihr heißes Geschoss seine Stirn traf und sich das dampfende Wasser über seine rechte Gesichtshälfte ergoss. Vor Schmerz aufstöhnend ließ er seine Waffe fallen und griff mit beiden Händen in sein verbrühtes Gesicht.
Der Verletzte wurde durch die nun hereindrängenden Männer zur Seite gestoßen. Karin erkannte, dass sie diesem Ansturm nicht gewachsen war. Ohne lange zu überlegen nahm sie die am Tisch stehende Petroleumlampe und schleuderte diese den Eindringlingen entgegen. Die Männer konnten dem Wurfgeschoß ausweichen, so dass die Lampe samt dem Glasbehälter mit dem Petroleum am Boden zerschellte. Sofort entzündete sich der am Holzboden verschüttete flüssige Brennstoff und bildete eine stichflammenartige Mauer, die die angreifenden Männer für einen Augenblick zurückschrecken ließ.
Karin nutzte diese wertvollen Sekundent und kippte den schweren Küchentisch um. Hinter diesem würde sie vor dem Kugelhagel kurzfristig Schutz finden. Rasch rief sie die Hunde zurück. Doch nur Bonny und einer der Welpen gehorchten ihrem Befehl. Wieder fielen Schüsse und unmittelbar darauf hörte sie einen Welpen schmerzhaft aufjaulen. Karins Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Diese Schweine hatten einen ihrer Hunde erschossen. Ohne sich von den züngelnden Flammen mehr abhalten zu lassen, drangen die Verbrecher weiter vor. Immer mehr Schüsse trafen die dicke Holzplatte des Tisches. Eine der Kugeln traf nun auch das Radio, das umgehend verstummte. Jetzt konnte Karin auch die hektischen Stimmen der Männer besser hören, die sich gegenseitig antrieben und unter denen sie auch eine schrille Frauenstimme wahrnahm. Karin musste schnellstens von hier verschwinden. Ihr Gewehr hing nach wie vor an der Wand. Doch sie hatte keine Möglichkeit an dieses zu gelangen. Die einzige Waffe, die Karin hatte, war das nun am Boden liegende Messer, mit dem sie vorhin das Brot geschnitten hatte. Rasch griff sie danach und wartete angespannt.
In Sekundenschnelle hatte sich das Feuer durch das trockene Holz gefressen und dicke Rauchschwaden gebildet. Jetzt war der Augenblick gekommen aus dem brennenden Haus zu flüchten. Im Schutz der undurchsichtigen Rauchschwaden robbte Karin zu den Balkontüren. Jetzt konnte sie nur beten, dass sie und die Hunde keine der Kugeln abfangen würden, die die Eindringliche ziellos in die dicke Rauchwolke abfeuerten.
Erneut spürte sie den feinen Luftzug einer weiteren Kugel, die über ihrem Kopf hinweg sauste und die das Glas einer Balkontür zersplittern ließen. Plötzlich jaulte ein zweiter Welpe tödlich getroffen auf. Karin hatte jetzt aber keine Zeit, um an das arme Tier zu denken. Sie musste so schnell wie möglich aus dem Haus raus. Nicht nur die Kugeln waren jetzt ein Problem. In der immer sauerstoffärmeren Luft nahm der Hustenreiz zu und sie drohte zu ersticken.
Blitzschnell stieß sie die Tür auf, durch die sofort eine riesige Rauchwolke entwich. Im Schutz dieser Wolke rannte Karin so schnell sie nur konnte in die Dunkelheit hinaus. Die kurze Entfernung zwischen ihrem brennenden Haus und dem Wald schien kein Ende nehmen zu wollen. Karin rannte jetzt um ihr Leben. In der kalten Nachtluft verflüchtigte sich aber schnell die Rauchwolke, sodass sie bald schutzlos im Lichtkegel der hellen Feuersbrunst stand und ein leichtes Ziel für dieses Killerkommando war. Die Schüsse ließen nicht lange auf sich warten. Doch selbst in diesem Kugelhagel war ihr Blick starr auf die Bäume gerichtet.
Der heftige Druck in ihrem rechten Schulterblatt ließ sie nach vorne stolpern, sodass sie fast hingefallen wäre. Karin wusste, dass sie getroffen war. Doch noch verspürte sie keinen Schmerz. Der Schock und die damit verbundene Todesangst beflügelte sie weiterzulaufen, bis sie endlich in der Deckung der Bäume untertauchen konnte. Karin war sich durchaus bewusst, dass auch die Bäume nur vorübergehenden Schutz bieten würden. Sie musste weiter und so viel Abstand wie möglich zwischen ihr und den Verfolgern schaffen. Ein kurzer Blick zur Seite beruhigte sie. Bonny und ihr nun einziges Junges waren an ihrer Seite.
Mit unverminderter Geschwindigkeit liefen sie weiter. Im Schutz der dichten Bäume konnte das helle Mondlicht nicht bis zum Boden durchdringen. Unwillkürlich musste sie jetzt an eine Redewendung denken, die Nick oft verwendete: hier war es so finster wie in einem Bärenarsch. Doch im Laufe der Jahre hatte Karin gelernt, auch in der Finsternis relativ gut zu sehen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass ihre Verfolger nachtblind waren.
Karin hörte die Stimmen der Männer hinter sich, die wie erwartete die Verfolgung aufgenommen hatten. Völlig außer Atem musste Karin für einen Moment stehen bleiben, um zu verschnaufen. Ihre Schulter hatte nun auch heftig zu pochen begonnen, so dass sie ihren Oberkörper kaum bewegen konnte. Vorsichtig tastete sie mit ihrer Hand nach der Stelle, wo der Schmerz am heftigsten war. Karin fühlte die warme Nässe zwischen ihren Fingern. In der Dunkelheit konnte sie es nicht erkennen, doch sie wusste, dass es ihr Blut war.
Mit Entsetzen hörte Karin, wie einer der Männer den anderen zurief, dass sein Nachtsichtgerät einen Defekt hatte. Dieser Umstand löste eine neuerliche Panikattacke in ihr aus. Karin musste unbedingt weiter, sonst war sie verloren. Mit diesen Geräten hatten diese Typen einen entscheidenden Vorteil, um sie mühelos aufzuspüren.
Der einzige Mensch, der ihr nun helfen konnte, war Joe. Zu Beginn ihrer Flucht hatte Karin intuitiv den Pfad eingeschlagen, der zur Hütte der Indianer führte. Karin musste sich zwingen, klar zu denken und ignorierte so weit wie möglich die Stimmen, die sie hinter sich vernahm. Die besten Nachtsichtgeräte konnten aber die vielen Bäume nicht wegzaubern, hinter denen sie sich Karin immer wieder versteckte. Auch der gewundene Pfad durch den Canyon bot durch seine vielen Felsvorsprünge eine gewisse Sicherheit. Problematisch wurde das langgestreckte Felsplateau nach dem Canyon. Dort konnte sich Karin weder hinter Bäumen noch Felsvorsprüngen verstecken. Wenn sie es schaffte dieses ca. einen Kilometer lange Gelände zu durchqueren, dann hatte sie gute Chancen lebend zu Joe und Cathy zu gelangen.

 

Erschöpft und mittlerer Weile ziemlich schmerzgepeinigt erreichte Karin den Eingang zur Schlucht. Es würde ca. 10 Minuten dauern, bis sie diese hinter sich gebracht hatte. Obwohl der Canyon nicht sehr lange war, war sie nicht ungefährlich. Jedes Jahr veränderte sich der Pfad ein wenig. Die ständige Erosion ließ das verwitterte Gesteinsmaterial porös werden, so dass dieses keinen festen Halt mehr bot. Ein unvorsichtiger Schritt und man war drauf und dran mit dem locker gewordenen Felsgestein in die tödliche Tiefe zu stürzen. Wie auf Eiern bewegte sich Karin die Felsmauer entlang. Tief unter sich hörte sie das gleichmäßige Rauschen des Sunwapta-Rivers, der aber von so hoch oben nicht zu sehen war. Auch die Hunde, die hinter Karin her trotteten, witterten die Gefahr und drückten sich ängstlich an die Wand.
Der Schnee bildete hier noch eine ziemliche dicke Matte. Erfahrungsgemäß taute er hier am langsamsten weg. Sonneneinstrahlung gab es hier so gut wie nie, sodass es hier auch während der Sommermonate ziemlich frisch blieb. Plötzlich war ein langgestreckter Verzweiflungsschrei zu hören, der an den Wänden einige Male widerhallte. Karin war klar, dass ein Mann abgestürzt war. Zumindest war nun einer weniger hinter ihr her. Durch dieses Unglück schienen ihre Verfolger vorsichtiger geworden zu sein, sodass der Abstand größer wurde.
Endlich gelangte Karin zum Ausgang. Die Stimmen ihrer Verfolger waren nun nicht mehr zu hören. Karin konnte jetzt nur inständig hoffen, dass die Typen den Weg durch die Klamm scheuten und umgekehrt waren. Doch nach einigen Überlegungen belangte Karin zur Überzeugung, dass dieser Gedanke nur Wunschdenken bleiben würde. Der einzige Grund wieso sich diese Verbrecher die Mühe machten hier hochzusteigen, war, um sie zu töten.
Das Ende der Schlucht ging in einen gewaltigen Felsvorsprung über. Die Nische war so tief, dass sie der Schnee nicht in Besitz nehmen hatte können. Man sollte es nicht glauben, doch hier hatte der Frühling bereits zaghaft Einzug gehalten und hellgrüne Grashalme sprossen aus dem dünnen, erdigen Boden.
Karin war nun dermaßen erschöpft, dass sie nicht mehr weiter konnte. Sie musste sich ein paar Minuten ausruhen, um wieder Kräfte zu sammeln. Sie setzte sich in das weiche Gras und lehnte sich gegen den kalten Felsen. Doch der kantige Felsstein bohrte sich in die Wunde ihrer Schulter, so dass sie schmerzhaft aufstöhnte. Die Schulter tat weh, doch irgendwie war der Schmerz nun halbwegs erträglich geworden. Winselnd und eingezogenem Schwanz kuschelten sich die Hunde an Karin. Das Winseln war kein gutes Zeichen und Karin begann ihre Schäfer notdürftig zu untersuchen. Der Welpe hatte eine Wunde am Hals, aus der er leicht blutete. Doch allem Anschein war es nur ein Streifschuss, sonst wäre er sicherlich zurück geblieben. Bonnys Verletzung am rechten Hinterlauf war da schon ernsthafter. Sie hatte einen Durchschuss. Ständig leckte die Hündin an der blutenden Wunde. So schnell wie möglich musste Karin ihre Hunde zu Cathy bringen, damit sie verarztet werden konnten.
Karin war jetzt echt froh, dass sie ihre festen Schuhe und ihre Jacke nach dem Gang zum stillen Örtchen nicht ausgezogen hatte, sonst wäre sie bestimmt schon völlig unterkühlt gewesen.
Doch ihr transpirierender Körper und der immer größer werdende Blutfleck auf ihrer Schulter hatte ihren Pulli und auch ihre Fliesjacke durchdrängt. Die feuchte Kleidung klebte kalt an ihrem Körper, der nun immer mehr auskühlte. Der auffrischende Wind trug noch dazu bei, dass Karin die Kälte noch intensiver empfand, so dass das Klappern ihrer Zähne nicht mehr zu vermeiden war. Sie musste sich rasch wieder bewegen, sonst würde sie sich zusätzlich zu ihrer Wunde auch noch eine Lungenentzündung holen. Außerdem drängte die Zeit. Sorgenvoll glitt ihr Blick über das weite Steinfeld, das sie überqueren musste, ehe sie wieder im abfallenden Wald untertauchen konnte. Der Mond hatte fast sein volles Maß erreicht und sein silbernes Licht spendete eine matte Helligkeit in dieser sternenklaren Nacht. Unter diesen Voraussetzungen würde mit und ohne Fernsichtgerät eine wunderbare Zielscheibe abgeben. Das Messer, das sie noch immer fest in der Hand hielt, würde ihr da nicht viel helfen. Doch irgendwie vermittelte das kalte Metall der Klinge ein Gefühl der Sicherheit, wenn auch nur einer sehr kleines.
Als Karin aufstand, spürte sie wie der kleine John in ihrem Bauch nach ihr trat. Unglücklich strich sie über ihren Bauch. Sie musste unter allen Umständen das Leben ihres Kindes schützen. Verzweifelt wandte sie sich dem Ausgang der Schlucht zu. Nicht noch einmal würde sie es durchstehen, ein Kind zu verlieren.
Noch während Karin überlegte, wie sie am sichersten die Lichtung überqueren konnte, hörte sie, dass ihre Verfolger den Abstand langsam wieder aufgeholt hatten. Ihre Schritte und ihre lauten Stimmen waren nicht mehr zu überhören. Karin rannte los. In wenigen Augenblicken würde die Bande aus der Schlucht auftauchen und sie flüchten sehen. Ihre Schnelligkeit konnte ihr vielleicht das Leben retten. Diese Männer waren nur mit Pistolen bewaffnet, soweit sie das in dem Tumult feststellen hatte können. Mit Pistolen konnte man nur auf kurze Distanz genau zielen. Bei mehr als 50 Meter wurden diese Dinger ziemlich ungenau. Doch mit einem Gewehr hatte sie keine Chance. Sie konnte nur hoffen, dass keiner auf die Idee gekommen war, eines ihrer Gewehre mitzunehmen.
Keine Minute später hörte sie wieder, wie Schüsse die Stille der Nacht zerrissen und in unmittelbarer Nähe auf dem nackten Felsgestein abprallten. Doch Karin lief unbeirrt ihren Weg durch den knöchelhohen, nun wieder hart gefroren Schnee weiter und hoffte dem Kugelhagel zu entgehen. Karin war zwar eine gute und ausdauernde Läuferin. Doch mit den jungen Männern konnte sie nicht mithalten, zumal sie auch verletzt war. Sukzessive verringerte sich der Abstand und die Zielsicherheit ihrer Waffen nahm zu. Doch der schützende Wald lag noch sehr fern.
Einer der Verfolger hatte sich von der Gruppe abgesetzt und war Karin schon so dicht auf den Fersen, dass sie sein stoßartiges Atmen hören konnte. Karins Lungen standen kurz vor dem Bersten und auch das Seitenstechen wurde immer unerträglicher und verlangsamte ihr Tempo enorm.
Erneut versuchte der junge Mann auf Karin zu schießen. Doch mehr als ein Klicken mit einem anschließenden lauten Fluchen war nicht zu hören. Das Magazin der Pistole war leergeschossen, sodass der Mann augenblicklich keine einsatzfähige Waffe hatte. Ihr Verfolger verlangsamte seinen Lauf, um dabei das Magazin zu wechseln. Keuchend drehte sich Karin um und checkte die Lage. Der Rest der Verfolger lag noch ziemlich weit zurück. Karin musste die Gunst des Augenblicks nutzen und durfte die einzige Chance nicht verstreichen lassen.
„Bonny, fass ihn!“ rief sie ihrer Hündin zu.
Obwohl das Tier verletzt war und den rechten Hinterlauf nachschleifte, war der Befehl ihrer Herrin ein Auslöser, der sie ihre Schmerzen vergessen ließ. Auf drei Beinen rannte Bonny unglaublich schnell die kurze Strecke zu dem an seiner Waffe hantierenden Mann zurück. Der Mann hatte sich so auf das Wechseln des Magazins konzentriert, dass er viel zu spät auf den Hund reagierte, der ihm nun entgegensprang. Im letzten Moment riss er seine Arme hoch, um sich gegen den Angriff zu schützen.
Die Wucht des Aufpralls riss den Mann zu Boden. Doch Bonny blieb an ihm wie eine Klette an ihm haften, während sich die Zähne des Tieres immer tiefer in den Arm seines Opfers bohrten. Karin war nun auch bei ihrem Verfolger angekommen, der sich verzweifelt gegen Bonnys Bissattacken zu wehren versuchte.
Bis jetzt hatte Karin immer nur Tiere getötet. Und das auch nur dann, wenn es unbedingt nötig war. Doch das hier am Boden liegende Wesen war kein Tier, sondern ein Mensch. Für einen kurzen Moment begann Karin zu zweifeln. Doch schnell unterdrückte sie ihre Bedenken, denn hier ging es ums nackte Überleben. Nüchtern kalkulierend wählte Karin jene Stelle seines Körpers, wo sie sicher sein konnte, dass der den Stich nicht überleben würde. Karin brachte ihr Messer in die richtige Position und stieß die scharfe Klinge mit aller Kraft tief in die Nieren des sich wehrenden Mannes. Der heftige Schmerz ließ ihn laut aufschreien. Ungläubig sah er Karin in die Augen als sie das Messer wieder aus seinem Körper zog, auf dessen Klinge sein helles, rotes Blut haftete.
Mit einem kurzen „aus“ befahl sie Bonny den reglosen Mann loszulassen, was die Hündin auch umgehend tat. Ohne noch weiter Gedanken um den Sterbenden zu verschwenden, lief Karin mit den Hunden wieder dem Wald entgegen. Karin drehte sich nicht mehr um, denn jede heftige Bewegung verursachte schreckliche Schmerzen in ihrer verletzten Schulter. Karin rannte nun so lange, bis sie endlich den rettenden Wald erreicht hatte.
Erst als sie sich hinter den Bäumen halbwegs sicher fühlte, erlaubte sie sich kurz zu verschnaufen. Völlig außer Atem blickte sie zurück. Einer ihrer Verfolger kniete neben dem auf dem Boden liegenden Mann, während die anderen ihr weiter nachsetzten. Rasch zählte sie ihre Verfolger. Nun waren es nur mehr sieben.

 

Karins Lauf ging nun in ein schnelles Gehen über. Sie musste vorsichtig sein, denn sie wusste, dass Joe hier überall Fallen aufgestellt hatte, in die Karin nur zu leicht tappen konnte, wie sie ja schon am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Als Joe damals erfahren hatte, dass Karin in eine seiner Fallen gestiegen war, hatte er sich schwere Vorwürfe gemacht. Damit so ein Unfall nicht mehr passierten konnte, hatte er die Bäume im Umkreis der Falle mit roten Bändern gekennzeichnet.
Dieses Wissen verschaffte Karin natürlich einen immensen Vorteil. Sie wies ihre Hunde an eng an ihrer Seite zu gehen. Doch dem Welpen fehlte die Ausbildung. Außerdem war er viel zu überdreht, als dass er Karins Befehlen korrekt folgen konnte. Karin zog das dünne Zugband aus ihrer Fließjacke und knüpfte daraus eine Schlinge, die sie dem Welpen über den Kopf zog. Jetzt konnte sie ihn eng an ihrem Bein führen, so dass nichts passieren konnte.
Bald sah Karin die ersten, roten Bänder, die leicht im Nachtwind wehten. Und nachdem Karin genauer den Boden betrachtete, fielen ihr auch die Tellereisen auf, mit denen Joe Nerze oder Füchse fing. Die Saison war fast schon vorbei, denn wenn der Haarwechsel bei den Tieren einsetzte, war das Fell wertlos.
Karin achtete nun darauf, dass ihre Verfolger sie nicht ganz aus den Augen verloren. Sie führte sie tiefer in den Wald, dort wo die gefährlichen Fallen auf ihre Opfer warteten. Doch keiner dieser Schurken trat in eine dieser verdammten Eisen.
Karin begann den Blutverlust zu spüren. Sie fühlte, dass sie schwindelig wurde. Aber auch Bonny humpelte nicht mehr, sondern schleifte ihr Bein erschöpft hinter sich her. Und der Welpe ließ sich jetzt mehr ziehen als dass er lief.
Karin musste nun so schnell wie möglich zur Joe. Sie hatte ihr Verfolger nun so tief in den Wald geführt, dass Karin Joes Hütte aufsuchen konnte, ohne erwischt zu werden. Wenn auch keiner dieser Teufelsbrut in eine von Joes Fallen treten würde, so würden sie sicherlich Stunden brauchen, um hier heraus zu finden. Doch kaum hatte Karin den Gedanken fertig gedacht, hörte sie ein lautes Schnalzen, dem ein lang gezogener Schmerzschrei folgte. Die Andeutung eines erleichterten Lächelns umspielte ihre Lippen und sie dachte: ‚Nun waren es nur mehr sechs.‘
Karin bog den schmalen Pfad ein, der zu Joes Hütte führte. Am Ende ihrer Kräfte lehnte sie sich keuchend an den Stamm einer alten Eiche. Wie von selbst gaben ihre Knie nach und Karin sank langsam in den hart gefrorenen Schnee nieder. Winselnd hatten sich die beiden Hunde um sie gescharrt und leckten ihr kaltes Gesicht. Sie spürten, dass Karin nicht mehr weiter konnte.
Plötzlich wurde Bonny hellhörig. Sie spitzte ihre Ohren und begann leise zu knurren.
‚Oh Gott, sie haben mich doch gefunden‘, ging es Karin entsetzt durch den Kopf. Mit letzter Kraft versuchte Karin sich hinter dem dicken Stamm der Eiche unsichtbar zu machen. Vielleicht hatte sie Glück und ihre Verfolger würden sie nicht entdecken. Zusammengekauert und den Welpen fest an sich gedrückt wartete sie mit angehaltenem Atem. Bonny war weggelaufen. Karin hatte aber nicht den Mut gehabt, sie zurückzurufen. Ihr Herz wollte fast stehenbleiben, als Karin plötzlich den Mann unmittelbar vor sich stehen sah. Karin fühlte ihr letztes Stündchen schlagen. Zum Flüchten hatte sie keine Kraft mehr. Mit angsterfüllten Augen blickte sie zu dem Mann hoch. Wenn sie schon sterben sollte, dann wollte sie zumindest in die Augen ihres Mörders blicken.
„Joe?“, fragte Karin ungläubig, „bist du es wirklich, oder halluziniere ich schon.“
„Natürlich bin ich es. Wer sollte es sonst sein?“, erwiderte er auf seine ruppig gutmütige Art.
Karin spürte, wie Joe sie hochziehen und stützen wollte. Dabei drückte er unabsichtlich gegen ihre verletzte Schulter, sodass Karin schmerzhaft aufstöhnte. Sofort ließ er sie wieder vorsichtig zu Boden sinken.
„Bist du verletzt?“
„Ja, an der Schulter“, keuchte Karin mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Ich hab eine Kugel abgefangen.“
Mit undurchdringlichem Blick sah Joe auf Karin hinab und dann auf ihre Fliesjacke, auf der sich ein riesiger dunkler Fleck unterhalb ihres linken Schulterblattes abzeichnete. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, hob er von der anderen Seite hoch und trug sie in die kaum 500 Meter entfernte Hütte.

 

 

- 18 -

 

Hinter dem nächsten Bergrücken würde endlich der smaragdgrüne Bergsee auftauchen. Die helle Morgensonne strahlte nun in ihrer vollen Pracht vom Himmel und ließ dieses wundervolle Bergpanorama besonders eindrucksvoll erstrahlen. Doch weder John noch David hatten ein Auge für dieses berauschende Szenario unter ihnen.
Endlich kam der Lake Pleasure in Sicht, wo am Ende des Sees zwischen hohe Coloradotannen Karins Jagdhaus versteckt lag. Aber als John die dünnen Rauchsäulen zum wolkenlosen Himmel aufsteigen sah, stockte ihm der Atem.
„Sag mir bitte, dass der Rauch nicht aus der Richtung des Jagdhauses kommt“, rief er David zu.
„Ich befürchte es leider“, antwortete David besorgt.
David legte noch einen Zahn zu, sodass der Helikopter im Handumdrehen das Ende des Sees angekommen war. Die beklemmende Vorahnung der beiden Männer wurde nun bei weitem übertroffen. Das einst so verträumte Chalet war völlig ausgebrannt. Die breite Glasfront des Wohnzimmers, die auf die großzügige Terrasse führte, existierte nicht mehr. Das Glas aller Türen war durch die enorme Hitze geborsten, sodass nur mehr ein großes, dunkles Loch zurück geblieben waren, das John an die Einfahrt eines verrußten Eisenbahntunnels erinnerte. Durch das teilweise eingebrochene Dach konnten jene Rauchsäulen der immer noch schwelenden Brandherde ungehindert entweichen, die schon von ferne die Katastrophe angekündigt hatten. Nur der Schornstein des Kamins schien heil geblieben zu sein. Er wirkte auf die beiden Männer wie ein Mahnmal des stillen Vorwurfes zu spät gekommen zu sein.
David landete seinen Helikopter auf dem breiten Platz zwischen Seeufer und dem zerstörten Haus.
„Um Gottes Willen. Was ist da bloß passiert?“ Johns verstörter Blick traf jenen Davids, dem ebenfalls völlig durcheinander war.
„Keine Ahnung“, erwiderte David mit tonloser Stimme. „Jetzt können wir nur hoffen, dass Karin da rechtzeitig rausgekommen ist.“
Betroffen stiegen die beiden Männer aus dem Cockpit und liefen zu der Brandruine hoch. Um das Haus herum war es nun ungewöhnlich still. Nur das Krachen der verbrannten Holzdielen und der dicken Pfosten des eingebrochenen Dachstuhls unterbrach diese Stille, die zu dieser frühen Stunde normaler Weise mit lautem Vogelgezwitscher untermalt war.
John und David stiegen über die Terrasse in das Haus ein. Die Hitze, die ihnen entgegenschlug und der noch verdammt stark mit Kohlenmonoxid durchwirkte Sauerstoff machte das Atmen schwer. Im ersten Moment konnten die beiden Männer nichts erkennen. Ihre Augen mussten sich erst vom grellen Licht des Tages an die beklemmende Düsternis der rauchgeschwängerten Luft gewöhnen. Doch nach und nach wurde das Chaos in seinem vollen Ausmaß klar. Umgestürzte Möbel, zersplittertes Glas und durchgebrannte Dachbalken samt den Dachziegeln lagen in einem schrecklichen Wirrwarr im Raum verteilt. Nichts, absolut nichts war mehr übrig geblieben, von der einst so warmen Ausstrahlung des heimeligen Wohnzimmers.
Mit gezielten Tritten bahnte sich John am ausgebrannten Sofas entlang einen Durchgang. Durch den ziemlich feuerresistenten Schaumstoff der Couch ragten die durch die Hitze gedehnten Federn, die wie die Tentakeln eines halbverhungerten Tintenfisches nach John zu greifen schienen. Unwillkürlich musste John an die vielen, schönen Stunden denken, die er mit Karin und natürlich auch mit Nelson auf dem weichen Sofa verbracht hatte. Doch Sentimentalitäten waren jetzt völlig fehl am Platz. Er musste Karin finden. Das war jetzt das einzige, was zählte.
Mühsam arbeitete sich John zum Schlafzimmer vor, das wider Erwarten ziemlich unbeschädigt geblieben war. Doch Karin war weder hier noch im angrenzenden Bad zu finden, was John eine gewisse Erleichterung verschaffte. Die einzige Möglichkeit, wo Karin den Brand noch unbeschadet überstehen hätte können, war der Keller. John zog die Falltür hoch, die in den Vorratsräum führte und drehte den Lichtschalter an, der wider Erwarten funktionierte. Doch hier sah alles so wie immer aus. Nur Karin fehlte.
Erleichtert und besorgt zugleich ging John wieder ins Wohnzimmer zurück und hielt nach weiteren Anhaltspunkten Ausschau, die ihnen mehr Aufschluss geben konnte. Trotz der totalen Unordnung wurde John aber ziemlich bald klar, dass dem Brand eine heftige Auseinandersetzung voran gegangen sein musste. Die Indizien sprachen jedenfalls für sich. Der Rest des schweren Küchentischs lag gekippt am Boden. Doch selbst das verkohlte Holz konnte die unzähligen Einschüsse von Faustfeuerwaffen nicht verbergen, die in der dicken Tischplatte tiefe Löcher hinterlassen hatten. Aber auch die Küchenstühle, oder das, was die Feuersbrunst davon übrig gelassen hatte, lagen mitten im Raum verstreut. Und nicht zuletzt lagen neben der verbrannten Eingangstür eine Kasserolle und die alte Teekanne, woraus John schließen konnte, dass Karin die Gegenstände als Wurfinstrumente verwendet haben musste.
„Philipp und seine Bande mussten Karin überrascht haben“, rief John David zu. „Karin hätte niemals ihr Gewehr zurückgelassen. Selbst wenn sie aufs stille Örtchen musste, hatte sie ihre Flinte immer dabei gehabt. Auch die Reste ihres Parkas hängen noch am Haken.“
„Jetzt stellt sich nur die Frage, ob ihr die Flucht gelungen ist“, grübelte David, der beim Schornstein stand und auf ein verkohltes Etwas am Sockel des Kamins hinabblickte.
„Dieser hier hat es jedenfalls nicht geschafft zu flüchten.“
Mit wenigen Schritten war John bei David. Vor Schmerz zog sich sein Herz zusammen als er in dem verbrannten Knäuel den Kadaver eines von Bonny Welpen erkannte.
„Ach du verdammte Scheiße“, fluchte John und aufs Neue erfasste ihn eine heftige Wehmut. Unwillkürlich musste John an die Geburt der Welpen denken. Diese tapsigen, kleinen Wonnebrocken waren ihm in Laufe der Monate unglaublich ans Herz gewachsen.
„Dort liegt noch einer“, riss ihn David aus seinen Erinnerungen und nickte in die Richtung, wo noch gestern über die Wand verteilt das riesige Bücherregal gestanden hatte. Das Feuer hatte das Holz und die Bücher fast vollständig vernichtet. Unter dem, was übrig geblieben war, lag der zweite Hund begraben, so dass nur sein völlig verbrannter Kopf unter den abgebrannten Regalbrettern und der Asche der Bücher hervorlugte.
Schreckliche Angst um Karin befiel John wieder. Was ist, wenn sie auch bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war, oder erschossen irgendwo im Wald lag, oder sterbend in den Felsen eines Steilhangs hing?
„Hast du sonst noch irgendwelche Leichen entdeckt?“, fragte John aufgeregt.
„Nein, Gott sei Dank nicht“, antwortete David. „Hier finden wir jedenfalls nichts mehr, was uns weiterhelfen könnte.“
Die beiden Männer gingen wieder auf die Terrasse hinaus und folgten den vielen Spuren, die in den Wald führten.
„Wie es aussieht, dürften es Karin und ihre Hunde noch rechtzeitig in Freie geschafft haben. Zumindest führt der Verlauf des niedergetretenen Schnees in nordöstliche Richtung.“
David erhob sich aus der Hocke und zählte die leeren Patronenhülsen in seiner Hand, die er im Schnee verstreut gefunden hatte.
„Hier muss es eine wilde Schießerei gegeben haben. Das sind mindestens 10 Patronenhülsen in meiner Hand, die ich so auf die Schnelle gefunden habe“, sagte David und warf die leeren Hülsen wieder in den Schnee zurück. „Wenn Karin es wirklich geschafft hat diesen Verbrechern unverletzt zu entkommen, dann hatte sie mehr Glück als Verstand.“
Wieder durchfuhr John ein heftiger Angstschub. Bei so vielen schwer bewaffneten Männern mussten die die Chancen ziemlich gering gewesen sein, unbeschadet durch diesen Kugelhagel zu kommen. Verzweifelt begann John nach Karin zu rufen.
„Sei still!“ fuhr David John an.
„Aber vielleicht ist Karin ja noch in der Nähe…“
„Wenn das wirklich der Fall ist, wird sie uns finden“, unterbrach ihn David scharf. „Aber dann sind auch sicher ihre Verfolger nicht weit. Und mit deinem Geschrei machst du dieses Verbrecherpack auf uns aufmerksam.“
Sofort bereute John seine unüberlegte Handlung. Karin war im Wald zu Hause. Jede noch so kleine Veränderung würde ihr auffallen.
„Ich frage mich, ob es nicht das Klügste wäre, wenn wir hier auf die Polizei warten und wir gemeinsam nach Karin suchen“, überlegte David. „Wenn deine Begleiterin die Polizei verständigt hat, müsste sie ohnehin jede Minute hier auftauchen.“
„Da bin ich mir nicht so sicher, ob das eine gute Idee ist“, erwiderte John, der in Davids Vorschlag erkannte, wie unerfahren er im Umgang mit der Exekutive war. „Die Polizei sucht in erster Linie nach mir, einem flüchtigen Verbrecher und nicht nach einer Bande, die Karin ausschalten will. Wir müssen von hier weg sein, bevor die Polizei eintrifft, sonst schnappen die mich. Das wäre in der augenblicklichen Situation ein fataler Fehler. Es würde Stunden dauern, bis ich den Typen klargemacht habe, wie der Hase wirklich läuft. Doch diese Zeit haben wir einfach nicht. Denn von Minute zu Minuten verringern sich Karins Überlebenschancen.“
„Da ist was dran“, stimmte ihm David zu. „Wenn die Polizei das abgebrannte Jagdhaus sieht, wird sie ohnehin aktiv werden. In der Zwischenzeit machen wir uns auf die Suche nach Karin.“
„So sehe ich das auch“, erwiderte John erleichtert.
„Weißt du, wohin der Weg geht, den Karin eingeschlagen hat?“
„Ja, der Pfad führt in die Richtung, wo Joe und Cathy ihre Hütte haben. Das Paar lebt in der Gegend, wo vor langer Zeit eine Siedlung der Stoney-Indianer war.
„Kennst du die Strecke?“
„Ja, fast genauso gut wie den Weg von meinem Appartement in die Firma“ antwortete John. „Es ist ein Fußmarsch von ca. zwei Stunden.“
Für einen kurzen Moment blickte David John fragend an. Doch für nähere Erklärungen war jetzt einfach keine Zeit.
„Ok, dann geh nochmals in Haus zurück und hole für Karin eine warme Jacke und einige andere Dinge aus der Vorratskammer, die wir vielleicht brauchen können.“
„Das ist eine gute Idee“, pflichtete ihm David bei und ging mit John zum See zurück. „In der Zwischenzeit hole ich unsere Waffen aus Heli und schreibe den Polizisten eine Nachricht, wohin wir aufgebrochen sind.“
Trotz des Brandgeruches schlug John beim Öffnen von Karins Kleiderkasten ihr besonderer Duft entgegen. Er zog einen ihrer Anoraks vom Haken, unter dem das Abendkleid hing, das Karin am Weihnachtsabend getragen hatte. John musste sich nun zur Ruhe zwingen, um logisch und nüchtern denken zu können. Kummer und Verzweiflung war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte.
John nahm Karins Rucksack aus der Ecke, an dem noch immer das lange Seil hing, das sie beim Abstieg ins Tal dabei gehabt hatte. Dieses dünne, aber verdammt reißfeste Hanfseil hatte sie auch immer dabei gehabt, wenn sie auf der Jagd war. Damit hatte sie John auch an den Schlitten festgebunden, als sie ihn im Herbst halberfroren gefunden hatte. Seufzend stopfte er ihren Anorak zusammen mit dem „Erste-Hilfe“-Koffer, den Karin in einer der Bettladen aufbewahrt hielt, in den Bauch Rucksackes.
Bevor John ging, ließ er noch einmal seinen kummervollen Blick durch das zerstörte Jagdhaus wandern. Dieses Haus war für ihn nicht nur ein Ort seiner körperlichen Genesung gewesen, sondern auch der seiner Selbstfindung.
Die Nachricht, dass John und David zu den Stoney-Indianern aufgebrochen war, das ca. eine Stunde nordöstlich des Sunwapta-Cayons lag, hatte David auf ein Blatt Papier geschrieben und dieses mit der Hacke am Hackstock beschwert.
„Jetzt können wir nur hoffen, dass die Polizei die Info auch liest und uns folgt“, sagte John, der die Nachricht überflogen hatte.
„Das hoffe ich auch“, erwiderte David und wies dann mit seiner Hand zum See hinunter.
„Dein Bruder ist mit seiner Bande das rechte Seeufer entlang gegangen. Die Spuren waren im Schnee ziemlich leicht zurückzuverfolgen“, informierte ihn David. „Ich nehme an, dass sie ein gutes Stück weiter weg ebenfalls mit einem Helikopter gelandet sind, um von Karin nicht gehört zu werden.“
„Führen die Spuren auch wieder zurück?“
„Nein, sie führen nur zum Haus.“
„Dann können wir also damit rechnen, dass sie Karin noch nicht erwischt haben“, spekulierte John und sein kleiner Hoffnungsschimmer, Karin doch noch lebend zu finden, nahm zu.
„Die Möglichkeit besteht, wenn sie dieses Pack nicht auf der Flucht erledigt hat“, bremste David John Euphorie.
„Deshalb sollten wir auch so schnell wie möglich aufbrechen, um ihr zu helfen“, drängte nun John.
„Wenn wir den Heli nehmen, sind wir innerhalb weniger Minuten bei der Hütte der Indianer“, überlegte David.
Doch John schüttelte seinen Kopf und sagte: „Das ist richtig. Doch wir wissen nicht, ob sie es bis zu Joe und Cathy geschafft hat. Außerdem machen wir mit dem Heli auf uns aufmerksam, was uns den Vorteil des Überraschungsmoments nehmen könnte.“
„Hmm, da ist was dran.“
„Außerdem können wir damit rechnen, dass die Polizei mit ihrem Heli sofort zu dem Indianerpaar aufbricht, so ferne die Typen deine Nachricht gelesen haben.“
„Ok, dann bring ich den Hubschrauber von hier weg und parke ihn auf einer kleinen Lichtung, die kaum 200 Meter von hier entfernt im Wald liegt. Es wäre sicher nicht von Vorteil, wenn diese Schurken zurückkehren und ihn hier stehen sehen.“
In der Zwischenzeit suchte John nach weiteren Anhaltspunkten. Die vielen Patronenhülsen auf dem noch langsam weicher werdenden Schnee trugen nicht unbedingt dazu bei, optimistisch zu bleiben. Als er dann auch noch die roten Blutspuren auf der weißen Schneedecke fand, nahm seine Panik wieder schlagartig zu. Jetzt konnte John nur hoffen, dass es sich bei dem Blut um jenes der Hunde handelte.
Plötzlich nahm John zwischen den Bäumen eine schnelle Bewegung wahr. Karin konnte es nicht sein. Bestimmt hätte sie nach ihm gerufen. John zog seine Pistole aus seiner Jackentasche und suchte hinter einem niedrigen Felsen in Deckung. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Ausgerechnet jetzt musste David weg sein. Wenn Philipp und seine Helfer wieder zurückgekommen waren, würde er keine Chance gegen dieses Aufgebot an Gegnern haben. John entsicherte seine Waffe und lugte vorsichtig hinter dem Felsen hervor. Doch nichts war zu sehen. John spürte aber instinktiv, dass da jemand war. Das Krachen eines trockenen Zweiges bestätigte seine Vermutung und ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Automatisch hielt John seinen Atem an. Noch nie hatte er sich in einer solch problematischen Situation befunden. John war Wissenschaftler und kein Abenteurer. Er hatte keine Ahnung, wie er sich nun verhalten sollte. Angstschweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Dieser trug nicht unbedingt dazu bei, sich gelassener zu fühlen. Doch John wusste, dass er sich unmöglich hier versteckt halten konnte. Jeden Augenblick würde David zurücksein, der nichtsahnend eine gute Zielscheibe abgeben würde. Das konnte John auf keinen Fall zulassen. Seinen ganzen Mut zusammennehmend, rollte er sich mit gezogener Waffe weg vom Felsen und schrie: „Kommt hervor! Ihr seid umstellt!“
Doch nichts bewegte sich. Irritiert blickte John durch die Reihen der Bäume. Dann sah er aber ein pinselähnliches Ding hinter dem hohen Stamm einer Tanne wackeln. Irgendwie war John diese Bewegung vertraut. Doch als er Kopf mit den leuchtend gelben Augen hinter dem Baum hervorlugte, verflüchtigte sich Johns enormer Stress mit einem Schlag. Erleichtert ließ er seine Pistole sinken.
„Nelson, mein Guter!“, rief John glücklich dem Luchs entgegen.
Als das Tier seinen Namen rufen hörte, kam es vertrauensvoll aus seiner Deckung hervor, während sein rechtes Spitzohr noch immer wackelte. Laut schnurrend rieb sich an John, der das dichte, braune Fell der Katze liebevoll kraute.
„Wie gut dich zu sehen“, murmelte John erleichtert, dass der Luchs lebte.
Auch David war erfreut den Luchs zu sehen. Irgendwie vermittelte das Auftauchen des Tieres ein wenig Hoffnung und Optimismus, dass Karin vielleicht doch noch lebte.

 

Zu dritt machten sie sich nun auf den Weg zu den Indianern. Dabei hielten die beiden Männer immer wieder Ausschau, ob Karin sich vielleicht doch irgendwo im Gebüsch versteckt hielt. Die beiden Männer konnten aber nichts Ungewöhnliches entdecken, während sie den unzähligen Spuren folgten, die tiefe Abdrücke im Schnee hinterlassen hatten.
Der Pfad führte sie durch den Canyon und an jener gefährlich schmalen Stelle vorbei, wo man nur allzu leicht in die Tiefe stürzen konnte. Kurz vor dem Ausgang der Klamm blieb John unvermittelt stehen. Dort, wo sich der Weg durch die Vertiefung des Felsens verbreiterte, konnte er im lose angesammelten Erdmaterial Abdrücke von Hundepfoten und Schuhen erkennen. John war nun sicher, dass Karin und die Hunde lebten.
„Ich hab was gefunden!“ rief John aufgeregt David zu, der rasch näher kam.
„Sie musste hier gerastet haben.“ stellte David fest und wies mit seiner Hand an eine Stelle, wo das wenige, frisch gespießte Gras völlig platt gedrückt war. Als sie die Stelle genauer in Augenschein nahmen, fanden sie auch die Blutspuren, die an einigen, grünen Halmen und an der Felsmauer klebte. John verrieb es zwischen seinen Fingern und sagte mehr zu sich selbst als zu David:
„Hoffentlich ist es nicht ihr Blut.“
„Komm wir müssen weiter. Zumindest wissen wir, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben“, drängte David aus dem Canyon raus.

 

 

- 19 -

 

Cathys Tinktur aus Trauerweidensaft, Arnika und Kamille hatte den stechenden Schmerz in Karins Schulter rasch abklingen lassen. Zurückgeblieben war ein dumpf pochender Druck über ihrem Herzen, der Karin ständig daran erinnerte, wie knapp sie mit dem Leben davon gekommen war. Der saubere Durchschuss hatte aber zwei offene Wunden hinterlassen, durch die ziemlich viel Blut verloren gegangen war. Nachdem Cathy die Wunden versorgt hatte, verpasste sie Karin einen festen Druckverband. Unzählige Male hatte Cathy die elastischen Binden um Karins Oberkörper gewickelt, so dass sich der feste Verband wie ein zu eng geschnürtes Korsett anfühlte, der Karin das Atmen erschwerte.
Instinktiv berührte sie ihren Bauch. Karin hatte schreckliche Angst ihr Baby zu verlieren. Sie fühlte, dass es dem Fötus nicht besonders gut ging. Ständig war es in Bewegung und trat nach allen Seiten. Karin brauchte dringend Ruhe. Doch wo sollte sie diese finden, wenn man ihr nach dem Leben trachtete? Den Gedanken, sich in den Bergen zu verstecken, hatte sie schnell wieder verworfen. Diese Killer würden nicht eher ruhen, bis sie sie gefunden haben.
Karin wusste zwar nicht genau was passiert war, doch sie ahnte, dass sie eine Schlüsselfigur in einer Intrige war, wo ihre Person für einige besser tot als lebend war. Außerdem brauchte sie dringend eine gynäkologische Untersuchung und einen Ultraschall, damit sie sicher sein konnte, dass mit dem kleinen Wesen in ihr auch alles in Ordnung war. Jetzt bereute es Karin, dass sie nicht gleich ihren Arzt aufgesucht hatte, als sie noch in Jasper gewesen war.
„Was ist passiert?“, fragte Joe, der Karin bis jetzt den pflegenden Händen seiner Frau überlassen hatte.
In dem heftigen Chaos ihrer Gedanken musste sich Karin einen Moment lang konzentrieren, um die wichtigsten Infos auf die Reihe zu bringen:
„Am Abend jenes Tages, wo du zusammen mit John in der Schwitzhütte gewesen bist, haben wir in den Radionachrichten gehört, dass John von der Polizei gesucht wird. Angeblich soll er Schuld daran sein, dass er ein Medikament in Umlauf gebracht hatte, an dem Menschen gestorben sind. Gleich am nächsten Morgen sind wir ins Tal aufgebrochen, damit John das Missverständnis so schnell wie möglich aufklären konnte. Ich hab John nach Vancouver gefahren und bin dann gleich wieder nach Jasper zurückgekehrt. Mein Schwager hat mich dann wieder zum Lake Pleasure hochgeflogen, wo am späten Abend kaltblütiger Killer in mein Haus eingedrungen waren, die mich töten wollten.“
„Hast du die Leute gekannt?“
„Nein, aber einer von ihnen war Johns Zwillingsbruder, zumindest sah er so aus wie John“, sagte Karin mit erschöpfter Stimme. „Bonny hat den Mann angefallen, worauf es zu einem heftigen Tumult gekommen ist. Dabei ist eine Petroleumlampe zum Bruch gekommen, die einen Brand ausgelöst hatte, der aber auch meine Rettung war. In den dichten Rauchschwaden konnten ich und der Rest meiner Hunde entkommen. Die beiden anderen haben sie erschossen.“
„Haben sie dich verfolgt?“
„Ja, aber ich konnte sie nach dem Canyon abschütteln“, erwiderte Karin und dachte dabei an den Mann, den sie töten hatte müssen.
„Hier bist du jedenfalls auf Dauer nicht sicher“, sagte Joe besorgt und stand auf. „Wenn die Typen es geschafft haben, dich am Lake Pleasure zu finden, wird es bestimmt nicht lange dauern, bis sie auch hier auftauchen werden.“
„Ich weiß“ erwiderte Karin. „Ich wusste nur nicht wohin ich sollte.“
Karin versuchte aufzustehen.
„Wo willst du hin?“
„Von hier verschwinden natürlich“, keuchte Karin und suchte nach ihren Schuhen. „Ich muss schnellstens von hier weg, sonst bringe ich euch auch noch in Gefahr“
„Du wirst nirgendwohin verschwinden, zumindest nicht alleine“, erwiderte Joe sehr bestimmt.
„John ist mein Freund und ich werde es nicht zulassen, dass dir noch seinem Kind etwas zustößt.“
Überrascht blickte Karin in die alten Augen des Mannes „Du weißt, dass…..“
„Ja, das war auch einer der Gründe, wieso ich mit John der Schwitzhütte war. Ich wollte wissen, was auf euch, was auf dich zukommt. Doch ich war wie in einer Nebelwand gefangen und konnte nichts sehen, was kein gutes Omen ist.“
Karin wusste, dass Joes besondere Begabungen schon viele Generationen zurückreichten. Er war einer der letzten großen Schamanen der Wapamakθé, der Manitus großes Vermächtnis seit vielen Jahrhunderten in sich trug. Joe war ein Wissender, dessen Statement kein leerer Hokuspokus war. Sein transzendentes Empfinden ging weit über das herkömmliche Vorstellungsvermögen hinaus. Karin vertraute ihm voll und ganz. Sie spürte ja selbst die Gefahr, die wie dunkle Gewitterwolken den blauen Himmel überzog.
„Joe, du musst hier bleiben“, redete Karin eindringlich auf ihn ein. „Du kannst Cathy nicht alleine zurücklassen. Wenn die Bande wirklich hier vorbeikommen sollte und die Hunde sieht, werden die wissen, dass ich da war. Und wer beschützt dann Cathy?“
„Cathy kommt schon recht. Sie ist eine Stoney-Squaw, die sich vor ein paar dahergelaufenen Bleichgesichtern nicht einschüchtern lässt und sich zu schützen weiß“, antwortete Joe, während er seine Jagdutensilien zusammensuchte.
„Joe, diese Männer sind keine kleinen Vorstadtganoven, das sind richtige Killer, die sie ohne mit der Wimper zu zucken abknallen werden“, informierte ihn Karin eindringlich. „Ich hatte verdammtes Glück, dass ich mit dem Leben davon gekommen bin.“
Doch Joe ließ sich von seinem Entschluss nicht abbringen und ließ Karin weiter protestieren. Als ihm ihre Einwände dann doch zu viel wurden, hockte er sich neben Karins ans Feuer und sagte völlig emotionslos: „Du wirst es nicht alleine ins Tal schaffen. Du und dein Kind werdet sterben, wenn ich dich nicht begleite. Du stehst unter Schock und bist verletzt. Du musst unbedingt in ein Krankenhaus.“
Doch dann konnte Joe seine Emotionen doch nicht ganz unterdrücken.
„Ich würde es mir nie verzeihen, wenn Johns Kind mit dir sterben würde. Mit so wertvollen Geschenken sollte man sehr sorgfältig umgehen.“
Voller Dankbarkeit und tief empfundener Zuneigung berührte Karin seinen Arm.
„Joe, ich weiß deine Hilfe sehr zu schätzen. Doch wenn du mich begleitest, begibst du dich in große Lebensgefahr. Wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt, werden diese Mörder nicht zögern dich genauso über den Haufen schießen wie mich“, versuchte Karin einen letzten Vorstoß.
Plötzlich erhob sich Joe und baute sich in voller Größe stolz vor Karin auf.
„Ich bin einer der Letzten vom Stamm der Wapamakθé. Diese Männer waren tapfere Krieger, die sich durch Mut und Zähigkeit auszeichneten“, sagte er voller Leidenschaft. „Und wenn der große Geist mich zu sich ruft, dann werde ich stolz sein wie ein Krieger zu sterben und ihm in die ewigen Jagdgründe folgen. Doch ich werde mich hier sicherlich nicht wie ein verängstigtes Eichhörnchen verstecken und warten, bis diese Verbrecher dich abgeknallt haben, um in ein paar Tagen die Reste deiner Leiche zu finden, die bereits von Wölfen und Pumas angefressen wurde.“
Karin wandte sich Hilfe suchend an Cathy, nachdem sie sah, dass sie bei Joe gegen taube Ohren sprach:
„Cathy, sag du ihm, dass er mich nicht begleiten kann. Dieses Problem ist meines und nicht seines. Verbiete es ihm, bitte.“
Die Indianerin lächelte Karin wehmütig an, während sie Karin in einen ihrer Pullover half, da Karins Pulli unbrauchbar geworden war.
„Wenn Joe sagt, dass er dich begleitet, dann ist das auch mein Wille. Er weiß was er tut. Mein Mann ist Schamane und kennt seine Bestimmung. Alles hat im Kreislauf des Lebens seinen Sinn, einen Weg, dem wir folgen müssen. Also wehre dich nicht gegen das Unvermeidliche.“
Karin sah ein, dass ihr Protest nichts half. Dankbar nahm sie die Schüssel mit dem heißen Fischragout und aß die Schüssel leer, obwohl sie keinen Hunger verspürte. Sie wusste aber, dass sie essen musste. Erschöpft beobachtete sie, wie Cathy ihre Hunde verarztete. Doch innerhalb weniger Augenblicke fiel Karin in einen tiefen Schlaf.
Es dämmerte bereits als Joe sie weckte. Im ersten Augenblick wusste sie nicht wo sie war und blickte erschrocken um sich.
„Keine Angst, du bist in Sicherheit“ sagte Joe leise, während er ihr vertrauensvoll seine Hand auf ihre gesunde Schulter legte.
„Wie lang hab ich geschlafen?“ Die Angst in Karins Stimme war nicht zu überhören. Sie hatte nicht einschlafen wollen, sondern nur ein wenig die Augen schließen und sich ausruhen. Und nun dämmerte es bereits.
„Solange wie es eben nötig war.“ erwiderte Joe einfach. „Doch nun wird es Zeit, dass wir aufbrechen.“
Karin stand von ihrem Schlafplatz auf und suchte nach ihrem Messer. Der Schlaf und die Ruhe hatten ihr richtig gut getan. Sie fühlte sich zwar noch immer ein wenig benommen, aber stark genug, um den Fußmarsch zum Bergwerk gewachsen zu sein. Cathy half ihr in einen ihrer dicken Daunenparkas, der Karin um einige Nummern zu groß war. Doch mit dem dicken Verband um ihre Brust und Schulter war er gerade richtig.
Mit traurigem Blick sah Karin noch einmal zu den schlafenden Hunden. Sie bemerkten nichts von Karins Aufbruch. Cathy hatte den beiden einen starken Mohnsud verabreicht, sodass die Tiere die nächsten Stunden ruhig gestellt waren. Seufzend wandte sich Karin ab. Ob sie ihre Hunde jemals wiedersehen würde, stand in den Sternen.
Noch einmal umarmte sie Cathy und sagte mit belegter Stimme:
„Danke Cathy, danke für alles.“
Joe schulterte seinen Rucksack und nahm sein Gewehr. Noch einmal überprüfte er seine Flinte, die ihm Karin zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte.
Karin trat ins Freie und ging einige Schritte voran, damit sich Joe von Cathy verabschieden konnte. Es war nicht Joe’s Art Gefühle gegenüber seiner Frau zu zeigen, wenn jemand anwesend war. Doch diesmal sprang er über seinen Schatten. Voller Liebe nahm er seine Frau in die Arme und drückte ihren fülligen Leib fest an sich. Dann küsste er sie zärtlich, ehe er sich schweigend von ihr abwandte und Karin folgte. Noch nie hatte Karin ihre Freundin so traurig gesehen, als sie in der Tür stand ihnen mit schwerem Herzen nachblickte.

 

 

- 20 -

 

Das grelle Licht der Sonne schmerzte in Johns und Davids Augen, als sie die halbdunkle Schlucht verließen. Es dauerte einige Zeit bis sich ihre Augen an das grelle Tageslicht gewöhnt hatten. Gerade noch rechtzeitig, um zu erkennen, dass einige hundert Meter von ihnen entfernt auf dem breiten, freiliegenden Plateau zwischen dem Canyon und den angrenzenden Wäldern eine Gruppe von Menschen um ein helles Lagerfeuer stand.
Im letzten Moment konnten sich John und David hinter einem emporragenden Felsen flüchten, sodass sie dem suchenden Blick eines Mannes entgingen, der offensichtlich nach etwas Ausschau hielt.
Eng aneinander gepresst, kauerten die beiden Männer hinter dem kaum Deckung bietenden Felsen.
„Verdammt, das sind sie“, fluchte David leise. Schnell drehte sich John auf den Bauch und holte den Feldstecher hervor. Im klaren Morgenlicht hätte er auch ohne das Fernglas mühelos die Personen in der kleinen Gruppe ausmachen können. Doch er wollte genau sehen, wer die Männer waren und ob er in ihren Gesichtern etwas ablesen konnte.
Sofort hatte er seine Frau in der dicken Lederjacke und der Schirmkappe erkannt. Pamela sah erschöpft und ziemlich durchgefroren aus, obwohl sie in unmittelbarer Nähe des wärmenden Feuers stand. In ihrem grimmigen Blick und dem herben Zug um ihre Lippen erkannte John aber nur zu gut, dass Pamela etwas verdammt heftig gegen den Strich ging. John konnte ihre Worte zwar nicht hören, die sie ziemlich aggressiv in die Gruppe schleuderte. Dafür sprach der betretene Blick der Männer Bände. Bis auf Philipp kannte John keinen einzigen der Typen.
Plötzlich fühlte John den müden Blick seines Bruders direkt auf sich gerichtet. John war sicher, dass ihn Philipp entdeckt hatte und ging rasch wieder hinter dem Felsen in Deckung.
„David, wir haben ein Problem“, flüsterte John ziemlich erregt. „Philipp hat mich gesehen.“
„Bist du dir sicher?“
„Ja, ziemlich sicher sogar“.
David warf nun ebenfalls einen vorsichtigen Blick in Richtung des Lagerfeuers.
„Du hast Recht. Wenn dein Bruder Alarm schlägt, dann haben wir ein echtes Problem.“
„Wenn Philipp uns verraten wollte, dann hätte er es bestimmt schon getan“, überlegte John.
„Stellt sich jetzt nur die Frage, wieso er keinen Alarm schlägt.“
Nervös suchte David mit dem Feldstecher nach einem halbwegs sicheren Fluchtweg. Doch dann blieb das Fernglas starr auf einen Punkt gerichtet.
„John, da liegt ein Mensch im Schnee“, stieß David bestürzt hervor.
Der stechende Schmerz in Johns Brust raubte ihm für einen kurzen Moment den Atem.
„Ist es Karin?“, presste John tonloser Stimme durch seine Lippen.
„Keine Ahnung“, antwortete David. „Man kann nicht erkennen, ab es ein Mann oder eine Frau ist.“
David reichte John das Fernglas. John betrachtete nahm nun ebenfalls den leblosen Körper ins Visier, der zusammengekrümmt halb im Schnee lag.
„Wer sonst als Karin sollte dort liegen?“ stöhnte John entsetzt auf. Die Angst um Karin ließ seinen Verstand aussetzen, sodass er drauf und dran war, zu dem im Schnee liegenden Leichnam hinzulaufen. Doch David konnte gerade noch am Arm packen und zurückhalten.
„Untersteh dich und lauf zu dem Toten hinüber“, drohte David verärgert.
„Aber was ist, wenn es Karin ist?“ wimmerte John verzweifelt. „Vielleicht lebt sie ja noch? Wir können doch nicht tatenlos zusehen wie sie stirbt.“
„John, wer auch immer dort liegt, ist tot“, versuchte ihn David mit allem Nachdruck zur Vernunft zu bringen. „Wenn wir hier lebend wegkommen wollen, müssen wir einen kühlen Kopf bewahren, sonst geht es uns nicht anders, als dem armen Teufel, der dort liegt.“
John atmete einige Male tief durch. Er wusste, dass David Recht hatte und versuchte sich zu beruhigen. Der Stress und die Aufregungen der letzten 24 Stunden war einfach zu heftig gewesen, so dass dieser leblose Körper das Fass fast zum Überlaufen gebracht hätte. John schloss seine Augen und konzentrierte sich. Panik war absolut das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten.
„David, ich kann nicht gehen, bevor ich nicht hundertprozentig weiß, ob Karin dort liegt.“
„Und was willst du nun tun? Hingehen und fragen, ob du dir vielleicht nachschauen darfst, wen es a erwischt hat?“, ätzte David grimmig, während er Johns verzweifelten Blick wahrnahm. Erst jetzt erkannte David, wie viel diesem Mann Karin wirklich bedeutete. Nun konnte David auch nachvollziehen, dass John der Grund war, wieso Karin gestern so ungewöhnlich traurig gewesen war. Doch trotz aller Wehmut war aber auch ein ganz besonderes Strahlen von ihr ausgegangen, ein Leuchten, das einen nur dann umgibt, wenn man liebt. David hatte endlich gecheckt, dass sich die Beiden in den langen, kalten Wintermonaten näher gekommen waren und sie weit mehr als nur Freundschaft verband. Obwohl sich David wirklich wünschte, Karin glücklich zu sehen, fühlte er sich irgendwie betrogen. Betrogen um etwas, was er nie besessen hatte.
„Du liebst sie, nicht wahr?“
Mit dieser Frage hatte John nicht gerechnet. Doch jetzt, wo er diesen leblosen Körper im kalten Schnee liegen sah und er annehmen musste, dass es sich um Karins Leichnam handelte, wurde ihm die volle Tragweite seiner Empfindungen für sie bewusst. Nicht zuletzt trug dazu auch Pamelas Verhalten bei, die sich nun von einer Seite präsentierte, die er an ihr nicht bekannt hatte und zutiefst schockierte.
„Ja, das tue ich“, erwiderte John nun völlig ruhig und nun jedes Zweifels erhaben. Pamela hatte nun ihr wahres Gesicht gezeigt, dass seine Liebe für sie nun endgültig erkalten ließ. „Doch was sie mir wirklich bedeutet, weiß ich erst, wo sie nicht mehr bei mir ist. Karin ist mein zweites Ich, mein Zuhause, mein Atem, meine Sonne, mein Herzschlag. Ich hätte sie einfach nicht alleine lassen dürfen. Doch ich war so maßlos egoistisch, dass ich nur meine Probleme im Kopf hatte und nicht an sie dachte. Und nun ist es vielleicht zu spät ihr zu sagen, was sie mir bedeutet, weil sie wegen meiner unglaublichen Ignoranz sterben musste.“
Mitfühlend drückte David Johns Schulter, obwohl er selbst nach Trost bedurfte.
„John, mach dir keine unnötigen Vorwürfe. Du hattest keine Ahnung, was dich in Vancouver erwarten würde“, tröstete er John. „Ich bin davon überzeugt, dass Karin lebt. Denn wenn es wirklich ihr Leichnam wäre, würden ihre Hunde auch irgendwo tot in ihrer Nähe liegen“.
„Das stimmt. Von den Hunden fehlt jede Spur“, überlegte John und ein neuer Hoffnungsschimmer beflügelte ihn.
„Was glaubst du worauf die dort warten?“, fragte John, der sich nun wieder völlig in der Hand hatte.
„Keine Ahnung. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ihre Suche noch nicht aufgegeben haben und wir schleunigst von hier verschwinden sollten.“
„Ich verstehe nicht, wieso Philipp uns nicht verpfeift?“ grübelte John nachdenklich.
„Nun ja, wir sollten vielleicht nicht allzu lange warten und verschwinden, sonst überlegt er sich’s vielleicht noch“, drängte David.
„Ja, aber wie kommen wir auf die andere Seite des Plateaus?“
„Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als die Gruppe großräumig zu umgehen“, überlegte David und blickte den Hang des Plateaus hinab. „Wir müssen den Berg soweit hinab steigen, bis wir aus dem Fokus ihres Blickfeldes fallen. Der Abstieg wird aber ziemlich kritisch werden. Denn die nächsten hundert Meter abwärts gibt es keine Deckung und ist auch ziemlich steil. Doch das ist die einzige Möglichkeit auf der anderen Seite im Wald unterzutauchen.“
„Ok, dann lass und aufbrechen. Jede Minute zählt“, drängte John und zog seine Mütze wieder tiefer ins Gesicht. Doch bevor er auch nach hinten wegrutschte und David folgte, sah er noch einmal nach Philipp. Sein Bruder hielt seinen Blick noch immer auf ihn gerichtet. Instinktiv spürte John, dass er ihm etwas mitteilen wollte und nickte andeutungsweise mit seinem Kopf. Plötzlich wandte sich Philipp ab und fing wild gestikulierend zu schreien an, so dass er die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog.
„Los komm“ rief er David leise zu. „Philipp hat uns ein kleines Zeitfenster verschafft.“
„Bist du dir sicher?“
„Nein, aber ich hoffe es.“
Rasch rutschten die beiden Männer auf ihrem Hosenboden den langsam wässrig werdenden Schnee hinab, während es Philipp gelang, die Aufmerksamkeit seiner Gruppe so lange auf sich zu ziehen, bis John und David aus dem Blickfeld verschwunden waren.
Nelson, der sich in der Zwischenzeit auf einem sonnigen Felsen niedergelassen hatte, folgte den beiden. Für ihn schien das alles nur ein Spiel zu sein, sodass er den beiden Männern ausgelassen folgte.
Es dauerte gut und gern eine Stunde, bis sie wieder auf den kaum wahrnehmbaren Pfad stießen, der zu Joes Hütte führte.
Doch als sie die letzte Abzweigung nehmen wollten, die zur Hütte der Indianer führte, blieb Nelson stehen und begann mit seinem rechten Ohr zu wackeln. John wusste, dies war ein untrügliches Zeichen, wenn er aufgeregt war. John blieb stehen und blickte dem Luchs aufmerksam nach, der den Berg hinauf drängte und ihn anmaunzte, ihm zu folgen. Aus Nelsons verhalten konnte John nur zu gut schließen, dass Karin hier gewesen sein musste und diesen Weg eingeschlagen hatte. Doch John musste zuerst zu Joe. John war überzeugt, dass Karin bei den Indianern einen Stopp eingelegt hatte, um sich mit allem Nötigen zu versorgen, ehe sie ihre Flucht fortsetzen konnte. Er brauchte unbedingt Informationen, wohin Karin wollte. So rief John nach Nelson, der nun widerwillig hinter den beiden Männern her trottete.
Ihr Weg führte nun durch jenes Waldstück, wo Karin von den Wölfen angegriffen worden war. Bei dem Gedanken, dass er dieses Mal zu spät kommen könnte, wurde John ganz elend zumute. Die drückende Angst ließ ihn schneller gehen, sodass die Beiden Joes Hütte kaum 20 Minuten später erreichten.
Aufgeregt klopfte John an die Eingangstür und wartete. Doch nichts regte sich. Mit seiner flachen Hand schlug er dann ungeduldig die gegen die schon ziemlich verwitterte Holztür und rief Joes Namen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis John endlich Schritte hörte. Unter leisem Knarren wurde die Tür einen kleinen Spalt geöffnet. Erschrocken fuhr John zurück, als er den Lauf eines Gewehrs auf sich gerichtet sah. Erst als ihn Cathy erkannte, ließ sie die Flinte sinken.
„Oh John, wie gut dich zu sehen“, lächelte sie ihn erleichtert an
„Cathy, weißt du wo Karin steckt?“, fragte er ungeduldig, während sein suchender Blick über Cathy hinweg durch die Hütte glitt.
„Nein, aber sie war da.“
„Aber wo ist sie?“
Cathy ignorierte seine Frage und blickte Johns Begleiter feindselig an.
„Wer ist der Mann?“
„Das ist David Davis, Karins Schwager. Er hat mich zum Lake Pleasure hoch geflogen und jetzt suchen wir zusammen nach Karin.“
Nun wieder beruhigt, öffnete Cathy die Tür und ließ die beiden Männer eintreten.
„Bitte Cathy, sag mir endlich was mit Karin ist“, drängte John nervös. „Ich hab schreckliche Angst um sie.“
„Heut Nacht hat Joe Karin im Wald gefunden. Sie ist überfallen worden, doch Karin konnte flüchten. Dabei ist sie angeschossen worden.“
„Ist sie schwer verletzt?“
„Nein, Karin hatte Glück im Unglück“, beruhigte ihn die alte Frau. „Sie hat einen glatten Durchschuss an ihrer linken Schulter abbekommen. Bis auf den doch ziemlich hohen Blutverlust ist sie aber nicht ernsthaft verletzt.“
„Zumindest eine positive Nachricht“, erwiderte John erleichtert.
„Und wo ist sie?“
„In den frühen Morgenstunden ist sie mit Joe zum dem still gelegten Bergwerk aufgebrochen. Sie versuchen dann über die Lastenstraße wieder ins Tal zu gelangen, wo sie hoffen auf Forstarbeiter zu treffen, die sie mit ins nächste Krankenhaus mitnehmen können.“
„Von welchem Bergwerk sprichst du?“, fragte John weiter.
„Von dem, wo Joe nach Apoaks sucht.“
John wusste wo das Bergwerk lag. Erst vor zwei Wochen hatte ihn Joe mitgenommen und ihm eine Stelle in der Nähe des Bergwerks gezeigt, wo besonders schöne Exemplare dieser opaleszierenden Ammoniten zu finden waren.
„Verdammt, dann sind uns die Beiden ja schon ziemlich weit voraus“, überlegte John und blickte auf seine Uhr.
„Nicht wirklich“, beruhigte ihn Cathy. „Karin kann mit ihrer verletzten Schulter unmöglich die Direttissima hochklettern, wie es Joe normaler Weise tut. Sie müssen den Berg umgehen, so dass dieser Weg weit länger dauert. Joe hatte auch aus dem Grund den längeren Weg gewählt, weil er größtenteils durch bewaldetes Gebiet führt und sie im Schutz der Bäume ziemlich sicher sind.“
Die beiden Männer wurden plötzlich auf ein leises Winseln aufmerksam, das aus der hintersten Ecke der Hütte kam. Auf alten Lumpen gebettet lag Bonny und ihr einzig verbliebenes Junges, das schlief. Es war viel zu erschöpft, als dass es Johns Anwesenheit registriert hätte. Doch Bonnys müde Augen waren auf ihn gerichtet. Ihr leicht wedelnder Schwanz zeigte John, wie sehr sie sich freute, ihn wiederzusehen. Auf ihren Vorderpfoten versuchte sie mühsam, zu ihm zu kriechen.
„Bonny!“ rief John erschüttert. Für einen Moment vergaß er seine Hektik und den Druck, der auf ihm lastete und steuerte auf die verletzte Hündin zu. Trotz ihres dicken Verbandes um ihre Hüfte und um den linken Hinterlauf versuchte die Hündin aufzustehen. Doch die totale Erschöpfung verbunden mit dem hohen Blutverlust ließen sie immer wieder zur Seite kippen.
„Meine Schöne, was haben sie dir nur angetan?“, flüsterte er voller Mitleid und schob sie mit sanftem Druck auf ihr weiches Lager zurück. Ihr Junges hatte auch einen Verband um Brust, Schulterblätter und Nacken gewickelt, der aber bei weitem nicht so aufwendig war, wie jener des Muttertiers.
„Bleib liegen, meine Gute, und ruh dich aus. Hier bist du sicher“, sprach er zutraulich auf die Hündin ein und streichelte über ihr blutverkrustetes Fell.
Seine anstehenden Probleme kehrten aber schnell wieder in sein Gedächtnis zurück und John stand auf.
„David, wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen, wenn wir die beiden noch einholen wollen.“
„Bevor ihr euch auf den Weg macht, solltet ihr essen. Ihr werdet Kraft brauchen“, mischte sich Cathy ein, die in zwei Steingutschalen dampfendes Fischragout mit Kartoffel schöpfte.
„Vielen Dank, doch dafür haben wir keine Zeit mehr“, lehnte John ab.
„Esst, ihr werdet Kraft brauchen!“ Jetzt war es keine Bitte mehr, sondern ein Befehl.
„Cathy hat Recht“, pflichtete ihr David bei. „Wir wissen nicht, wann wir das nächste Mal etwas in den Magen bekommen werden. Außerdem wird die Kletterpartie über den Bergkamm ziemlich anstrengend werden. Schon alleine deshalb sollten wir bei Kräften bleiben.“
David ließ sich vor der Feuerstelle auf einem der bunten Kissen nieder und nahm dankbar die dampfende Schale entgegen. Widerwillig folgte ihm John. Doch als ihm der würzige Duft des Ragouts in die Nase stieg, wurde ihm plötzlich bewusst, wie hungrig er war. Der Stress und der anstrengende Marsch zu Joe und Cathys Hütte hatten seine Kraftreserven ziemlich verbraucht, sodass er nun ordentlich zulangte.
„Vielleicht haben wir ja Glück und dieses miese Verbrecherpack hat die Verfolgung aufgegeben“, sagte David und griff nach einer weiteren Scheibe des dunklen Brotes, das Cathy aufgeschnitten hatte. „Einen Toten haben sie zumindest schon zu verbuchen. Außerdem sind die Typen nicht ortskündig und kennen sich hier oben absolut nicht aus.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“ erwiderte John mit einem bitteren Lächeln. Die letzten 24 Stunden hatten ihm gezeigt, dass Karins Verfolger alles andere als Chorknaben waren, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten.
„Wenn diese Bande auf Anhieb Karins Jagdhaus gefunden hat, dann haben die Typen einen Insider in der Gruppe.“
“Es gibt nicht sehr viele Möglichkeiten ins Tal zu kommen, insbesondere dann, wenn man verletzt ist“, warf Cathy ein. „Entweder man geht zurück und nimmt den langen Weg über den Athabasca-River in Kauf, oder man wählt die Route übers Bergwerk und hofft dann mitgenommen zu werden. Wenn einer unter diesen Schurken ist, der sich halbwegs in der Gegend auskennt, dann weiß dieser, dass die einzig wirklich reale Fluchtmöglichkeit jene über das stillgelegte Bergwerk ist.“
Nachdem John und David gegessen hatten, brachen sie sofort auf. Jede Minute zählte nun. Wenn sie sich beeilten, dann hatten sie gute Chancen auf Joe und Karin zu stoßen, die mit ihrer verletzten Schulter nur langsam vorankommen würde. Die Polizei müsste mittlerer Weile auch schon aktiv geworden sein. David hoffte sehr, dass Sally die Typen dazu bewegen hatte können, nach ihnen zu suchen. Mit ein bisschen Glück könnte Joe und Karin der Polizeihubschrauber vielleicht sogar schon gefunden haben.
Die beiden Männer gingen den Weg bis zu jener Weggabelung zurück, wo Nelson gemaunzt hatte. Das war genau die Stelle, wo Karin und Joe jenen Weg gewählt hatten, der um den Berg herum führte, während sich John und David für den Pfad über den Bergkamm entschieden.
Die halbe Strecke bis zum Grat legten die beiden Männer einiger maßen zügig zurück. Im Schatten der Bäume war der Schnee noch ziemlich festgefroren gewesen, sodass David und John nicht allzu tief einsanken. Doch dann erreichten sie die Baumgrenze und der spärliche Vegetationsgürtel begann, wo nur mehr verkrüppelte Balsamkiefern, Schwarzfichten und mit Flechten überzogene Lärchen zwischen Latschen- und Wacholdergewächsen ihr karges Dasein fristeten. Die kräftigen Sonnenstrahlen konnten nun ungehindert auf die vereiste Schneedecke einwirken. Überall hatten sich kleine Rinnsale gebildet, die in kleine Bäche mündeten und rasch ins Tal flossen. Mit zunehmender Steigung nahm die Vegetation immer mehr ab. Der Anstieg war nun extrem mühselig und kräfteraubend geworden. Unter der matschigen Schneeschicht befand sich nur mehr eine Geröllhalde, die keinen festen Halt bot und man nun immer wieder aus- und zurückrutschte.
Doch das war jetzt sicherlich das kleinere Problem. Die Angst entdeckt zu werden, hatte mit jenem Moment zugenommen, wo der Sichtschutz der Bäume weggefallen war. In der weiten, weißen Pracht waren sie nun wunderbare Zielscheiben für jeden Angriff, der von oben herab kam.
John war nun sehr dankbar, dass der Puma sie begleitete. Aus Erfahrung wusste er, dass die Katze schon wesentlicher früher allfällige Gefahren ortete, als jeder Mensch. In den vergangenen Monaten hatte John gelernt auf die Körpersprache des Tieres zu achten. Und ein untrügliches Zeichen von Freude, Nervosität und Stress war das Wackeln seines rechten Pinselohrs. In der Folge wurde sein Blick starr und Nelson bewegte sich nicht von der Stelle, bis er schließlich blitzschnell im Gebüsch Deckung suchte. Wenn das der Fall war, dann würde es auch für ihn und seinen Begleiter höchste Eisenbahn, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Hier gab es aber nichts, wo man sich verstecken konnte.
Doch nichts Ungewöhnliches schien die Gelassenheit Nelsons zu beeinträchtigen. Gemächlich trottete er neben John dahin, während er seinen scharfen Blick immer wieder in die Ferne richtete.
Als die beiden Männer nach einem schweißtreibenden Anstieg den Grat nach knapp zwei Stunden erreicht hatten, hofften sie, Karin und Joe irgendwo da unten zu entdecken. Doch mehr als eine Herde Dickhornschafe bewegte sich nichts unter ihnen. Enttäuscht suchten sie nach dem aufgelassenen Bergwerk, dass die Beiden auch bald in knapp 3 Kilometer südöstlicher Richtung ausnahmen. John konnte jetzt nur hoffen, dass sie noch vor Karin und Joe beim Bergwerk antrafen.
Ihr Weg führte nun wieder steil bergab. Doch nun ging es weit schneller als beim Aufstieg. Nach und nach nahm der Baumwuchs wieder zu und den Männern die nötige Deckung bot.
Allzu weit konnten sie nun nicht mehr vom Bergwerksgelände entfernt sein, denn an den Stellen, wo Joe die Apoaks schürfte, waren sie schon vorbeigekommen. Bei diesem gemeinsamen Ausflug hatte ihm Joe auch eine alte, längst vergessene indianische Kultstätte gezeigt, die sich ebenfalls in der Nähe des Bergwerks befand. Auf dem Weg dorthin hatten sie auch bei dem stillgelegten Bergwerk vorbei müssen. So gesehen wusste John, dass der Stolleneingang jeden Augenblick auftauchen musste.
Die beiden Männer mussten sich nun vorsichtig vorwärts bewegen. Nur allzu leicht gerieten sie in Gefahr über die verrosteten Gleise zu stolpern, die aus dem Stollen führten und unter der Schneedecke nicht so leicht erkennbar waren.
Über der Mine hing ein morbider Touch. Wenn der Schnee einmal weg war, würde dieser Eindruck bestimmt noch intensiver sein. Doch noch verdeckte der weiße Mantel den Großteil der Narben, die man hier der einst unberührten Natur zugefügt hat. Man konnte aber jetzt schon erahnen, dass man aufgrund dieses gravierenden Einschnitts in die Fauna nicht unbedingt einen Lobgesang auf besondere Glanzleistungen der Bergbauindustrie in punkto Naturschutz anstimmen konnte. Vereinzelt standen noch alte, verrostete Waggons auf den Gleisen, die teilweise noch mit Fördergut beladen waren. Eine kleine Diesellok, die ebenfalls schon sehr von Hitze und Kälte zerfressen auf den Gleisen stand, bot einen auch nicht gerade einladenden Anblick. Unweit des Stolleingangs lag ein Stapel langsam vor sich hin moderndes Grubenholz. Ein Großteil davon hatte sich aus seiner Verankerung gelöst, sodass es wie ein riesiger Haufen Mikadostäbchen wirr ineinander verkeilt am Boden lag. Doch der grässlichste Eindruck war jener, der unzähligen Hügel tauben Gesteins, das aus dem Berginneren geholt worden war und das nächste Umfeld der Grube säumte. Diese hatte John auch schon von weitem gesehen und sich danach orientiert.
John und David suchten Deckung hinter einem noch beladenen Förderwagen, aus dem mehr schlecht als Recht eine verkrüppelte Kiefer wuchs, die sich in diesem übergroßen Blumentopf einen ziemlich problematischen Standort ihrer Vegetation gewählt hatte. Die Blicke der beiden Männer trafen sich.
„Und wie geht’s nun weiter?“ flüsterte David planlos.
„Keine Ahnung“, erwiderte John und zog seine Schultern hoch. „Ich hatte gehofft, dass wir die Beiden einholen würden.“
„Es stellt sich jetzt die Frage: haben sie es bis hierher schon geschafft und eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt gefunden, oder sie sind noch auf dem Weg hierher.“
„Oder sind sie Philipp und Pamela in die Falle gegangen“, gab John düster von sich.
„Ja, das wäre auch eine Möglichkeit. Doch das wäre schon sehr außergewöhnlich, wenn die Bande Joe und Karin eingeholt hätten.“
„Irgendwie habe ich das unbestimmte Gefühl, dass sie noch irgendwo in der Nähe sind“, grübelte John und wandte sich dem Eingang der Grube zu. „Ich glaube aber kaum, dass sie sich in den Stollen versteckt halten. Schließlich ist es da drinnen stockfinster.“
„Hast du nicht gesagt, dass Joe und Karin im Dunkeln auch sehen können?“
„Ja, doch ich glaube kaum, dass die Beiden der Enge da drinnen etwas abgewinnen können. Außerdem führen keine Fußabtritte ins Bergwerk hinein. Auch sonst fehlt jede Spur von ihnen.“
Während die beiden Männer noch überlegten, wie es nun weiter gehen soll, erkundete Nelson neugierig das ungewohnte Umfeld. Vorsichtig streifte er durch die modernden Balken und verschwand sogar für einen kurzen Moment im Stollen. Doch es dauerte nicht lange und der Luchs verließ mit Spinnweben auf seinem buschigen Fell und den spitzen Ohren die Grube. Seine Neugier trieb ihn nun auf einen der aufgeschütteten Geröllhügel.
Wie üblich beobachtete John das Tier bei seinem Erkundungstrip. Doch dann blieb Nelson stehen und sein Blick blieb auf irgendetwas ziemlich Interessanten haften. An seiner starren Körperhaltung erkannte John, dass der Luchs etwas verdammt Aufregendes gesehen habe musste, was sein linkes Ohr wackeln ließ und er seinen fülligen Backenbart ungewöhnlich heftig zum Spreizen brachte. Sofort reagierte John und sprang aufgeregt hoch.
„Nelson hat etwas entdeckt!“, rief er David zu.
Sofort erhob sich auch David und folgte John, der bereits den Hügel hinauf kletterte.
Zuerst konnte John nichts Ungewöhnliches entdecken. Doch Nelsons Augen waren starr auf eine langestreckte Lichtung unterhalb des Bergkamms gerichtet, auf der John aber nichts erkennen konnte. Doch als Johns Blick ein weiteres Mal angestrengt die Lichtung absuchte, entdeckte er einen dunklen Punkt, der sich im strahlenden Weiß des Schnees langsam vorwärts zu bewegen schien. Mittlerer Weile hatte auch David die Spitze des Hügels erreicht, der Johns blickte folgte.
„Gib mir das Fernglas“ verlangte John ungeduldig. Sofort reichte es ihm David und John fixierte durch den Feldstecher die Stelle, wo er die Bewegung wahrgenommen hatte.
„O Gott, sie sind es“, sagte John erleichtert.
David nahm das Fernglas und blickte nun auch durch.
„Sie haben es wirklich geschafft“, lächelte David John an. Doch schnell wurde er wieder ernst. „Karin scheint es aber nicht besonders gut zu gehen. Lange wird sie nicht mehr durchhalten können. Joe schleift sie schon mehr hinter sich her, als dass sie geht.“
„Ja, ich hab es gesehen“, sagte John nun wieder beunruhigt. „Brechen wir auf. Die beiden brauchen dringend Hilfe.“
„Und was ist, wenn wir sie verpassen? Es ist doch eine ziemlich weite Distanz, wo man ohne weiteres voneinander vorbei gehen könnte. Es wäre fast gescheiter hier auf sie zu warten“, überlegte David.
„Mit Nelson auf unserer Seite glaube ich kaum, dass wir sie verfehlen werden“, erwiderte John zuversichtlich. „Außerdem wissen wir nicht, ob sie noch verfolgt werden. Je schneller wir bei den Beiden sind, umso besser für uns alle.“
John wusste nicht, wie richtig er mit seiner Vermutung lag. Denn noch während die beiden Männer überlegten, welche Route sie einschlagen sollten, wurde die Stille durch ein lautes Motorengeräusch erfüllt. Einen kurzen Moment später stieg ein Helikopter über den Bergkamm und steuerte direkt auf die Lichtung zu.
Für einen kurzen Moment gab sich John der Hoffnung hin, dass es der ersehnte Polizeihubschrauber sein könnte. Doch der Hoffnungsschimmer war nur von kurzer Dauer und seine dunkle Vorahnung wandelte sich in blankes Entsetzen. Der laute Knall mehrerer Schüsse prallte an den Bergwänden ab und warf ein mehrfaches Echo wider. John riss das Fernglas wieder an sich. Mit angehaltenem Atem verfolgte er mit, wie Joe und Karin unter dem Kugelhagel zu laufen begonnen hatten, um so schnell wie möglich den schützenden Wald zu erreichen.
„Verdammt, die wollen sie wie die Karnickel abschießen“, schrie John entsetzt und hastete den Hügel hinab.

 

 

- 21 -


In Pamela bebte ein heiliger Zorn. Es war kaum zu fassen gewesen, wie dilettantisch sich diese Möchtegernkiller angestellt hatten. Was hatte sich ihr Onkel dabei gedacht, ihr diesen Haufen Vollidioten zu schicken, die nicht einmal im Ansatz fähig gewesen waren, eine schwache, ahnungslose Frau den Garaus zu machen? Bereits auf der Fahrt nach Jasper hatten Pamela leise Zweifel befallen, ob diese Typen auch wirklich ihr Geld wert waren. Die Profikiller, mit denen sie bis jetzt zu tun gehabt hatte, waren durchwegs schweigsame Einzelgänger gewesen, die es vorzogen, sich unauffällig im Hintergrund zu halten. Doch diese kleinen Vorstadtganoven hatten doch echt angenommen, dass dieser Trip ein kurzweiliger Ausflug in die Berge sei, wo man zwischendurch schnell mal eine Frau um die Ecke brachte. Doch mehr als Prahlereien hatte dieses Pack nicht bieten können.
Die Fehleinschätzung ihres Onkels konnte sich Pamela nur so erklären, dass er so kurzfristig keinen wirklichen Profi zur Hand hatte. Er hatte wohl angenommen, dass sieben Männer ausreichen müssten, um den offensichtlich nicht gerade schwierigen Auftrag zu erledigen. Doch dieser Schuss war leider nach hinten losgegangen.
Unverrichteter Dinge stand Pamela nun hier in dieser lausigen Kälte und versuchte ihre klammen Finger an dem dürftigen Lagerfeuer zu wärmen. Wütend ließ sie ihren Blick durch die Runde der Männer wandern, die mit betretenem Schweigen in die Flammen starrten. Die letzten Stunden hatten diese nach Schweiß und Zigarettenrauch stinkenden Galgenvögel ziemlich kleinlaut werden lassen. Vorbei war es mit den Aufschneidereien, wie schnell sie dem einfältigen Bergschaf das Licht ausblauen wollten. Die Stümper hatten nicht damit gerechnet, dass sich im Pelz des Schafes eine eine zähe und gefährliche Wölfin verborgen gehalten hatte, die alles andere als dämlich war. Trotz ihrer Verletzung erteile die Einsiedlerin den großkotzigen Idioten in punkto Wendigkeit, Intelligenz und körperlicher Fitness eine ordentliche Lektion. Selbst Pamela musste zugeben, dass sie dieses hinterhältige Miststück unterschätzt hatte. Nicht nur die unglaubliche Zähigkeit und geistige Wendigkeit der Hinterwäldlerin rang ihr einigen Respekt ab, sondern auch ihr unerwarteter Mut. Schon bei dem nächtlichen Überfall in ihrem Haus hätte jeder andere kopflos die Flucht ergriffen. Damit hatte Pamela auch gerechnet. Sicherlich wäre es dann ein Leichtes gewesen, sie wie den Fuchs in seinem Bau abzuknallen. Doch dieses kleine Luder hatte ihre Nerven behalten und blitzschnell auf den unerwarteten Angriff reagiert. Anstatt zu rennen, hatte sie sich gestellt und den dampfenden Wasserkessel gegen sie und ihre Gefolgsleute geworfen. Mit dem gezielten Wurf des heißen Geschoßes hatte die Frau einen der Männer erwischt und diesem unvorsichtigen Tölpel die rechte Gesichtshälfte verbrüht. Doch als sie die brennende Petroleumlampe vor Pamela und ihren Mitstreiter auf den Boden warf, damit diese zerschellte und das Öl sich innerhalb weniger Sekunden in hohe Stichflammen entzündete, hatte diese elende Kanaille einen entscheidenden Vorteil für sich verbuchen können. In kürzester Zeit waren durch das Feuer dichte Rauchwolken entstanden, in denen diese gewiefte Hexe die Flucht ergreifen hatte können.
Erst hatte sie dieses elende Weibsstück durch den gefährlichen Canyon gelockt, wo einer ihrer Männer abgestürzt ist und keine 20 Meter von hier hatte sie einem ihrer Gefolgsleute ohne zu zögern mit einem einzigen Stich getötet. Mit dem Mann, den diese Karnaille in eine Trapperfalle gelockt hatte, die ich den Knöchel brach, waren Pamela innerhalb einer Stunde vier Männer abhanden gekommen, während dieses Früchtchen noch immer auf der Flucht war und gute Chancen hatte, zu entkommen.
Pamela war nun verdammt klar geworden, dass es ein fataler Fehler gewesen war, diese Schlampe zu unterschätzen. Das eher einfältig wirkende Frätzchen auf dem Foto hatte Pamela nicht im Mindesten vermuten lassen, was dieses Luder wirklich drauf hatte.
Mit dem bitteren Geschmack der Eifersucht im Mund musste sich Pamela mit der Tatsache abfinden, dass diese Einsiedlerin John nicht nur das Leben gerettet hatte und ihm in den langen, einsamen Winternächten auch eine sehr willige Bettgefährtin gewesen sein musste. Langsam begann es Pamela aber auch zu dämmern, dass die Beiden bei weitem mehr als nur Sex verbunden haben musste, sonst wäre ihr Mann schon viel früher nach Hause gekommen. Nicht das harte und entbehrungsreiche Leben hatte John hier oben verändert, sondern diese Frau, die aus ihm einen richtigen Mann gemacht hatte. Das Weichei in ihm war völlig verschwunden und John hatte absolut nichts mehr Dandyhaftes an sich gehabt. Ein richtiger Kerl, der Schwingungen in ihr ausgelöst hatte, die ihr vorher völlig fremd gewesen waren.
Pamela musste nun echt darauf achten, sich von ihren Gefühlen nicht hinreißen zu lassen. Mehr denn je musste sie John als Kontrahenten sehen. Pamela hatte einen Job zu erfüllen. Und Onkel Ernesto rechnete damit, dass dieser anstandslos ausgeführt wurde. Von dieser Mission hing einfach zu viel ab. Wenn diese Einsiedlerin mit dem Leben davon käme und John es schaffen würde, dass sie vor Gericht aussagt, hätten die Canettis ein Megaproblem am Hals. Dann würde auch Philipp versuchen, so viel wie möglich von seiner elenden Haut zu retten und gegen die Canettis aussagen. Schon jetzt war seine destruktive Haltung unverkennbar. Irgendwie schien es ihn sogar zu amüsieren, dass ihr dieses Weib durch die Lappen gegangen war. Doch wenn das alles hier vorbei war und sie dieses Arschloch nicht mehr brauchte, würde sie eigenhändig mit ihm kurzen Prozess machen.
Jetzt musste Pamela aber ihre volle Konzentration auf die Tötung dieser Frau richten. Wenn sie das nicht schaffte, dann würde der kanadische Polizei mehr denn je ihr Augenmerk auf die illegalen Aktivitäten ihres Onkels richten. Bis jetzt war er immer so klug um umsichtig gewesen, den Typen des CSIS einen Schritt voraus zu sein, so dass man ihm nichts anhängen konnte und Onkel Ernesto nach wie vor als seriöser Geschäftsmann dastand. Doch diesmal könnte die Sache echt problematisch werden.
Diese Frau aus dem Weg zu schaffen, war die einzige Möglichkeit, um aus dieser leidlichen Misere heil heraus zu kommen. Und wenn John diese Sache überleben sollte, dann musste er leider als Sündenbock herhalten. Pamela konnte es drehen und wenden wie sie es wollte. Sie würde ihren Mann in jedem Fall verlieren. Manchmal war der Preis hoch, fast zu hoch, für die Macht, die ihr Onkel Ernesto in Aussicht gestellt hatte.
Doch hatte sie John nicht schon längst verloren? Als sie mit ihm gestern im Bett gewesen war, hatte Pamela nur zu gut gespürt, dass er sich ihr nicht völlig hingab. Sein körperlicher Einsatz war zwar absolut spitzenmäßig gewesen, so, wie sie ihn vorher noch nie erlebt hatte. Doch Pamela hatte die Innigkeit, die bedingungslose Liebe gefehlt, die den eher durchschnittlichen Sex mit ihm zu etwas Besonderen gemacht hatte. In John hatte sich eine imaginäre Wand aufgebaut, die Pamela nicht fähig gewesen war zu durchdringen.
Ihre extremen Gemütsregungen wurden durch das dumpfe Motorengeräusch des sich schnell nähernden Helikopters unterbrochen. Endlich war er da. Pamela war vorhin fast ausgezuckt, als sie feststellen hatte müssen, dass es hier oben keinen Handyempfang gab. Es war ihr daher nichts anderes übrig geblieben, als einen der Männer zurückzuschicken, um den Heli zu holen. Das war aber alles mit einem irren Zeitaufwand verbunden. Zeit, die sie nicht hatte, denn jede vergeudete Minute konnte Rettung dieses verdammten Weibes bedeuten.
Pamela hatte aber Glück im Unglück. Unerwarteter Weise stammte einer ihrer Begleiter aus einem der nächst gelegenen Dörfer. Der Mann war hier lange Jahre Skilehrer gewesen und kannte sich in diesem Teil der Rocky Mountains bestens aus. Er hatte Pamela auch den Tipp gegeben, mit dem Helikopter zu dem stillgelegten Bergwerk rüber zu fliegen und dort nach der Frau zu suchen. Durch den Umstand, dass die Flüchtige verletzt und ohne warme Kleidung und Proviant unterwegs war, konnte sie sich unmöglich in den Bergen verstecken. Eine weitere Nacht im Freien würde sie nicht überleben. Es blieb ihr daher keine andere Wahl, als so schnell wie möglich eine menschliche Siedlung anzusteuern. Und der schnellste Weg dorthin führte über die Lastenstraße, die bei der aufgelassenen Grube ihren Anfang nahm.

 

 

- 22 -

 

Zu dieser frühen Stunde war noch ziemlich kalt. Der Hauch ihres Atems hüllte sie immer wieder in keine Nebelwolken, während der gefrorene Schnee unter ihren Füßen hart krachte. Das Umgehen des Berges war für Karin ziemlich anstrengend. Doch die Angst saß ihr im Nacken und sie unterdrückte ihre Erschöpfung. Immer wieder drehte sich Karin um und suchte die Gegend nach ihren Verfolgern ab. Doch Joe sah kein einziges Mal zurück. Er kannte den Wald und seine Geräusche wesentlich besser als Karin. Bis jetzt hatte er keinen verdächtigen Laut wahrgenommen, der ihn aufhorchen.
Mittlerer Weile war die Sonne aufgegangen. Mit ihren Strahlen drängte sie die Kälte immer mehr zurück. Karin begann nun in ihrer dicken Daunenjacke heiß zu werden. Sie spürte, wie ihr Schweiß in dünnen Rinnsalen ihren Körper hinab lief. Dieses unangenehme Empfinden und die ihr nun immer stärker zusetzende Erschöpfung ließ sie immer seltener nach allen Seiten blicken, bis sich Karin schließlich nur mehr auf den Weg vor ihren Füßen konzentrierte.
Joe zog es vor, die ungeschützten Lichtungen zu meiden. Kleinere und manchmal leider auch größere Umwege durch die Wälder waren daher nicht zu vermeiden. Keinesfalls wollte er Karin der Gefahr aussetzen, gesehen zu werden oder dass man ihre Spuren allzu leicht im Schnee verfolgen konnte. Diese Umwege kosteten natürlich eine Menge an Zeit, so dass es schon später Vormittag war, als sie endlich das Grubenkreuz des Bergwerkes von dem offenen Hochplateau aus sichteten.
„Nun dauerte es keine Stunde mehr, bis wir beim Bergwerk sind. Und wenn wir Glück haben, begegnet uns auf der Lastenstraße ein Fahrzeug, das uns ins Tal mitnimmt“, versuchte Joe Karin aufzumuntern. So ziemlich am Ende ihrer Kräfte ließ sie sich auf einer trockenen Baumwurzel nieder, von der schon der Schnee weg geschmolzen war.
„Gott sei Dank. Ich dachte schon, wir kommen überhaupt nicht mehr an“, keuchte Karin erleichtert, nun bald ihr Ziel erreicht zu haben. Sie öffnete ihre durchgeschwitzte Jacke, damit der frische Wind ihrem erhitzten Körper ein wenig Kühlung verschaffte. Karin tastete nach dem Verband und stellte erleichtert fest, dass dieser immer noch straff an ihrer Schulter haftete und nicht durchblutet war. Auch ihr Baby hatte sich beruhigt und schien nun zu schlafen. Glücklich diesen Albtraum bald hinter sich zu haben, lehnte sie sich an den Stamm der alten Tanne und schloss ihre Augen.
Joe hockte sich nun neben Karin und betrachtete besorgt die ungeschützte, leicht abfallende Strecke, die sie zurücklegen mussten, um in den nächsten, sicheren Waldbereich zu gelangen. Dieses Mal konnten sie nicht großräumig ausweichen, da dieser Kamm links und rechts ziemlich steil abfiel. Dieses Stück der Wegstrecke glich einem sehr breiten Verbindungswall, ein Bindeglied, das diese beiden mächtigen Bergmassive miteinander verband.
„Wir werden hier ein wenig ausruhen, damit du wieder zu Kräften kommst. Diese Etappe hier ist sicherlich die gefährlichste. Man kann uns schon von weitem sehen und wir sind völlig schutzlos, solange wir uns in diesem offenen Gelände befinden. Also müssen wir so rasch wie möglich auf die andere Seite gelangen.“
„Ach Joe, nun wird schon nichts mehr passieren. Kein einziges Mal ist uns etwas Verdächtiges aufgefallen. Ich glaube fast, dass sich diese Bande ihre Verfolgung aufgegeben hat“, versuchte ihn Karin zu beruhigen.
„Da bin ich mir nicht so sicher“, schüttelte Joe bedenklich seinen Kopf. „Irgendwie habe ich den Eindruck, dass dieses Pack noch nicht aufgegeben hat.“
„Gibt es denn keine andere Möglichkeit den Kamm zu umgehen?“
„Nicht in deinem Zustand“, schüttelte Joe seinen Kopf.
„Wenn das so ist, dann lass uns aufbrechen“, sagte Karin und stand auf. „Mir ist lieber die Strecke liegt hinter uns als vor uns.“
Joes Unruhe war nun auch auf Karin übergesprungen und ein kalter Schauer der Angst jagte ihren Rücken hinab.
John entsicherte sein Gewehr und hielt es schussbereit in seiner rechten Hand, als sie mit aus der Deckung der Bäume traten. Karin versuchte mit Joe so gut wie möglich Schritt zu halten. Sie konzentrierte sich auf den unebenen, felsigen Weg, damit sie nicht auch noch stürzte. Doch ihre Erschöpfung zerrte mittlerer Weile so an ihren Kräften, sodass sie immer wieder stehen bleiben musste, um sich ein wenig zu erholen.
Den größten Teil der fast zwei Kilometer langen Strecke hatten sie bereits hinter sich gelassen, als dröhnender Lärm den Boden erzittern ließ. Nervös blickte Joe um sich, doch noch konnte er nichts Verdächtiges erkennen. Hektisch langte Joe nach Karins Taille.
„Halt dich an mir fest und lauf so schnell du kannst. Sie sind uns auf den Fersen.“
„Und wenn es jemand anders ist?“, erwiderte Karin aufgeregt.
„Ist es aber nicht“, rief Joe aufgeregt und zog sie mit sich.
Karin mobilisierte ihre letzten Kräfte und lief so schnell sie ihre Beine noch tragen konnten.
Das Motorengeräusch kam immer näher an sie heran, bis die Beiden den großen schwarzen Eisenvogel hinter der Bergspitze sahen. Joe drückte Karin noch fester an sich und sein schneller Schritt ging ins Laufen über, während sein starrer Blick auf den sich nur langsam nähernden Wald geheftet war. Karin hatte Mühe ihm zu folgen. Immer wieder riss er sie hoch, wenn sie zu fallen drohte. Doch Joe lief unbeirrt weiter dem rettenden Wald entgegen.

 

 

- 23 -

 

Philipp hatte den Eindruck, als ob er ein Statist in einem billigen Actionthriller war. Diese Mörderbrut, mit der er zusammengepfercht im Helikopter saß, war nur mehr von dem Gedanken beseelt, diese unschuldige Frau zu töten.
Anfänglich hatte es Philipp bereut, sich auf diesen niederträchtigen Jagdzug eingelassen zu haben. Doch wie so oft in den letzten Jahren hatte er zu wenig Rückgrat besessen, um aufzubegehren.
Als Philipp aber dieser unerwartet attraktiven und äußerst sympathisch wirkenden Frau gegenüber gestanden hatte, begann etwas in ihm zu revoltieren. Im ersten Moment hatte er in diesen schönen, dunklen Augen unsägliche Wärme und Liebe lesen können, eine überschwängliche Freude, die aber nicht durch ihn, sondern durch John hervorgerufen worden war. Damit hatte Philipp nicht gerechnet. Nun konnte er auch Pamelas eigenartige Unruhe verstehen, die nicht nur durch eine mögliche Zeugenaussage dieser Einsiedlerin hervorgerufen worden war. Hier war weit mehr im Spiel. John und diese Frau waren ein Liebespaar. Und Pamela ahnte oder wusste vielleicht sogar, dass sich sein Bruder von ihr abgewandt hatte und sie keine Macht mehr über ihn besaß. Dass Pamela nun diese Frau in doppelter Hinsicht aus dem Weg haben wollte, konnte Philipp nun ziemlich gut nachvollziehen. Doch das würde er nicht zulassen. Der unglaublich gefühlvolle Blick dieser Frau hatte Philipp so bewegt, dass dieser in ihm innerhalb weniger Sekunden einen gewaltigen Wandel hervorgerufen hatte.
Plötzlich ergab alles einen Sinn. In den letzten sechs Monaten hatte es keinen einzigen Tag gegeben, wo es Philipp nicht zutiefst bereut hatte, seinen Bruder dieser schrecklichen Verbrechersippe ausgeliefert zu haben. Wie oft hatte er mit dem Schicksal gehadert und es um eine Chance gebeten, seinen Fehler wieder gutmachen zu können. Doch es hatte nicht am Schicksal gelegen, sondern an ihm selbst. Bis jetzt war er einfach zu feige gewesen, um sich seiner Bestimmung zu stellen. Mit einem Mal hatte sein Leben eine neue Perspektive gewonnen. Philipp war sich durchaus bewusst, dass er in jedem Fall verlieren würde. Sein Traum in Kolumbien ein neues Leben zu beginnen, hatten er spätestens ab jenem Zeitpunkt abgeschrieben, als John plötzlich wieder auf der Bildfläche erschienen war.
Doch erst, nachdem er in die gütigen Augen dieser Frau geblickt hatte, fühlte er sich stark genug, seine Chance zu ergreifen. Jetzt war Philipp echt froh, dass er hier war. Es war genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Nicht noch einmal würde er es zulassen, dass unschuldige Menschen für seine Fehler büßen mussten und der unglaublichen Willkür dieses schäbigen Kreaturen ausgesetzt waren, deren Wertigkeiten sich nur auf Geld und Macht erstreckten und die keinerlei Respekt vor dem Leben anderer haben.
Philipp spürte jetzt wieder die brennenden Bisswunden an den Waden und seinem Unterarm, die ihm die Schäferhunde der Einsiedlerin zugefügt hatten. Doch diese lösten in ihm nur ein zufriedenes Lächeln aus. Mit diesen Schmerzen verband Philipp das verdammt gute Gefühl den ersten Schritt seiner Sühne gemacht zu haben. Wie festzementiert war Philipp heute Nacht in der Eingangstür stehen geblieben und hatte sich nicht gegen den Angriff der Hunde gewährt. Pamelas Männer konnten daher nicht gleich in das Haus eindringen, so dass er der Frau wertvolle Sekunden verschafft hatte zu überlegen, was sie tun konnte. Immer wieder war er mit den in seinen Armen und Beinen verbissenen Hunden wie zufällig gegen die Schurken gerempelt, die auf ihr Opfer zielten, so dass die Schüsse ins Leere gingen.
Jedes Verdachtes erhaben, wartete Philipp nun auf die nächste Möglichkeit seiner Wiedergutmachung. Voller Abscheu betrachtete er Pamelas verhärmtes Seitenprofil. Sie saß neben dem Piloten, so dass Philipp sie ungehindert von seinem Platz in der hinteren Reihe beobachten konnte. Es war ihm nun unbegreiflich geworden, dass er diese Frau einst geliebt hatte. Doch Schwanz im Kopf macht blind. Dieser Devise war aber nicht nur er zum Opfer gefallen. Auch sein Bruder hatte sich der enormen Anziehungskraft dieser Gottesanbeterin nicht entziehen können. Doch jetzt, wo er für diese Frau absolut keine guten Gefühle mehr empfand, war sie für ihn nichts anderes, als das billige Werkzeug ihres niederträchtigen Onkels. Im Grunde genommen bedauerte Philipp Pamela, die für ein bisschen Aufmerksamkeit des alten Canettis selbst vor Prostitution und Mord nicht zurückgeschreckt hatte. Wenn sie für diesen berechnenden Schurken die Leistung irgendwann nicht mehr bringen würde, wird er sie wie einen alten Schuh entsorgen. Doch noch war sie von makelloser Schönheit, einer Schönheit, die Canetti bestimmt noch einige Zeit für sich nutzen würde können, wenn diese Angelegenheit hier positiv über die Bühne gehen sollte.
Angewidert wandte sich Philipp ab und ließ seinen Blick über die noch verschneiten Wälder gleiten. Philipp konnte jetzt nur inständig hoffen, dass er mit seinem kleinen Ablenkungsmanöver John und diesem fremden Mann behilflich sein hatte können, die verletzte Frau schneller zu finden und sich mit ihr in Sicherheit zu bringen.
Pamelas schrille Stimme riss Philipp aus seinen Gedanken.
„Wir haben sie! Da unten rennt dieses Miststück.“
Philipp drängte die johlenden Männer grob zur Seite, die ihm die Sicht aus dem Fenster versperrten. Dann sah auch er die Frau, wie sie mit Hilfe eines Mannes das schmale Steinfeld rasch zu überqueren versuchte. Für einen Moment dachte Philipp, dass es John war. Doch dann erkannte er in dem Mann einen Indianer, der die verletzte Frau stützend mit sich zog.
Das Durchladen eines Gewehres ließ Philipp aufhorchen. Pamela hatte das das Fenster geöffnet und begann durch das Zielfernrohr nach der lebenden Zielscheibe zu suchen. Von Panik ergriffen packte Philipp seine Schwägerin an der Schulter und riss sie zurück.
„Bist du verrückt? Du kannst unmöglich auf die Frau schießen! Was ist, wenn du den Mann triffst?“ schrie er sie aufgeregt an.
„Halt deine verdammte Klappe und stör mich nicht“, kreischte sie ihn mit vor Zorn bebender Stimme an. „Natürlich werde ich beide abknallen. Was glaubst du denn? Diese dreckige Rothaut da unten weiß bestimmt Bescheid. Also setz dich auf deinen mickrigen Arsch und lass mich meine Arbeit erledigen, damit ich deine Scheiße ausbade.“
Philipp versuchte sie erneut vom Schießen abzuhalten. Doch diesmal sagte Pamela nichts, sondern holte mit ihrer rechten Faust aus und schlug ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Benommen fiel Philipp auf seinen Platz zurück. Das alberne, missbilligende Gekicher und die beifälligen Bemerkungen der Männer über ihren gut platzierten Fausthieb waren nicht ausgeblieben. Kurz darauf hörte Philipp den ersten Schuss. Doch Pamelas fluchen ließ Philipp erleichtert aufatmen.
„Verdammte Scheiße! Halt gefälligst das Steuer ruhig, sonst treffe ich dieses Luder nie!“ schrie Pamela den Piloten an. Der Pilot versuchte sein Bestes. Doch der ständig aufböende Wind machte es dem Piloten schwer, den Helikopter still zu halten. Abermals verpasste Pamela ihr Ziel und die Kugel schlug neben Karin in einen Fels, so dass Funken sprühten. Pamela erkannte, dass die Zeit drängte. Keine 500 Meter mehr und der Wald bot den Flüchtenden wieder die rettende Deckung.
„Los Männer, schießt auf die Beiden. Alleine schaffe ich es nicht.“
Pamela musste dieses schießwütige Pack kein zweites Mal auffordern und innerhalb weniger Sekunden wurden die Magazine ihrer Pistolen leer geschossen. Doch Karin und ihr Begleiter bewegten sich mit unverminderter Geschwindigkeit Richtung Wald weiter.
„Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt“, fluchte Pamela und lud erneut ihr Gewehr durch.
„Flieg den Hubschrauber ganz nah an die Beiden heran. Du siehst doch, dass die Pistolen nur eine kurze Zielgenauigkeit haben“, fuhr sie den Piloten erneut an.
Der Helikopter bewegte sich nun so nahe wie möglich neben Karin und Joe im selben Tempo vorwärts, wie sie liefen. In ein paar Sekunden würden die Beiden im Wald untergetaucht sein. Pamela versuchte Ruhe zu bewahren und konzentrierte sich, während sie durch das Zielfernrohr blickte. Im selben Moment wo sie schoss, war auch wieder eine der vielen, kleinen Turbulenzen zu spüren, die der Pilot unmöglich ausgleichen konnte. Der Schuss verfehlte erneut Karin, traf jedoch den Indianer, der für einen kurzen Augenblick einknickte. Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf Pamelas Lippen. Schnell suchte sie durch das Fernglas noch einmal nach Karins Kopf. Doch als sie abdrücken wollte, zog der Pilot den Hubschrauber hoch, um nicht im Geäst der Bäume hängen zu bleiben.
Pamela musste sich zur Ruhe zwingen und atmete tief durch. Am liebsten hätte sie tobend vor Zorn um sich geschlagen. Doch für solche Gefühlsausbrüche war jetzt absolut keine Zeit.
„Kehr um und lande“, wandte sie sich mit eisiger Beherrschung an den Piloten. “Wir müssen die Beiden am Boden weiter verfolgen.“
Als Pamela und ihre Helfer aus dem Helikopter sprangen, waren Karin und Joe bereits im Wald verschwunden. Doch ihre Spuren im Schnee waren deutlich erkennbar, so dass es ein Leichtes war, sie zu verfolgen. Weit konnten sie ja nicht kommen, da nun beide verletzt waren.

 

 

- 24 -


Im dichten Kugelhagel rannten Karin und Joe um ihr Leben. Unzählige Schüsse pfiffen um ihre Köpfe und riefen in Karin erneut Todesängste wach. Das ausgeschüttete Adrenalin ließ aber ihre Erschöpfung genauso schnell vergessen wie ihre Schmerzen. Jetzt dachte sie nur noch an ihr Kind, das sie unter allen Umständen retten musste.
Joe hatte sie fest am Arm gepackt und drängte sie schneller zu laufen. In knappen 50 Metern würden sie endlich in dem schützenden Wald eintauchen und diese erbarmungslose Treibjagd würde ein Ende haben. Doch plötzlich hörte Karin Joe schmerzhaft aufschreien und er knickte kurz ein.
„Joe, bist du getroffen?“ schrie Karin entsetzt auf.
„Nur ein Streifschuss, nichts Ernsthaftes“ brüllte er zurück, während er sich schnell wieder erhob und in unvermindertem Tempo Karin mit sich zog, um endlich unter den Schutz der Bäume zu gelangen.

 

Außer sich vor Atem liefen sie noch ein kurzes Stück in den Wald hinein. Mit dem Abdrehen des Helikopters verebbten auch die Schüsse, sodass sich die beiden eine kleine Verschnaufpause gönnten. Karin drückte mit ihrer rechten Hand in die Taille, um das schmerzhafte Seitenstechen zu vermindern, während sich Joe schwer atmend auf seinen Oberschenkeln abstützte.
„Lass mich die Wunde ansehen“, keuchte Karin wollte seine Jacke hochheben. Doch Joe drängte sie sanft aber bestimmt zurück.
„Dafür ist jetzt keine Zeit“, wehrte er erschöpft ab. „Wir müssen so rasch wie möglich von hier verschwinden. Unsere Spuren im Schnee kann selbst ein Blinder erkennen, sodass es selbst für diese Großstadttypen ein Leichtes sein wird, uns zu verfolgen.“
Joe schulterte wieder sein herunter gefallenes Gewehr und sagte: „Wir müssen es unbedingt bis zum Bergwerk schaffen. Dort haben wir gute Chancen dieses Pack zu überlisten. Wenn wir hier bleiben, dann schießen sie uns wie Coyoten ab.“
Karin wusste, dass Joe Recht hatte und taumelte neben ihm weiter. Nach einem knappen Kilometer blieb sie jedoch keuchend stehen und flüsterte am Ende ihrer Kräfte:
„Joe, ich kann nicht mehr weiter. Ich bleib hier“, flüsterte sie am Ende ihrer Kräfte. „Bring dich in Sicherheit. Du hast mit der ganzen Sache ja nichts zu tun.“
„Du auch nicht“, erwiderte Joe und blickte besorgt zu Karin, die sich erschöpft im Schnee niederließ und sich an den Stamm einer vermoderten Tanne lehnte.
„Das stimmt“, lächelte sie erschöpft. „Doch wir müssen nicht beide Sterben. Deshalb verschwinde, solange noch Zeit ist.“
Schweigend checkte Joe die Lage. Noch war von ihren Verfolgern nichts zu hören und zu sehen. Doch dass sie kommen würden, war so sicher, wie jährliche Wanderung der Königslachse im Clearwater River. Bei seinem Rundumblick blieben seine scharfen Augen an einem unscheinbaren Felsen hängen, der zwischen jungen Kiefern eingebettet lag. Der Stein hatte die Form eines riesigen Schildkrötenpanzers, hinter den man sich ausgezeichnet verstecken konnte
„Steh auf“, forderte er Karin auf. „Wir müssen zu diesem Felsen dort rüber.“
Joe wies in die Richtung des Felsens, der keinen Steinwurf von ihnen entfernt lag.
„Ich will, dass du dich dahinter versteckst, während ich die Bande von dir ablenke. Wenn sie vorbei sind, gehst du so rasch wie möglich wieder zu Cathy zurück und wartest dort auf mich.“
„Aber du bist verletzt und kannst es nicht alleine mit diesen Verbrechern aufnehmen“, protestierte Karin.
„Das ist jetzt aber einzige Chance, um am Leben zu bleiben. Ohne dich bin ich aber durchaus imstande, dieses Pack auszutricksen.“
Schweren Herzens musste Karin ihrem Freund Recht geben. Joe kannte die Gegend so gut, wie das Innere seines mittler Weile leeren Tabakbeutels. Ohne Karin im Schlepptau würde es ihm sicherlich gelingen, ihre Verfolger von ihr wegzulocken.
Erschöpft erhob sie sich und folgte ihm. Auf dem Weg zu dem Felsen sammelte Joe einige lose im Schnee liegende Stämme.
„Was willst du mit dem Holz?“, fragte Karin verwundert.
„Es dürfen keine Schuhabdrücke im Schnee zum Felsen führen, sonst schöpfen sie Verdacht. Ich will, dass du auf den Stämmen zu dem Felsen gehst.“
Joe drückte Karin zwei Stämme in die Hand, wobei sie sich auf einem immer wieder abstützte, um nicht auszurutschen. Am Ende des ersten Stammes, legte sie den zweiten und nahm den, auf dem sie gegangen war, wieder in Hand. So gesehen blieb nur ein Abdruck des Stammes und nicht der ihrer Schuhe zurück. Diesen Vorgang wiederholte sie noch zweimal, bis sie den Felsen erreicht hatte.
„Sehr gut“, sagte Joe zufrieden. „Unsere Freunde werden nie auf die Idee kommen, dass du dich hinter dem Felsen versteckt halten könntest.“
Zum Schluss warf er noch loses Reisig über die Holzspur, damit absolut keine Anzeichen zu erkennen waren, dass sich Karin hinter dem Felsen versteckt hält.
Nach und nach wurden Geräusche hörbar, die nicht in den Wald passten. Ihre Verfolger waren nun in nächster Nähe.
„Du weißt was du zu tun hast Karin?“, rief Joe leise zu Karin hinüber.
Sie nickte mit dem Kopf und lächelte Joe dankbar zu. Joe hatte ihr eine Pistole mit zwei vollen Magazinen gegeben, um sich im Notfall wehren zu können.
„Danke Joe.“
Doch Joe hatte sich schon abgewandt und zerstörte Karins Schuhabdrücke im Schnee, indem er kräftig mit seinen Schuhen darauf trat.
Bald war Joe außer Sichtweite. Dafür hörte Karin ihre Häscher immer näher kommen. Zusammengekauert wartete sie hinter dem Felsen. Die Angst ließ Karins Herz bis zum Hals schlagen, während das Gemurmel der Verbrecher immer lauter wurde. Die aggressive Stimme einer Frau war unter diesem herauszuhören. Unter ständigem Fluchen trieb sie ihre Mitstreiter an schneller zu gehen. Karin betete nun inständig, dass niemand auf den Felsen bzw. die im Schnee liegenden Stämme aufmerksam wurde. Doch wie es der Teufel wollte, blieb die Truppe in nächster Nähe des Felsens stehen. Karin lief es heiß und kalt den Rücken runter. Die Pistole lag in ihrer feuchten, zittrigen Hand, während sie sich noch fester an den mit Moos überzogenen Felsen drückte und ihren Atem anhielt. Dann hörte Karin wieder die Frau sprechen:
„Weit können sie nicht kommen. Die Beiden sind erschöpft und verletzt. Doch wenn sie uns wirklich entwischen sollten, dann laufen sie direkt in die Arme der Männer meines Onkels, die bereits beim Bergwerk auf sie warten.“

 

Karin wusste nicht, ob sie erfreut oder geschockt sein sollte, als sich die Bande wieder entfernte. Karin war zwar nun in Sicherheit. Doch für Joe wurde die Lage ziemlich ernst.
Nachdem die Frau und mit ihren Männern in sicherer Entfernung waren, kroch Karin aus ihrem Versteck hervor. Was sollte sie nur tun? Sie konnte Joe nicht helfen. Karin war alleine und hatte absolut keine Chance gegen diese Überzahl an schwer bewaffneten Killern. Außerdem war Karin am Ende ihrer Kräfte, sodass sie Joe mehr behindern würde, als dass sie ihm helfen konnte. Der einzige Trost war, dass Joe diese Gegend besser kannte, als sonst wer. Es würde ihm sicherlich gelingen, die Verfolger zu überlisten.
Mit diesem Hoffnungsschimmer trat Karin ihren Rückweg an. Die kühle Feuchte an ihrer Schulter und das damit verbundene Brennen rief Karin unmissverständlich ins Gedächtnis zurück, dass sich ihren Wunden wieder geöffnet hatten. Doch auch der Schmerz in ihrem Bauch ließ Karin besorgt aufhorchen. Er fühlte sich so an, als ob 1000 Nadeln in ihm stecken würden. Außer sich vor Sorge öffnete Karin ihre Hose und kontrollierte ihren Slip. Doch dann atmete sie erleichtert durch, denn kein Blut war abgegangen. Fürs erste beruhigt, strich Karin liebevoll über ihren gewölbten Leib und flüsterte dem Baby zärtliche Worte zu, während sie langsam bis zum Ende des Waldes ging. Bevor Karin aber aus dem Schutz der Bäume trag, blickte sie noch einmal in alle Richtungen. Karin hatte befürchtet, dass der Helikopter auf dem langen Steinfeld abgestellt war. Doch nichts war zu sehen. Anscheinend hatte der Pilot die Bande nur aussteigen lassen und war dann wieder aufgestiegen.
Erleichtert setzte Karin ihren Weg fort. Doch kaum hatte sie die Deckung der Bäume verlassen, hörte Karin das Klicken einer Pistole.
„Stehenbleiben und Flossen hoch, sonst knall ich dich ab wie eine räudige Hündin“, befahl eine barsche Männerstimme hinter ihr. Entsetzt blieb Karin stehen und hob ihre Hände. Ihr Puls pochte wie rasend an ihrer Halsschlagader, während der Speichelfluss völlig versiegte und ihr Mund trocken wurde. Karin hörte den Mann näher kommen, bis er schließlich vor ihr stand. Die eine Gesichtshälfte des Mannes war durch eine frische, nässende Brandwunde entstellt, die sich über Wange, Lid, Augenbraue und Stirn zog. Karins Verdacht wurde auch umgehend bestätigt.
„Ja Püppchen, das hab ich dir zu verdanken“, sagte der Mann grimmig, während er mit seinem Zeigefinger auf die hässliche Wunde wies. Ohne dass Karin noch rechtzeitig reagieren hätte können, holte der Mann mit seiner rechten Hand aus und versetzte ihr einen heftigen Faustschlag auf die Backe, der ihr den Kopf zur Seite riss. Der heftige Schmerz ließ Karin unwillkürlich aufschreien. Ihr Kopf dröhnte, als ob sich ein schwärmender Bienenstock darin eingenistet hätte. Außerdem spürte sie den Geschmack von Blut auf ihrer geplatzten Lippe.
„Das war einmal ein kleiner Vorgeschmack auf das, was ich noch mit dir vorhabe. Und was dann noch von dir übrig bleibt, kann die rote Hexe haben.“
Ein gehässiges Lächeln der Vorfreude spiegelte sich in seinem entstellten Gesicht wider. Der Mann kam noch einen Schritt näher und blieb breitbeinig vor ihr stehen. Dann griff er durch ihre geöffnete Jacke nach ihrer Brust und kniff ihre Brustwarze fest zusammen. Erneut schrie Karin auf. Ihre Brustwarzen waren durch die Schwangerschaft ohnehin extrem schmerzempfindlich geworden, so dass Karin die Tränen in die Augen schossen.
„Das gefällt dir wohl du kleine Hure.“ Das brutale und lüsterne Grinsen ließ den Mann noch hässlicher aussehen, als er ohnedies schon war.
Karin wusste, wenn sie jetzt nicht reagierte, würde sie vielleicht keine Chance mehr dazu haben. Als sich ihr Peiniger anschickte, erneut nach ihren Brüsten zu greifen, holte Karin mit ihrem Bein aus und versetzte sie ihm mit ihrem vorschnellenden Fuß einen heftigen Tritt zwischen die Beine des Mannes. Vor Schmerz laut stöhnend, krümmte sich der Mann und hielt seinen gequetschten Hoden. Doch Karin ließ diesen Moment seines Kontrollverlustes nicht ungenützt verstreichen. Mit aller Kraft versetzte sie ihm einen Kinnhaken, so dass er unwillkürlich nach hinten fiel. Seine Waffe ließ er jedoch nicht fallen. Karin holte rasch ihre Pistole aus der Jackentasche, entsicherte sie und zielte auf den Mann, der sich vor Schmerz stöhnend am Boden windete. Dann drückte sie ab. Doch mehr als ein Klicken war nicht zu hören. Karin geriet in Panik und sie versuchte es noch mal. Doch auch das zweite Mal löste sich kein Schuss.
Nachdem sie mit der Pistole nichts ausrichten konnte, drehte sie sich um und lief so schnell ihre Beine sie zu tragen vermochten wieder in den Wald zurück. Ihr Peiniger hatte seinen Schmerz jedoch schnell wieder unter Kontrolle gebracht, als ihr lieb war und folgte ihr. Karin hatte wieder den Wald erreicht und versuchte darin unterzutauchen. Doch plötzlich schnellte hinter einer Tanne eine Hand hervor und zog sie brutal hinter den dicken Stamm des Baumes. Karin geriet nun völlig außer Kontrolle und begann hysterisch zu schreien, während sie mit der Waffe in ihrer Hand versuchte, auf ihren nächsten Widersacher einzuschlagen.
„Hör auf Karin, erkennst du mich denn nicht?“ hörte sie Johns erregt flüsternde Stimme. Noch während sie zum nächsten Schlag ausholte, hielt sie plötzlich inne und sah überrascht in Johns dunkelblaue Augen.
„John? Bist du es wirklich?“ zweifelte sie einen Augenblick lang und dachte an Philipp, der sich zu überrumpeln versucht hatte.
„Oh Gott, du bist zurückgekommen“, schluchzte sie an seiner Brust vor unendlicher Erleichterung auf.
Doch bevor John noch etwas erwidern konnte, hörten sie auch schon Karins Peiniger fluchend näher kommen. Sofort schob er Karin hinter sich und bereitete sich auf Karins Verfolger vor. Als der Mann an der Tanne vorbei lief und nach seinem Opfer suchte, sprang John plötzlich aus seinem Hinterhalt hervor und schlug dem Mann mit einem abgebrochenen Ast mitten ins Gesicht. Der Mann schrie abermals laut auf, als sich das raue Holz in seine offene Wunde bohrte. Diesmal war der Schmerz jedoch so heftig, dass er seine Waffe fallen ließ und mit beiden Händen sein schmerzendes Gesicht zu bedecken versuchte. John trat vor den sich am Boden krümmenden Mann und sagte mit kalter Stimme: „Du verdammter Scheißkerl wirst dir in Zukunft zweimal überlegen auf eine Frau einzuschlagen.“
John hob die Pistole vom Boden auf und steckte sie zusammen mit seiner Waffe in die Tasche seines Anoraks. Dann zerrte er den Mann vom Boden hoch.
„Wie viele Männer sind hier noch versteckt?“ schrie John den Mann an, der noch immer sein Gesicht zu schützen versuchte.
„Ich bin der Einzige“, wimmerte er. „Sie haben mich zurück gelassen, weil ich mit meiner Verletzung nicht besonderes von Nutzen war. Ich sollte hier aufpassen, falls die Frau zurückkommen sollte.“
John wandte sich Karin zu, die sich noch immer hinter der Tanne versteckt hielt.
„Hast du noch jemanden gesehen, oder ist dir sonst etwas Verdächtiges aufgefallen?“
Während Karin noch überlegte, knallte plötzlich ein Schuss und das Brandnarbengesicht fiel mit weit geöffneten Augen erneut in den Schnee zurück. Das Springmesser löste sich aus seiner Hand, das er in einem unbeobachteten Augenblick aus seiner Jacke gezogen hatte.
Überrascht suchte Karin nach dem Schützen, den sie ihm Zwielicht nicht gleich erkennen konnte.
„Du solltest in Zukunft ein wenig vorsichtiger sein. Diese Fratze hätte dich um ein Haar abgestochen“, rief John eine mahnende Stimme zu.
Als Karin diese Stimme hörte, fühlte sie pure Erleichterung, ja fast unsägliche Freude.
„David du?“ Überglücklich fiel sie den beiden Männern in die Arme. Mit einem Mal fiel die Spannung wie eine schwere Last von ihren Schultern und sie ergoss sich in einem Meer von erlösenden Tränen. Vorsichtig um sich blickend kam nun auch Nelson aus dem Unterholz hervor. Überglücklich ließ sich Karin auf die Knie fallen und drückte den Luchs an sich.
„Oh Nelson, mein süßer Kater, du bist ja auch da?“
Dann blickte sie dankbar und unsäglich erleichtert zu den beiden Männern hoch.
„Ihr könnt euch nicht vorstellen wie froh ich bin euch zu sehen.“
John kniete sich zu Karin nieder und streichelte ihr voller Liebe übers Haar.
„Ich auch Karin“, sagte er ergriffen. „Du weißt nicht, welche Angst ich um dich ausgestanden habe.“
Liebevoll drückte Karin seine Hand auf ihre Wange und sagte immer wieder, weil sie es noch immer nicht so richtig glauben konnte: „Du bist da. Du bist endlich zurück.“
Nach die erste Wiedersehensfreude verebbt war, erzählte Karin den Beiden, was sich zugetragen hatte und dass Joe nun zum Bergwerk unterwegs sei, um die Mörderbande von ihr abzulenken. Sie informierte John und David auch davon, dass beim Bergwerk ein weiterer Trupp von Canettis Schergen bereits auf sie und Joe wartete.
Die beiden Männer wechselten einen bedeutungsvollen Blick und hatten denselben Gedanken.
„Wir können Joe unmöglich im Stich lassen“, sprach ihn John schließlich aus.
Zustimmend nickte David und brachte sogleich das nächste Problem zur Sprache.
„Wir können aber Karin auch nicht alleine zurück gehen lassen. Auch wenn sie hier auf uns wartet, ist es ungewiss, wann wir wieder zurückkommen. In ihrem Zustand kann sie unmöglich noch eine weitere kalte Nacht im Freien verbringen.“
„Einer von uns beiden muss sie zurück begleiten“, sagte John.
Unwillig starrte Karin die beiden an. Ihre überschwängliche Freude wandelte sich in eine leichte Verstimmung, die aber rasch in Ärger ausartete. John und David entschieden einfach über ihren Kopf hinweg, als ob sie ein unmündiges Kind wäre. Die Männer hatten anscheinend völlig vergessen, dass sie diejenige war, die sich in der Gegend fast genauso gut wie Joe auskannte. Demonstrativ stellte sie sich zwischen die Beiden und warf ihnen zornige Blicke zu.
„Ich entscheide, wo ich bleibe“, erwiderte sie entschieden. „Ich werde sicherlich nicht ohne euch und Joe zurückgehen.“

Sofort spürte sie den Widerstand der beiden Männer.
„Das ist unmöglich. Du bist verwundet und total erschöpft. Du würdest uns nur behindern und dich und auch uns unnötig in Gefahr bringen. Wir müssen rasch handeln, sonst ist es für Joe zu spät“, redete John eindringlich auf sie ein.
„Einer alleine wird für Joe keine große Hilfe sein“, sagte Karin nüchtern.. Beim Bergwerk liegen bestimmt schon fünf oder sechs weitere Ganoven auf der Lauer und warten auf ihn. Und mit den Männern, die mit Pamela unterwegs sind, könnten es mehr als zehn Killer sein, denen er in die Quere kommt. Zu viert hätten wir wesentlich mehr Chancen“, versuchte Karin die Männer zu überzeugen.
John und David überlegten, was sie tun sollten. Doch bevor sie noch ein weiteres Gegenargument liefern konnten, fuhr Karin schnell fort:
„Euch bleibt gar keine andere Wahl. Ihr braucht mich, denn ihr kennt die Gegend nicht. Und ihr hab absolut keinen Schimmer, wo sich Joe versteckt hält.“
Karin wusste das zwar auch nicht genau, doch sie klang so überzeugend, dass ihr die Männer das Geflunker abnahmen.
„Ok, du kommst mit“, sagte David und nickte John zu, der aber nach wie vor nicht begeistert war, Karin mitzunehmen.
„Doch wenn es brenzlig wird, hältst du dich im Hintergrund. Ist das klar?“, setzte John scharf nach.
„Glasklar“, lächelte Karin erleichtert, während sie insgeheim dachte, dass sie zu gegebenen Zeitpunkt selbst entscheiden würde, was sie zu tun hatte.

Nachdem dieses Thema vom Tisch war, folgten die drei den vielen Fußspuren, die Joe und Pamela mit ihren Schergen im Schnee hinterlassen hatten. Dem toten Mann schenkten sie keine Beachtung mehr. Wenn der Zauber hier vorbei war, würde sich bestimmt die Polizei um den Leichnam kümmern.
Karin hatte ihre Erschöpfung weitgehend verdrängt. Jetzt versuchte sie noch ihre schmerzende Schulter so gut wie möglich zu ignorieren. Ihrem Baby schien es jedenfalls wieder halbwegs gut zu gehen. Das Stechen in ihrer Leiste hatte genauso aufgehört, wie die ungestümen Tritte des kleinen Wesens, das unter so problematischen Umständen heranwuchs. Das schlechte Gewissen ihrem Kind so viel zumuten zu müssen, bohrte aber tief in ihrer Seele. Doch Joe genoss jetzt ganz einfach Priorität. Mit John und David an ihrer Seite, fühlte sich Karin nun auch wieder stark genug, Joe beizustehen, der nur durch sie in diese gefährliche Situation geraten ist.
Der Weg führte nun stetig bergab. Schweigend marschierten sie den schmalen Pfad entlang, während ihre wachsamen Augen ständig nach allfälligen Gefahren Ausschau hielten. Der sichere Wald war ihnen plötzlich zum Feind geworden. Nelson war aber ein zuverlässiger Indikator für anfallende Bedrohungen. Der Luchs lief aber ziemlich entspannt neben ihnen her, ohne auch nur ein einziges Mal mit seinem Sensorenohr zu wackeln.
Nicht im Traum hatte John damit gerechnet, so schnell wieder in die Berge zurück zu kehren. Sein Gefühlsleben glich plötzlich einer entsetzlichen Achterbahn. Alles, was früher von Wert und Beständigkeit war, hatte innerhalb kürzester Zeit an Bedeutung verloren. Kein Stein seines ehemals so geordneten und durchstrukturierten Lebens war mehr auf dem anderen geblieben, sodass er in diesem Chaos völlig die Kontrolle verloren hatte.
Es war John zur bitteren Gewissheit geworden, dass Pamela nicht mehr die Frau war, die er im November verlassen hatte. Schon gestern hatte er das unangenehme Empfinden verspürt, nicht seiner Frau, sondern einer Fremden gegenüber zu stehen. Im ersten Moment hatte er das Problem bei sich selbst gesucht. Schließlich hatte das Schicksal sein Leben einer so tiefgreifenden Zäsur unterworfen, die ihn verändern hatte müssen. Doch nachdem ihm Sally kurze Einblicke in die letzten sechs Monate seiner Abwesenheit gegeben hatte, war Pamela nicht besonders gut davon gekommen war. Die Hinweise führten eindeutig darauf hin, dass seine Frau ein perfektes Doppelleben geführt hatte.
Die düstere Erkenntnis, dass Pamela ziemlich tief in kriminelle Machenschaften verwickelt sein musste, machte John das Herz schwer. Es wurde aber auch immer offensichtlicher, dass sein Bruder in dieses böse Spiel nicht so ganz hineinpasste. Wenn Philipp wirklich daran gelegen wäre, ihn zu vernichten, dann hätte er ihm nicht geholfen, unentdeckt aus dem Blickfeld dieses Mörderpacks zu gelangen.
Doch der Rest von Liebe, den er noch für Pamela empfand, wollte einfach noch nicht akzeptieren, dass seine Ehe nur eine Farce war. John wollte diesen winzigen Hoffnungsschimmer nicht verlöschen lassen, dass Pamela ebenso das Opfer einer gemeinen Intrige geworden war und kein verbrecherisches Luder, das die Drecksarbeit für ihren Onkel erledigte.
John hatte Canetti nie ganz vertraut. Das war auch einer jener Gründe gewesen, wieso er es stets abgelehnt hatte, Geschäfte mit diesem Mann zu machen. Pamela hatte zwar immer wieder versucht John zu überreden, sich wegen der nur spärlich fließenden Forschungsgelder an ihren Onkel zu wenden. Doch sein sechster Sinn hatte ihn stets davor gewarnt, ihrem Drängen nachzugeben. Hinter dem breiten und selbstgefälligen Lächeln des alten Canettis hatte John vom ersten Augenblick an einen beinharten und skrupellosen Geschäftsmann vermutet, der selbst bei verwandtschaftlichen Verhältnissen keine Rücksicht nehmen würde.
Wenn Pamela nun wirklich mit ihrem Onkel unter einer Decke stecken sollte, dann hatte sie ein perfektes Doppelleben geführt. Doch wozu war das dann notwendig gewesen?
Aber auch Karin ließ seine Gedanken nicht los. Auch sie war anders geworden. Als John sie vorhin überglücklich in seine Arme geschlossen hatte, spürte er trotz ihrer Erleichterung und Freude ihn zu sehen, eine sonderbare Zurückhaltung. Und doch, wenn John in ihre Augen blickte, dann fühlte er trotz dieser kühlen Distanz auch wiederum ihre Sehnsucht und diese tiefe Liebe für ihn. Nur einmal hatte ihn Pamela mit diesem Blick angesehen. Das war an dem Morgen gewesen, wo er zum Skifahren nach Japser aufgebrochen war und sie ihm zugerufen hatte, vorsichtig zu sein.
Johns Verwirrung war perfekt. Nicht nur, dass er mit den Problemen bezüglich seines Unternehmen völlig überfordert war, so gab es nun auch noch zwei Frauen, die ihm das Leben mehr als schwer machten.

 

Mit traurigen Augen betrachtete Karin John, der die kleine Gruppe anführte. Wie gerne hätte sie ihn berührt und an sich gedrückt. Doch dazu fehlte ihr der Mut. Die Zeit ihrer unbeschwerten, trauten Zweisamkeit war vorbei, wo es nur sie und ihn gegeben hat und Pamela nichts anderes als ein imaginäres Wesen am Ende des Horizonts war. Dieses bis dato vernachlässigte Detail war spätestens dann in ihren Vordergrund gerückt, als Karin aus ihrem sicheren Versteck heraus einen kurzen Blick auf Johns Ehefrau werfen konnte. Vor Staunen war Karin für einen Moment die Luft weg geblieben. Pamela hatte ihre Schirmkappe abgenommen, sodass ihr schönes Haar in einer flammenden Kaskade über ihren Rücken fiel. Obwohl der Frau die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand, hatte Karin auf den ersten Blick erkennen können, dass diese große und sehr schlanke Frau eine einzigartige Schönheit war. Karin konnte nun ziemlich gut nachvollziehen, wieso John diese Frau ohne „wenn“ und „aber“ lieben musste. Diese bittere Erkenntnis ließ Karin unglaublich elend fühlen und ein nie gekanntes Gefühl von Eifersucht begann sie zu erfassen.
Doch das, was John durch seine himmelblaue Brille nicht gesehen hatte, war, dass Pamelas Schönheit in einem krassen Gegensatz zu ihrem Charakter stand. Diese Frau konnte vielleicht John etwas vormachen, doch nicht ihr. Pamelas leuchtend grüne Augen ließen keinen Zweifel zu. Diese Frau hatte den bösen Blick. Der Verdacht, dass John dieser Frau auf den Leim gegangen war, begann sich immer mehr zu erhärten und die Wahrheit rückte aus dem Schatten ins Licht. Für Pamela war John nicht mehr als ein kleiner Bauer auf dem Schachbrett ihres Intrigenspiels gewesen, den sie im Begriff gewesen war, zu eliminieren.
Karin hatte nicht damit gerechnet, dass in ihr noch einmal so tiefe Empfindungen wie für Nick wach gerufen wurden. Und doch war es so. Mehr denn je erkannte sie nun, wie sehr sie John liebte. Instinktiv berührte Karin ihren Bauch, in dem das Bindeglied ihrer Liebe heranwuchs. Das Schicksal hatte ihr ein zweites Mal zugelächelt. Dieses Mal würde Karin ihre Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen.

 

Auch Davids Gefühlswelt stand Kopf. Schweren Herzens musste er seine heimlichen Hoffnungen nun endgültig begraben, mit Karin doch noch irgendwann einmal zusammenzukommen. Diese tolle Frau würde leider nie mehr als freundschaftliche Zuneigung für ihn empfinden. Ihr verklärter Blick, mit dem sie John angesehen hatte, sagten mehr als tausend Worte. Der Stachel der Eifersucht wollte an ihm kratzen. Doch David war viel zu klug, um zu wissen, dass er nicht auf ältere Rechte pochen konnte. Liebe konnte man eben nicht erzwingen und man kann auch nicht auf sie warten. Sie fliegt einem zu, unverhofft und überraschend, wie es eben bei John und Karin der Fall gewesen war.
Mit bitterem Lächeln folgte er den beiden Liebenden und hoffte, dass dieses leidliche Zwischenspiel hier bald vorbei sein würde. David sah ein, dass es nun wirklich an der Zeit war, sich neu zu orientieren und das Kapitel Karin endgültig zu schließen. Wenn er zurück war, wollte er ernsthaft beginnen seine Fühler nach einer passenden Frau ausgestreckt zu halten und endlich selbst eine Familie zu gründen.

 

Je näher die kleine Gruppe dem stillgelegten Bergwerk kam, umso mehr nahm die Spannung und die damit verbundene Vorsicht zu. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis man entweder auf Joe oder auf Pamela samt ihren Bluthunden stieß. Nach wie vor unterbrach aber nichts Ungewöhnliches die friedliche Stille des Waldes.
In John begann langsam der heimliche der Hoffnungsschimmer zu keimen, dass Pamela und Philipp ihre Jagd kurzfristig abgeblasen hatten. Sehr lange konnte sich John diesem trügerischen Hoffnungsschimmer aber nicht hingeben, denn plötzlich blieb Nelson stehen und stellte seinen Kamm auch. Sein rechtes Ohr begann zu wackeln als ob es unter Strom stünde. Kurz darauf war er mit zwei mächtigen Sprüngen im Unterholz verschwunden.
Die Gefahr war nun allgegenwärtig spürbar. Fieberhaft begannen die Drei nach einer passenden Deckung zu suchen. Johns Blick blieb an einem Felsen hängen, der keine 50 Meter entfernt von ihnen lag. Der Pfad führte beinahe direkt an diesem, steil aufragenden Granitstein vorbei, der die Form eines riesigen Hamburgers hatte.
„Da vorne hinter dem riesigen Fels können wir uns verstecken“, flüsterte John den anderen zu. Dann setzte sich die kleine Gruppe im Laufschritt in Bewegung, während John seine Pistole entsicherte und David das Gewehr von seiner Schulter zog und es in Position brachte. Als sie den Felsen fast schon erreicht hatten, sprangen plötzlich Pamela mit Philipp und zwei Männer mit schweren Maschinenpistolen in der Hand hinter diesem Felsen hervor.
Instinktiv wollten John, Karin und David zur Flucht ansetzen. Doch wie aus dem Nichts waren noch andere bewaffnete Männer aufgetaucht und hatten die drei umzingelt. Der kalte und mordlüsterne Blick von Pamelas Schergen ließ keinen Zweifel aufkommen, dass diese Typen nur auf das „okay“ warteten, um ihrem Killerinstinkt endlich freien Lauf lassen zu dürfen.
Verdammt aufgebracht wandte sich John wieder seiner Frau und seinem Bruder zu. Seine anfängliche Angst wurde war aber durch eine gehörige Portion Zorn verdrängt worden. Doch als John schnaubend vor Wut auf Pamela und Philipp zuging, richteten die beiden bewaffneten Männer sofort ihre Waffen auf ihn, sodass John abrupt stehen blieb.
„Was soll diese Scheiße?“, fuhr er Philipp zornig an: „Bist du jetzt total verrückt…?“
„Halt deine Klappe und lasst eure Waffen fallen“, fiel ihm Pamela ins Wort.
Noch nie hatte sie mit ihm in diesem rüden Ton gesprochen. Betroffen blickte John seine Frau an, die ihm jetzt wie eine Fremde gegenüber stand. Ihre Augen waren kalt und unpersönlich und ihr verbitterter Mund hatte seine weiche Sinnlichkeit verloren. Philipp hingegen stand da wie ein begossener Pudel. In seinem Gesicht spiegelte sich Verzweiflung, Angst aber auch eine ordentliche Ladung unterschwelligem Zorn wider.
„Verdammt noch einmal, welches Intrigenspiel treibst du hier?“, fuhr John seine Frau an. Doch Pamela ignorierte seine Frage.
„Du bist nicht in der Position Fragen zu stellen“, erwiderte sie gereizt. „Werft eure Waffen weg und legt die Hände auf eure Köpfe, sonst werden meine Männer ziemlich ungemütlich. Ein kurzer Befehl von mir genügt und ihr werdet wie räudige Hunde abgeknallt.“
Diese Drohung saß. Doch gerade als John und seine Gefährten ihre Waffen in den Schnee legen wollten, spürte John den scharfen Luftzug eines vorbeischwirrenden Geschoßes. Keine Sekunde später hörte er hinter sich ein heiseres Röcheln. Ein langer Holzpfeil hatte einen von Pamelas Häschern mitten in die Brust getroffen. Röchelnd ging der Mann in die Knie und stierte fassungslos auf den Schaft des Pfeils, der tief in seiner Lunge steckte.
Entsetzt waren alle Blicke auf den Mann gerichtet, aus dessen halboffenen Mund hellrotes Blut tropfte. Doch noch ehe sich das lähmende Staunen über diesen unerwarteten Zwischenfall gelegt hatte, surrte bereits ein weiterer Pfeil durch die Luft und bohrte sich mühelos in den Bauch eines weiteren Mannes. Dieser schrie aber vor Schmerz laut auf, während er versuchte, den Pfeil aus seinen Eingeweiden zu ziehen.
Plötzlich erfasste eine Welle der Panik Canettis Männer. Unkontrolliert begannen diese wild um sich zu schießen und suchten hinter den Bäumen Schutz. Pamela brüllte aufgeregt durch die Menge. Doch niemand leistete ihren Befehlen Folge. Die Angst von dem unsichtbaren Heckenschützen getroffen zu werden, war einfach zu groß. John, Karin und David nutzten die unerwartete Gelegenheit zur Flucht. In diesem heillosen Durcheinander war sich selbst jeder der Nächste und jeder versuchte seine eigene Haut zu retten. Niemand außer Pamela und Philipp achtete auf die Flüchtenden. Geistesgegenwärtig genug hob Pamela ihre Pistole und zielte auf John. Doch ein Hauch von Gewissen ließ sie einen Moment zögern. Dieses kurze Zaudern nutzte Philipp und rempelte mit aller Kraft gegen ihren Arm. Pamelas Schuss ging ins Leere und stolpernd fiel sie in den Schnee. Erleichtert atmete Philipp durch. Doch blitzschnell hatte sich Pamela wieder hochgerappelt und zielte erneut auf John. Dieses Mal schoss sie ohne zu zögern. John war aber schon viel zu weit weg, sodass der Schuss erneut ins Leere ging.
Ohnmächtig vor Zorn ihr Ziel verfehlt zu haben, warf sie Philipp einen hasserfüllten Blick zu. Doch dieser lächelte voller Genugtuung und sagte zufrieden:„Ein zweites Mal werde ich es nicht mehr zulassen, dass du meinen Bruder töten willst.“
Ohne jede Gefühlsregung richtete Pamela nun ihre Waffe auf Philipp und drückte ab. Die Wucht des Einschusses ließ Philipp zurück taumeln. Automatisch griffen seine Hände an die Stelle, wo die Kugel in seinem Magen eingedrungen war. Ungläubig betrachtete der das Blut, das nun durch seine Finger rot färbte. Philipp ging in die Knie und starrte in Pamelas zorniges Gesicht, dessen eisiger Blick kein Fünkchen Mitleid mit ihm hatte: „Hast du widerlicher Wurm denn wirklich angenommen, dass du mich aufhalten könntest?“
Angewidert wandte sie sich von Philipp ab und rief erneut nach ihren Männern, die nun zaghaft aus ihrer Deckung hervor traten. Ohne noch einen weiteren Gedanken an den Toten und die beiden schwer verletzten Männer zu verschwenden, nahm Pamela mit ihrem Killerkommando die Verfolgung auf.

 

Die Flüchtenden rannten nun so schnell sie ihre Beine zu tragen vermochten. Karin hatte wieder schreckliche Angst um ihr Kind. Doch wenn sie jetzt nicht um ihr Leben rannte, würde das kleine Wesen ohnehin verloren.
John hatte nach ihrer Hand gefasst und zog sie hinter sich her. David rannte einige Schritte hinter ihnen und sah immer wieder zurück, ob Pamelas Schergen die Verfolgung schon aufgenommen hatten. Allem Anschein war die Verwirrung aber doch so groß gewesen, dass die Henkersknechte doch einige Zeit brauchten, sich neu zu orientieren. Diese wenigen Augenblicke verschafften den dreien den rettenden Vorsprung.
Für eine kurze Verschnaufpause ließen sich die Drei in der seichten Mulde einer entwurzelten Tanne nieder, die ein wenig Deckung bot. Außer Atem flüsterte Karin: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Heckenschütze Joe war.“
„Ja, ich sah ihn oben auf dem Felsen, wo er sich hinter dem dichten Geäst einer Kiefer versteckt lag. Außerdem hab ich seinen Bogen gesehen, als er auf eines seiner Opfer zielte“, bestätigte David Karins Vermutung.
„Ok, alles gut und schön, aber wie geht’s nun weiter?“, drängte John keuchend und warf einen vorsichtigen Blick über die Mulde hinaus.
„Wir müssen versuchen zum Eingang des Bergwerks zu gelangen. Joe wird dort sicherlich auf uns warten. Er sagte, dort hätten wir vielleicht eine Chance, die Kerle auszutricksen“, sagte Karin.
„Nun ja, viele Alternativen haben wir ohnehin nicht. Zurück können wir nicht mehr“, erwiderte John und blickte um sich. „Wir sollten keine Zeit verlieren und aufbrechen, solange unsere Freunde uns noch nicht gefunden haben.“
John zog Karin an den Händen hoch. Einen kurzen Moment drückte er sie liebevoll an sich und küsste zärtlich ihre erhitzte Stirn.
„Halt noch ein wenig durch und ich verspreche dir das wundervollste heiße Bad, dass du jemals genossen hast“, lächelte er sie zuversichtlich an.
Sofort kam Karin die Grotte in den Sinn, wo sie mit John so wunderbare Stunden verbracht hatte.
„In unserem Bad, John?“
„Ja, mein Herz, und nur du und ich.“
Karin sah die tiefe Liebe in seinen Augen. Jeder Zweifel war nun aus seinem Blick gewichen. Sie wusste nun, dass Johns Gefühle für Pamela endgültig erloschen waren und sich die Kluft zwischen ihnen wieder geschlossen hatte. Fast hätte sie sich hinreißen lassen, ihr kleines Geheimnis zu lüften. Doch dieses besondere Eingeständnis verlangte nach einem besonderen Moment, der jetzt nicht wirklich gegeben war.

 

Pamelas Nerven lagen blank. Noch nie war sie einer derart harten Belastungsprobe ausgesetzt gewesen. Ihre leichte Neigung zum Kontrollfreak hatte ihr bis jetzt immer gute Dienste erwiesen und sie in der richtigen Spur gehalten. Doch nun entwickelte sich alles in eine ganz andere Richtung. Pamela begann die Übersicht zu verlieren, was sie unsicher und reizbar machte. Ihr so perfekt ausgetüftelter Plan, wie sie sich Lombard Pharma unter den Nagel reißen würde, wurde immer unrealistischer und drohte nun immer mehr zu scheitern.
Schwere Selbstvorwürfe, weil sie John nicht gleich im Hotel erledigt hatte, peinigten Pamela nun in maßloser Weise. Es wäre so leicht gewesen, diesen gutgläubigen Idioten in der Dusche zu erschießen, um dann seine in den Duschvorhang gewickelte Leiche ganz problemlos von Onkel Ernestos Männer entsorgen zu lassen.
Doch das unerwartete Wiedersehen mit ihm löste Panik, Freude, Hoffnung und Angst zugleich aus, so dass ihr normaler Weise wie ein Schweizer Uhrwerk tickender Verstand kurzfristig versagt hatte. Dieser fatale Fehler hatte nun eine Kettenreaktion ungeahnten Ausmaßes angenommen. Jetzt musste sie nicht nur John aus dem Weg räumen, sondern auch noch einen Schweif anderer Mitwisser, die ihr und ihren Onkel ziemlich gefährlich werden konnten.
Zudem befand sie in einer Gegend, die ihr als eingefleischte Städterin völlig fremd war und in der sie sich absolut nicht zurecht fand. Zu diesem Übel kam noch dazu, dass ihre Helfer die größten Vollidioten waren, die Vancouver zu bieten hatte. Der Einzige, der ein bisschen mehr Grips in der Birne hatte, war jener junge Mann, der die Gegend hier kannte und sinnvoll nachvollziehen konnte, wohin dieses Miststück flüchten wollte.
Als Pamela John zusammen mit dieser Hinterwäldlerin und diesem anderen Typen gesichtet hatte, war ihr jedenfalls verdammt leichter gewesen. Jetzt hätte sie gleich drei Fliegen mit einem Schlag erledigen können und alles hätte sich noch zum Guten gewendet. Hätte dieser verdammte Heckenschütze nicht diesen Tumult ausgelöst, dann wäre alles noch gut ausgegangen. Dann hätte John und dieses elende Weib bestimmt kein weiteres Mal mehr entwischen können und das Problem wäre vom Tisch gewesen.
Doch stattdessen stapfte sie im kniehohen, matschigen Schnee durch diesen schrecklich düsteren Wald auf der Suche nach diesen Hurenkindern, die einen verdammten Schutzengel zu haben schienen. Die Erschöpfung setzte ihr nun auch immer mehr zu. Obwohl Pamela ziemlich durchtrainiert war, zerrten diese ungewohnten Strapazen doch sehr an ihren Kraftreserven. Pamela konnte sich aber erst dann eine Verschnaufpause leisten, wenn sie diesen Einsatz zu einem positiven Abschluss gebracht hatte, sonst würde weit mehr auf dem Spiel stehen, als Lombard Pharma. Dieser Coup sollte ihr Meisterstück sein. Der positive Abschluss dieser Übernahme sollte ihre zukünftige Stellung nach Nachfolgerin ihres Onkels sichern. Pamela hatte daher keine Wahl. Wenn sie hier versagte, blieb ihr der Weg an die Spitze des Syndikats versagt und ihr Onkel musste sich nach einem kompetenten Nachfolger umsehen, dem sie dann „gehorchen“ musste. Außerdem hasste es Onkel Ernesto, Dilettanten und Looser um sich zu haben. Die Angst seine Aufmerksamkeit und Gunst zu verlieren, setzte ihr nun weit mehr zu, als sie sich eingestehen wollte. Pamela wollte sich dieses Szenario gar nicht ausmalen, denn dann hätte sie absolut niemanden mehr, dem sie wichtig war.

 

John, Karin und David hatten einen großen Bogen gezogen. Sie waren nun fast wieder bis zu jene Ausgangspunkt zurückgekehrt, wo Pamela ihnen auflauert hatte. Die Sorge, ihr noch einmal in die Hände zu fallen, ließ die Flüchtenden nun doppelt vorsichtig sein. Wie mit Radaraugen durchsuchten die Drei immer wieder ihr nächstes Umfeld, während sie sich so leise wie nur möglich durchs Unterholz bewegten.
Bis zum Eingang des Bergwerks und somit auch zur Straße, die ins Tal hinabführte, waren es nur noch wenige hundert Meter. Dort gab es auch wieder einen Handy-Empfang und John konnte sich endlich der Polizei stellen, die bis jetzt nicht aufgetaucht war.
Karin vermutete, dass Joe in der Nähe des Eingangs zum Bergwerk auf sie warten würde. So schnell wie nur möglich versuchte die kleine Gruppe diese Strecke nun zurückzulegen. Doch dann blieb Karin wie vom Blitz getroffen stehen. Unmittelbar vor ihr hatte sich ein Pfeil in den Waldboden gebohrt. Karin wusste sofort, dass dieser Pfeil von Joe abgeschossen wurde. Sofort wandte sie sich in die Richtung, aus der der Pfeil kam. Lange brauchte sie nicht nach ihm suchen, denn keine 50 Meter entfernt stand Joe unter einer riesigen Eiche und winkte ihr zu.
Auch den beiden Männern war das Surren des Pfeils nicht entgangen und sie folgten Karin.
Es wunderte Karin, dass Joe ihnen nicht entgegen kam, damit sie den Weg gemeinsam fortsetzen konnten. Stattdessen war er hinter dem nach kahlen Geäst des Laubbaumes verschwunden.
Den Grund für sein merkwürdiges Verhalten war Karin spätestens dann klar geworden, als sie Joe vor Johns Zwillingsbruder knien sah. Der Indianer hatte das Tuch, in den der Proviant eingewickelt war, auf Philipps Bauch gepresst und versuchte so den Blutfluss zu stoppen. Die Verletzung musste aber verdammt groß sein, denn Philipps kariertes Flanellhemd war schon ziemlich stark mit Blut durchtränkt. Ein dünnes Rinnsal hellroten Blutes floss aus dem Mundwinkel über das Kinn des Verletzten seinen Hals hinunter. Philipps graue Gesichtsfarbe und die glasigen Augen waren untrügliche Zeichen, dass der Mann bereits im Sterben lag. Wie oft hatte Karin diesen eigenartigen berührenden Blick bei Tieren gesehen, bevor sie verendeten.
Energisch wurde Karin von John zur Seite geschoben und starrte entsetzt auf seinen Bruder nieder.
„Oh nein“, flüsterte er benommen und kniete neben Joe nieder.
„Philipp, was ist passiert?“, fragte John mit ängstlich bebender Stimme, während er Philipps Wunde vorsichtig untersuchen wollte.
Doch Philipp schob Johns Hände sanft von sich.
„Hör auf damit“, keuchte er. Dann zog er John zu sich herab, damit er direkt in die Augen seines Bruders blicken konnte.
„Ich muss dir noch etwas sagen, bevor ich sterbe.“
Philipps heisere Stimme wurde zu einem Röcheln, das in einem blutigen Hustenanfall überging.
Verzweifelt schrie John seine Begleiter an, während er Philipp hochzuziehen versuchte: „Steht nicht da wie die Götzen und helft mir ihn hochzuheben. Mein Bruder muss dringend in ein Krankenhaus.“
„John lass mich. Es ist zu spät. Mir kann niemand mehr helfen“, flüsterte Philipp völlig ruhig.
Erschüttert ließ John den erschlaffenden Körper seines Bruders sachte in seine Arme sinken und wischte ihm mit dem Ärmel seines Parkas das Blut aus Philipps Gesicht.
„Aber Philipp, du kannst doch nicht ganz einfach sterben. Ich brauch dich in der Firma. Du bist doch mein Bruder.“ Johns verzweifelte Stimme wurde immer leiser und wurde schließlich durch seine aufsteigenden Tränen erstickt.
Philipp lächelte John wehmütig an.
„Schade, dass wir nie ein so inniges Verhältnis hatten, wie es zwischen Zwillingsbrüdern normaler Weise üblich ist. Ich bedaure so vieles, so unendlich vieles. Doch vor allem bereue ich, dass ich dich Pamela ausgeliefert habe.“
„Ach Philipp, lass das jetzt. Darüber können wir später sprechen. Wichtig ist jetzt, dass wir dich in Sicherheit bringen und du rasch verarztet wirst“, unterbrach ihn John, der sich mit dem Unausweichlichen nicht abfinden wollte. Doch Philipp nahm noch einmal all seine Kräfte zusammen und packte John heftig am Arm.
„Versteh doch. Es gibt kein später!“, schrie er seinen Bruder mit stockender Stimme an. „Ich bin schuld an allem was passiert ist. Es wird höchste Zeit, dass du weißt, was hier wirklich gespielt wird.“
Das Röcheln in seinem Atem erschwerte Philipp an Sprechen. Doch dieses versuchte er so gut es ging zu unterdrücken, damit John jedes Wort seiner Beichte verstehen konnte.
„Du musst wissen, dass Pamela meine Freundin war, bevor sie dich heiratete….“ begann Philipp mit schleppender Stimme zu sprechen. In kurzen Sätzen erzählte er John nun von dem hinterhältigen Intrigenspiel der Canettis und wie Pamela es anstellen wollte, Lombard Pharma an sich zu reißen.
„Ich kann das einfach nicht glauben“, sagte John zutiefst erschüttert.
„Pamela ist die Nichte einer der größten Mafiabosse und Canettis rechte Hand“, stieß Philipp total erschöpft hervor. „Sie hat dich genauso wenig geliebt wie mich. Und wir beide waren so blauäugig und sind dieser Gottesanbeterin auf den Leim gegangen.“
Ein neuerlicher Hustenanfall unterbrach Philipps schonungsloses Schuldbekenntnis. Am Ende seiner Kräfte fiel Philipp noch tiefer in Johns Arm hinein. Philipps gesundes Auge begann zu flimmern und mit seinem letzten Atemzug sagte er: „John, lass dir Lombard Pharma nicht wegnehmen……“
Dann fiel Philipps Kopf leicht zur Seite und sein gebrochener Blick starrte ins Leere.
Einen langen Moment starrte John auf Philipp hinab, der nun völlig friedlich und entspannt in seinem Arm ruhte. Ganz vorsichtig bettete er den Kopf des Toten auf die dichten Moosflechten, die auf den dicken Wurzeln der Eiche ein weiches Kissen bildeten. Mit einem schmerzlichen Schluchzen schloss er die Augen seines Bruders und stand auf.
Langsam wurden die ungewohnten Geräusche und Stimmen immer lauter, die die Stille des Waldes unterbrachen. Ein untrügliches Zeichen, dass Canettis Schergen die richtige Spur verfolgt hatten und sich in unmittelbarer Nähe befanden.
Sanft rüttelte Karin Johns Schulter.
„John, es ist höchste Zeit. Wir müssen aufbrechen“, drängte sie nervös.
„Aber wir können ihn doch nicht so hier liegen lassen.“
Karin lächelte ihn wehmütig an und sagte, während sie ihm zärtlich übers Haar strich:
„Wir holen ihn später, ok?“
Völlig verstört blickte John noch einmal auf den Leichnam seines toten Bruders hinab und flüsterte mit tränenerstickter Stimme „Lebwohl Philipp“.
Joes normaler Weise gewandte Bewegungen hatten immer an die Geschmeidigkeit eines Berglöwen erinnert. Doch heute war er weit davon entfernt, mit einer Wildkatze verglichen zu werden. Der Indianer machte einen ziemlich gebrechlichen und unsicheren Eindruck. Außerdem hatte er Probleme mit den anderen schrittzuhalten.
Karins Verdacht verhärtete sich nun immer mehr, dass Joes Streifschuss mehr als nur eine oberflächliche Verletzung war.
Bestürzt blickte sie in sein schweißnasses Gesicht, das vor Anstrengung rot angelaufen war.
„Du hast nicht nur einen bloßen Kratzer abbekommen, nicht wahr Joe?“, fragte Karin, deren dunkle Vorahnung sich immer mehr zu bestätigen schien.
„Nun ja, ist wohl doch ein bisschen heftiger ausgefallen, als ich angenommen hab“, versuchte er Karins Besorgnis zu zerstreuen.
„Joe, wir müssen dich zu einem Arzt bringen.“ Karin versuchte ihre aufsteigende Angst um ihren Freund zu unterdrücken. Noch nie hatte sie Joe dermaßen erschöpft und mitgenommen gesehen.
„Dafür ist jetzt keine Zeit“, wehrte er entschieden ab. „Wir müssen unbedingt in den Stollen gelangen, sonst sind wir erledigt.“
John hatte mittlerer Weile die Gruppe eingeholt und war ebenso bestürzt über Joes schlechte Verfassung. Doch ohne ein Wort zu sagen, schlang er Joes Arm um seine Schulter und stützte ihn, so dass Joe mehr getragen wurde, als dass er selbst lief.
Die Verfolger waren ihnen nun gefährlich nahe gekommen. Pistolenschüsse erschütterten erneut die Ruhe dieser unberührten Landschaft. David, der die kleine Truppe nun anführte, blieb stehen und entsicherte sein Gewehr. In Deckung eines niedrigen Felsens zielte er auf die sich nähernden Männer, während John, Karin und Joe an ihm vorbei hasteten.
Ein befriedigendes Gefühl erfüllte David, als die Wucht seines ersten Schusses den heran nahenden Mann zurücktaumeln und schließlich zusammenbrechen ließ. Sofort nahm er den Nächsten ins Visier. Auch der zweite Schuss verfehlte sein Ziel nicht und traf einen der Männer im Oberschenkel, sodass dieser rücklinks in den Schnee geworfen wurde. Nun gingen auch die schnell in Deckung.
Mittlerer Weile waren ihre Feinde soweit heran gerückt, dass auch die Pistolen immer mehr an Zielgenauigkeit gewannen. Nun wurde es Zeit, dass sich David auch aus dem Staub machte. Noch einmal vergewisserte er sich, dass seine Freunde genügend Vorsprung hatten, um problemlos bis zum Eingang des Stollens zu gelangen. Noch einmal lud David sein Gewehr durch und feuerte zwei Schüsse zur Abschreckung ab. Dann stand er rasch auf und folgte den anderen zum Bergwerk.
Doch die Ganoven ließen sich durch Davids Schüsse nicht abschrecken und blieben ihm dicht auf den Fersen. Kugeln pfiffen nun hinter David her, während er im Schutz der Bäume versuchte, unverletzt zu seinen Leuten zu gelangen.
Fast wäre ihm das auch gelungen. Doch kurz bevor er den Stolleneingang erreichte, trat er in eine jener heimtückischen Vertiefungen im Boden, die der Schnee völlig zugeweht hatte. David strauchelte, verlor das Gleichgewicht und fiel in die Senke. Noch im Fall hörte er ein lautes Schnalzen, verbunden mit einem heftigen Schmerz in seinem Fußgelenk. Schnell versuchte sich David aufzurappeln und weiterzulaufen, doch sein Fuß wollte ihm nicht gehorchen und er fiel erneut in die Vertiefung zurück. „John, hilf mir!“, schrie David aufgeregt. „Mein Fuß ist verletzt!“
John, der mit Karin und Joe den Eingang des Stollens bereits erreicht hatte, reagierte sofort.
„Gib mir Deckung und schieß, was das Zeug hält“, wies er Karin an und drückte ihr seine Pistole und die von Joe in die Hand.
„Aber das ist viel zu gefährlich!“, rief Karin entsetzt. „Du läufst ja mitten in den Kugelhagel!“
„Ich hab keine andere Wahl“, antwortete John und lief los.
Wie verrückt feuerte Karin drauf los. Mit diesem Trommelfeuer gelang es ihr aber ziemlich gut, die Verfolger hinter ihrer Deckung in Schach zu halten, sodass John gefahrlos zu der Mulde rennen konnte. Mit einem Ruck riss er David am Kragen seines Parkas aus dem Loch heraus und zog den Verletzten wie einen Sack Kartoffel durch den wässrigen Schnee. Als Canettis Schergen diese Rettungsaktion endlich mitbekamen, feuerten sie aus allen Rohren, sodass John die Kugeln gefährlich nahe um die Ohren flogen. Endlich erreichte er mit David im Schlepptau den Eingang des Bergwerks, ohne auch nur eine Kugel abgekommen zu haben.
„Bist du getroffen?“ fragte John David noch völlig außer Atem.
„Nein, aber als ich gestürzt bin, dürfte eine Sehne im Fuß gerissen sein“, antwortete David und rappelte sich auf einem Bein stehend auf.
„Shit, das heißt du kannst nicht laufen?“
„Das befürchte ich“, sagte David bekümmert. „Ihr werdet ohne mich eure Flucht fortsetzen müssen.“
„Auf keinen Fall lassen wir dich hier alleine zurück“, erwiderte John energisch.
Doch John hatte absolut keine Ahnung hatte, wie es nun weitergehen sollte. Vorübergehend waren sie in Sicherheit. Doch wie lange? Dieser Zufluchtsort konnte sich schnell in eine todbringende Falle verwandeln. Ein gut gezielter Wurf mit einer brennenden Dynamitstange würde das Bergwerk in kürzester Zeit in ein mächtiges Grab verwandeln.
Für sein selbstloses Engagement ihn aus der Gefahrenzone gerettet zu haben, lächelte David John dankbar an. Beide wussten aber nur zu gut, dass eine Flucht mit zwei verletzten Männern, die nicht laufen konnten, so gut wie unmöglich war. Ohne noch weiter auf diese Problematik einzugehen, nahm David sein Gewehr und ließ sich hinter den Stützbalken des Eingangs nieder.
„Wenn ich schon nicht laufen kann, dann will ich zumindest versuchen, unsere Freunde da draußen in Schach zu halten“, sagte er und brachte sein Gewehr in Position.
Joe stöhnte schmerzhaft auf, sodass Karin und John wieder auf ihn aufmerksam wurden. Völlig erschöpft lehnte der Indianer an der kalten Felswand. Aus seinem Zopf hatten sich einige der dünnen, grauen Strähnen gelöst und klebten in seinem schweißnassen Gesicht. Karin hatte eine verdammte Angst auch ihren Freund zu verlieren. Ganz vorsichtig öffnete sie seine Wildlederjacke. Joe leistete nun keinen Widerstand mehr und hielt seine müden Augen geschlossen. Auf seinem grünen Sweater hatte sich ein riesiger Blutfleck gebildet. Diesen schob Karin hoch und ihre schlimmste Befürchtung bestätigte sich. Joe hatte einen ca. erbsengroßen Einschuss 10 Zentimeter oberhalb seines Nabels. Aus der Wunde tropfte unentwegt Blut. Sowohl Karin, als auch John wussten, dass es für Joe keine Rettung mehr gab. Das Sterben an einem Bauchschuss dauerte lange und war mit großen Schmerzen verbunden.
Obwohl Karin wusste, dass er nicht äußerlich, sondern innerlich verbluten würde, legte sie ihm einen Druckverband an. Bekümmert kniete John neben dem Indianer nieder und berührte sanft seinen Arm.
„Joe, mein Freund, das sieht nicht gut aus.“
Der alte Mann öffnete wieder seine Augen und lächelte gelassen. Keine Spur von Panik oder Resignation war in seinem Blick zu erkennen. Sein innerer Friede war plötzlich für alle spürbar.
„Ich weiß schon sehr lange, dass ich hier sterben werde“, sagte er wissend.
„Aber Joe, wenn du es gewusst hast, wieso hast du nichts dagegen unternommen?“ fragte ihn John erstaunt.
„Mein Freund, wir sterben doch alle irgendwann einmal“, lächelte Joe müde. „Ich habe ein langes und auch sehr erfülltes Leben hinter mir. Wieso sollte ich mich gegen mein Schicksal auflehnen, das unabwendbar ist? Meine Zeit in dieser Welt ist abgelaufen. Manitu ruft mich nun zu sich.“
Joe wurde plötzlich von einer Schmerzattacke erfasst, die seinen Redefluss kurz zum Schweigen brachte. „Ich bin meinem Gott zutiefst dankbar, dass er mich so sterben lässt, wie ich es mir immer gewünscht habe. Mir wurde seine große Gunst zuteil. Wie meine Väter darf ich aus dieser Welt als tapferer Krieger scheiden und nicht als seniler, inkontinenter Tattergreis, der jede Würde verloren hat und jedem nur zur Last fällt.“
„Aber was ist mit Cathy? Du kannst sie doch nicht alleine lassen?“ schluchzte Karin, deren tränenerstickte Stimme ihr fast den Hals zuschnürte. In Joes friedvollem Gesichtsausdruck zeigte sich nun doch ein Schatten von Wehmut.
„Cathy weiß, dass ich nicht mehr zurückkommen werde“, sagte Joe langsam. „Seitdem wir in der Schwitzhütte waren und ich nicht mehr sehen konnte, was weiter sein wird, wusste ich, dass mein Ende bevor stand. Ich habe es Cathy erzählt, sodass wir noch genug Zeit hatten, uns voneinander zu verabschieden. Ich habe ihr versprochen, dass ich im nächsten Leben auf sie warten werde, denn so eine tolle Frau finde ich bestimmt nicht mehr.“
Eine neuerliche Schmerzwelle wandelte sein wehmütiges Lächeln in ein qualvolles Mienenspiel. Stöhnend krümmte er sich, während er mit beiden Händen seinen wunden Bauch hielt. Der enorme Schmerz trieb ihm erneut Schweißperlen auf die Stirn. Langsam klang die Marter wieder ab. Erschöpft entspannte sich sein gepeinigter Körper und er lehnte sich wieder an den kalten Stein zurück. Das Sprechen bereitete ihm immer mehr Mühe, sodass Karin sagte:
„Joe, schone dich und sprich jetzt nicht. Es strengt dich viel zu sehr an.“
Doch ein Anflug von Unmut war nun in Joes Worten zu spüren.
„Ich habe keine Zeit mich zu schonen. Die Zeit drängt und es gibt noch einiges zu besprechen und zu erledigen.“
Der Indianer versuchte sich nun im traditionellen Sitz mit ineinander verschränkten Beinen hinzusetzen, um wieder mehr an Würde zu gewinnen.
„Es gibt da noch etwas, war mir am Herzen liegt und wofür ich deine Hilfe brauche Karin.“
Joe langte in die Seitentasche seiner Jacke und holte einen abgegriffen, dunkelbraunen Wildlederbeutel hervor. Diesen zog er mit zittrigen Händen auseinander und ein Schließfachschlüssel kam zum Vorschein.
„Dies ist der Schlüssel zu einem Schließfach in der Royal Canadian Bank in Jasper. Ich möchte dich bitten, dass du ihn Cathy gibst. Es ist sozusagen ein kleines Abschiedsgeschenk.“
Joe lächelte verschmilzt, als er ihn Karin in die Hand gleiten ließ.
„Cathy dachte immer, wir wären arm wie die Kirchenmäuse. Sie träumte all die Jahre über von einem kleinen Häuschen mit elektrischem Strom, warmen Leitungswasser, einem Bett mit einer richtigen Federkernmatratze und einem Gasherd. Aber vor allem wünschte sie sich so ein verdammtes Fernsehgerät. Doch jedes Mal, wenn sie mir mit ihren Wünschen in den Ohren lag, sagte ich ihr, dass wir uns diesen Luxus nicht leisten könnten. Doch in diesem Schließfach liegen Aktien, Wertpapiere und Sparbücher, die so viel wert sind, dass man sich damit drei Häuschen kaufen könnte und es wäre immer noch genug Geld da, um angenehm zu leben. Wenn sie das erfährt, wird sie mich in die Hölle wünschen, wo ich dann aber bestimmt schon schmoren werde.“
Bei dem Gedanken an seine Frau lächelte Joe spitzbübisch vor sich hin, während sein verträumter Blick den sterbenden Mann einen Moment lang wieder jung und glücklich erscheinen ließ.
„Aber Joe, wieso hast du ihr davon nicht erzählt? Sie hätte ein Recht darauf gehabt es zu wissen, dass du ein Vermögen besitzt?“ fragte Karin verständnislos.
„Wenn sie gewusst hätte, wie viel Geld ich mit den Fellen und den Aapoaks gemacht habe, wäre sie mir so lange in den Ohren gelegen, bis ich ihr dieses verdammte Haus, eingebettet zwischen hundert anderen verdammten Häusern gekauft hätte. Für ein weiches Bett und neugierige Nachbarn hätte ich wieder meine Freiheit aufgeben müssen.“
Joe suchte Verständnis bei Karin zu finden und sagte in verbindlicherem Ton.
„Gerade du müsstest mich doch verstehen. Ich hätte Cathy verloren, wenn sie von dem Geld gewusst hätte.“
Karin konnte seine Beweggründe nur zu gut nachvollziehen. Joe hätte sich niemals in die Lebensgemeinschaft eines Dorfes oder gar einer Stadt mit seinen Vorschriften, Verfügungen und Verordnungen eingliedern können. Ein Teil von ihm war und blieb wild und unbezähmbar, wie ein einsamer Wolf in den Bergen und Wäldern der Rocky Mountains.
Beunruhigt unterbrach David Joes Geständnis: „Sorry, dass ich euch stören muss, doch ich glaube, da kommt nun Bewegung in die Sache. Unsere Freunde sind gerade dabei, einen der Förderwaggons klar zu machen und ihn auf uns zuzuschieben.“
John lief zum nahe gelegenen Ausgang um sich selbst von den Aktivitäten zu überzeugen.
„Shit, die verwenden den Waggon als Deckung, um in den Stollen zu gelangen“, rief er Karin und Joe bestürzt zu. Dann holte er Joes Gewehr und lud es durch.
„Jetzt sitzen wir echt in der Falle“, fuhr John nervös fort und wollte schon wieder zu David hin laufen..
„John, keine Sorge, diese Bande bekommt uns nicht. Zumindest nicht hier drinnen“, beruhigte ihn Joe.
„Was meinst du damit?“, fragte Karin verwirrt. Auch John war stehen geblieben und blickte fragend auf den alten Mann hinab.
„Glaubt ihr denn wirklich, dass ich euch hierher geführt habe, ohne zu wissen, wie wir hier wieder raus kommen?“, presste Joe nun wieder mühsam heraus, während er sich mit Karins Hilfe langsam aufzurappeln versuchte.
„Du meinst, es gibt noch einen anderen Ausgang?“, fragte John, während ein Hoffnungsschimmer in seinen Augen aufleuchtete.
Es ist zwar kein richtiger Ausgang, sondern eher ein Spalt im Felsen. Aber man kommt hier auf jeden Fall wieder raus“, keuchte Joe. „Als ich hier nach Aapoaks zu suchen begann, ist mir der stete Luftzug aufgefallen und bin diesem nachgegangen. Und keine 50 Meter von hier entfernt fand ich in einem Seitenstollen die schmale Ritze, die ins Freie führt. Puma, Luchse oder vielleicht auch Bären dürften den Eingang gegraben haben, um ihren Winterschlaf im trockenen Stollen zu verbringen.“
„Das ist ja eine wunderbare Neuigkeit. Dann sollten wir so rasch wie möglich aufbrechen“, erwiderte John erleichtert. Die Hoffnung diesem drückenden Gefängnis zu entkommen, beflügelte die drei aufs Neue, sodass eine rege Aufbruchsstimmung herrschte.
Schnell lief John zu David und half ihm beim Aufstehen. Bevor die sie jedoch den beiden anderen folgten, schoss David noch schnell ein paar Kugeln ab, damit Canettis Schergen in ihren Aktivitäten ein wenig gebremst wurden. Diese Unterbrechung schuf der kleinen Gruppe den nötigen Vorsprung, um ungehindert zu der offenen Felsspalte zu gelangen. Durch die schmale Öffnung fiel nun ein wenig Tageslicht, so dass John seine Taschenlampe ausschalten konnte.
Zuerst zwängte sich John durch die Öffnung. Dann folgte Joe, dem John ein Seil um den Oberkörper gebunden hatte, um ihn vorsichtig durch den Spalt zu hieven. Dieser Vorgang wiederholte sich auch bei David, den auch John aus dem Inneren des Berges zog. Karin war die Letzte, die durch den Spalt kletterte. Gerade noch rechtzeitig, denn in der Zwischenzeit waren Pamelas Männer ins Bergwerk eingedrungen und suchten lautstark nach ihnen. Auch Schüsse waren nun zu hören, die sicherlich dazu gedacht waren, um John uns seine Freunde aus ihrem Versteck zu locken.
Noch während Karin aus der kleinen Öffnung gekrochen kam, kramte Joe in seinem Rucksack und zog dann eine Stange Dynamit daraus hervor. Erstaunt betrachteten die drei den roten, ca. 30 cm langen Stab, an dessen Ende eine weiße Zündschnur steckte.
„Ich glaube, es ist an der Zeit, diesem Spielchen ein Ende zu bereiten“, stieß Joe mühsam, aber zufrieden hervor.
„Würdest du die Stange für mich werfen John? Mir fehlt ein wenig die Kraft dazu.“
„Was würden wir nur ohne dich tun, Joe“, sagte John zutiefst dankbar und nahm das Dynamit.
Bevor John die Lunte anzündete, brachte er zusammen mit Karin die beiden Verletzten aus dem Gefahrenbereich. Dann lief John zurück, steckte den Kopf durch die Öffnung und horchte. Als ihre Feinde nahe genug waren, setzte er die Lunte des Sprengstoffs in Brand und warf die Stange so weit wie möglich in den Stollen hinein. Dann lief er rasch zu den anderen zurück und gemeinsam warteten sie auf die Detonation. Nach knappen 10 Sekunden hörtee man ein dumpfes Donnern und die Erde bebte unter ihren Füßen. Durch den Spalt drang plötzlich eine riesige Staubwolke, die sich nur langsam legte.
„Gott sei Dank, dieser Spuk ist nun endlich vorbei“, atmete John erleichtert durch. Wie eine schwere Last begann die Spannung nun von allen zu weichen. John hatte erwartet, dass er sich froh und befreit fühlen würde, wenn dieser schreckliche Albtraum endlich vorbei war. Doch irgendwie wollte sich seine keine Freude einstellen. Vielleicht lag es daran, weil er nun wusste, dass seine Frau begraben im Inneren des verschütteten Bergwerks lag und ein Teil von ihm mit ihr gestorben war.

Mit Joe ging es zu Ende. Er atmete schwer und die grausamen Schmerzen ließen ihn nicht mehr los. Karin kniete über ihn und wischte seine nasse Stirn mit ihrem Schal trocken. Ihre Tränen konnte sie nun nicht mehr unterdrücken. Die Erleichterung, endlich sicher zu sein, wurde viel zu rasch durch Trauer über den nahen Tod ihres Freundes überschattet.
Joe konnte kaum noch sprechen. Nur mit Mühe gelang es ihm zu flüstern:
„Bringt mich zum heiligen Platz. Es wird Zeit, meine Väter warten.“
Karin und John kannten diesen besonderen Platz, der in nächster Nähe des Bergwerks lag. Damals, als man hier mit dem Abbau von Ammoliten begonnen hatte, hatten sich die hier ansässigen Wapamakθé-Indianer gegen das Bergwerk aufgelehnt. Das Gebiet, in der sich auch die Grube befand, zählte zu den heiligen Stätten aller Blackfoot-Stämme. Doch sowohl die Betreiber des Bergwerks, als auch die Regierung nahmen die Proteste kaum zur Kenntnis. Innerhalb weniger Jahre wurde die Miene schonungslos ausgebeutet und der Friede und die Erhabenheit dieses heiligen Platzes mit Füßen getreten. Zurück blieb ein geschändetes Land, dessen Narben selbst nach so vielen Jahren die Natur nicht mehr ganz auf gleich bringen hatte können.
Das Herzstück dieses heiligen Hains war eine kreisförmige Lichtung, die ca. 400 Meter im Waldesinneren lag. In der Mitte dieser Kultstätte ragte ein einzelner, fast drei Meter hoher Stein aus schwarzem Granit aus der Erde, der irgendwie an eine Bischofsmütze erinnerte. Bis in einer Höhe von zwei Metern war die Oberfläche des Steines war ganz glatt und glänzte im Sonnenlicht, so, als ob er abgeschliffen und poliert worden wäre. Dem Stein wurden magische Kräfte nachgesagt. Wenn man bei Vollmond über die Oberfläche des Steins strich, dann sollten Wünsche in Erfüllung gehen. Früher einmal wurden rund um den Stein auch kleine Opfergaben der Wapamakθé abgelegt, die den ersehnten Wünschen den nötigen Nachdruck verleihen sollten. Doch mit dem Abzug der Indianer war die Stätte verwaist und nur mehr selten waren Opfergaben bei dem Stein zu finden.
John trug den sterbenden Mann in die Mitte der Lichtung. Sobald man diesen baumlosen Kreis betrat, war diese besondere Aura zu spüren, die Frieden und Vollkommenheit empfinden ließ. Und so, als ob Joe diese besondere Wirkung noch unterstreichen wollte, ließen seine Schmerzen nach und sein getrübter Blick wurde wieder klarer. Vorsichtig ließ John seinen Freund am Fuße des Felsens nieder und lehnte seinen gemarterten Körper an den glatten, kühlen Stein. Obwohl rund um die Lichtung der Schnee noch ziemlich hoch lag, war in diesem Kreis bereits der Schnee völlig weg geschmolzen der Frühling war eingekehrt. Frisches Gras sprießte aus der Erde und wilde Krokusse und Hyazinthen, Primeln und Anemonen steckten ihre kleinen, bunte Blütenkelche der warmen Sonne entgegen und erfüllte die noch kalte Luft mit ihrem wunderbaren Duft. Das Gezwitscher der Vögel glich einem Chor, der Joe willkommen zu heißen schien und ihm das letzte Geleit geben wollten.
Zutiefst bewegt von diesem magischen Ort betrachteten die drei Gefährten den Indianer, der nun fast wieder gesund wirkte.
„Joe, dir geht es wieder besser“, freute sich Karin, die nun voller Optimismus auf ihn hinab blickte. „Wir bringen dich ins Krankenhaus. Sicherlich finden wir einen Wagen, der dich mitnimmt.“
Doch Joe schüttelte nur wehmütig seinen Kopf und lächelte die drei von Frieden erfüllt an.
„Hier wohnt Manitu. Er lässt nicht zu, dass wir schmerzvernebelt vor ihn hintreten. Er will, dass wir klar im Kopf sind und wir uns seiner besonderen Güte bewusst werden. Das ist sein letztes Geschenk, das er uns Sterbenden macht. “
Er schloss seine Augen und begann leise alte indianische Litaneien zu singen und wiegte seinen Oberkörper rhythmisch im Kreis. Joe begann sich nun auf seinen Übergang in die Geisterwelt vorzubereiten und nahm seine Begleiter nicht mehr wahr. Die drei beobachteten ihn noch eine Zeitlang. Doch dann wandten sie sich traurig ab und gingen den Weg zurück.
Plötzlich rief ihnen Joe zu:
„Haltet euch von der Straße fern. Sie ist zu gefährlich. Eure Feinde erwarten euch dort. Nehmt den Weg durch die Wälder.“
„Hattest du diese Vision, Joe?“ fragte John aufgeregt, der absolut von Joes übersinnlichen Kräften überzeugt war.
Der Indianer sah John verwundert an:
„Vision?“, fragte Joe verwundert. „Nein, nur gut Ohren“, lächelte er dann John amüsiert an.
„Als ich auf dem Felsen liegend auf euch gewartet hatte, habe ich diese rothaarige Frau belauscht. Sie sagte, dass ihr Onkel noch mehr Verstärkung schicken wird. Die Typen würden über die Bergstraße kommen und auf euch warten, solltet ihr nicht schon vorher erledigt werden.“
Noch einmal winkte John dem alten Mann tief bewegt zu.
„Danke für alles, mein Freund.“
„Lebt wohl. Wir sehen uns im nächsten Leben wieder“, verabschiedete sich Joe feierlich, bevor er erneut in seinen hypnotischen Singsang verfiel.

 

Betroffen gingen sie wieder bis zu jener Stelle zurück, wo sich das Schlupfloch im Bergwerk befand. John musste David nun stützen. Mit seinem kaputten Fuß hatte er sich ziemlich mühsam zu der Lichtung geschleppt. Die Erschöpfung stand ihm nun ins Gesicht geschrieben. Vorsichtig ließ John den verletzten Mann auf einem niedrigen Felsen nieder.
„Ihr müsst wohl ohne mich weiter. Mit dem kaputten Bein schaffe ich den Weg nicht“, keuchte David.
„Aber wir können dich doch hier nicht zurück lassen“, sagte John unglücklich.
„Das ist aber die einzige Möglichkeit. Getrennt könnten wir es bestimmt schaffen, sicher ins Tal zu kommen.“
David streckte sein verletztes Bein aus und versuchte seinen Fuß zu bewegen, worauf er umgehend eine schmerzverzerrte Grimasse zog.
„Wenn ihr weg seid, werde ich hier noch ca. eine halbe Stunde warten und mich ein wenig erholen. Dann werde ich zur Straße vorhumpeln, wo es auch wieder einen Handy-Empfang gibt. Dann ruf ich einem meiner Leute an, dass er mich abholt.“
„Und was ist, wenn du in die Hände von Canettis Männern gerätst?“, setzte John besorgt nach.
„Die mich kennen, sind mit ziemlicher Sicherheit tot. Und alle anderen werden in mir nichts anderes vermuten, als einen unvorsichtigen Wanderer, der sich seinen Fuß verletzt hat.“
Karin setzte sich zu David auf den Felsen, nahm seine Hand und drückte sie liebevoll.
„Es fällt mir schwer, dich hier alleine zurück zu lassen. Es gibt hier Bären und Pumas. Mit einem kaputten Bein hast du bei einer solchen Begegnung ein ziemliches Problem am Hals.“
„Ich weiß. Doch bis jetzt sind uns diese gefährlichen Biester ja auch erspart geblieben. Und nachdem hier vor nicht einmal einer Stunde die Erde gefährlich gebebt hat, glaube ich kaum, dass sich in nächster Zeit viele dieser Biester hier herumtreiben werden. Und sollte es dennoch der Fall sein, dann hab ich immer noch eine treue Freundin zur Seite.“
Zärtlich tätschelte er dabei sein an den Fels gelehntes Gewehr. Karin war jedoch nicht so wirklich davon überzeugt, dass das Gewehr ausreichend Schutz bot, wenn man nicht laufen konnte. Vor nicht allzu langer Zeit war Karin in einer ähnlichen Situation gewesen. Nur zu gut wusste sie, dass ein Gewehr nicht unbedingt die Sicherheit bot, von der man annahm, dass sie ausreichte. Karin behielt ihre Zweifel aber für sich. Es war immer noch das kleinere Übel, David zurückzulassen als ihn mit durch die Berge zu schleppen.
„Wenn ich dann im Tal bin, werde ich sofort die Polizei informieren und diesen faulen
Säcken Feuer unterm Arsch machen“, versuchte David die beiden optimistischer zu stimmen.
„Ok David, wir lassen dich hier, wenn mir auch nicht wohl bei dem Gedanken ist“, sagte John nicht gerade erfreut.
„Die Gefahr scheint zwar vorbei zu sein, vorerst einmal“, sagte dann Karin. „John und ich werden Joes Rat befolgen und die Lastenstraße umgehen.“
Schweren Herzens verabschiedeten sich John und Karin von David und schlugen den schmalen Pfad durch die Wälder ein.

 

 

- 25 -

 

Die Detonation ließ die Erde unter ihren Beinen beben. Dann entwich eine riesige Staubwolke dem Stolleneingang, welche einer dichten Atemwolke glich, die einem riesig geöffneten Mund entwich. Pamela hörte ihrem Onkel nicht mehr zu, dessen verärgerte Stimme vorwurfsvoll durch das Handy bellte.
Geschockt starrte Pamela die Staubwolke an. Sie hatte keine Ahnung, was da passiert war. Doch instinktiv wusste Pamela, dass diese unerwartete Entwicklung absolut nicht in ihre Pläne passte.
„Onkel Ernesto, ich kann jetzt nicht. Ich melde mich später bei dir.“
Mit einem kurzen Druck auf die Beenden-Taste brachte Pamela den energischen Wortschwall des alten Canettis zum Stillstand. Langsam ging sie zum Mineneingang hin und wartete auf ihre Männer vor dem staubvernebelten Loch im Berg. Doch die Totenstille ließ Pamela langsam zur Gewissheit werden, dass aus dem Stollen niemand mehr herauskommen würde.
Zwei ihrer Begleiter und fünf Männer, die Canetti zur Verstärkung nachgeschickt hatte, waren zusammen mit John in der Grube ums Leben gekommen. Hätte Onkel Ernesto nur eine Minute später angerufen, so wäre das Bergwerk auch ihr zum Verhängnis geworden. Pamela hatte keine Ahnung, ob es Glück oder Vorsehung gewesen war, diesem schrecklichen Tod entgangen zu sein.
Noch immer rätselte sie, ob die Detonation der vielen Kugelgeschosse der Auslöser gewesen war, dass die baufälligen Holzkonstruktionen in den Stollen dem Kugelhagel einfach nicht standgehalten hatten, oder ob Sprengstoff die Schuld an dem Einbruch trug.
Willy trat nun an Pamelas Seite. Der junge Mann war genauso entsetzt wie die Nichte seines Bosses. Seit Willy Pamela mit seiner Ortskenntnis behilflich hatte sein können, war sie ihm gegenüber weniger abweisend und aggressiv gestimmt, als den anderen Männern. Dieser Umstand schmeichelte dem Burschen, sodass er wie ein Schatten an Pamela geklebte.
Gerade als Pamela mit den anderen in den Berg stürmen wollte, läutete ihr Handy. Willy hatte Pamela nicht allein zurücklassen wollen und wartete in einiger Entfernung auf sie.
„Was machen wir nun?“ fragte Willy kleinlaut.
„Keine Ahnung“, erwiderte Pamela verwirrt. „Auf solche Eventualitäten bin ich einfach nicht vorbereitet gewesen.“
Pamela zog nun wieder ihr Handy aus der Jackentasche und drückte die Nummer ihres Onkels. Nach diesem Gespräch ließ sich Pamela erschöpft auf einem abgeschnittenen Baumstamm nieder. Onkel Ernesto war zwar mit diesem unvorhergesehenen Ausgang nicht unzufrieden, er ließ aber auch keinen Zweifel aufkommen, dass ihm der Tod so vieler seiner Männer heftig gegen den Strich ging. Wenn sich dieses beschämende Fiasko wegen einer schwachen und unwissenden Frau herumsprach, dann würden seine Gegner bestimmt seine Souveränität bezweifeln und ihn als
dilettantischen Stümper hinstellen. In diesem Metier durfte man sich ganz einfach keine Schnitzer leisten, sonst war man schneller vom Tisch, als wenn eine Sternschnuppe am Himmel verglüht.
„Mrs. Lombard, sie haben doch wirklich Ihr Bestes gegeben“, versuchte Willy sie zu trösten. „ Da drinnen sind ja nicht nur unsere Männer ums Leben gekommen“,.
Mit einem bitteren Lächeln starrte Pamela ins Leere.
„Das Beste ist manchmal eben nicht gut genug“, seufzte sie niedergeschlagen auf. „Sie haben absolut keine Ahnung wie wichtig es ist, dass dieser Job ohne großes Aufsehen erledigt wird. Hier geht es nicht nur um die Menschen, die ums Leben gekommen sind, sondern um weit mehr. Doch davon haben Sie keine Ahnung.“
Pamela bremste sich in ihren Redefluss. Es war nie gut, wenn Angestellte zu viel von den eigenen Problemen wussten.
„Willy, gehen Sie zur Straße vor und halten Sie nach dem Wagen Ausschau, der uns abholen soll“, herrschte sie den jungen Mann ernüchtert an.
Pamela hatte sich wieder im Griff und der imaginäre Wall zwischen Führungsetage und Befehlsempfänger war wieder aufgebaut.
„Ok“, sagte Willy betroffen und ging zur Ausfahrt, die zur Lastenstraße führte. Es war zwar noch viel zu früh für den Wagen, doch Willy befolgte ihren Befehl. Durch die vielen, hohen Bäume konnte er aber absolut nichts sehen. Deshalb stieg er auf einen der aufgeschütteten Hügel, von welchem er einen wunderbaren Ausblick in das Tal und über die Berge hatte.
Plötzlich blieb sein Blick an etwas hängen, was sich talabwärts bewegte. Zuerst hatte er angenommen, dass es zwei Bergziegen wären. Doch dann strengte er seine Augen an und sah genauer hin. Aufgeregt rutschte er den Berg hinunter und lief zur Pamela.
„Mrs. Lombard, ich hab sie gesehen“, rief er aufgeregt.
„Wen hast du gesehen?“
„Den Mann und die Frau, die Sie suchen. Sie sind talabwärts unterwegs.“
Pamela stand auf und ging einige Schritte auf Willy zu:
„Bist du dir sicher, dass es John und diese Frau waren?“ fragte ihn Pamela ungläubig.
„Ja, ich hab sie ganz deutlich erkannt.“
„Shit, wie viele Leben hat diese Hinterwäldlerin eigentlich!“
Noch während Pamela erbost vor sich hinfluchte, begann sie blitzschnell zu überlegen. Ihr Kampfgeist war plötzlich wieder ganz wach und Depressionen wie auch Müdigkeit waren wie weggewischt. Pamela durfte jetzt keine mehr Zeit verlieren, sonst war John mit seiner Schlampe untergetaucht.
„Kommen Sie schon, Willy“, forderte sie im Laufschritt ihren Helfer auf, mit ihr die Verfolgung aufzunehmen. „Diesmal entkommen sie mir nicht.“

 

- 26 -

 

Mittlerer Weile war es kurz vor 15.00 Uhr. In dieser nicht mehr ganz so hoch gelegenen Gegend war der Schnee schon ziemlich weggeschmolzen. Stellenweise war er sogar schon ganz verschwunden und frisches Gras samt einer bunten Vielfalt an Frühlingsblumen begann aus der weichen und duftenden Erde zu sprießen.
John und Karin folgten einem Trampelpfad der Dickhornschafe, der direkt zum Athabasca River führte. Nachdem die tödliche Spannung von ihnen gewichen war, blieb nun die körperliche und auch geistige Erschöpfung nicht mehr aus. Bis zum Fluss würde es aber noch mindestens eine Stunde dauern. Doch wenn sie diesen einmal überquert hatten, war der Highway nur mehr einen Katzensprung weit entfernt. Mit ein bisschen Glück würde die Beiden ein Auto mit nach Jasper nehmen, oder vielleicht würden sie sogar einer Polizeistreife in die Hände fallen, dann hatten es John und Karin endlich geschafft.
Schon mehr als eine Stunde gingen die Beiden schweigend nebeneinander her. Die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunden und die Trauer um Philipp und Joe lasteten schwer auf ihren Herzen. Innerhalb weniger Stunden war ihre Welt kopfgestanden und nichts war mehr so geblieben wie es einmal war.
Das einzige, was sich nicht verändert hatte, war Johns Liebe für Karin. Niemals zuvor hatte er mehr für diese kleine, tapfere Frau empfunden als jetzt. Der Zwiespalt seiner Gefühle, zwei Frauen zu lieben, hatte John in den letzten Monaten verdammt heftig zugesetzt. Doch jetzt, wo er mit schmerzhafter Brutalität Pamelas wahres Gesicht erkennen hat müssen, fühlte sich John von einer unglaublichen Last befreit.
Pamelas Schatten waren aber noch viel zu präsent, um sich Karin unbefangen zu nähern. Die Enttäuschung ob Pamelas kaltblütigen Intrigenspiels ging John ziemlich nahe. Nach und nach begann ihm das wahre Ausmaß dieser Tragödie bewusst zu werden. John musste sich eingestehen, dass er mit einer wunderschönen Bestie verheiratet ist, die nicht auf ihn, sondern auf seine Firma scharf war. Die immensen Probleme der Firma waren ohnehin ein Thema für sich. Wie er sich aus diesen Schwierigkeiten hinausmanövrieren würde, war ihm jetzt noch ein Rätsel. Doch John wusste, irgendwie würde er es schaffen, Lombard Pharma aus diesem Sumpf herauszuziehen.
Der laute Knall von Pistolenschüssen zerriss plötzlich die Stille und ließ John und Karin erschrocken zusammenzucken. Instinktiv gingen die Beiden in Deckung, während sie aufgeregt nach dem Schützen Ausschau hielten, der in unmittelbarer Nähe die Schüsse abgefeuert hatte. Doch niemand war zu sehen.
„Irgendwie habe ich den dringenden Verdacht, dass wir nicht alle Verfolger abgeschüttelt haben“, flüsterte John nervös und entsicherte sein Gewehr, während Karin ihre Pistole schussbereit in der Hand hielt.
„Dann sollten wir uns vergewissern, wie viele von Canettis-Henkersknechten noch übrig geblieben sind“, sagte Karin leise. In Deckung der Bäume schlichen die Beiden lautlos zurück. Nach knapp 100 Metern eröffnete sich ihnen dann aber ein Szenario, mit dem sie absolut nicht gerechnet hatten.
Pamela und ein junger Mann flüchteten vor einem wütenden Grizzly. Die Bärin war ein Muttertier, deren beide Jungen sich hinter einer Weide versteckt hielten. Allem Anschein hatten Pamela und ihr Begleiter das Tier aufgeschreckt, sodass sich die Bärin mit ihren Jungen bedroht fühlte. Mit lauten Angstschreien lief Pamela so schnell sie konnte durch das Unterholz. Doch dann stolperte Pamela über eine Wurzel und fiel der Länge nach auf den feuchten Waldboden. Keine zwei Sekunden später hatte die Bärin die Frau erreicht und blieb aggressiv brüllend vor Pamela stehen. Das Dümmste, was Pamela nun tun konnte, tat sie. Schnell hatte sie sich auf den Rücken gedreht und sah dem bedrohlich aufgerichteten Tier direkt in die Augen. Ihre panische Angst ließ Pamela erneut hysterisch aufschreien. Die schrille Stimme und die herumschlagenden Arme irritierten die Bärin noch mehr, sodass sie mit ihrer riesigen Tatze gefährlich brüllend zum Schlag ausholte. Instinktiv versuchte Pamela dem mörderischen Hieb auszuweichen. Doch dazu hatte sie keine Chance. Mit einer ungeheuren Wucht fuhren die scharfen Krallen des Grizzlys auf Pamelas entsetztes Gesicht nieder. Ein gellender Schmerzschrei ließ die Luft erzittern. Das Tier wollte gleich ein zweites Mal zuschlagen und mit gefährlich blitzenden Zähnen näherte es sich Pamela. Doch dann vielen wieder Schüsse.
Der Begleiter Pamelas ging langsam auf die Bärin zu und schoss dabei das Magazin seiner Pistole leer. Doch statt den Grizzly mit den Schüssen zur Strecke zu bringen, trat genau der gegenteilige Effekt ein. Die schmerzhaften Einschüsse drangen nicht tief genug in das Tier ein, sodass die Bärin nur noch angriffslustiger wurde. Schnell hatte der Grizzly das Interesse an Pamela verloren und konzentrierte sich nun auf ihr nächstes Opfer. Ungeachtet der Treffer lief die Bärin auf den Schützen zu. Nachdem der junge Mann sah, dass die Schüsse nur wenig Wirkung zeigten, kehrte er um und wollte vor dieser gefährlichen Bestie flüchten. Die Bärin war aber unerwartet schnell, zu schnell für den Mann. Mit einem weiteren Hieb seiner gefährlichen Pranken streckte sie den Flüchtenden zu Boden und erneut erfüllten fürchterliche Schmerzschreie den Wald.
John legte rasch sein Gewehr an und visierte die aggressive Bärin an. Doch in dem Moment, wo er abdrückte, schlug ihm Karin das Gewehr zur Seite und der Schuss ging ins Leere. Bestürzt sah John auf Karin hinab.
„Bist du verrückt geworden?“, fuhr er Karin verständnislos an. „ Siehst du nicht, dass der Bär den Mann tötet?“
„Die Bärin total außer Kontrolle, dass du uns alle in Gefahr bringst“, sagte Karin nüchtern. „Du würdest ihre Aufmerksamkeit nur auf uns lenken. Dem Mann dort ist ohnehin nicht mehr zu helfen. Außerdem ist er selbst schuld an seinem Unglück. Wenn man schon den Helden spielen will, sollte man vorher das Hirn einschalten.“
In der Zwischenzeit waren seine Schreie verstummt und der Mann leistete auch keinen Widerstand mehr. Das blutrünstige Tier hatte aber immer noch nicht von seinem Opfer abgelassen. Entsetzt wandten sich John und Karin von diesem schrecklichen Schauspiel ab und hielten nach Pamela Ausschau. Pamela hatte die Beiden aber schon entdeckt und lief den beiden völlig aufgelöst entgegen. Durch Pamelas hysterisches Geschrei wurde die Bärin wieder auf die Flüchtende aufmerksam und ließ schnell von dem leblosen Körper des Mannes ab.
Pamela begann nun noch lauter zu schreien, als die wütende Bärin erneut auf sie zusteuerte.
„Halt sofort die Klappe!“ schrie ihr Karin verärgert entgegen, worauf Pamela umgehend verstummte.
John lud seine Flinte wieder durch und wollte schießen. Doch Karin drückte abermals den Lauf des Gewehres zur Seite und redete eindringlich auf ihn ein.
„Du kannst nicht schießen. Es ist zu gefährlich. Dir fehlt die passende Munition, um das Tier mit einem Schuss zur Strecke zu bringen“, flüsterte sie hastig. „Werft euch schnell auf den Boden, zieht die Beine an und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Aber blickt der Bärin auf keinen Fall in die Augen. Stellt euch einfach tot und reagiert nicht auf sie.“
Geistesgegenwärtig genug befolgte Pamela die Anweisung und ließ sich wie John und Karin auf den Boden fallen. Zusammengerollt wie ein Embryo und wie zu Salzsäulen erstarrt warteten die drei mit angehaltenem Atem und einer Heidenangst im Bauch auf den schnell näher kommenden Grizzly. Die sich nun in nächster Nähe befindende Bärin schien von den leblos am Boden liegenden Menschen ziemlich irritiert zu sein.
Nur zu gut konnten die Drei ihr lautes Schnaufen hören, das die Bärin ziemlich misstrauisch von sich gab. Neugierig beschnüffelte das gefährliche Tier die reglosen Körper. Mir ihrer Tatze stupste sie Karin an und versuchte damit eine Reaktion zu erwirken. Karin blieb aber wie tot liegen. Es dauerte aber nicht lange und die Bärin verlor das Interesse. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief das Muttertier wieder zu ihren Jungen zurück, die schon nach ihr riefen.
Karin wartete noch einige Zeit, bis sie sicher sein konnte, dass die Bärin mit ihren Jungen abgezogen war und stand langsam auf.
„Sie sind weg. Ihr könnt jetzt aufstehen“, sagte Karin erleichtert.
Vor Schmerzen wimmernd erhob sich Pamela vom Boden, während John und Karin entsetzt in ihr Gesicht blickten. Von ihrer Schönheit war nicht mehr viel übrig geblieben. Pamelas linke Gesichtshälfte war durch die scharfen Krallen der Bärin total aufgerissen und völlig entstellt. Die Risse waren tief ins Fleisch gedrungen und hatten eine lange Spur über Stirn, Auge, Wange und dem linken Mundwinkel gezogen. Noch konnte man das wahre Ausmaß der Verletzung nicht erkennen, da das Gesicht blutüberströmt und ziemlich geschwollen war. Jedenfalls war die Wunde an Pamelas Wange war dermaßen tief, dass John durch die durchtrennte Wangenwand eine von Pamelas leuchtenden Goldfüllungen sehen konnte.
Fast geriet John in Versuchung, Pamela in seine Arme schließen und sie zu trösten zu wollen, so wie er es immer getan hatte, wenn sie Probleme hatte. Dieser Anflug wehrte aber nur einen kurzen Moment. Wer diese Frau hier wirklich war, wusste er nicht.
Pamela hatte sich auf einem niedrigen Stein nieder gelassen. In ihrer Verzweiflung wusste sie nicht, was sie tun sollte. Überall war Blut, das nicht aufhören wollte, aus ihrem Gesicht zu tropfen.
Es widerstrebte Karin einer Frau erste Hilfe zu leisten, die durch und durch schlecht war. Doch dann siegte in ihr doch das Gefühl der Nächstenliebe. Selbst Mörder sind Menschen und haben ein Recht, als solcher behandelt zu werden. Karin schluckte ihren Widerwillen runter und holte aus Johns Rucksack den Erste-Hilfe-Kasten.
„Was wollen Sie“, fuhr Pamela Karin an, die mit einem Wattepatt und einem Desinfektionsmittel auf die verletzte Frau zukam.
„Ihre Wunden müssen versorgt werden.“
„Nie und nimmer lass ich Sie an mein Gesicht ran.“
„Wie Sie wollen“, erwiderte Karin mit einem gleichgültigen Schulterzucken. „Es sind Ihre und nicht meine Wunden.“
„Sei nicht so schrecklich borniert, Pamela“, fuhr John seine Frau genervt an. „Du solltest froh sein, dass sich überhaupt noch jemand um dich kümmert. Ich würde es bestimmt nicht tun.“
Unangenehm berührt blickte Pamela zu John hoch. Noch nie hatte er so missbilligend mit ihr gesprochen. In seinen sonst so gütigen Augen war jedes warme für sie erloschen und nur mehr Kälte und Abweisung war in seinem Blick zu lesen. So fühlte es sich also Verrat an Menschen an, die einem einst blind vertraut hatten.
„Wenn die tiefen Risse nicht desinfiziert und genäht werden, kann es zu einer Blutvergiftung kommen“, informierte sie Karin nüchtern. „Außerdem werden dicke Narbenwulste zurückbleiben.“
Als Pamela das hörte, wurde ihr mit Entsetzen bewusst, dass ihr schönes Gesicht durch den Bärenangriff irreparable Schäden davongetragen könnte. Verzweifelt versuchte Pamela durch sachtes Abtasten das Ausmaß der Verletzung zu ermessen. Ihre Stirn und Wange fühlte sich wie eine nasse Kraterlandschaft an, die ungeheuer schmerzte, was kein gutes Zeichen war.
„Wie schlimm ist es?“, fragte sie Karin.
Doch Karin sagte nichts und blickte nur verlegen auf die Taps und das Desinfektionsmittel in ihrer Hand. Ihr betretenes Schweigen sprach Bände. Der Krallen des Bärs mussten in ihrem Gesicht wohl ganze Arbeit geleistet haben. Am Boden zerstört schluchzte Pamela mit tränenerstickter Stimme: „Bitte nähen Sie die Wunden.“
Wider Erwarten machte Pamela keinen Mucks und hielt auch ganz still, als Karin die auseinander klaffenden Risse mit unzähligen Stichen nähte.
Nachdem Karin die genähten Wunden mit einem sterilen Druckverband versorgt hatte, ging Karin zu John und sagte ihm: „Wir müssen Pamela unbedingt in ein Krankenhaus bringen. Sie hat einen schweren Schock und muss dringend ärztlich versorgt werden.“
„Ich hab schon versucht die Polizei zu erreichen. Doch hier gibt es immer noch keinen Empfang“, sagte John verdrossen. „Ich muss dringend eine Stelle finden, wo wir den Fluss überqueren können, sonst bleibt uns nichts anderes übrig, als die Nacht im Freien verbringen.“
„Ok, dann machen wir uns auf den Weg“, sagte Karin und half Pamela hoch, deren traumatischer Zustand sich langsam zu legen begann und ihr verwirrter Blick allmählich klarer wurde. Bevor sie aufbrachen, kontrollierte Karin aber noch einmal Pamelas Verband, damit dieser auch fest saß.
Trotz Karins aufopfernder Fürsorge verspürte Pamela eine abgrundtiefe Aversion gegen diese Frau, die ihrem Mann so viel bedeutete. Pamela hatte schon auf dem Foto erkannt, dass Karin keine hässliche Eigenbrötlerin war, wie man es üblicher Weise von einer Einsiedlerin erwartete. Jetzt, wo sie Karin zum ersten Mal in aller Ruhe betrachten konnte, wurde Pamela bewusst, dass diese Frau etwas Besonderes an sich hatte. Diese besondere Ausstrahlung machte sie vielleicht nicht auf den ersten Blick, aber ganz bestimmt auf den zweiten verdammt attraktiv.
Pamela war sich zwar völlig im Klaren gewesen, dass sie ihren Mann zum Wohle der Sache opfern musste. Doch es ging ihr absolut gegen den Strich, dass er sich zu dieser Frau hingezogen fühlte.
Obwohl Pamelas Gesicht wie die Hölle brannte und die Schmerzen ihr fast den Verstand raubten, tauchte vor ihrem inneren Auge immer wieder Szenarien auf, wie John mit diesem Miststück Sex hatte. Womöglich hatte er bei dieser Schlampe noch mehr Lust empfunden als bei ihr.
Während sich Karin und Pamela zum Aufbruch fertig machten, ging John zu Pamelas Begleiter, dessen Körper in der feuchten und aufgewühlten Erde lag. Bevor sie ihren Weg fortsetzten, wollte sich John vergewissern, ob der Mann auch wirklich tot war. Aber schon ein einziger Blick auf die blutige Fleischmasse des völlig entstellten Körpers genügte, um zu wissen, dass die Bärin an dem armen Burschen ganze Arbeit geleistet hatte.
Erschüttert wandte sich John ab. Der Mann war noch so jung gewesen und hätte sein Leben noch vor sich gehabt. Doch dieser Idiot musste ja den Helden spielen und war für dieses niederträchtige Weibsstück sogar in den Tod gegangen. Dabei war er für sie nichts anderes als eine Nummer gewesen, so wie es auch Philipp und er selbst war. Erneut stieg unbändiger Zorn in ihm hoch. So viele Menschen mussten ob der reinen Geld- und Machtgier dieser skrupellosen Canettis ihr Leben lassen. Am liebsten wäre John zu Pamela hin gegangen, sie durchgerüttelt und angeschrien, ob der schnöde Mammon so viel Unglück wirklich wert war. Doch dann blickte er in ihr verunstaltetes Gesicht, das selbst der beste plastische Chirurg niemals mehr hinbekommen würde. Kein einziger Mann würde sich mehr nach ihr umdrehen, ihr Komplimente machen oder sehnsuchtsvolle Blicke zuwerfen. Pamela hätte kein härterer Schicksalsschlag treffen können.
Die kleine Truppe war abmarschbereit. Doch bevor sie sich in Bewegung setzten, ging John auf seine Frau zu und begann sie zu durchsuchen. Widerwillig ließ Pamela die Prozedur über sich ergehen.
„Was soll das?“, schnauzte sie ihn an. „Glaubst du vielleicht, dass ich irgendwo noch eine Nagelfeile versteckt haben könnte, die ich dir ins Herz rammen könnte?“
Ihre bissige Bemerkung ließ ihn innehalten und für einen kurzen Moment blickte er sie mit kalten Augen an.
„Dir glaube ich absolut nichts mehr, denn du missbrauchst ohnehin jedes dir geschenkte Vertrauen.“
Nachdem sich John vergewissert hatte, dass keine Pistole oder Messer in einer ihrer Taschen steckte und ihr Handy sicherheitshalber in seine Tasche gewandert war, brachen sie auf. Doch sie kamen nur schleppend voran. Pamelas schwere Verletzungen ließen sie immer wieder stehen bleiben, damit die Schmerzwellen abklingen konnten. Ihr Kopf schien vor Schmerz bersten zu wollen. Da halfen selbst Karins schwere Schmerzmittel nichts.
Nach mehr als einer Stunde Gehweg erreichten sie endlich die das Ufer des Athabasca Rivers. Durch die Schneeschmelze ist dieser zu einem reißenden Fluss angeschwollen, der in einer 30 Meter tiefen Schlucht mit lautem Getöse abwärts donnerte. John ging mit den beiden Frauen die Schlucht entlang und hoffte einen Übergang zu finden. Doch nirgendwo war eine Brücke zu entdecken oder sonst eine Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen.
Die beiden Frauen schleppten sich erschöpft hinter John her, wobei Karin Pamela nun stützen musste, die kaum noch gehen konnte. Doch auch Karin konnte nicht mehr weiter. Der lange Marsch, ihre verletzte Schulter und nicht zuletzt ihre Schwangerschaft hatte sie ans Ende ihrer Kräfte geführt.
„John, wir müssen uns ein wenig ausruhen. Wir können nicht mehr weiter“, rief ihm Karin erschöpft zu.
John wandte sich nun den beiden Frauen zu. Sofort begann sein schlechtes Gewissen an ihm zu nagen, als er in Karins abgezehrtes und blasses Gesicht sah. Ihre Augen lagen tief in den dunklen Höhlen und ihre Lippen glänzten bläulich. Schnell ging er zu Karin und nahm ihr Pamela ab, die ebenfalls völlig erschöpft war. John hob Pamela hoch und suchte einen Platz, wo sich die beiden Frauen niederlassen und sich ein ausruhen konnten. Unter einer jungen Eiche, die knappe 10 Meter von der Schlucht entfernt wuchs, schien ihm ein passender Platz zu sein. Müde ließ sich die schwer verletzte Frau unter dem Baum nieder und atmete erleichtert durch, endlich ein wenig verschnaufen zu können. Obgleich die Schmerzen noch immer ziemlich heftig waren, war durch das schmerzstillende Medikament eine gewisse Linderung eingetreten, so dass sie zumindest wieder halbwegs klar denken konnte.
„Ich werde mich alleine aufmachen und einen Übergang suchen“, sagte John und lehnte seinen Rucksack an den Baum.
„Ok, ich warte hier auf dich“, lächelte ihn Karin müde an.
„Bevor ich aufbreche, schaue ich mir aber noch einmal deine verletzte Schulter an“, sagte John und half Karin ihre Jacke auszuziehen.
Pamelas Argwohn wurde erneut geschürt, mit welch liebevoller Fürsorge John die blutende Wunde reinigte und erneut verband. Zärtlich strich er dieser Schlampe übers Haar und küsste dann sanft ihre Stirn. Auch sie lächelte ihn verliebt an und drückte voller Vertrauen ihren Kopf gegen sein Kinn. John hatte nicht die geringsten Skrupel, sich vor seiner Frau zurück zu halten. Im Gegenteil, er ignorierte sie völlig und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, hörte sie ihn zärtlich sagen:
„Ich liebe dich mein Herz“, sagte er mit weicher Stimme, während seine Augen verliebt auf sie hinabblickten. „Dieses schreckliche Erlebnis hier in den Bergen hatte zumindest etwas Positives.“
„Positives?“ setzte Karin verwirrt nach.
„Ja, ich habe endlich ganz klar und deutlich erkannt, dass du absolut das Beste bist, was mir jemals passiert ist.“
Voller Zuneigung streichelte Karin seine bärtige Wange. In diesem Moment existierte Pamela nicht und keine Scheu hinderte sie an ihrem Bekenntnis.
„John, ich liebe dich auch, mehr als mein Leben.“
Voller Liebe lächelte er sie an. Dann nahm er ihr erschöpftes Gesicht in seine Hände und küsste unendlich zärtlich ihre kalten Lippen.
„Wenn dieser Albtraum hier vorbei ist, verspreche ich dir, dass uns niemand und nichts mehr trennen wird.“
Noch einmal drückte John Karin an sich und ging dann lächelnd die Schlucht entlang.
Diese Demütigung ließ in Pamela erneut puren Hass aufsteigen. Sie wollte die beiden verletzen, genauso wie sie gerade verletzt worden war. Pamela wusste, es würde ihr gelingen, die Beiden ins Verderben zu stürzen. Sie wusste nur noch nicht wie.

 

 

- 27 -

 

Trotz der pochenden Schmerzen überlegte Pamela fieberhaft, wie sie es anstellen konnte, ihrem Mann und diesem Drecksstück einen Denkzettel zu verpassen. Doch was jetzt noch wesentlich wichtiger war, wie konnte sie sich den Klauen der Polizei entziehen? Die Zeit drängte und wenn Pamela nicht bald etwas einfiel, würde sie für den Rest ihres Lebens ins Kittchen wandern. Aber auch ihr Onkel würde ziemliche Probleme bekommen, wenn sie nicht bald einen Geistesblitz hatte. Solange John ohne Handy-Empfang war, hatte sie noch eine Chance. Wenn die Polizei einmal hier war, dann war die Falle zugeschnappt und es gab kein Entrinnen mehr.
John war nun schon länger als eine Stunde weg. Sicherlich würde er bald zurückkommen. Vielleicht sogar schon in Begleitung. Sie hatte keine Waffe, mit der sie seine Hure erledigen hätte können. Pamela wusste nur zu gut, dass sie dieser Frau kräftemäßig weit unterlegen war. Es war echt zum Verzweifeln. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben, um sie aus dem Weg zu räumen.
Plötzlich hielt Pamela inne und ließ sich noch einmal ihren letzten Gedanken durch den Kopf gehen.
„Aus dem Weg räumen...“ sinnierte sie leise vor sich hin. Plötzlich nahm der Gedanke Gestalt an und die göttliche Erleuchtung war endlich da.
Ihr Blick fiel auf den Rucksack, den John neben Pamela an den Baum gelehnt hatte. An diesem war ein aufgerolltes Seil befestigt. Rasch löste sie die Klammer und versteckte es unter ihren Beinen. Karin saß auf halber Strecke zwischen der Eiche, an der Pamela lehnte, und der Schlucht, aus der man den tosenden Fluss hörte. Glücklicher Weise hatte ihr Karin den Rücken zugekehrt. Diese Schlampe wollte ihr damit wohl demonstrieren, dass sie keinen Kontakt wünschte. Dieser Umstand kam Pamela nun nur zu gelegen. Schnell hob sie das Seil hoch und begann die ungefähre Meterzahl des dicken Kordelbandes abzuzählen. Dabei ließ sie Karin nicht aus den Augen, die ab und zu doch in ihre Richtung blickte, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Pamela schaffte es jedoch jedes Mals rechtzeitig ihren Erschöpfungszustand vorzutäuschen. Das wieder unter ihre Beine geschobene Seil war für Karin nicht sichtbar, sodass dieses Luder auch keinen Verdacht schöpfen konnte. Diese kleine Kröte war ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt, sehnsuchtsvoll nach ihrem abscheulichen Mann Ausschau zu halten.
Sofern Pamela das eigene Augenmaß nicht trog, waren es knappe 20 Meter bis zur Schlucht. Das dünne Seil hatte eine Länge von ca. 30 Metern. Wenn sie also das eine Seilende um den Baumstamm verknotete und das andere Ende um ihre Körpermitte befestigte, dann blieben weit mehr als 20 Meter an Seillänge übrig. So gesehen wäre genug Spielraum, um in einem unbeobachteten Moment mit voller Wucht auf dieses unvorsichtige Weib zuzulaufen und sie aufgrund der hohen Schubkraft mit sich in den Abgrund zu reißen. Pamela würde jedoch nicht tief fallen, weil das an den Baum festgebundene Seil sie auffangen würde. Doch für Karin würde es ziemlich sicher den Tod bedeuten, wenn sie keinen Halt fand und auf die spitzen Felsen aufschlug in der Schlucht aufschlug. Die tosende Gischt würde dann das Übrige tun und dieses Miststück mit sich reißen.
Der Plan war gut. Zumindest hatte Pamela keinen besseren auf Lager, der erfolgversprechender gewesen wäre. Außerdem drängte die Zeit. Das einzige Problem war aber jenes, dass Karin nur im Stehen mitgerissen werden konnte. Karin machte aber keine Anstalten aufzustehen. Wie eine Pagode saß sie da und wartete auf John. Die Zeit verstrich, doch Karins Haltung blieb unverändert. Pamelas Nerven waren zum Zerreißen gespannt. John war nun schon knappe zwei Stunden weg und die Dämmerung würde bald herein brechen. Zweifel bemächtigten sich Pamela, ob der Plan auch wirklich durchführbar war. Doch was hatte sie schon zu verlieren? Pamela konnte nur noch gewinnen.
Die Wirkung des Schmerzmittels ließ auch langsam nach und einhergehend nahm der hart pochende Schmerz ihrer Wunden ließ fast ihren Kopf bersten.
Als Pamela fast schon die Hoffnung aufgegeben hatte, sprang Karin plötzlich auf und begann aufgeregt zu winken. Pamela folgte Karins Blick und sah nun auch John, der ebenfalls winkend auf Karin zukam.
Pamela musste nun schnell reagieren, sonst wäre ihre einzige Chance dahin gewesen. Rasch überprüfte sie noch einmal die Festigkeit des Knotens. Dann stand sie auf und rannte so schnell sie nur konnte auf Karin zu. Johns fragender Blick war auf Pamela geheftet, als sie sich so rasch auf Karin zubewegte. Irgendwie konnte er sich keinen Reim darauf bilden, was sie vorhatte. Doch als er das um ihre Taille gebundene Seil wahrnahm, das am anderen Ende mit dem Baum verknüpft war, wurde ihm mit entsetzlicher Klarheit bewusst, was Pamela im Schilde führte.
John stürmte die Anhöhe hoch und schrie in panischer Angst: „Karin lauf weg! Pamela will dich in die Schlucht stürzen!“
Doch John war noch zu weit entfernt, als dass Karin ihn hätte verstehen können. Erst jetzt erkannte John, welch fatalen Fehler er mit seiner Warnung gemacht hatte. Während Karin versuchte genauer hinzuhören, ging sie einige Schritte näher zur Schlucht ran, um ihn besser sehen und verstehen zu können. Plötzlich erfasste Karin ein heftiger Ruck, der sie aus dem Gleichgewicht brachte und nach vor stolpern ließ. Zwei Arme hinderten sie jedoch am Fallen und drückten sie mit voller Wucht der Schlucht entgegen. Nun erkannte auch Karin die drohende Gefahr und versuchte dem Druck entgegen zu wirken. Doch durch den Umstand, dass sie stolpernd das Gleichgewicht erst wiedererlangen musste, wurde sie unwillkürlich mit Pamela über den Rand der Klippe in die Tiefe gerissen. Während des Falles gelang es Karin sich zudrehen und sich an Pamelas Jacke festzuhalten. Doch ein weiterer, heftiger Ruck stoppte nun Pamelas Absturz, so dass die immense Spannung für Karins Hände zu groß wurde und sie loslassen musste. Im letzten Moment konnte sie sich jedoch an einem von Pamelas Hosenbeinen festkrallen. Hilflos pendelte sie an Pamelas Bein geheftet über dem todbringenden Abgrund. Doch dann begann Pamela mit ihrem losen Bein nach Karin zu treten.
„Lass los und stirb endlich, du verdammtes Luder“, schrie Pamela mit vor Hass triefender Stimme die unter ihr hängende Frau an.
Pamela trat mit aller Kraft nach Karin, die sich kaum noch festhalten konnte. Voller Verzweiflung schrie Karin nach John, der jetzt nur mehr wenige Meter von der Absturzstelle entfernt war. Pamela wusste, dass ihr kaum noch Zeit blieb und mit einem gezielten Tritt trat sie auf Karins verletzte Stelle an der Schulter. Von unsäglichem Schmerz gepeinigt, ließ Karin los und mit einem entsetzten Schrei fiel ihr Körper in die Tiefe der Schlucht. Im freien Fall sah sie gerade noch John verstörtes Gesicht, während er verzweifelt ihren Namen schrie und Karin im dichten Gischtnebel verschwand.

 

 

- 28 -

 

Das schmerzhaft zusammengezogene Seil um ihre Taille ließ Pamela knapp einen Meter unter der Steinwand baumeln. Unendlich erleichtert blieb sie für einen Moment erschöpft im Seil hängen. Endlich hatte es Pamela geschafft, diese Frau aus dem Weg zu räumen. Wie stolz würde Onkel Ernesto sein, wenn sie ihm von diesem Husarenstück erzählen würde.
Dann nahm sie endlich Johns panische Schreie wahr, die nach seiner Schlampe riefen. Die unsägliche Genugtuung ihn und seine Geliebte bestraft zu haben, ließ sie für einen Moment den pochenden Schmerz in ihrem Kopf vergessen. Dieses Miststück hatte sie ein für alle Mal entsorgt, daran konnten all seine verzweifelten Rufe und Bitten nichts mehr ändern.
„Was hast Du nur getan?“ schrie John seine Frau hysterisch an.
Pamelas gehässiges Lächeln glich einer furchterregenden Grimasse, als sie John in die Augen blickte.
„Was wohl? Ich hab dieses Drecksstück dort hingeschickt wo sie hingehört. Für diesen Job bin ich auch in diese Scheiß Berge gekommen.“
Pamelas absolut gefühllose Antwort brachte Johns Blut erneut zum Kochen. So tief wie möglich beugte er sich zu Pamela in die Schlucht hinunter.
„Du widerliche Ausgeburt der Hölle. All die Menschen, die mir wert und teuer waren, hast Du mir genommen. Doch diesmal kommst du nicht mehr ungeschoren davon.“
John zog einen Hirschfänger aus seinem Gürtel, den ihm Joe geschenkt hatte, kurz bevor er diese Welt verlassen hatte. Als sie die Klinge des Messers blitzen sah, schrie sie mit Angst bebender Stimme:
„John, das kannst du nicht machen! Ich bin doch deine Frau“, flehte sie ihn entsetzt an.
„Hattest du mit Karin erbarmen?“ fuhr er sie verbittert an.
„Bitte, tus nicht. Ich tu alles was du willst, aber lass mich bitte nicht sterben“, bettelte sie in ihrer Todesangst.
Doch dann hielt John beim Durchschneiden des Seils inne. Seine Frau zu töten, fiel ihm schwerer als er angenommen hatte. Diesen Moment des Zwiespalts machte sich Pamela aber schnell zu Nutze und redete so eindringlich wie nur möglich auf ihn ein.
„John, wi haben uns doch einmal geliebt. Und wenn du es mir auch nicht glaubst, ich liebe dich noch immer. Doch widrige Umstände zwangen mich zu diesen schrecklichen Daten. Glaub mir, wenn es einen anderen Weg gegeben hätte, ich hätte ihn gewählt“, flehte sie ihn wieder an.
„Pamela, es gibt immer einen anderen Weg.“
„Du kannst mich nicht ganz einfach in den Tod stürzen lassen. Dazu bist du ein viel zu anständiger Mann. Niemals würdest du einem anderen Leid zufügen, selbst wenn dieser im Unrecht war und es verdient hätte. Vielleicht habe ich es auch wirklich verdient, dass du das Seil durchschneidest. Doch kannst du es auch mit deinem Gewissen vereinbaren und damit leben, dass du deine eigene Frau in den Tod geschickt hast?“
John schloss die Augen und begann mit seinem Gewissen zu ringen. Pamela kannte John gut, zu gut, um nicht zu wissen, wie sie es anstellen musste, dass er seinen moralischen Grundsätzen treu blieb.
„John, hilf mir hoch und ich verspreche dir, dass ich meine Fehler wieder gutmachen werde“, drängte sie ihn. „Schau mich doch an, bin ich nicht schon genug vom Schicksal bestraft worden?“
Doch noch während Pamela ihn mit drohenden Gewissensbissen bearbeitete, tauchte plötzlich aus dem Nichts ein Polizeihubschrauber auf und blieb in unmittelbarer Nähe von Pamela und John in der Luft schweben. Die Tür des Hubschraubers wurde aufgerissen und ein Polizist mit einem riesigen Megafon in der Hand rief John zu:
„Lassen Sie die Waffe fallen. Sie haben keine Chance zu entkommen!“
Verwirrt betrachtete er das Messer in seiner Hand.
„Ich fordere Sie nochmals auf, das Messer fallen zu lassen“, dröhnte es in Johns Ohr.
Mit einem Schlag wurde John bewusst, in welchem Dilemma er nun steckte und warf Joes Hirschfänger weg. Währenddessen schlug Pamela mit Händen und Armen wild um sich, um auf die Aufmerksamkeit der Polizisten auf sich zu lenken.
Als der Hubschrauber in nächster Nähe gelandet war und eine Unzahl anderer Polizisten aus ihm heraus stürmte, begann Pamela wie verrückt zu schreien:
„Hilfe. So helft mir doch.“
Zwei Polizisten eilten schnell zu Pamela und zogen sie aus dem Abgrund. Nachdem sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, zeigte sie auf John.
„Mein Mann wollte mich umbringen“, schluchzte sie laut auf. „Wenn Sie nicht in letzter Sekunde gekommen wären, läge ich bereits tot am Fuße der Schlucht.“
„Aber Pamela, das stimmt doch nicht, was du sagst“, unterbrach sie John heftig. Er war verblüfft, wie unglaublich wandlungsfähig Pamela war. Noch eben spielte die reuevolle, schuldbeladene Frau. Doch so schnell wie ein Chamäleon die Farbe wechselt, konnte Pamela in die Rolle des misshandelnden Opfers zu schlüpfen, das es nun vorzüglich verstand, sich mitleiderregend in Szene zu setzen.
Pamela wandte sich den Polizisten zu und weinte hemmungslos darauf los:
„Mein herzloser und skrupelloser Mann wollte mit diesem Messer gerade das Seil durchschneiden und mich in die Tiefe stürzen lassen. Da unten hätte mich sicherlich niemand gefunden.“
Einigen der Polizisten war die Skepsis ins Gesicht geschrieben. Pamela merkte sofort, dass sie mit schwereren Geschützen auffahren musste, um zu punkten.
„Sie glauben mir nicht? Sehen sie mich an! Mein Gesicht ist für immer verunstaltet. Nie mehr kann ich mich in der Öffentlichkeit mit diesem verwüsteten Aussehen sehen lassen. Und dieser Mann ist daran Schuld. Er hat mich in die Klauen eines Grizzlys getrieben, damit mich dieser töten hätte sollen. Mein Tod hätte dann wie ein Unfall ausgesehen. Das müsste doch Beweis genug sein, dass ich die Wahrheit sage“, jammerte sie Mitleid heischend die skeptischen Exekutivbeamten an. Die schreckliche Verunstaltung ihres einstmals makellos schönen Gesichtes ließ niemanden kalt und die Zweifel verflogen. Der Polizeileutnant ging geradewegs auf John zu und sagte in monotonem Tonfall:
„Sir, sie sind wegen Mordversuchs verhaftet. Sie haben das Recht zu Schweigen….“
Doch John hörte den obligaten Spruch nicht mehr und sah nur, wie die Handschellen an seinen Handgelenken klickten. Er war viel zu überrascht und durcheinander, als dass er sich hätte wehren können. Bevor er in den Hubschrauber stieg, blieb er plötzlich stehen und fragte verzweifelt:
„Und was ist mit Karin?“
„Wer ist Karin?“ wollte der Offizier wissen.
„Karin Davis, jene Frau, die Pamela vorhin in die Tiefe gestoßen hat.“
„Mein Mann scheint nicht mehr alle Sinne beisammen zu haben. Außer ihm und mir war hier absolut niemand. Wie sollte ich es zustande bringen eine Frau in die Tiefe stoßen, wenn er mich im Abgrund hängend, gefangen hielt. Außerdem bin ich schwer verletzt und kaum fähig mich aufrecht zu halten?“
Der Polizist wog Johns und Pamelas Worte ab und Pamela konnte erneut mit ihren Lügen punkten. Der Hubschrauber hob ab, ohne dass man auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen wurde, nach Karin zu suchen.

 

 

 

 

 

 

DRITTES BUCH

 

 

 

- 29 -

 

Das helle Morgenlicht kündigte einen prachtvollen Herbsttag an. John hielt sich an den kalten Gitterstäben seines geöffneten Zellenfensters fest und fühlte die frische, schon leicht frostige Morgenluft auf Händen und Gesicht.
Wie sehr sehnte er sich nach der frischen, würzigen Luft der Berge, nach der Weite und stille der Wälder und nach den langen, einsamen Wanderungen durch den kniehohen Schnee. Doch noch mehr fehlte ihm Karin mit ihrem liebevollen Lächeln, ihrer sanften, zärtlichen Stimme und ihrem weichen anschmiegsamen Köper. Der Schmerz und die Verzweiflung sie verloren zu haben, lasteten schwer auf seiner Seele. Johns quälende Selbstvorwürfe nicht genug auf ihre Sicherheit geachtet zu haben, ließen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen.
Seufzend wandte sich John wieder vom Fenster ab. Schon seit Stunden konnte er nicht mehr schlafen. Die halbe Nacht hatte er sich auf seiner schmalen Pritsche hin und her gewälzt, bis seine Unruhe zu groß wurde. John stand auf und lief wie üblich hin- und her. Die gleichmäßige Bewegung beruhigte ihn und ihn und ließ seine wirren Gedanken ein wenig klarer werden.
Seit knapp sechs Monaten saß John nun in Untersuchungshaft und wartete auf seinen Prozess. Und heute war dieser lang ersehnte, aber auch gefürchtete Tag, wo ein Geschworenengericht über sein Schicksal entscheiden sollte. Sein Blick fiel auf seinen dunkelgrauen Anzug, der an einem verbogenen Nagel in der Wand hing. Irgendwie passte dieses elegante Kleidungsstück aus feinster Schurwolle nicht in diese nüchterne Zelle, der jeder Luxus fehlte.
Sam Porter hatte John seinen besten Anzug samt Hemd, Krawatte und Schuhen gebracht, damit er auf die Geschworenen einen seriösen und rechtschaffenen Eindruck machen würde. Doch John bezweifelte, dass bei dieser langen Liste von Anklagepunkten, angefangen von Mord über versuchten Mord, fahrlässige Tötung, unterlassener Hilfeleistung, Verstoß gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz und schweren gewerbsmäßigen Betrugs sein gutes und seriöses Aussehen wirklich nützen würde, um die Menschen hinter der Geschworenenbank von seiner Unschuld zu überzeugen.
Im Zuge der Ereignisse hatte John extremes Misstrauen entwickelt, dass sich gegen jeden richtete, der ihm zu nahe kam. Der Einzige, dem er noch vertraute, war sein ehemaliger Firmenanwalt. Dieser hatte sich von John überreden lassen, diesen äußerst heiklen und komplexen Fall zu übernehmen. Sam war eigentlich kein Strafverteidiger. Sein Gebiet war das Zivilrecht. Er war ein guter Taktiker und Stratege, der versuchte mit absolut stichhaltigen Fakten zu punkten. Doch der Strafprozess war auch ein Schauprozess. Hier war es wichtig Gefühle wie Hass, Neid, Mitleid und Verständnis der Geschworenen wecken. Als Strafverteidiger musste man sowohl schauspielerisches, als auch sprachliches Talent besitzen, um die Sympathie der manchmal doch sehr einfach strukturierten Jury zu gewinnen. Sam hasste es sich zu prostituieren und den Clown für die Menschen hinter der Geschworenenbank zu spielen.
In Johns Fall war Sam aber bereit eine Ausnahme zu machen. Sam war restlos von Johns Unschuld überzeugt. Nicht zuletzt hatte er auch den Fall übernommen, weil Sam mit der hiesigen Mafia auf Kriegsfuß stand und um ihre kriminellen Methoden bestens Bescheid wusste. Einige seiner Klienten wurden durch das Syndikat geschädigt oder gar in den Ruin getrieben. Canetti war für ihn daher alles, nur kein unbeschriebenes Blatt und der Anwalt wusste um Gerissenheit und Kaltblütigkeit dieses schlauen Fuchses. Als Sam erfahren hatte, dass John die Nichte des Paten heiraten wollte, begannen sofort seine Alarmglocken zu läuten. Damals war es aussichtslos gewesen, diesen verliebten Narren von diesem Schritt abzubringen. Zumindest konnte Sam John warnen, dass er sich auf keine noch so kleinen Geschäfte mit diesem gefährlichen Schurken einlassen sollte. Diesen Ratschlag hatte sich John auch zu Herzen genommen. Alle geschäftlichen Angebote Canettis hatte John daher strikt unter jenem Vorwand zurück gewiesen, dass er Geschäfte und Familie streng voneinander getrennt hält.
John bedauerte nun zutiefst, Sams Warnungen nicht ernst genug genommen zu haben. Zumindest hätte er mehr Augenmerk auf die Canettis legen sollen. Wäre er nur ein wenig aufmerksamer und umsichtiger gewesen, dann hätte ihm schon wesentlich früher auffallen müssen, dass Pamela nicht das schöne, desinteressierte Dummchen gewesen war, das sie vorgab zu sein. Dann wäre ihm auch bestimmt nicht entgangen, dass Pamela wesentlich mehr Zeit mit ihrem Onkel verbracht hatte, als mit ihm. Dieser allzu enge Kontakt hätte ihn schon längst stutzig machen müssen. Doch die rosarote Brille, die er so lange getragen hatte, hatte leider keine dunklen Schatten geworfen. Bestimmt waren auch die massiven Probleme mit Philipp und der Firma schuld gewesen, die seine Aufmerksamkeit beeinträchtigt hatte. Nicht zuletzt waren auch in dieser Angelegenheit die Canettis die Drahtzieher gewesen.
In diesem letzten halben war zwischen den Spaziergängen im Gefängnishof und den Essensausgaben genug Zeit gewesen, um über alles nachzudenken. Langsam hatte sich ein Stein an den anderen zu reihen begonnen. Das Mosaik, das sich daraus ergeben hatte, war furchtbar und äußerst deprimierend. Eine unvorhergesehene Unterstützung bei seiner Suche nach der Wahrheit bekam John aber durch den Untersuchungshäftling, der die Zelle neben seiner belegte. Er hieß Peter Collins und war ein kleiner Buchmacher, der wegen Verdacht auf Unterschlagung ebenfalls in Untersuchungshaft saß. Der kleine, glatzköpfige Mann hatte sich lange genug in der halbseidenen Welt des Glücks- und Wettspiels bewegt. In diesem Milieu der Halsabschneider und Gauner kannte er sich bestens aus. Natürlich waren die Canettis Fixsterne am hiesigen Ganovenhimmel. Besonders Pamela war darunter der absolute Schillerfisch. Ihre Schönheit und ihr akribischer Geltungsdrang, aber auch ihre Machtbesessenheit waren zuverlässige Lieferanten für jede Menge interessanten Gesprächsstoff in diesen Kreisen.
Der redselige Peter verbuchte es als besonderes Privileg, mit dem augenblicklich populärsten Untersuchungshäftling in Kontakt zu stehen. John ging zwar das anbiedernde Gelaber des Buchmachers ziemlich auf die Nerven. Doch im Gegenzug waren ihm auch Informationen zuteil geworden, die er unter anderen Umständen vielleicht niemals bekommen hätte.
Bei diesen täglichen Spaziergängen hatte John nach und nach all das über Pamela erfahren, was sie ihm wohlweislich vorenthalten hatte. Ihre Kindheit hatte unter einem denkbar schlechten Stern gestanden. Die Canettis hatten in ihr nichts anderes gesehen, als ein unumgängliches Übel, dem jegliche Liebe und Nestwärme vorenthalten wurde. Pamelas akribischer Drang innerhalb der Familie akzeptiert zu werden, waren sicherlich schwerwiegende Gründe gewesen, dass sie zu dem geworden war, was sie war: eine berechnende und gefühlskalte Frau, die versuchte, ihre mentalen Mankos mit Macht und Härte zu kompensieren. Dass natürlich der alte Canetti ihre problematischen Ansätze für seine eigenen Interessen nur zu gut zu nutzen gewusst. Dieser alte Halunke hatte viele Jahre hindurch dieses zarte, verletzliche Mädchen gezielt zu seinem Werkzeug geformt. Und Pamela war bereitwillig darauf eingestiegen, weil seine Aufmerksamkeit ihr das Gefühl von Zuneigung und Integrität verliehen hatte.
Natürlich entschuldigte diese negative Persönlichkeitsentwicklung nicht ihr Handeln. Doch John begann nun langsam ihre Beweggründe zu verstehen, wenn er sie auch nicht gut hieß.
Wäre John nicht bis über beide Ohren in der Scheiße gesessen, so hätte er vielleicht sogar Mitleid mit diesem menschlichen Torso empfunden.

 

Wesentlich früher als erwartet, wurde John aus seiner Zelle geholt und in jenen Raum gebracht, wo er mit Sam die Verhandlungsstrategie ausgearbeitet hatte. Sam wartete bereits auf ihn. Die Nervosität hatte sein Gesicht rot anlaufen lassen. Obwohl es verboten war in Amtsräumen zu rauchen, hielt Sam eine brennende Zigarette in der Hand, die er unruhig zwischen seinen kurzen, dicken Fingern rollte. Sein besorgter Blick verhieß nichts Gutes. Noch einmal sog er kräftig an der Zigarette, so dass die Glut weiß aufleuchtete. Der tief inhalierte Rauch schoss dann unter heftigem Druck aus seinen beiden Nasenlöchern. Den Rest der Kippe warf er auf den Steinboden und trat sie achtlos aus.
„John, wir haben ein Problem“, begann Sam ohne ihn zu begrüßen.
„Gestern Abend wurde David Davis in seinem Hotelzimmern erschossen. Die Polizei nimmt an, dass ein Profikiller am Werk war. Es wurden weder Spuren gefunden, noch gibt es sonstige Anhaltspunkte.“
Erschüttert ließ sich John auf dem zweiten Stuhl im Raum nieder. David hatte ihn nach seiner Inhaftierung mit Sally ein einziges Mal unter Aufsicht besuchen dürfen. Alle anderen so genannten guten Freunde hatten sich von ihm abgewandt.
Von David hatte John auch erfahren, dass die Suche nach Karin erfolglos verlaufen war. Die Fahndung war aber auch erst einen Tag später eingeleitet worden, nachdem David Johns Aussage bestätigt hatte, dass Karin mit John unterwegs gewesen war. Doch zu dieser Jahreszeit konnte die reißende Strömung ihren Leichnam weiß Gott wo hingetragen haben. Karins Absturzstelle war ein Seitenarm des Atabasca Rivers, der nach knapp fünf Kilometern in den Hauptfluss einmündete. Wenn ihr Körper einmal in den breiten Fluss geschwemmt wurde, gab es nur mehr wenig Chancen, ihn zu finden.
David hatte auch versucht mit Cathy Kontakt aufzunehmen und suchte die Hütte der Indianerin auf. Doch die Behausung war verlassen gewesen und von Cathy fehlte jede Spur. Wahrscheinlich war ihre Angst so groß ebenfalls getötet zu werden, dass sie sich noch tiefer in die Wälder der Rocky Mountains zurückgezogen hatte.
Erneut fühlte John dieses bittere Gefühl der Trauer in sich hochsteigen, wieder einen Freund verloren zu haben. John hatte David zwar nur kurz gekannt. Doch diese Zeit hatte genügt ein tiefes Band der Verbundenheit und Freundschaft zu knüpfen. Die beiden Männer hatten sich nicht nur durch eine Extremsituation miteinander verbunden gefühlt. John waren Davids tiefe Gefühle für Karin erst ab dem Zeitpunkt bewusst geworden, nachdem beide im Besucherraum um Karin trauerten.
„Wir stecken mächtig in der Scheiße“, wurde John durch Sams aufgeregter Stimme aus seinen Gedanken gerissen. „Der einzige Zeuge, der dich entlasten hätte können, ist tot. Und von dieser verdammten Indianersquaw fehlt jede Spur.“
Jetzt wurde John auch jener Umstand bewusst, dass Davids Tod nicht nur eine menschliche Tragödie war, sondern auch Sams Verhandlungsführung einen absoluten Tiefschlag versetzte.
„Diese Schweine haben bis zur letzten Minute gewartet, um unseren Kronzeugen aus dem Weg zu räumen. Damit nahmen sie uns die Möglichkeit, uns eine andere Strategie einfallen zu lassen.“
„Aber wir haben ja noch Sally.“
„Ach hör auf mit Sally“, winkte Sam verärgert ab. „Sally ist kein Kronzeuge. Sie hätte nur Davids Aussagen unterstreichen und einen gewissen Nachdruck verleihen können.“
„Aber Sam, es ist doch offensichtlich, dass David ermordet wurde, damit er nicht aussagen kann. Diesen Umstand muss man doch in Betracht ziehen.“
„Ja, der Verdacht ist verdammt nahe liegend. Doch wie kann ich beweisen, dass David von einem Profikiller der Canettis ausgeschaltet wurde?“
Sam lief aufgeregt auf und ab und zündete sich eine weitere Zigarette an.
„Natürlich wird dieser Umstand die Geschworenen stutzig machen. Doch Tatsache ist nun einmal, das wir eine vereidigte und vor allem glaubhafte Aussage brauchen, die bestätigt, dass du den Winter über mit Karin in den Bergen verbracht hast, damit wir deine ohnehin schon schwer zu beweisende Unschuld auch den Geschworenen verklickern können.“
Sams letzter Satz hing wie ein drohendes Gewitter in der Luft. John spürte nun langsam Angst in sich hochsteigen. Die Aussichtslosigkeit in diesem Prozess frei gesprochen zu werden, verdichtete sich immer mehr.
„Wir werden unsere Vorgangsweise ändern müssen“, überlegte Sam. „Zuerst müssen wir beweisen, dass der Lawinenabgang inszeniert worden ist, damit Philipp nach deinem vermeintlichen Tod in deine Rolle schlüpfen und deine Agenden wahrnehmen konnte. Die ganze Geschichte klingt zwar absolut an den Haaren herbei gezogen. Wenn es uns aber wirklich gelingen sollte, das Gericht zu überzeugen, dass Philipp dich spielte, dann könnte das richtungsweisend für den weiteren Verlauf des Prozesses sein. So gesehen wäre dann Sally doch ein wichtiger Zeuge.“
Wieder ein wenig Hoffnung schöpfend, wurde John in seine Zelle zurückgeführt, um seine graue Gefängnisuniform gegen Anzug, Hemd und Krawatte zu tauschen.

 

Eine Stunde vor der Gerichtsverhandlung wurde John wieder aus der Zelle geholt und mit einem Sicherheitswagen zum Gerichtsgebäude gefahren. Der Medienrummel rund um den Gerichtshof war enorm. Dieser Prozess war ein gefundenes Fressen für Zeitungen und Fernsehanstalten.
Kaum dass John aus dem Auto gestiegen war, hatte sich um ihn eine Traube von Reportern und Fotographen an ihn gehängt, die ihn wie in altbekannten Hollywoodfilmen bedrängten. Einige der Reporter hielten Mikrophone direkt unter seine Nase und immer wieder wurde er mit neugieren Fragen bedrängt, wie es ihm gehe, ob er sich für schuldig oder nichtschuldig erklären würde, wie er den Ausgang des Prozesses einschätze, wie man sich fühlte, wenn man so viele Menschen auf dem Gewissen hat und ob er seine Frau trotz der schrecklichen Verunstaltung noch zurück gewinnen will.
Normaler Weise hätte John bei solch penetranten Fragen angewidert den Fernseher abgedreht und alle Reporter wie immer in die Hölle verdammt. Doch nun stand er selbst im Mittelpunkt des Geschehens und die drängenden und anbiedernden Fragen hatten plötzlich eine andere Wertigkeit, da sie ihn nun selbst betrafen. Eskortiert von zwei Wachebeamten erreichte er endlich die riesige Eingangstür des Gerichtsgebäudes. John atmete erleichtert durch, als er durch das Portal trat. Nur ausgewählten Reportern war es nun gestattet als Zuhörer an der Verhandlung teilzunehmen.
John wurde in eines der Besprechungszimmer nahe des Gerichtssaals geführt. Sam wartete dort bereits wieder auf ihn. Seine schmuddelige Cordhose und das ausgewaschene T-Shirt hatte er nun gegen einen tadellos sitzenden, nachtblauen Anzug gewechselt, der sein Übergewicht ziemlich gut kaschierte. Das hellblaue Batisthemd spannte zwar ein wenig um seinen Bauch, doch die dunkle Krawatte konnte diesen Makel ziemlich gut wenig verdecken. Aber selbst das tadellose Aussehen konnte über seine Nervosität nicht wegtäuschen.
„John, wir müssen auf der Hut sein“, informierte er John. „Mein Informant sagte mir eben, dass die Staatsanwaltschaft mit einem Heer von Zeugen auffahren will, die sie mir vorher nicht bekannt gegeben wurden. Ich nehme an, dass diese so genannten Zeugen von der Mafia gekauft oder erpresst wurden. Jetzt kann ich nur hoffen, dass diese Typen nicht schlau genug sind, damit ich sie aufs Glatteis führen kann, so dass sie auf die Geschworenen einen unglaubwürdigen Eindruck machen.“
„Wird Pamela auch aussagen?“
Sam schlug nach einem kurzen Moment des Nachdenkens den dicken Verhandlungsakt zu und sagte verdrossen.
„Ja, das wird sie“, knurrte er. „Und wie es aussieht, wird sie dir sicherlich keine Rosen streuen. Auch der alte Canetti ist höchst persönlich erschienen und wird der Verhandlung beiwohnen.“
„Das sind ja schöne Aussichten“, erwiderte John niedergeschlagen.
„Das ist aber noch nicht alles. Roger Sinclair, ein Jungspund unter den Staatsanwälten wird unser Gegner sein. Er hat kurzfristig den Fall übernehmen müssen, da Benjamin Walker mit einer gebrochenen Hüfte im Krankenhaus liegt. Dem Bürschchen wird sicherlich einer abgegangen sein, als man ihm so unverhofft diesen großen Fall zugeteilt hat. Ich würde zu gern wissen, wer da nachgeholfen hat. Du bist für den kleinen Streithahn ein wunderbares Sprungbrett auf seiner Karriereleiter. Also wird dieser kleine Blutsauger alles daran setzen, um dich zu erledigen. Ich kann nur hoffen, dass dem Kerl noch die Erfahrung fehlt und ich ihn ausbooten kann.“
Wider Erwarten war John nun ziemlich ruhig geworden. Er hörte Sam zwar zu, doch sonderbarer Weise prallten seine Hiobsbotschaften an ihm ab, wie die Erbsen an der Wand. Irgendwie fühlte sich John so, als ob seine Seele aus seinem Körper gewichen war und neben ihm stand. Schon auf der Fahrt zum Gerichtshof begann sich seine Angst und Nervosität zu legen. Der Gedanke frei zu sein, hatte seltsamer Weise an Bedeutung verloren, ja, er wirkte beinahe bedrohlich. Denn sollte John wirklich das Glück haben, frei gesprochen zu werden, wartete da draußen eigentlich nichts auf ihn. Die Firma hatte er verloren. Der alte Canetti und Pamela hatten sich das Unternehmen schon so gut wie unter den Nagel gerissen. Pamela führte ja bereits schon weitgehend das Unternehmen. Die Schadensersatzzahlungen hatte Canetti mit den Betroffenen bereits außergerichtlich geregelt. Sobald die Firma mit Stempel und Siegel auch den Namen Canetti trug, würden diese sofort ausbezahlt werden. Wenn John aber frei gesprochen werden sollte, so würden diese horrenden Zahlungen an ihm hängenbleiben. Doch John hatte absolut keine Ahnung, wie er diese hohen Summen aufbringen sollte. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als diesem alten Halsabschneider um das Geld zu bitten. Doch Canetti war weit davon entfernt ein Samariter zu sein. Er würde sicherlich seine Firmenanteile verlangen und diese auch bekommen. Zusammen mit Philipps bereits überschriebenen Anteilen würden die Canettis die Firmenmajorität haben und John mit einem warmen Händedruck abservieren.
Seine Frau würde nach Beendigung des Verfahrens sicherlich die Scheidung einreichen. Jetzt wäre der Zeitpunkt äußerst ungünstig, da sie dann Probleme hätte, die Firma in seiner Abwesenheit zu leiten. John wollte mit dieser falschen Schlange nichts mehr zu tun haben. Auch er wartete darauf unter diese Ehefarce einen Schlussstrich ziehen zu können.
John hatte alles verloren, was ihm wert und teuer war. Er würde das Land verlassen und vielleicht in Europa oder Australien neu anfangen müssen, sollte er wider Erwarten frei gesprochen werden. In Kanada hätte er so oder so keine Chance mehr. Doch hatte er auch wirklich noch die Kraft dazu wegzugehen und bei null anzufangen?
Unter diesen tristen Zukunftsaussichten gewann der Gedanke immer mehr an Attraktivität, im Gefängnis bleiben zu wollen. Hier hatte er zumindest jenen Halt und Kontinuität, die ihm draußen fehlen würden. John wusste, dass er psychisch am Ende war. Er war ausgebrannt und leer. Der Mord an David gab ihn den Rest und ließ ihm diese schreckliche Hoffnungslosigkeit noch wesentlich intensiver empfinden.
„John, du hörst mir nicht zu!“ fuhr in Sam vorwurfsvoll an.
„Frank Callahan ist der Richter, der den Prozess leitet“, wiederholte Sam seine letzten Worte. „Mit ihm haben wir einen guten Griff gemacht. Er ist ein korrekter, anständiger Mann und absolut loyal dem Staat gegenüber. Ich hatte schon öfters die Ehre unter seinem Vorsitz zu verhandeln.“
„Dann kann uns ja nichts mehr passieren“, erwiderte John ohne großes Interesse.
Verärgert fuhr Sam herum.
„Freundchen, ich reiß mir hier wegen dir den Arsch auf“, funkelte er John zornig an. „Du scheinst zu vergessen, dass dir das Wasser bis zum Hals steht. Wenn du da drinnen nicht alles gibst und wir jetzt nicht jede noch so kleine Ressource nicht voll ausschöpfen, bist du verdammt noch einmal erledigt. Also reiß dich gefälligst zusammen.“
Plötzlich klopfte es an dich Tür. Ungehalten riss Sam die Tür auf und eine Frau tief verschleiertem Gesicht stand vor ihm.
„Was willst du hier?“ fuhr er Pamela böse an.
„Hallo Sam“, begrüßte ihn Pamela fast zaghaft. „Kann ich kurz mit John sprechen?“
„Ich glaube kaum, dass er dich sehen will“, erwiderte er abweisend. „Außerdem ist es verboten, dass vor der Verhandlung noch mit dem Angeklagten gesprochen werden darf.“
„Mir sind die Vorschriften durchaus bewusst. Doch ich möchte dich bitten, eine Ausnahme zu machen. Ich bleibe nur ganz kurz.“
„Lass uns fünf Minuten alleine Sam“, bat John seinen Freund. „Sie wird mir schon keine Verfahrensgeheimnisse entlocken.“
„Wie du möchtest“, erwiderte Sam mürrisch und schlug den Prozessakt zu, den er vorsorglich wieder in seine Aktentasche steckte. „Ich warte vor der Tür.“
Nachdem Sam weg war, ging Pamela zum Tisch, wo John saß. Wie immer sah sie hinreißend aus in diesem schlichten, aber hocheleganten Chanel-Kostüm, das ihre Formen vortrefflich zur Geltung brachte. Nur der schwarze Hut mit dem dichten Schleier wirkte etwas deplatziert.
„Wie ich sehe, hast du dich schon bestens auf die trauernde Witwe eingestellt“, lächelte John seine Frau zynisch an. „Doch du scheinst vergessen zu haben, dass es in Kanada keine Todesstrafe mehr gibt. Und Selbstmord werde ich sicherlich nicht begehen, außer dein ehrenwerter Onkel hilft ein wenig nach, so wie er es bei David getan hat.“ „Unterlass deine bissigen Bemerkungen. Dafür ist jetzt keine Zeit“, wies sie ihn zurecht..
„Wieso bist du gekommen?“
Nur zögernd begann Pamela zu sprechen.
„Weil ich dich um Verzeihung bitten möchte.“
Im ersten Moment glaubte John sich verhört zu haben. Erstaunt versuchte er durch die dichte Gardine ihr Gesicht zu erkennen. Doch mehr als die Umrisse sah man nicht.
„Machst du dich jetzt lustig über mich und suhlst dich in meinem Leid, oder ist das wieder eine deiner Finten?“, herrschte John sie argwöhnisch an.
„Nichts davon ist der Fall“, sagte sie mit reuevoller Stimme. „Ich bin wirklich nur deshalb hier, weil ich dir sagen wollte, wie sehr ich es bedaure, was ich dir angetan habe. Ich habe dich verletzt, dir wehgetan und alles genommen, was dir wert und teuer war. Könnte ich die Uhr zurückdrehen, dann würde ich vieles anders machen.“
„Deine Einsicht kommt reichlich spät, meine Liebe.“
„Ich weiß. Doch bevor wir in den Gerichtssaal gehen, wo du diesen Prozess ziemlich sicher verlieren wirst, wollte ich dir sagen, dass ich nicht ganz so schlecht bin, wie du vielleicht glaubst. Die Zeit mit dir war bestimmt die schönste in meinem Leben. Es war ein so unverhofft schönes Gefühl geliebt zu werden, so dass ich auch begann, dich zu mögen und schließlich zu lieben. Ich möchte, dass du weißt…
Plötzlich begann schrill die Glocke zu läuten, die den Prozessbeginn ankündigte. Sam riss die Tür auf und kam energisch auf John und Pamela zu.
„Es wird Zeit.“
Ohne ihren Satz zu vollenden, stand Pamela auf.
„Leb wohl John“, sagte sie mit belegter Stimme und ging zur Tür hinaus.
„Was wollte sie?“ fragte Sam neugierig.
„Nichts, absolut nichts.“



- 30 -

Der große Verhandlungssaal glich einem aufgewühlten Bienenstock. Der riesige Raum war bis auf den letzten Platz besetzt. Lautes Gemurmel war zu hören als John in den Saal auf die Anklagebank geführt wurde, wo man ihm die Handschellen wieder abnahm. Links, vom erhöhten Richtersitz aus, warteten bereits die zwölf Geschworenen hinter einer hölzernen Balustrade sitzend auf den Prozessbeginn. Ebenfalls links vom Richterstuhl befand sich der Zeugenstuhl, während rechts der Gerichtsschreiber saß. Alle Beteiligten waren anwesend, als der ehrwürdige Richter in schwarzem Talar erschien, worauf sich alle Anwesenden erhoben. Er nahm auf seinem Stuhl Platz und

schlug mit dem Hammer kräftig auf den kleinen Bolzen und sagte dann laut und deutlich:
„Das Gerichtsverfahren gegen John Nathaniel Lombard wegen mehrfachen und versuchten Mordes, Körperverletzung, fahrlässiger Tötung, unterlassener Hilfeleistung ist eröffnet.“
Obwohl Sam alles an Wissen, Strategien und Einfühlungsvermögen aus sich rausholte, war bereits nach einer halben Stunde absehbar, dass dieser Prozess einem Kampf gegen Windmühlen war. Der einzig wirklich ernstzunehmende Zeuge der Verteidigung war Sally gewesen, die bei der Jury punkten konnte. Wahrheitsgetreu hatte sie die Fragen Sams als auch des Staatsanwaltes beantwortet. Sally hatte John nicht zu sehr beweihräuchert, ließ aber genau durchblicken, dass ihr ehemaliger Chef ein absolut integrer Mann war und ihres Erachtens für die ihm vorgeworfenen Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden durfte. Sally hatte aber auch keinen Zweifel offen gelassen, dass sie davon überzeugt war, dass Philipp in die Rolle Johns geschlüpft war, so dass er in der Firma ungehindert schalten und walten konnte. Deshalb war Sally als Johns Sekretärin auch im Wege gewesen, denn sehr bald hätte sie Philipps gemeines Spiel durchschaut. Und da er sich dessen bewusst gewesen war, musste sie so schnell wie möglich aus der Firma. Denn wieso sollte ihr Chef sie entlassen, wenn sie ihm absolut loyal gegenüber stand und die Zusammenarbeit harmonisch und produktiv war? Außerdem, welche Sekretärin wäre ihrem ehemaligen Chef behilflich gewesen, der sie fristlos entlassen hatte?
Sinclair war genauso wie ihn Sam beschrieben hatte. Ein kecker Streithahn, der völlig von sich eingenommen war. In seiner selbstgefälligen Art hatte er darauf angelegt, Sally aufs Kreuz legen zu wollen. Der Staatsanwalt hatte versucht, Sally nachzuweisen, dass sie sehr wohl Betriebsspionage betrieben hatte, denn ein Betrag in der Höhe von 30.000 Dollar sei auf ihr Konto genau zu dem Zeitpunkt überwiesen worden, wo man ihr dieses schwere Vergehen vorgeworfen hatte. Doch auch Sally war vorbereitet gewesen und ließ den arroganten Schnösel voll anlaufen. Sie hatte einen Kaufvertrag vorgelegt, mit dem sie den Verkauf des Häuschens ihrer verstorbenen Großmutter in der Höhe der Überweisungssumme bestätigen hatte können. .
Für kurze Zeit war es Sally gelungen, die Geschworenen zweifeln zu lassen, dass John doch unschuldig sein könnte. Dieser Umstand hatte sich jedoch spätestens ab dem Zeitpunkt geändert, als Pamela vom Staatsanwalt in den Zeugenstand gerufen wurde. In ihrer tiefen Verschleierung hatte sie unantastbar und körperlos gewirkt. Der Richter hatte Pamela aufgefordert den Schleier zu heben, damit die Geschworenen ihr Gesicht sehen konnten. Doch Pamela hatte sich weigert der Aufforderung des Richters nachzukommen. Erst als der Richter Pamela mit gewissem Nachdruck zu verstehen gegeben hatte, dass sie von der Zeugenanhörung ausgeschlossen werden würde, wenn sie nicht umgehend den Schleier von ihrem Gesicht nahm, zog Pamela mit energischem Widerwillen den Hut samt Schleier vom Kopf. Ein erschrockenes Raunen war durch den Gerichtssaal gegangen, als man ihr entstelltes Gesicht sah. Von dem ehemals makellos schönen Gesicht war nicht mehr viel übrig. Drei tiefrote Narben zogen sich von der linken Stirnhälfte über Auge, Wange und Mund den Hals hinunter. Die tiefen Wunden hatten Pamelas Gesichtsnerven dermaßen verletzt, so dass die linke Gesichtshälfte samt Augenlid und Mund unnatürlich tief nach unten verzogen waren und Pamelas ebenmäßiges Gesicht in eine hässliche Fratze verwandelt hatte. Nur das noch immer wunderschöne rot glänzende Haar, das sie zu einer weichen Rolle hochgesteckt getragen hatte, nahm dem entstellten Gesicht ein wenig an Schärfe.
Wie John und Sam bereits befürchtet hatten, widerlegte Pamela die Aussagen Sallys. Es war natürlich klar, dass die Geschworenen der Frau des Angeklagten mehr Glauben geschenkt hatten, als seiner ehemaligen Sekretärin. Pamela hatte auf die Bibel geschworen, dass in diesem halben Jahr John stets an ihrer Seite war. Um zu beweisen, dass Pamela die Wahrheit gesagt hatte, legte der Staatsanwalt dem Richter und den Geschworenen Fotos vor, die im Dezember beim Weihnachtsfest der Canettis aufgenommen worden waren. Pamela war mit John und einigen anderen Gästen darauf abgebildet gewesen. Jeder wusste, dass Philipp ein schielendes Auge gehabt hatte. Doch auf diesen Bildern war nicht von einem Silberblick an dem Mann zu erkennen gewesen, der händchenhaltend neben Pamela stand und freundlich in die Kamera lächelte. Außerdem hatte ein forensisches Gutachten gewiesen, dass die Unterschrift auf dem Freigabeschein von RNV3 mit 100%iger Sicherheit jene Johns gewesen war. Und dieser Schein war im Jänner unterschrieben worden.
Die Beweislast war erdrückend. Eine halbe Armee von Zeugen war aufgerufen worden. Sie alle hatten bestätigt, dass John in den Bergen nicht nur seinen Bruder erschossen hatte. Noch viele andere Männer, die Pamela und Philipp behilflich sein wollten, ihren amoklaufenden Mann zu suchen und zur Vernunft zu bringen, waren seiner unglaublichen Mordlust zum Opfer gefallen.
Weder die Telefonistin in der Polizeizentrale hatte sich Johns Anruf erinnern können, noch war aufgezeichnet worden, dass John einen Notfall bekanntgegeben hatte, dass er mit zwei schwer verletzten Frauen festsitze und dringend Hilfe brauche. Die einzige Zeugin, die diese Aussagen zum Teil widerlegen hätte können, war Davids Mutter gewesen. Doch auf der Fahrt zum Gericht war die durch und durch gesunde Frau einem plötzlichen Herzanfall erlegen.
Als zu guter Letzt noch die Polizisten in den Zeugenstand gerufen worden waren, die vom Helikopter aus beobachtet hatten, wie John mit Joes Hirschfänger gerade das Seil durchzuschneiden wollte, an dem Pamela in lebensgefährlicher Tiefe baumelte, wusste John, dass diese Aussage seinen Schuldspruch besiegelte. Die Hüter des Gesetzes hatten keinen Grund gehabt, die Unwahrheit zu sagen und waren absolut glaubwürdig.

Nachdem die Beweisaufnahme abgeschlossen war, zogen sich am späten Nachmittag die Geschworenen zur Beratung zurück. Sam hatte sich das Einverständnis vom Richter geholt, mit John die Zeit bis zur Urteilsverkündung in dem kleinen Besprechungszimmer neben dem Gerichtssaal warten zu dürfen.
Sam ließ sich deprimiert ließ auf den Sessel fallen. Erschöpft zog er seine Krawatte locker und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Dann holte Sam aus der Seitentasche seines Aktenkoffers einen mit Leder bezogenen Flachmann und nahm einen kräftigen Schluck aus daraus. Wortlos reichte er sie John. Der Whiskey brannte wie die Hölle in Johns Kehle. Doch es tat gut nach so langer Zeit wieder den Geschmack von etwas Hochprozentigem zu spüren. Ziemlich sicher würde es für sehr lange Zeit der letzte Whiskey sein, der seine Kehle angenehm brennen ließ.
„John, es tut mir Leid, doch wie es aussieht, werden wir den Prozess verlieren“, sagte Sam resigniert.
„Damit habe ich ohnehin gerechnet“, erwiderte John gleichmütig und griff noch einmal nach der Flasche.
„Du hast echt gute Arbeit geleistet Sam. Doch gegen diese Flut an Beweismitteln war es vorhersehbar, dass mich die Canettis in die Erde stampfen würden.“
„Diese Schweine haben wirklich ganze Arbeit geleistet“, pflichtete ihm Sam verdrossen bei. „Ich befürchte, dass ein Schuldspruch in allen Anklagepunkten der Fall sein wird und du ziemlich sicher lebenslänglich bekommst.“
„Ja, so wie es aussieht, habe ich nicht viel Hoffnung als freier Mann den Gerichtssaal zu verlassen. Aber zumindest brauche ich mir dann auch keine Sorgen mehr zu machen, dass Pamela mich umbringen will.“
Johns Sarkasmus entlockte Sam ein bitteres Lächeln. Doch dann wurde er wieder ernst. Obwohl Sam ziemlich ruhig und gelassen wirkte, tobte ein ohnmächtiger Zorn in ihm. Die Machtlosigkeit zusehen zu müssen, wie sein Freund von skrupellosen Verbrechern denunziert wurde, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
„John ich werde dich im Bau nicht krepieren lassen. Ich werde diesen Augenarzt ausfindig machen und wenn nötig selbst vor den Kadi schleifen. Und selbst wenn ich jeden Winkel der Rocky Mountains absuchen muss, ich werde diese alte Indianerin finden. Außerdem werde ich beweisen, dass der Lawinenabgang durch eine Sprengung herbeigeführt wurde. Dann beantrage ich eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Und dann können die Canettis und dieser kleine Scheißer von Staatsanwalt noch so viele Zeugen auffahren lassen. Denn dann haben wir die Trümpfe in der Hand.“
John nahm noch einmal einen großen Schluck Whiskey. Der Alkohol tat langsam seine Wirkung und ließ die Probleme nicht mehr ganz so furchtbar erscheinen.
„Ach Sam, ich weiß nicht. Ich bin so müde. Vielleicht ist es ganz gut so, wie es kommt. Ich hab nichts mehr zu verlieren oder zu gewinnen.“
Johns Desinteresse und Willenlosigkeit beunruhigte Sam sehr. Er hatte seinen Freund noch nie so gleichgültig und lethargisch gesehen. Sam stand auf und zog seinen Sessel ganz nahe zu John heran. Erst jetzt fiel Sam auf, dass John um Jahre gealtert war. Die ehemals kleinen Krähenfüße um seine dunklen, nun tiefliegenden Augen waren tiefe Furchen geworden. Auch sein ehemals nur an den Schläfen leicht ergrautes Haar schimmerte nun durchwegs silbrig von seinem Kopf. Von dem dynamischen Sunnyboy, mit dem er noch vor einem Jahr auf dem Golfplatz gestanden hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Ein gebrochener, alter Mann saß nun vor ihm, der keine Perspektiven mehr hatte.
Betrübt legte Sam seinem Freund die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht, während er versuchte so aufmunternd wie möglich zu klingen:
„John, das Leben geht weiter. Aufgeben heißt sterben. Und soweit bist du noch lange nicht. Ich werde eine Möglichkeit finden, dich aus dem Knast zu holen, das verspreche ich Dir.“


Die Beratung der Geschworenen dauerte doch länger, als erwartet. Man hatte Bedenken und hegte Zweifel an der Schuldigkeit des Angeklagten. Der Prozess war einfach zu glatt und reibungslos über die Bühne gegangen. Außerdem waren die wichtigsten Zeugen der Verteidigung plötzlich verstorben, was doch ziemlich befremdend auf die Jurymitglieder wirkte. Auch die Gattin des Angeklagten wirkte auf einige Geschworene nicht besonders vertrauenerweckend. Welch liebende Ehefrau lässt ihren Mann derart hängen und liefert ihn noch dazu ohne die geringsten Skrupel ans Messer? Außerdem hatte der Verteidiger immer wieder durchblicken lassen, dass die Canettis ziemlich enge Bande zur Mafia unterhielten, die mit dem Pharmaziebetrieb Geldwäsche betreiben wollten.
Zu guter Letzt musste man sich aber doch an die stichhaltigen Fakten halten, die eindeutig gegen den Angeklagten sprachen.
Knapp vor 20.00 Uhr betraten die Geschworenen dann wieder den Gerichtssaal. Obwohl der Saal vollgestopft mit Menschen war, hätte man nun eine Stecknadel fallen gehört.
Der Richter richtete das Wort an den Sprecher der Jurymitglieder:
„Zu welchem Urteil sind die Geschworenen gekommen?“
Ein großer, hagerer Mann Anfang 50 erhob sich und sagte mit lauter Stimme, so dass ihn alle im Saal verstehen konnten: „Schuldig in allen Anklagepunkten.“
John hatte zwar nichts anderes erwartet. Doch als er den Schuldspruch nun tatsächlich hörte, zuckte er doch erschrocken zusammen.
Unter den Zuhörern im Gerichtssaal wurde es nun ziemlich unruhig. Einige der Reporter stürmten aus dem Saal, um so schnell wie möglich die Entscheidung der Geschworenen der Redaktion zu melden, damit das Urteil noch in der Morgenausgabe der Zeitungen erscheint, oder in den Spätnachrichten bekannt gegeben werden konnte.
Pamela versteckte sich nun nicht mehr hinter ihrem Hut mit dem dichten Schleier. Nachdem nun sowieso jeder der hier Anwesenden seine Neugier an ihr gestillt hatte, verzichtete sie auf diese nun unnütz gewordene Verschleierung. Pamelas und Johns Blick trafen sich für einen langen Moment. John konnte spüren, dass seine Frau über den Ausgang des Prozesses zwar erleichtert, aber nicht glücklich war. Er war lange genug mit ihr verheiratet gewesen, um zu erkennen, wann sie traurig war. Canetti hingegen war hoch erfreut und beglückwünschte Sinclair zu seinem fulminanten Sieg.
Der Richter erhob sich und schlug mit seinem Hammer energisch auf den Bolzen, so dass der Saal hallte.
„Ruhe im Gerichtssaal!“ zeterte der Vorstand in sein am Pult stehendes Mikrofon.
Sofort verstummten die murmelnden Stimmen. Der Richter wartete noch einen Moment bis es völlig still im Saal war. Dann begann er mit Achtung gebietender Stimme das Strafausmaß zu verlesen: „Kraft meines mir vom Staat Kanada verliehenen Amtes als…..“
Doch plötzlich wurde mit einem heftigen Ruck die Tür in den Gerichtssaal aufgerissen und eine Frau in indianischer Wildlederkleidung trat ein und unterbrach den Richter mit lauter Stimme:
„Sir, ich möchte bitte noch eine Aussage machen“, rief sie ihm mit lauter Stimme zu.
Überrascht richteten sich alle Augenpaare auf die Frau, die entschlossen zum Richterpult vorging. Ihr dunkles Haar trug sie zu einem dicken Zopf im Nacken geflochten. Doch der erste Blick trog. Diese Frau war keine Indianerin.
Ein Schäferhund, der nur drei Beine hatte, klebte wie ein Schatten an ihrer Seite. Man konnte sehen, dass ihm diese Situation hier nicht ganz geheuer war. Unsicher fletschte er leicht knurrend seine Lefzen und sein Nackenkamm stand beinahe aufrecht, sodass die Frau beruhigend auf ihn einreden musste.
Der Staatsanwalt reagierte sofort. Ohne die Antwort des Richters abzuwarten, sprang Sinclair auf und rief: „Euer Gnaden, die Beweisaufnahme ist abgeschlossen und das Urteil der Geschworenen ist einstimmig gefällt.“
Aber auch Sam blieb nicht tatenlos und ging unaufgefordert zum Richtersitz vor.
„Ehrenwerter Richter, ich bitte das Gericht in diesem Fall eine Ausnahme zu machen. Die Aussage der Zeugin dient zur Wahrheitsfindung und könnte vielleicht die Unschuld meines Mandanten beweisen.“
„Der Verhandlungstermin stand seit Wochen fest. Wenn die Zeugin es verabsäumt hat, rechtzeitig zu erscheinen, dann ist das ihr Problem“, fiel ihm der Staatsanwalt ins Wort, während er Sam hinterherlief.
Nicht gerade erfreut, dass der Prozessausgang diese Wendung genommen hatte, ließ sich der Richter in seinen Stuhl zurück fallen und wog seine Entscheidung ab.
„Sir eine Aufrollung des Verfahrens würde Zeit und Geld beanspruchen, die wiederum dem Staat zulasten fiele. Unter dieser Prämisse möchte ich inständig bitten eine Ausnahme zu machen“, bat Sam eindringlich.
Dem erschöpften Richter war anzusehen, dass er absolut keine Lust hatte, nochmals so eine Monsterverhandlung über sich ergehen lassen zu wollen und wandte sich ziemlich missmutig an die Frau.
„Wieso sind sie erst jetzt erschienen?“
„Sir, der Zeitpunkt der Verhandlung war mir durchaus bewusst“, erwiderte die Frau. „Ich habe den Prozess auch mitverfolgt. Wäre Mr. Lombard freigesprochen worden, so hätte ich mein Recht zur Aussage nicht genutzt. Doch da das nicht der Fall ist, muss ich nun einschreiten und dieser grotesken Farce ein Ende bereiten.“
„So, so, eine groteske Farce nennen sie also meine Verhandlung? Wenn sie sich früher gemeldet hätten, dann hätten wir uns vielleicht diese lächerliche Posse ersparen können“, fuhr er die Frau verärgert an.
„Ich bitte Sie meine Formulierung zu entschuldigen. Es liegt mir wirklich fern das Gericht zu beleidigen. Ich bedaure auch sehr, Ihnen mit meinem plötzlichen Auftauchen Unannehmlichkeiten zu bereiten, doch ich hatte leider keine andere Wahl.“
„Wie darf ich das verstehen?“ fragte der Richter interessiert und setzte sich wieder aufrecht in seinen Stuhl.
„Wenn ich so leichtsinnig wie mein Schwager Mr. Davis gewesen wäre, dann würde ich mit ziemlicher Sicherheit schon längst tot sein. Deshalb musste ich auch bis zur letzten Minute mit meiner Aussage warten.“
Abschätzend betrachtete der Richter die Frau.
„Sie sind also diese mysteriöse Mrs. Davis, die immer wieder Thema während des Prozesses war.“
„Ja Sir, das bin“, sagte Karin und löste damit im stillen Gerichtssaal aufgeregtes Gemurmel aus.
Der Blick des Richters war starr auf die neue Zeugin gerichtet. Karin konnte förmlich spüren, wie sehr er mit sich rang, ihre Aussage noch zuzulassen. Doch dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und sagte: „Ihrem Argument, wieso sie sich bis jetzt verborgen gehalten haben, ist einiges abzugewinnen. Es war schon sehr ungewöhnlich, dass fast alle aussagekräftigen Zeugen der Verteidigung plötzlich gestorben sind. Da sie anscheinend die einzig wirklich ernstzunehmende Zeugin sind, wird ihre Aussage in das Verhandlungsprotokoll hinzugefügt.“
„Sir, diese Vorgangsweise entspricht nicht der Verfassung und ist ungesetzlich“, versuchte der Staatsanwalt noch einmal einen energischen Vorstoß.
„Mr. Sinclair, hüten sie ihre Zunge“, wies der Richter den Staatsanwalt in seine Schranken. „Das hier ist mein Gerichtssaal. Ich entschied hier schon über Recht und Ordnung, als sie noch daumenlutschend am Rockzipfel ihrer Mutter hingen. Also belehren sie mich nicht, was ich tun darf und was ich nicht. Schließlich sind wir hier, um der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Und jetzt setzen sie sich auf ihren Allerwertesten und halten sie den Mund“, herrschte der zornige Richter den kleinen Mann an.
Dann wandte sich der Richter an die Jury:
„Ich hoffe, die Geschworenen sind ebenfalls damit einverstanden, dass wir in Anbetracht dieser unvorhersehbaren Situation diese Ausnahme machen.“
„Nachdem alle Jurymitglieder bejahend mit dem Kopf nickten, klopfte der Richter erneut mit seinem Hammer auf den Amboss: „Die Verhandlung wird fortgeführt.“
Freudestrahlend ging Sam zu seinem Platz zurück.
„Kopf hoch Junge. Manchmal lassen die kleinen Wunder doch etwas länger auf sich warten“, sagte er zufrieden. „Ich hatte immer schon vermutet, dass sich deine kleine Einsiedlerin von einer Großstadtpflanze nicht so ohne weiteres aus dem Weg räumen lässt“, spottete Sam voller Tatendrang.
John registrierte aber nur am Rande, was Sam sagte. Nur das Wort ‚Wunder’ blieb in seinem Gedächtnis klar haften, als er Karin in der Festtagskleidung der Wapamakθés ungläubig betrachtete.
„Ja, es ist wirklich ein Wunder“ murmelte John, der nun völlig durcheinander war. Doch Sam hörte ihm nicht mehr zu. Hoch motiviert machte er sich auf einem Notizblock einige Vermerke und überlegte seine weitere Vorgangsweise.
Ein unendliches Glücksgefühl hatte John erfasst, wie er es noch nie zuvor empfunden hatte.
„Oh Gott, sie lebt. Sie ist nicht tot“, ging es ihm immer wieder durch den Kopf.
Karins nervöser Blick wanderte durch den Gerichtssaal, bis sie ihn endlich sah. Mit tränenfeuchten Augen strahlte er sie überglücklich an. Und Karin lächelte glücklich zurück. Ihrem Instinkt folgend, wollte sie zu John hingehen und ihn an sich drücken. Doch plötzlich war die autoritäre Stimme des Richters wieder zu hören, der sie umgehend stoppte:
„Was hat dieses Tier hier zu suchen?“
Karins Gesichtsausdruck wurde wieder ernst, als sie sich dem Richter zuwandte.
„Das ist Bonny, meine Hündin.“
„Danke für die Belehrung. Es ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass es kein Schwein ist. Hunde und jedwedes andere Getier haben in meinem Gerichtssaal nichts verloren“, zeterte der Richter.
„Sir, meine Hündin ist ebenfalls eine Zeugin. Sie kann beweisen, dass sie Mr. Lombard kennt.“
„Das mag wohl sein. Doch Gott sei Dank sind Tiere im Zeugenstand noch nicht zugelassen“, belehrte sie der Richter sarkastisch. „Wenn sie hier aussagen wollen, muss der Hund raus.“
„Seufzend ging Karin zur Tür zurück und öffnete sie. Dann befahl sie Bonny, sich vor die Tür zu legen und schloss diese wieder. Rasch ging sich nun in den Zeugenstand, wo der Gerichtsdiener bereits auf sie wartete, um sie zu vereidigen.
Als Zeugin des Angeklagten war Sam als erster mit seiner Befragung am Zug. Er ging lächelnd auf Karin zu und sage fast euphorisch:
„Liebe Mrs. Davis. Es freut uns sehr, dass sie doch noch unter den Lebenden weilen und gekommen sind, um die Unschuld meines Mandanten zu beweisen. Würden sie uns nun bitte erzählen, was sich in den Bergen von Jasper wirklich abgespielt hat? Bisher hatten wir noch keine Gelegenheit eine andere und glaubwürdigere Version, als die der Anklage zu hören.“
Karin war sichtlich nervös. Doch dann atmete sie noch einmal tief durch und berichtete dann von den Ereignissen, die sich seit dem letzten November zugetragen hatten. Im Zuge ihrer Schilderungen konnte Karin all das widerlegen, was der Staatsanwalt dem Angeklagten vorgeworfen hatte. Pamelas Aussagen wurden immer mehr entkräftet und das Blatt begann sich langsam zu wenden. Karin ging mit Pamela schonungslos ins Gericht und warf ihr die Morde an ihrem Freund Joe und an Johns Bruder Philipp vor, aber auch den versuchten Mord an ihr selbst. Außerdem konnte sie Johns Aussage bestätigen, dass Philipp vor seinem nahenden Tod Pamela schwer belastet hatte.
Als Karin mit ihrer Aussage fertig war, fragte der Richter interessiert:
„Ihre Ausführungen waren sehr genau und sachdienlich. Doch nun wissen wir noch immer nicht, wie sie es geschafft haben zu überleben.“
Karin lächelte bitter und sah dabei Pamela an, die Karin keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte.
„Ich war leichtsinnig und naiv und hatte absolut nicht damit gerechnet, dass mich eine schwer verletzte Frau in die Schlucht stoßen konnte. Doch da bin ich schnell eines Besseren belehrt worden. Mittlerer Weile weiß ich, dass absolute Bösartigkeit gepaart mit extremer Willensstärke einen Menschen fähig sein lässt, über Erschöpfung und Schmerzen hinaus zu wachsen.“
Wie eine angriffslustige Königsnatter saß Pamela aufrecht in ihrem Stuhl und ignorierte die erstaunten Blicke und das aufgeregte Getuschel der Zuschauer. Wenn ihr Blick hätte töten können, dann wäre Karin innerhalb einer Zehntelsekunde tot vom Podium gefallen.
Doch dann konzentrierten sich die Anwesenden wieder die Zeugin, die nun wieder zu sprechen begonnen hatte:
„Als ich zusammen mit Pamela den Steilhang hinabgestürzt bin, gelang es mir, mich an ihrem Hosenbein festzuhalten. Doch sie trat hemmungslos nach meiner verletzten Schulter, bis ich mich schließlich nicht mehr halten konnte und loslassen musste. Im freien Fall bewegte ich mich rasch abwärts. Ich wartete nun darauf, dass es die nächsten Sekunden mit mir vorbei sein würde. Doch ich hatte Glück im Unglück. Meine enorme Fallgeschwindigkeit wurde durch eine Saalweide gebremst, die in wundersamer Weise aus dem Felsgestein gewachsen war. Mit voller Wucht landete ich im federnden Geäst des Strauchs, so dass ich ziemlich sanft ins Wasser fiel, ohne wirklich auf einen der todbringenden Felsen aufzuprallen. Doch die starke Strömung des Flusses riss mich erbarmungslos mit sich. Irgendwie schaffte ich es, mich in der Schlucht über Wasser zu halten. Als dann der Fluss wieder breiter und ruhiger wurde, konnte ich mich mit letzter Kraft ans Ufer ziehen, wo ich dann auch das Bewusstsein verlor“, schilderte Karin und hielt dann einen Moment zitternd inne. Noch immer weckten die schrecklichen Erinnerungen knapp dem Tod entronnen zu sein Empfindungen in ihr, die sie nicht so leicht abschütteln konnte.
„Dass ich noch am Leben bin, verdanke ich Cathy, der Frau von Joe Walkinstinkt-Man-Alone und meiner Hündin Bonny. Instinktiv hatten die Beiden gewusst, dass ich in höchster Lebensgefahr schwebe .Deshalb hatten sie sich aufgemacht, nach mir zu suchen.
In der Nähe des Flusses hatte Cathy ein Tippi aufgebaut, in dem sie mein hohes Fieber, meine Schussverletzungen und Brüche behandelte. Erst Tage später sank das Fieber und ich gewann wieder Bewusstsein zurück. Doch mit meinen vielen Verletzungen und aufgrund meines geschwächten Zustandes war ich nicht fähig gewesen ins Tal zu gehen und der Polizei zu melden, dass ich noch am Leben bin. Selbst als ich wieder halbwegs fit war, hat mir Cathy geraten abzuwarten. Wie sich herausgestellt hatte, war es gut gewesen, ihren Rat zu befolgen. Sicherlich wäre ich heute nicht mehr am Leben, wenn ich ihren Rat nicht befolgt hätte.“
Nachdem Karin ihre Aussage beendet hatte, wandte sich Sam an die Geschworenen.
„Meine Damen und Herren, Gottes Mühlen mahlen langsam, aber doch noch schnell genug, um der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen“, sagte Sam feierlich. „Durch die Aussage von Mrs. Davis ist ja nun offensichtlich die Schuldlosigkeit meines Mandanten bewiesen und in der Folge auch an den anderen Verbrechen, die ihm angelastet wurden.“
Dann wandte sich Sam an den Staatsanwalt und lächelte ihn voller Genugtuung an: „Ihr Zeuge bitte.“
Unverzüglich erhob sich Sinclair und ging zum Zeugenstand. Sein verbissener Gesichtsausdruck verriet, dass er ziemlich unter Spannung stand.
„Mrs. Davis, sie haben angegeben, dass bei dem Brand ihres Hauses all ihre Dokumente vernichtet worden sind und sie derzeit keinen gültigen Ausweis besitzen, mit dem sie ihre Identität nachweisen können. Folge dessen könnten sie ja auch Mrs. Jones oder Mrs. Smith sein, die sich jetzt als Mrs. Davis ausgibt.“
„Einspruch, das sind reine Mutmaßungen“, meldete sich Sam zu Wort.
Der Richter gab dem Einspruch statt.
„Mr. Sinclair, formulieren sie die Frage anders.“
„Mrs. Davis, wenn die Geschworenen und ich ihren Worten Glauben schenken sollen, dann müssen sie erst einmal beweisen, dass sie wirklich die Dame sind, als die sie sich ausgeben.“
„Sir, Pamela und ihre Schergen sind unerwartet in mein Haus eingedrungen und wollten mich töten. Bei diesem Gemenge brach Feuer aus. Glauben sie denn allen Ernstes, dass ich in dieser äußert lebensgefährlichen Situation daran gedacht habe, noch schnell meinen Pass, meine Geburtsurkunde samt Meldezettel aus meiner Dokumentenmappe zu holen, während die Kugeln um meinen Kopf pfiffen?“
„Dafür habe ich natürlich vollstes Verständnis. Doch schließlich ist seit diesem Zeitpunkt ein halbes Jahr vergangen. Also hatten sie genug Zeit sich die neuen Dokumente zu besorgen.“
„Das stimmt, doch ich war schwer verletzt und konnte mich lange Zeit kaum bewegen. Außerdem hatte ich schreckliche Angst durch mein neuerliches Auftauchen bei den Canettis zu erregen. Ich glaube kaum, dass ich für diese Menschen schon uninteressant geworden bin.“
„Das kann sein, aber auch nicht. Tatsache ist nun einmal, dass das Gericht aufgrund von Nachweisen und Beweisen agiert und nicht durch Mutmaßungen und Eventualitäten.“
„Doch ich kann beweisen, dass ich Karin Davis bin. Meine Schwiegermutter Mrs. Mary Davis kann meine Identität bestätigen.“
„Das glaube ich kaum, Die alte Dame ist heute Morgen einem Herzinfarkt erlegen.“
„Das kann doch nicht möglich sein! Meine Schwiegermutter besaß das Herz eines Hochleistungssportlers“
„Und doch ist es so“, sagte der Staatsanwalt mit gespielten Bedauern. „Bestimmt hat der plötzliche Tod ihres Sohnes die alte Dame so in Aufregung, dass sie ihr das Herz stehen geblieben war.“
„Aber dann ist ja niemand mehr da, der mich gut genug kennt, um mir einen Leumund abzugeben. Ich lebe seit vielen Jahren in den Bergen und komme zweimal im Jahre für knappe zwei Wochen in die Stadt hinunter. Und da hatte ich eigentlich nur mit David Kontakt.“
„Das ist sehr traurig für sie. Doch ich beharre auf diesen Leumundszeugen, der nachweisen kann, dass sie die Frau sind, für die sie sich ausgeben. Ansonsten ist für mich ihre Aussage ungültig.“
Karin blickte Hilfe suchend zum Richter empor, der jedoch dem Staatsanwalt Recht geben musste.
„Mrs. Davis, so Leid es mir tut, doch sie müssen ihre Identität beweisen können, sonst muss ich sie wieder von der Zeugenliste streichen.“
„Es gibt einen Menschen, der nachweisen kann, wer ich bin. Es ist Cathy, Joes Frau, die mir das Leben rettete. Sie wartet draußen auf mich.“
„Hat diese Frau auch einen Familiennamen, damit wir sie im Zeugenprotokoll vermerken können?“ wollte der Richter wissen.
Karin rutschte verlegen auf ihrem Sessel herum.
„Ich hab sie nie nach ihrem offiziellen Familiennamen gefragt.“
Sofort hackte der Staatsanwalt ein.
„Sir, ich habe über diese Indianerin schon im Vorfeld Erkundigungen eingezogen. Diese ergaben, dass diese Frau schon vor Jahren aus dem Reservat geflohen und als unterstandslos gemeldet ist, keine Steuern bezahlt und sich mit unseren Pflichten und Gesetzen absolut nicht identifiziert. Eine solche Person lehne ich strickt als Leumundszeugin ab. Sie ist eine zwielichtige Randfigur unserer Gesellschaft und für mich absolut inakzeptabel.“
„Eine zwielichtige Randfigur nennen Sie diese Frau?“ fuhr Karin den Staatsanwalt wütend an.
„Dieser Frau ist ein absolut guter Mensch, die in ihrem Leben noch nie jemand anderen geschadet hat, was man absolut nicht von allen der hier im Saal Anwesenden behaupten kann. Sie und ihr Mann haben nicht nur mir das Leben gerettet, sondern auch anderen.“
„Das mag sein, doch wenn man sich nicht in die Gesellschaft eingliedert, darf man auch nicht erwarten, akzeptiert zu werden. Selbst wenn sie noch so ein guter Mensch ist.“
Sam stand auf und bat zum Richterpult kommen zu dürfen.
„Sir, die Frau, die draußen wartet, hat sicherlich einen Ausweis. Obwohl sie als unterstandslos gilt, ist sie jedoch unbescholten. In diesem heiklen Fall sollte das Gericht eine Ausnahme machen.“
Nun mischte sich auch der Staatsanwalt energisch ein.
„Sir, wir wissen über diese beiden Frauen nichts, nur dass sie völlig abgeschieden im einem entlegenen Winkel eines Nationalparks wohnen. In diesem sehr tief greifenden und komplexen Fall, wo es um äußerst schwerwiegende Anschuldigungen geht, müssen dem Gericht hieb- und stichhaltige Fakten und Beweise vorliegen, damit die Gerechtigkeit nicht untergraben wird.“
Der Richter begann einige Augenblicke vor sich hinzubrüten, bis er schließlich sagte:
„Das Gericht lässt unter den gegebenen Umständen den Leumundszeugen nicht zu.“
Sinclairs triumphierendes Lächeln ließ Karin noch wütender werden. Am liebsten hätte sie diesem selbstgefälligen Lackaffen eine geknallt.
Der Staatsanwalt wandte sich mit pathetischem Gehabe an die Geschworenen.
„Nun nachdem der einzige Leumundszeuge der Zeugin abgelehnt wurde, ist die Zeugenaussage von Mrs. Davis hinfällig. So gesehen war dieses Intermezzo nicht mehr als ein Sturm im Wasserglas. Im Großen und Ganzen steht der Urteilsverkündung nun nichts mehr im Weg.
Doch der zweifelnde Gesichtsausdruck der Geschworenen ließ darauf schließen, dass Karins Aussagen, auch wenn sie nicht zu Protokoll gegeben wurden, viele Geschehnisse in ein anderes Licht rückten
„Es gäbe da vielleicht noch etwas, was die Unschuld Mr. Lombards doch beweisen könnte“, sagte Karin nun ziemlich kleinlaut.
„Haben sie vielleicht noch irgendwo einen Indianer im Petto, der wie sie seine Identität nicht nachweisen kann und außerhalb der Gesellschaft steht?“, herrschte der Staatsanwalt die Zeugin genervt an. „Sie sollten das Gericht nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten, die zu nichts führen und den Prozess nur unnötig hinauszögern. Der Angeklagte ist für schuldig erachtet worden und das in allen Anklagepunkten. Also unterlassen sie…..“
„Meine Kollegen und ich würden doch noch gerne hören, was Mrs. Davis zu sagen hat“, unterbrach der Sprecher der Geschworenen den Staatsanwalt. Mit einem überraschten Nicken nahm Sinclair den Wunsch der Geschworenen zu Kenntnis.
„Also Mrs. Davis, was möchten sie dem Gericht noch mitteilen?“ fragte der Richter freundlich.
„Dazu müsste ich kurz den Saal verlassen und etwas holen“, sagte Karin
„Nun wenn es nicht zu lange dauert, wird wohl niemand etwas dagegen haben.“
Karin stand auf und ging zur Tür. Als sie bei John vorbei ging, lächelte sie ihm zuversichtlich zu und flüsterte leise: „Vertrau mir.“
Als sie einen Moment später wieder in den Gerichtssaal zurückkam, hatte sie ein schlafendes Baby im Arm liegen. Erneut erfüllte ein überraschtes Flüstern den Saal. Karin ging nun rasch zum Zeugenstuhl zurück und nahm wieder Platz, während das Baby weiterhin friedlich in ihrem Arm schlief.
„Wessen Kind ist das?“ wollte der Richter wissen.
Im Saal war es nun so still geworden, dass man das leise Glucksen in den Heizkörpern hören konnte.
„Es ist mein Kind und John Lombard ist der Vater meines Sohnes.“
Während Karin die Frage des Richters beantwortete, blicke sie John schuldbewusst in die Augen, der aber die Tragweite dieses Geständnisses nicht wirklich erfassen konnte.
„Mein Sohn ist am 28. August geboren und wurde somit im Dezember letzten Jahres gezeugt. Mein Kind ist der Beweis, dass John den Winter über bei mir in den Bergen gelebt hat.
„Wieso haben sie uns nicht schon früher gesagt, dass sie ein gemeinsames Kind haben“, fragte der Richter nun selbst ein wenig erstaunt. In den letzten Jahren war ihm kein Fall mehr untergekommen, der so voll unvorhergesehener Wendungen und Überraschungen war.
„Ich wolle nicht, dass mein Sohn in diesen schrecklichen Prozess mit hineingezogen wird. Doch nachdem meine Aussage nicht zur Beweisführung herangezogen wird, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn als meine letzte Trumpfkarte auszuspielen. Schließlich geht es um das Leben und um die Ehre seines Vaters.“
Zärtlich drückte das schlafende Baby in seinem Wickelpolster aus weichem Wildleder an sich. Für einen Moment hatte Karin alles um sich herum vergessen, als sie glücklich ihren Sohn betrachtete.
„Meine Schwangerschaft war auch einer der Gründe, wieso ich mich nicht bei der Polizei gemeldet habe. Es hat ohnehin an ein Wunder gegrenzt, dass ich mein Baby durch die extremen Strapazen, die Schusswunde an meiner Schulter und letztendlich der meinen beinahe tödlichen Absturz in die Schlucht nicht verloren habe. Wenn ich Cathy nicht gehabt hätte, hätte mein Sohn sicherlich nicht überlebt.“
„Mrs. Davis, sie wissen, dass wir einen DNA-Test durchführen müssen, damit bestätigt ist, dass Mr. Lombard der Vater ihres Kindes ist.“
Plötzlich fuhr der Staatsanwalt hoch.
„Hohes Gericht, es mag durchaus möglich sein, dass Mr. Lombard der Vater des Kindes ist. Doch wie wir alle wissen, braucht es, um ein Kind zu zeugen, kein halbes Jahr, sondern im Bestfall einige Minuten. Dass der Angeklagte der Vater ist, beweist noch lange nicht, dass er die ganze Zeit über in den Bergen verbracht hat.“
„Sir, ich glaube, sie haben absolut keine Ahnung wie die Winter in den Bergen aussehen. Das ist kein Spaziergang durch den verschneiten Winterpark, wo die Wege vom Schnee sorgfältig freigeschaufelt sind. Diesen gefährlichen Anstieg durch die Berge und Wälder bei minus 30 Grad und hüfthohem Schnee nur wegen eines Sexabenteuers auf sich zu nehmen, ist doch ein wenig weit hergeholt“, belehrte ihn Karin.
„Mrs. Davis, es gibt ja immer noch die Fortbewegung mit einem Helikopter, was Unmögliches Realität werden lässt“, beharrte der Staatsanwalt.
„Es gab aber keinen Hubschrauber, weil ich ihm halbtot und mit etlichen Knochenbrüchen versehen im Schnee liegen fand. Röntgenaufnahmen müssten doch beweisen, dass John das Bein und einige Rippen gebrochen hatte.“
Der Richter bestätigte Karins Vermutung.
„Das ist richtig. Auf den Röntgenbildern sind die Brüche zu erkennen. Aufgrund ihrer Aussage ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß geworden, dass der Angeklagte tatsächlich den Winter in den Bergen verbracht hatte.
Sam stand nun auch auf und richtete das Wort an den Richter:
„Sir, unter gegebenen Umständen würde ich bitten, dass nach dem DNA-Test die Jury noch einmal zur Beratung zusammen tritt. Die glaubwürdige Aussage von Mrs. Davis beweist, dass mein Mandant das Opfer einer gemeinen Intrige ist.“
Der Staatsanwalt wollte erneut gegen die weitere Vorgangsweise Protest einlegen, doch der Richter wies ihn scharf zurück.
„Mr. Sinclair, es wird nun auch für Sie Zeit zu erkennen, dass das Auftauchen von Mrs. Davis die Sachlage völlig verändert hat und die Entscheidung der Jury erneut überdacht werden muss. Deshalb beantrage ich, dass die Verhandlung auf morgen früh um 9.00 Uhr verschoben wird. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird auch die DNA vorliegen.“
Der Richter stand auf und klopfte mit dem Hammer energisch auf den Bolzen.
„Ich erkläre den heutigen Verhandlungstag für beendet.“



- 31 -

 

Im allgemein hektischen Aufbruchsgetümmel wurde John wieder abgeführt. Er war enttäuscht, dass es ihm verwehrt wurde, zumindest ein paar Worte mit Karin zu wechseln, oder seinen Sohn, dieses wundervolle Geschenk des Himmels nur einen Augenblick betrachten zu dürfen. John konnte es nicht fassen: er war Vater. Mit einem Schlag hatte sein Leben wieder neue Perspektiven gewonnen und ein neuer Lebenshunger hatte seine Lethargie wie ein frischer Frühlingswind vertrieben. Der Wunsch und die Sehnsucht wieder frei zu sein, waren größer wie nie zuvor geworden. Seine Freude, sein Glück Karin nicht verloren zu haben, ließ ihn auf Wolken schweben. Und als ob ihn Karin mit ihrer Auferstehung noch nicht genug belohnt hatte, so setzte sie noch eins drauf und schenkte ihm als krönendes Zeichen ihrer Liebe.
Als Karin mit dem Baby im Arm den Saal betreten hatte, war ihm plötzlich unglaublich elend zumute gewesen. Im ersten Moment hatte John gedacht, dass sie sich einem anderen Mann zugewandt hatte, von dem dieses Kind war, während er in seiner engen Zelle saß und vor Trauer und Sehnsucht nach ihr fast vergangen war. Doch als Sam ihn angestoßen und zugeflüstert hatte: ‚Du Halunke hinterlässt wohl überall bleibende Spuren’, begann John endlich zu kombinieren. Rasch hatte er begonnen nachzurechnen, bis sich sein Elend und seine Verbitterung in einen gigantischen Höhenflug wandelten.
Unglaublicher Stolz hatte John erfüllt, als er Karin mit seinem Sohn in Zeugenstand sitzen gesehen hatte und sie wie eine Löwin um ihn kämpfte. Sie hatte sich nicht von diesem arroganten Staatsanwalt einschüchtern lassen, sondern ihm die Stirn geboten. John war aber nicht entgangen, wie groß ihre Angst gewesen war. Doch sie hatte das Unmögliche geschafft. Die Geschworenen würden erneut zur Beratung zusammen treten. Und mit ein bisschen Glück würde John morgen um diese Zeit ein freier Mann sein.
Bevor John den Verhandlungssaal verließ, konnte er noch einen kurzen Blick in Pamelas Gesicht werfen, deren kalte Augen auf Karin ruhten. Obwohl Pamelas Gesicht nun einer hässlich verzogenen Fratze glich, konnte John doch sehr gut darin lesen. Und das, was er darin las, beunruhigte ihn nun zutiefst. John fühlte, dass Pamelas Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Instinktiv wusste er, dass Karin und sein Kind in höchster Gefahr schwebten.
„Sam, ich hab eine Bitte an dich. Geh zum Richter und beantrage, dass Karin heute Nacht bewacht wird. Ich habe das untrügliche Gefühl, dass Pamela etwas in Schilde führt.“
„Aber es kann ja jetzt nichts mehr passieren? Wenn die DNA positiv ist, dann bist du aus dem Schneider.“
„Doch, der Richter hat befohlen, dass die DNA im nächsten Hospital abgenommen und sofort ausgewertet werden soll. Wenn man gleich im Gericht eine Speichelprobe des Kindes genommen hätte, sähe die Lage vielleicht anders aus. Diese DNA wird meine Unschuld beweisen. Wenn es aber keine DNA gibt, dann werde ich ziemlich sicher ins Gefängnis wandern. Deshalb wird Pamela alles daran setzen, um Karin mit ihrem Kind erneut aus dem Weg zu räumen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so dreist ist. Jeder wird vermuten, dass sie dahinter stecken würde.“
„Was macht das schon, wenn es jeder vermutet, aber es niemand beweisen kann, da sie sicherlich keine Spuren hinterlassen wird. Pamela muss unter allen Umständen versuchen, Karin und das Kind zu beseitigen, denn wenn ich frei gesprochen werde, dann ist sie im Arsch. Und mit ihr der alte Canetti.“
„Verdammt! Du hast Recht. Ich muss Karin abfangen, noch bevor sie das Gerichtsgebäude verlässt.“
Noch während Sam das sagte, stürmte er auch schon zur Tür hinaus.

 

Nachdem Richter Callahan die Verhandlung beendet hatte, wandte er sich an Karin:
„Mrs. Davis, wenn Sie so freundlich wären mir in mein Büro zu folgen? Sie müssen noch die Einverständniserklärung unterzeichnen, dass die DNA mit Ihrer Zustimmung durchgeführt wird und eine Unterschrift im Zeugenprotokoll. Außerdem möchte ich Ihnen den Medienrummel vor dem Gerichtsgebäude ersparen. Die Reporter lauern da draußen wie die Geier auf Sie. Ein Streifenwagen wartet bereits beim Hinterausgang des Gerichtsgebäudes und bringt Sie ins Krankenhaus.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Richter. Nur wäre es möglich, dass Cathy, die vor dem Gerichtssaal auf mich wartet, auch mitfahren kann?“
„Natürlich, ich werde sie durch einen Gerichtsdiener holen lassen.“
Karin folgte dem Richter in sein Büro, das gleich nebenan lag. Er holte ein bedrucktes Formular aus einem Pultordner, auf dem in schwarzen Lettern „Einverständniserklärung“ stand. Durch Karins rasche Bewegungen wurde das Baby wach und begann zu schreien.
„Hätten ie etwas dagegen, wenn ich das Kind hier stille? Der Kleine hat schon großen Hunger.“
„Natürlich nicht. Ich muss sowieso noch das Formular ausfüllen und sie aufs Protokoll setzen.
Karin nahm in einem der bequemen Ledersessel Platz und schnürte den Latz der Tunika auf. Sie wandte sich ein wenig vom Richter ab, so dass sie mit ihren entblößten Brüsten nicht in unmittelbarem Blickfeld des Mannes saß. Sofort brach das Geschrei des Kleinen ab und man vernahm ein herzhaftes Schmatzen.
Der Richter lächelte Karin freundlich an.
„Wie heißt denn der Kleine?“
„Er heißt Philipp, so wie Johns Bruder geheißen hat.“
Mit einem traurigen Lächeln nickte der Richter. Callahan wollte jedoch vermeiden, dass das Gespräch in Richtung Verhandlung verlief und sagte ablenkend.
„Wenn sie schon im Krankenhaus sind, wäre es eine gute Idee, den kleinen Burschen gleich einmal durchchecken lassen. Obwohl er kerngesund zu sein scheint, wenn man von seinem kräftigen Brüllen und gesunden Appetit ausgeht, braucht er doch einige Impfungen.“
„Das wäre wunderbar, wenn das gleich in einem ginge.“
„Ich werde veranlassen, dass Ihnen, dem Kind und Ihrer Begleiterin ein Zimmer für diese Nacht zur Verfügung gestellt wird. Ich nehme an, dass sie noch nach keiner Übernachtungsmöglichkeit Ausschau gehalten haben.“
„Nein, wir sind direkt mit dem Auto hierher gefahren, ohne uns lange irgendwo aufzuhalten. Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich so um uns kümmern.“
„Es ist mir immer eine Freude, anständigen Menschen behilflich sein zu können.“
Dann setzte er das Amtssiegel unter seine Unterschrift und reichte Karin den Stift, nachdem der Kleine gesättigt erneut eingeschlafen war. Rasch unterschrieb sie das Dokument, faltete es und steckte es in die Seitentasche ihrer Tunika. Dann unterschrieb sie noch das Zeugenprotokoll, ehe sie der Richter zur Tür brachte.
„Was ist mit meiner Hündin?“, fragte Karin besorgt. Wahrscheinlich liegt sie noch immer vor der Tür und wartet auf mich.“
„Ich werde mich um sie kümmern“, beruhigte sie der Richter. „Bestimmt wird sie es überleben, wenn sie eine Nacht in einem Zwinger der Polizeihundestaffel verbringen muss.“
Karin ging es ein wenig gegen den Strich, ohne ihre Hündin loszufahren. Doch im Krankenhaus waren Tiere nicht erlaubt, sodass ihre Unterbringung in einem Zwinger sicherlich die beste Lösung für Bonny war.
Morgen um 9:00 Uhr werden sie ja ohnehin wieder hier sein“, beruhigte sie der Richter, der an ihrer Nasenspitze ablesen konnte, dass sie ihre Hündin gerne bei sich gehabt hätte.
„Wenn alle notwendigen Testergebnisse vorliegen, wird es dann ziemlich schnell zu einem Urteilsspruch kommen. Danach können sie sofort ihre Hündin abholen.“
Bevor Karin zur Tür hinausging, wandte sie sich nochmals erleichtert dem Richter zu: „Vielen Dank für alles. Auch wenn Sie ein wenig ruppig sind, sind Sie doch ein guter und anständiger Mann, Richter Callahan.“
Der Richter räusperte sich und reichte Karin zum Abschied die Hand.
„Nun ja, man tut was man kann“, sagte er verlegen. „Guten Abend Mrs. Davis.“

Im Innenhof wartete ein Streifenwagen der Polizei auf Karin. Cathy saß bereits im Auto hielt nach Karin Ausschau. Mit einem erleichterten Lächeln stieg Karin ein. Doch Cathys besorgter Blick ließ Karin aufhorchen.
„Was ist los Cathy? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“ Karin wollte sich ihre freudige Stimmung jetzt nicht vermiesen lassen. Sie war selig, dass sie John nach so vielen Monaten wieder gesehen hatte und ihm helfen konnte. Er war hager und blass geworden und sein schwarzes Haar war in den letzten Monaten fast weiß geworden. Doch als er sie anfänglich wie eine Fata Morgana anblickt hatte und er schließlich erkannte, dass sie kein Trugbild war, begann sich unermessliche Freude und Erleichterung in seinen großen, dunklen Augen widerzuspiegeln. Karin hatte seine tiefe Liebe für sie gespürt. Weder sein verhärmtes Gesicht, das ihn nun wesentlich älter aussehen ließ, noch der Silberfuchslook hatten daran etwas ändern können, dass sie ihn mehr liebte, als je zuvor. Aber auch, dass John nun endlich von seinem Sohn wusste, erleichterte ihr Gewissen ungemein. Zuversichtlich, dass sich alles zum Guten wenden würde, drückte sie den Kleinen zärtlich an sich.
„Wir sollten nicht mit diesem Auto ins Krankenhaus fahren. Ich spüre eine dunkle Wolke auf uns zukommen. Wir sollten aussteigen und uns lieber selbst durchschlagen“, sagte Cathy beunruhigt.
„Ach komm Cathy, du hörst das Gras wachsen und die Flöhe niesen. Du bist ganz einfach viel zu misstrauisch, weil du so lange Zeit nicht unter Menschen warst. Sie machen dir einfach noch Angst. Aber das wird sich nun bald ändern“, versuchte Karin die Bedenken der alten Indianerin zu zerstreuen.
Karin hatte darauf bestanden, dass sich Cathy in Jasper niederließ. Sie wollte, dass ihre Freundin in ihrer Nähe war, als guter Geist, fehlende Mutter und vertrauenswürdige Freundin.
„Nicht alle, aber einige machen mir Angst, die ich im Gericht gesehen habe. Besonders die Frau mit dem rotem Haar und den hässlichen Narben im Gesicht und auch der ältere Mann, der neben ihr saß, haben den bösen Blick und strahlen eine negative Kraft aus. Sie sind verdammt gefährlich.“
„Jetzt hör doch auf so schwarz zu mahlen. Wir sitzen hier in einem Polizeiauto und werden von zwei Polizisten bewacht. Was könnte uns schon Besseres passieren?“
„Auf uns selbst gestellt bleiben“, antwortete Cathy störrisch. „Karin du weißt, dass meine Vorahnungen nicht aus der Luft gegriffen sind. Ich spüre es am ganzen Körper, wenn Gefahr in der Luft liegt.“
Cathy zog vorsichtig ihren Dolch aus ihrem Stiefel hervor, den Joe für sie vor vielen Jahren anfertigte. Es war ein Hochzeitsgeschenk ihres Mannes gewesen. Cathy trug ihn immer bei sich. Die lange, schmale Stahlklinge steckte in einem schwarzen, kunstvoll gearbeiteten Hirschhorngriff, in dem das Jahr ihrer Hochzeit eingraviert war.
„Es war leichtsinnig von uns keine Waffen mitzunehmen. Nimm zur Sicherheit zumindest meinen Dolch. Du wirst ihn bestimmt nötiger als ich brauchen“, flüsterte Cathy. Sie drückte Karin das Messer in die Hand, ohne dass es die Polizisten sehen konnten.
Jetzt wurde auch Karin unruhig. Wenn Cathy so aufgewühlt war, lag meistens wirklich etwas in der Luft.
„Ok Cathy. Wir steigen aus und schlagen uns alleine durch. Später können wir uns ja ein Taxi rufen.“
Karin drückte Philipp der Indianerin in die Arme und wandte sich an den Fahrer.
„Würden Sie bitten anhalten? Wir möchten das letzte Stück gerne zu Fuß laufen.“
„Lady, ich habe aber die Weisung vom Richter, Sie bis vor das Krankenhaus zu fahren“, erwiderte der Polizist.
„Ich weiß, doch wir sind den ganzen Tag gesessen. Wir brauchen unbedingt ein wenig Bewegung. Also bleiben Sie bitte stehen.“
„Daraus wird nichts Kleine. Du bleibst schön bei uns im Wagen sitzen. Da passiert dir auch nichts, zumindest jetzt noch nicht“, lächelte der andere Polizist Karin hämisch an. Als Karin in das Gesicht des Mannes blickte, lief es ihr kalt über den Rücken. Als sie in den Wagen stieg, hatte sie nur die Uniformen der beiden Männer registriert, aber nicht die Gesichter, die sie unter ihrer Schirmkappe versteckt hielten. Erschüttert erkannte sie den Mann mit der gezogenen Waffe sofort wieder, obwohl ihn die verheilten Brandnarben, die sie ihn mit der heißen Kaffeekanne zugefügt hatte, ein wenig anders aussehen ließen.
„Ja Püppchen, so sieht man sich wieder. Hast wohl geglaubt, dass ich ins Gras gebissen hab, nicht wahr?“, spottete das Narbengesicht. „Aber nicht mit dem alten Frank. Der ist viel zu zäh und zu schlau, als dass er sich von einem Hinterwäldler abknallen lässt.“
Selbstgefällig grinste er die beiden Frauen an, während er sie mit seiner Waffe bedrohte.
„Wir werden jetzt einen schönen Ausflug machen.“
Das Auto fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die Straßen, so dass ein Ausstieg während der Fahrt unmöglich war. Außerdem hatten sie Philipp dabei. Selbst wenn der Wagen langsamer gefahren wäre, wollte Karin ihr Kind dieser tödlichen Gefahr nicht aussetzen.
Der Fahrer hatte Sirene und Blaulicht aktiviert, so dass er ungehindert über die Kreuzungen fahren konnte, ohne anhalten zu müssen. Karin versuchte ihre aufsteigende Panik zu unterdrücken, um klarer denken zu können. Irgendwie musste es ihnen gelingen aus dem Wagen zu kommen.
„Vielleicht sollten wir beiden Hübschen dort weiter machen, wo wir das letzte Mal aufgehört haben“, fuhr der hässliche Mann mit anzüglicher Lüsternheit fort, während er eine halbvolle Whiskyflasche hob und einen kräftigen Schluck davon nahm.
„Gib die Flasche weg Frank. Du weißt der Boss hasst es, wenn du trinkst“, mahnte ihn der Fahrer.
„Einen kleinen Schluck in Ehren kann mir wohl niemand verwehren“, erwiderte Frank fröhlich und hob erneut die Flasche an seine Lippen.
Karin nutzte diesen Moment seiner Unachtsamkeit. Während der Mann die gelbe Flüssigkeit in seinen Schlund laufen ließ, schnellte ihr rechter Arm seitlich vom Beifahrersitz nach vor und sie drückte die Klinge des Dolches an die Kehle des Trinkers. Überrascht ließ dieser die Flasche sinken und wich unter dem Druck der scharfen Klinge so weit wie möglich zurück.
„Gib mir die Pistole du Schwein, sonst schneid ich dir deine versoffene Gurgel durch“, fauchte sie aufgeregt in sein Ohr. Der Mann war dermaßen überrascht über diese unerwartete Attacke, dass er diese widerstandslos in Karins Hand gleiten ließ.
Dieser Angriff ging so rasch über die Bühne, dass auch der Fahrer keine Zeit mehr hatte zu reagieren. Blitzschnell setzte Karin die Pistole dem Fahrer an die Schläfe, während sie nach wie vor die Klinge des Dolches schmerzhaft an die Kehle des Narbengesichts drückte. Ein dünnes Rinnsal Blut hatte sich bereits an der Druckstelle gebildet, das sich seinen Weg den Hals hinab bahnte.
„So Bürschchen, du hältst brav mit deinen Händen das Lenkrad fest und wechselt jetzt auf die äußerste rechte Fahrspur, sonst muss ich dir dein bisschen Hirn aus dem Schädel blasen.“
Bestürzt drosselte der Fahrer die Geschwindigkeit und Angstschweiß begann sich auf seiner Stirn zu bilden.
„Lady, seien Sie vernünftig und lassen Sie die Spielchen. Ich verspreche, dass Ihnen und dem Kind nicht geschehen wird“, versuchte der Mann trotz seiner offensichtlichen Angst Karin zu überzeugen, dass Flucht sinnlos wäre.
„Du solltest keine Versprechungen machen, von denen du ganz genau weißt, dass du sie nicht halten kannst.“
Sie blickte durch das Rückfenster. Doch außer grelles Scheinwerferlicht konnte sie im Dunkeln nichts erkennen. Karin hatte keine Ahnung, ob ein weiteres Auto dem Polizeiwagen folgte. Die Straße war um diese Zeit noch ziemlich dicht befahren. Diesen Umstand wollte Karin für sich nutzen.
„Cathy, nimm die Pistole des Fahrers und untersuch seine Taschen, ob er noch andere Waffen mit sich trägt.“
Die Indianerin ließ sich nicht zweimal bitten. Sie nahm seine Waffe an sich und untersuchte seine Taschen. Doch außer zwei vollen Magazinen fand sie nichts. Nun übernahm Cathy die Bewachung des Fahrers, während Karin nun auch die Taschen des Narbengesichts durchsuchte, in denen sie nichts fand.
Karin checkte noch einmal die Lage auf der Straße. Dann wies sie den Fahrer an im Schritttempo weiterzufahren. Sofort hielten die im nächsten Umkreis befindlichen Fahrzeuge Abstand von dem in Alarmzustand versetzen Polizeiwagen oder versuchten auszuweichen.
Nun kam der schwierigste Teil dieser Mission impossible. Sie saß in der Mitte der Rückbank und wartete den richtigen Moment ab. Als dieser gekommen war, schrie sie die Männer hektisch an:
„Raus aus dem Wagen!“
Verdutzt blickten sich die beiden an.
„Aber wir können hier nicht aussteigen. Wir befinden uns auf einer dicht befahrenen Highway!“
„Gerade deswegen.“
Damit sie ihrem Befehl den nötigen Nachdruck verlieh, schoss sie mit der Pistole durch das Autodach. Der heftige Knall betäubte ihre Ohren. Die unerwartete Handlung zeigte sofort seine Wirkung. Ohne ein weiteres Wort des Widerstandes öffneten die erschrockenen Männer blitzschnell die Autotüren und sprangen aus dem langsam dahin rollenden Wagen. Umgehend waren quietschende Bremsen und lautes Hupen zu hören.
Schnell wie ein Wiesel kletterte Karin auf den Fahrersitz, um den sich in Bewegung befindlichen Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie knallte zuerst ihre Autotür zu, bevor sie sich zu der anderen offenen Tür hinüber beugte und diese zuzog. Dann warf Karin einen Blick in den Rückspiegel. Erleichtert atmete sie durch, als sie sah, dass sich die beiden Männer auf den Pannenstreifen retten konnten. Doch ihre Erleichterung war schnell verschwunden, als sie die Beiden in ein haltendes Auto einsteigen sah. Nun hatte sie die sichere Gewissheit, dass sie verfolgt wurden.
Karin war hochgradig nervös.
Die Angst saß ihr im Nacken. Karin hatte absolut keine Ahnung, wo sie sich befand. Außerdem wusste sie nicht, ob noch andere Verfolger auf ihrer Spur waren. Der heftige Knall hatte Philipp geweckt, der nun lauthals schrie und Karins Konzentration zusätzlich noch beeinträchtigte. Karin versuchte den Polizeifunk zu aktivieren und drückte jeden Knopf. Doch das Gerät zeigte keine Reaktion. Eine neuerliche Panikattacke rüttelte Karin durch, als sie die durchgetrennten Kabel des Funkgerätes zwischen ihren Beinen bemerkte. Der Hoffnungsschimmer die Polizei zu verständigen, war dahin. Der Wagen bewegte sich langsam im trägen Abendverkehr dahin. Solange sich Karin auf dem mehrspurigen Highway befand, waren sie halbwegs sicher. Wenn sie von der Autobahn abfahren und in eine weniger belebte Straße einbiegen würde, musste sie damit rechnen, von ihren Verfolgern gestellt zu werden. Karin war weder eine geübte noch riskante Autofahrerin und Vancouver war nicht ihre vertraute Welt. Außerdem saßen eine alte Frau und ihr Baby im Fond des Wagens. An eine Flucht zu Fuß mit den beiden war nicht zu denken. Fieberhaft überlegt Karin, wie sie aus dieser gefährlichen Situation rauskommen konnten.
Als Karin auf dem Wegweiser „Zentrum“ las, bog sie an dieser Abfahrt ab. Die Chance dort ihren Schergen zu entkommen, war sicherlich größer als wenn sie weiter auf dem Highway blieben. Aber vorher musste sie Cathy mit dem Baby in Sicherheit bringen.
„Cathy, mach mir eine Rolle aus Windeln, so dass diese so aussieht, als ob ich es ein Baby wäre und steck sie in den Wickelpolster.“
„Wozu braucht du das?“ fragte Cathy aufgeregt.
„Als Täuschung. Ich werde dich und das Baby an einer ziemlich belebten Stelle absetzen, wo du dich mit ihm unter die Menschen mischen und untertauchen kannst. Versuch einen Polizisten zu finden und sag ihm, was passiert ist. Ich werde die Typen hinter uns von dir ablenken und ebenfalls versuchen mich zu einem Kommissariat durchzuschlagen. Wenn wir eine Chance haben, dann nur getrennt.“
Cathy schwieg. Karin wusste, dass der alten Indianerin gegen den Strich ging, sich alleine mit dem Baby in einer ihr völlig fremden Stadt durchzuschlagen.
Wie Karin vermutet hatte, folgte ihr der Wagen. Karin fuhr nach wie vor mit Sirene und Blaulicht. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ein anderer Streifenwagen auf sie aufmerksam werden könnte. Doch es war wie verhext. Kein einziges Polizeiauto kreuzte ihren Weg. Karin hatte keine Ahnung wohin sie fuhr. Sie folgte den unzähligen Autos, die Richtung Zentrum drängten, so dass die zähe Schlange nur mehr im Schritttempo vorankam.
„Vorsicht Karin, da will ein Mann ins Auto!“, schrie Cathy aufgeregt.
Ein Mann hatte versucht die Hintertür aufzureißen, die aber versperrt war. Schnell wandte er sich ab und griff er nach dem Griff der Fahrertür. In letzter Sekunde gelang es Karin auch diese zu verriegeln, sodass der Mann vergeblich daran zerrte. Doch dann zog der neben dem Auto herlaufende Mann eine Pistole aus dem Hosenbund und zielte auf Karins Kopf. Ein Schuss knallte und das Fensterglas der Fahrertür zersplitterte lautstark über Karin. Die Kugel ging knapp an ihrem Hals vorbei und bohrte ein kleines Loch in den Beifahrersitz.
Ein heftiger Schrecken rüttelte ihren Körper durch, und instinktiv trat Karin auf das Gaspedal durch. Mit laut quietschenden Reifen brach der Wagen aus der Kolonne aus und fuhr den schmalen Spalt zwischen zwei Fahrtstreifen entlang. Immer wieder streifte ihr Wagen an die sich im Schritttempo fortbewegenden Autos. Karin hörte weder die Protestrufe noch das empörte Hupen der verärgerten Autobesitzer. Ihre Augen waren starr nach vorne gerichtet. Voller Verzweiflung suchte Karin nach einer Möglichkeit ihre Verfolger abzuschütteln. Diese bot sich endlich, als die Baustelle in Sicht kam. Diese war auch Schuld an dem Stau, die die vier Fahrspuren auf zwei zusammenschmelzen ließ. Karin durchbrach die rot-weißen Bänder der Absperrung und fuhr auf dem frisch asphaltierten Belag die jungfräuliche Fahrspur entlang. Die Straßenarbeiter hechteten vor dem vorbei flitzenden Polizeiwagen in den Straßengraben, um sich in Sicherheit zu bringen.
Doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Karins Häscher hatten sich an Karins Wagen geheftet und fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit hinter ihr her. Im letzten Moment nahm Karin die Abzweigung wahr, die die einer schmalen Planke abgesperrt war. Mit vollem Tempo scherte Karin aus und durchbrach die Absperrung. Dabei flog die Planke in hohem durch die Luft und landete auf der Windschutzscheibe des Verfolgerautos ab. Karin nahm die Kurve so scharf, dass es den Wagen jeden Augenblick überschlagen wollte.
Durch den Aufprall der Latte war der Fahrer des Verfolgerautos einen Moment lang erschrocken und unkonzentriert. Doch die kurze Zeit genügte, dass er die Abzweigung verpasste. Unter lautem Reifenquietschen bremste sich der Wagen am Pannenstreifen ein und musste dann bis zur Abfahrt zurückschieben. Dieser wertvollen Sekunden musste Karin unbedingt für sich nutzen. Die Abzweigungsstraße war Gott sei Dank schon fast fertig asphaltiert, sodass sie mit unverminderter Geschwindigkeit drauf losfahren konnte. Die Straße führte in eine ziemlich belebte Einkaufsgegend. Es war Rush Hour und die belebteste Zeit des Tages. Viele Menschen tummelten sich nach dem Job nun in den Geschäften und Bars.
Karin brauste mit Sirene und Blaulicht im immer dichter werdenden Verkehr durch die hell erleuchtete Straße. In der Hoffnung, durch ihren verkehrswidrigen Fahrstil Aufsehen zu erregen, fuhr sie über rote Verkehrsampeln, missachtete jede Stopptafel und fuhr sogar zwei Mülltonnen an, sodass eine davon umkippte und der verstreute Abfall auf der Fahrbahn lag. Doch niemand stieß sich daran. Es war wirklich zum Verrücktwerden. Wenn man die Polizei brauchte, dann war sie nie da.
Karin warf einen suchenden Blick in den Rückspiegel. Doch die Erleichterung den Wagen endlich abgehängt zu haben, war schnell dahin. Keine 100 Meter hinter ihr versuchte der rote Buick mit dem weißen Dach aus der Autoschlange auszubrechen und den Abstand zu Karins Wagen zu verringern.
Noch waren ihre Verfolger in halbwegs sicherer Entfernung, was aber sicherlich nicht so bleiben würde. Jetzt musste Karin handeln. Schnell drehte sie sich zu Cathy um, die Philipp bereits aus dem Wickelpolster gezogen hatte und fest an ihre Brust gedrückt hielt. Der Kleine hatte sich mittlerer Weile beruhigt und sah mit großen Augen zu Cathy hoch, die sich vor Angst nicht rühren konnte.
„Cathy, du musst raus hier“, rief sie ihrer Freundin aufgeregt zu.
„Ohne dich gehe ich nirgendwo hin“, erwiderte Cathy mit zittriger Stimme.
„Es geht aber nicht anders“, sagte Karin, die den Wagen vor einem riesigen Einkaufszentrum anhielt. „Lauf in die Shopping Mall und bring dich mit Philipp in Sicherheit. Ich werde versuchen die Typen von euch abzulenken.“
„Ich hab Angst“, flüsterte Cathy.
„Ich auch. Doch wenn du nicht bald aussteigst, dann ist es zu spät“, drängte Karin, die im Rückspiegel das immer näher kommende Auto sah.
Die beiden Frauen blickten einander noch einmal verzweifelt an, ehe Cathy mit Philipp aus dem Wagen sprang. Innerhalb weniger Sekunden war sie mit dem Kind in der rasch dahineilenden Menschenmenge untergetaucht, die in durch das hell erleuchtete Portal des Einkaufszentrum strömten.
Karin konnte jetzt nur hoffen, dass Canettis Schergen sie nicht aussteigen sahen.
Ein weiterer Blick in den Rückspiegel sagte ihr, dass es höchste Zeit war, wieder aufs Gas zu treten.
Einige hundert Meter weiter blieb Karin am Straßenrand stehen und griff nach dem Wickelpolster mit der darin zusammengerollten Windel. Karin sprang aus dem Wagen und drückte das Wickelpolster fest an sich, so dass man glaubte, dass sie ein Baby an sich gepresst hielt. Das Messer steckte wie bei Cathy nun in ihrem Stiefel, während sie die geladene Pistole unter dem Windel versteckt hielt. Karin bereute es nun zutiefst, dass sie Indianerkleidung trug. In dem Gewand fiel sie in der Großstadt auf wie ein bunter Hund. Voller Bedauern musste Karin bei dem Gedanken „bunter Hund“ an Bonny denken. Wenn ihre Hündin jetzt bei ihr wäre, dann würde sie sich sicherlich nicht so wehrlos fühlen. Selbst auf drei Beinen hatte Bonny bewiesen, dass sie eine verlässliche Gefährtin war, die jederzeit unter Einsatz ihres Lebens für Karin in die Bresche springen würde. Doch irgendwie musste es Karin schaffen, ohne ihre Hündin zurecht zu kommen.
Karin rannte den Gehsteig entlang und hielt verbissen nach einem Polizisten oder Securitiy-Kräften Ausschau. Doch nach wie vor war niemand zu sehen. Rasch hastete Karin die Treppe zu einer der Metro-Haltestellen hinab. Vielleicht hatte sie Glück und sie konnte in letzter Sekunde in ein schließendes Abteil eines U-Bahn-Zuges springen. Dann war Karin in Sicherheit.
Doch solche Verfolgungsszenen, wo man sich in letzter Sekunde in eine abfahrende U-Bahn retten konnte, gab es wohl nur Actionfilmen. Vor Entsetzen blieb Karin das Herz fast stehen. Eine riesige Menschenmenge wartete auf dem Perron, während die Stimme aus dem Lautsprecher eine technische Störung bekannt gab, und der Zug sich um einige Minuten verspäten würde.
Verzweifelt drängte Karin durch die wartenden Menschenmassen, die wie Ölsardinen in der Dose dicht aneinander gedrückt standen und mit stoischer Ruhe auf das Einfahren des nächsten Zuges warteten. Das unwillige Brummen und Raunen der wartenden Fahrgäste blieb nicht als, als Karin mit energischen Stößen durch die Reihen drängte.
Doch dann vernahm Karin die noch lauteren Protestrufe der Fahrgäste hinter sich, die brutal zur Seite gestoßen oder getreten wurden. Das rücksichtslose Verhalten ihrer Verfolger trug aber Früchte und der Abstand zu Karin verringerte sich immer mehr.
Karin konnte sich bis zum anderen Ausgang durchzudrängen. Erleichtert lief sie die Stufen hoch. Doch gerade, als sie bei einer hell erleuchteten Litfaßsäule vorbeilaufen wollte, schnellte hinter dieser plötzlich ein Arm hervor, dessen geballte Faust sich tief in Karins Bauch grub. Vor Schmerz konnte Karin nicht einmal schreien. Völlig benommen taumelte sie zurück und verlor das Gleichgewicht. Während des Sturzes fiel ihr das Wickelpolster samt der darin versteckten Pistole aus den Händen und flog im hohen Bogen durch die Luft.
Instinktiv wichen die vorbeieilenden Passanten dem Geschoss aus. Mit Entsetzen beobachteten sie aber auch, wie ein Polizist auf die am Boden liegende Indianerin eintrat.
„Helfen sie mir bitte“, rief Karin den vorbei laufenden Menschen mit gepresster Stimme zu, während sie versuchte, sich vor den Tritten des Narbengesichts so gut es ging zu schützen.
Ein beherzter Mann war stehen geblieben und verlangte empört Aufklärung über diese menschenunwürdige Behandlung. Doch Karins Peiniger versetzte dem älteren Herrn nur einen heftigen Stoß gegen die Schulter, sodass dieser fast strauchelte.
„Verschwinden Sie gefälligst und behindern Sie nicht diesen Polizeieinsatz“, fuhr ihn das Narbengesicht erregt an. „Diese Frau hat gerade bei einem Raubüberfall einen Bankangestellten erschossen.“
Mit fassungslosem Staunen blickte der Mann auf die am Boden wimmernde Frau hinab und ging dann verstört weiter.
Das Narbengesicht zerrte Karin vom Boden hoch und zischte sie drohend an: „Noch einen Mucks und ich blas dir dein bisschen Hirn aus der Birne.“
Karins Verfolger waren nun auch bei der Litfaßsäule angekommen. Nachdem sie sahen, dass Karin unter Kontrolle war, sammelten die beiden Männer die Waffe und den Wickelsack ein. Doch als der eine in dem Wickelsack nur einen zusammengerollten Wickelpacken entdeckte, rief er seinen Komplicen bestürzt zu:
„Dieser kleine Bastard steckt nicht drin.“
Betroffen verharrten Canettis Schergen versuchten nachzuvollziehen, wo das Kind abgeblieben sein könnte. Doch dann riss das Narbengesicht so wütend an Karins Zopf, sodass ihr erneut Tränen in die Augen schossen.
„Wo ist die dreckige Indianersquaw“, schrie er sie an. Sein vor Zorn gerötetes Gesicht ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er Karin am liebsten erneut zusammen geschlagen hätte. Es gefiel ihm gar nicht, dass sie ihn ein weiteres Mal ausgetrickst hatte.
„Dort, wo ihr sie nie finden werdet“, keuchte Karin unter Schmerzen und hoffte, dass sich Cathy mit Philipp in Sicherheit bringen hatte können.
Karin wurde die letzten Stufen hochgezerrt und dann in den Fond des Buicks gestoßen. Eingequetscht zwischen den übel nach Schweiß riechenden Männern wurde sie nach weiteren Waffen durchsucht. Unter ständigen Drohungen und Schlägen ins Gesicht wollten sie Philipps Aufenthalt wissen. Doch Karin konnte ihnen nur die nackte Wahrheit sagen, dass sie keine Ahnung habe, wo die Cathy mit ihrem Kind war.
Der Wagen fuhr nun eine Straße entlang, wo die verwahrlosten Wohnblocks immer mehr Lagerhallen, Fabrikgebäuden und riesigen Containern wichen. Auch die würzige Luft des Meeres ließ keinen Zweifel offen, dass sie sich im Hafenviertel Vancouvers befinden mussten. Die riesigen, dunklen Gebäude und die menschenleeren, schlecht beleuchteten Straßen verstärkten Karins Angst nun noch mehr. Eine ausgezeichnete Gegend, um Menschen das Licht auszublasen, ohne großes Aufsehen zu erregen, ging es Karin durch den Kopf.
Das Auto verlangsamte sein Tempo und fuhr dann durch ein breites Einfahrtstor in einen Fuhrpark ein, wo unzählige Lieferautos und Lastwagen mit der Aufschrift „Canetti&Son“ in Reih und Glied abgetellt waren. Das zweistöckige, aber ziemlich lang gestreckte Gebäude wirkte ziemlich verlassen. Nur im Obergeschoß fiel aus drei Fenstern helles Licht auf die Straße.
Karin wurde aus dem Auto gezerrt und in das Gebäude gebracht. Es war ziemlich kalt in dieser großen, jetzt leeren Halle, die im plötzlich grellen Licht der Neonlampen noch befremdender wirkte. Der penetrante Fischgeruch war Karin sofort in die Nase gestiegen. An der Decke der niedrigen Halle liefen dicke Eisenstangen mit unzähligen Haken, wo sicherlich große Thunfische und Haie aufgehängt wurden. Unmengen der an den Wänden hochgestapelten Plastikkisten ließen darauf schließen, dass hier am frühen Morgen bestimmt die Hölle los sein musste, wenn die Fischkutter mit ihrem nächtlichen Fang vom Meer zurückkehrten.
Das Narbengesicht nahm sein Handy aus der Tasche und drückte eine gespeicherte Nummer. Kurz darauf hörte ihn Karin sagen: „Wir haben sie, Sir. Wir sind mit ihr hier unten in der Fischhalle.“
Keine fünf Minuten später hörte Karin, wie eine Seitentür geöffnet wurde. Ein korpulenter, mittelgroßer Mann kam in Begleitung Pamelas auf sie zu. Auf den ersten Blick erkannte Karin den gut gekleideten Mann aus dem Gerichtssaal wieder, der niemand anderer als der alte Canetti sein konnte. Seine kalten, ausdruckslosen Augen jagten Karin erneut einen Angstschauer über den Rücken. Cathy hatte Recht, der Mann hatte eine böse Aura, die absolut nichts Gutes verhieß.
Nachdem er sie kurz gemustert hatte, wandte er sich an das Narbengesicht: „Wo ist das Kind?“
Verlegen begann der Mann herumzudrücken und versuchte sich herauszureden. Doch Canetti wollte seine Ausreden nicht hören und unterbrach ihn schroff:
„Das heißt, ihr habt die Indianerin mit dem Kind entkommen lassen und ihr wisst nicht, wo sie stecken?“
Betreten nickten das Narbengesicht und auch der andere Mann. Karin konnte nun in Canettis dunklen Augen unbändigen Zorn auflodern sehen, obwohl er nach außen hin völlig ruhig wirkte. Wortlos ging Canetti auf das Narbengesicht zu und zog die Waffe des Mannes aus seinem Hosenbund und ohne zu zögern schoss er dem Narbengesicht ins Herz. Diese Handlung ging so unerwartet schnell über die Bühne, dass der sterbende Mann ihn nun völlig überrascht ansehen konnte. Automatisch versuchten sich seine Hände an Canettis Anzug festzuhalten, während er langsam zusammen brach. Angewidert schüttelte Canetti seine verkrampften Hände ab und sagte kalt:
„Du hattest deine Chance Frank. Du hättest sie besser nutzen sollen.“
Doch Canettis letzte Worte hörte der am Boden liegende Mann nicht mehr, denn das Narbengesicht war tot.
Als Canetti sich nun dem anderen Mann zuwandte, begann dieser in weinerlicher Stimme zu flehen:
„Sir, ich konnte nichts dagegen tun. Ich warnte Frank, dass er mit dem Trinken aufhören sollte. Doch er lachte mich nur aus. Als er wieder die Flasche hob, setzte sie ihm das Messer an die Gurgel und nahm ihm die Waffe ab. Alles ging so blitzschnell, so dass ich nicht mehr reagieren konnte“
Canetti sah dem verängstigten Mann unverwandt in die Augen.
„Ok, ich glaube dir. Aber Tatsache ist nun einmal, dass das Kind weg ist und damit eine Menge Probleme verbunden sind. Sorry, aber Leute, auf die ich mich nicht verlassen kann, brauche ich nicht.“
Canettis zweiter Schuss ließ auch diesen Mann tödlich zusammenbrechen. Ohne noch weiter auf die beiden Toten zu achten, wandte er sich dem dritten Mann zu, dem die Angst der Nächste zu sein, ins Gesicht geschrieben stand.
„Mach die Schweinerei hier weg“, ordnete Canetti nüchtern an und wandte sich dann Karin zu, die fassungslos dastand und den Mafiosi anstarrte. Die Kaltblütigkeit dieses Mannes hatte ihr einen schweren Schock versetzt.
„Mrs. Davis, ich gehe wohl richtig in der Annahme, dass Sie mir nicht sagen wollen, wo sich Ihr Sohn befindet?“
Karin schluckte den Kloß des Entsetzens in ihrem Hals hinunter und stotterte leise:
„Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es ihnen nicht sagen.“
Canetti lächelte sie zynisch an.
„Verständlich. Sie sind schließlich seine Mutter“, sagte er trocken. „Es gibt da aber ein paar nette Methoden, die Sie ein weniger gesprächiger machen werden. Ich würde Ihnen daher wärmstens empfehlen mir zu sagen, wo das Balg steckt.“
Doch Karin schüttelte nur entschlossen den Kopf und sagte kein Wort.
Nun wurde Pamela aktiv, die sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte. Canetti winkte sie zu sich heran. Im Licht der grellen Beleuchtung stellte Karin fest, dass sich Pamelas Gesicht seit dem Bärenangriff nicht sehr viel zum Besseren verändert hat. Das Blut und die extremen Schwellungen waren zwar weg. Doch die roten Narben quer über ihre linke Gesichtshälfte, der verzogene Mund und das hängende, unentwegt tränende Auge würden in Zukunft ihr Markenzeichen bleiben.
In ihrem verzerrten Gesicht war genauso wenig einer Gemütsregung zu erkennen, wie bei Canettti. Teilnahmslos ging sie an den beiden toten Männern vorbei ging stellte einen schwarzen Ärztekoffer auf einen kleinen, billigen Holztisch. Mit einem kurzen Ruck öffnete sie den Lederkoffer und beförderte aus dem Bauch der Tasche unzählige Kabel, deren Enden mit riesigen, scharfkantigen Eisenklammern versehen waren. Karin hielt vor Grauen die Luft an, als Pamela dann noch ein kleines schwarzes Kästchen zum Vorschein brachte, mit dem die Kabelstränge verbunden waren. Die Oberfläche des Kästchens hatte ein rundes Display, welches mit einer Voltskala und einem Drehknopf versehen war. Während sie das Stromversorgungskabel in die Steckdose steckte, wandte sie sich dem Mann zu, der gerade dabei war, die Toten zu entsorgen:
„Lass das jetzt“, befahl sie ihm. „Zieh die Schlampe aus und häng sie an die Haken der Stange.“
Der Mann zerrte Karin die Wildledertunika samt der Hosen vom Körper, bis sie schließlich nackt dastand. Karin versuchte ihre Blößen zu bedecken, doch ihre Arme wurden hoch gerissen und ihre Hände an den Haken der Stange festgebunden. Nicht nur die Kälte in der Halle ließ Karin nun zittern, sondern ihre Scham und die Angst, was nun kommen würde. Mit ausgestreckten Armen hing sie nun an der Stange, so dass ihre Füße den Boden nicht mehr erreichen konnten. Ihre Brüste, die voll Milch waren, zogen schwer an unten. Automatisch begann sich ihr Milchfluss zu aktivieren und die weiße Muttermilch begann aus ihren Brustwarzen u tropfen.
„Oh Gott, jetzt läuft diese Kuh auch noch aus“, wandte sich Pamela angewidert ab.
„Sei still und mach deine Arbeit. Für Nebensächlichkeiten haben wir keine Zeit“, mahnte sie Canetti. Sofort verstummte Pamela und begann die Eisenmanschetten an Karins Armen und Beinen festzumachen. Dass Pamela das nicht zum ersten Mal machte, war Karin sofort klar gewesen. Nachdem alles fertig war, nickte sie ihrem Onkel zu.
Canetti stellte sich nun direkt vor Karin, die nun nervös keuchend auf ihn herab blickte.
„Mrs. Davis, machen Sie es uns allen nicht noch schwerer als es ohnehin schon ist. Sie würden sich eine Menge Qualen ersparen, wenn Sie uns sagen, wo Ihr Sohn ist“, forderte sie Canetti ein weiteres Mal auf. „Elektroschocks sind eine absolut sichere Methode verschwiegene Menschen gesprächig zu machen.“
„Mr. Canetti, ich weiß nicht wo mein Sohn steckt. Ich habe Cathy mit dem Baby aussteigen lassen. Ich weiß wirklich nicht, wo sie mit meinem Sohn geflüchtet ist.“
„Sorry, aber das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte.“
Ein kurzer Wink zu Pamela genügte und ein heftig brennender Schmerz jagte durch Karins Körper. Jede noch so kleinste Faser ihres Leibes wurde unglaublich schmerzhaft durchgerüttelt. Karin begann zu schreien, während der Schweiß aus all ihren Poren drang. Der Stromschlag schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe er nach wenigen Sekunden wieder vorbei war.
„Nun, wie fühlen Sie sich Mrs. Davis? Wollen sie mir nun vielleicht jetzt etwas sagen?“, fragte Canetti verbindlich.
Karin wimmerte mit tränenfeuchten Augen:
„Ich weiß es nicht, wo er steckt.“
„Dann wollen wir Ihnen noch ein wenig auf die Sprünge helfen. Vielleicht fällt Ihnen ja doch etwas ein, wenn wir die Dosis erhöhen.“
Als Canetti Pamela erneut einen Wink geben wollte, läutete plötzlich sein Handy. Verärgert über die ungewünschte Unterbrechung zog Canetti das Handy aus der Tasche und schrie ungehalten ins Telefon, dass er nicht gestört werden wollte. Doch plötzlich veränderte sich sein aggressives Verhalten und seine Gesichtszüge nahmen einen gehetzten Ausdruck an.
„Ok, halt sie hin. Wir brauchen fünf Minuten“, sagte Canetti. „Schick Andy rein. Ich brauch ihn hier.“
Canetti ließ sein Handy wieder in der Tasche seines Anzugs verschwinden und wandte sich dann seiner Nichte zu.
„Die Polizei ist auf dem Weg hierher“, informierte er seine Nichte. „Schafft das Weib in den kleinen Kühlraum und die Toten werft sie einstweilen in zwei von den Plastikkisten. Wenn die Polizei weg ist, versengt sie im Meer.“

 

 

- 32 -

 

In Windeseile wurden Karin die Eisenmanschetten abgenommen und ihre Hände von den Haken losgebunden. Zu schwach, um zu stehen, ging Karin sofort in die Knie und fiel zu Boden. Die Nachwirkungen des Stromstoßes ließen ihren gemarterten Körper noch immer wie Feuer brennen. Hektisch warf Pamela den Kabelsalat samt der schwarzen, kleinen Kiste in den Koffer zurück. Mit der Tasche in der Hand folgte sie Canetti durch die kleine Seitentür, durch die beide gekommen waren.
Einer der Männer hatte Karin hoch gerissen und zerrte sie nun eilig durch die lang gestreckte Halle. Der andere Mann sammelte Karins Kleidung auf und folgte den beiden durch den langen, hell erleuchteten Korridor, der zu den Kühlräumen führte. Eine riesige Kühlschranktür am Ende des Ganges wurde geöffnet, durch die Karin so brutal gestoßen wurde, sodass sie auf den kalten Fliesen landete. Umgehend folgten ihre Kleider, ehe die Tür von außen verriegelt wurde. Der plötzliche Kälteschock ließ Karins Zähne klappern und den noch nachwirkenden Schmerz vergessen. In dem Raum war es stockfinster. Doch beim Öffnen der Tür war Karin der Lichtschalter aufgefallen, der im Raum neben der Tür auf halber Höhe angebracht war. Sofort begann sie neben dem Türrahmen die Wand abzutasten, bis sie den Schalter fand. Das grelle Licht schmerzte in ihren Augen, so dass sie sich erst daran gewöhnen mussten. Der Raum war kaum größer als ein Abstellraum. Tiefgefrorene Meeresfrüchte in allen Variationen lagerten hier in Stapelkisten.
Hastig begann sich Karin anzuziehen. Doch die Kälte drang rasch durch das dünne Wildleder und ihre Haut begann erneut zu brennen. Mit bereits klammen Fingern tastete Karin an der Innenseite ihres Stiefels entlang. Sie suchte nach Cathys Dolch. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung ließ Karin durchatmen, als sie den glatten Horngriff des schmalen Dolches spürte. Gott sei Dank war er nicht rausgefallen, als ihr die Stiefel von den Füßen gerissen wurden. Cathy hatte ihr während des Sommers die Stiefel aus weichem Hirschleder gemacht, die an der Seite geschnürt wurden. An der Innenseite der Schnürung hatte sie eine schmale, unauffällige Tasche eingearbeitet, die für ein schmales Messer vorgesehen war. Jetzt war Karin froh, dass sich Cathy nicht davon abbringen hat lassen, dieses Futteral einzunähen. Als man sie durchsucht hatte, war keinem der Männer das versteckte Messer aufgefallen. Wer würde auch schon in einem Stiefel nach einer Waffe suchen.
Mit laufender Nase und dampfendem Atem verfolgte sie dem Verlauf des freiliegenden Kabels. Karin musste unbedingt die Stromzufuhr zum Kühlaggregat unterbrechen, wenn sie nicht erfrieren wollte. Rasch hatte sie das Kabel aus der Verankerung an der Wand gerissen. Nach ein paar kräftigen Rucken hatte sie das Kabel aus der Verankerung gerissen und das leise Summen des Motors erlosch. Mit der Stromkreisunterbrechung war aber auch das Licht ausgegangen.
Karin versuchte sich gegen die Tür zu pressen und diese aufzudrücken. Doch diese hielt mühelos ihren Anstrengungen stand. Jetzt blieb Karin nichts anderes übrig als zu warten. Die Kälte ließ zwar merklich nach. Doch sicherlich würde es Stunden dauern, bis hier die Temperatur über null Grad liegen würde. Karin versuchte sich nun mit Gymnastik warm zu halten. Doch die Kälte drang wie mit kleinen Nadelspitzen durch ihre Haut und ließ sie immer mehr frösteln.
Karin musste unbedingt durchhalten bis jemand kam und sie raus ließ. Auf keinen Fall wollte sie hier drinnen erfrieren. Doch während sie sich mit Liegestützen und Kniebeugen warm zu halten versuchte, dachte sie nach, wie sie es anstellen konnte, zu fliehen.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Karin endlich Schritte hörte, die sich ihrem eisigen Gefängnis näherten. Karin drückte sich neben der Tür an die Wand und wartete mit angehaltenem Atem. Mit klammen Fingern hielt sie den schmalen Dolch fest an sich gedrückt, als sich endlich die Tür zu öffnen begann. Karin hatte jedoch völlig vergessen, dass sich ihre Augen erst wieder an das Licht gewöhnen mussten. Der plötzliche Lichteinfall der grellen Neonbeleuchtung des Ganges ließ sie schmerzhaft blinzeln, so dass sie nichts erkennen konnte. Ein Anflug von Panik erfasste sie nun wieder. Leise hörte sie den Mann fluchen, nachdem er den Lichtschalter gedrückt hatte und kein Licht den Raum erhellte. Mit einer Pistole in der Hand betrat er den Kühlraum. Gott sei Dank mussten sich seine Augen auch erst an die Dunkelheit gewöhnen. Diese Chance durfte sich Karin nicht entgehen lassen, auch wenn sie die Gestalt des Mannes nur schemenhaft erkennen konnte. Mit aller Kraft stieß sie ihm ihren Dolch in die Brust. Anfänglich spürte sie einen leichten Widerstand, der jedoch durch den heftigen Druck ihres Stoßes rasch überwunden war und tief in seinen Körper eindrang. Bevor der Mann noch reagieren konnte, zog Karin schnell das Messer heraus und stach noch zwei weitere Male zu, ehe der Mann mehr vor Schreck als vor Schmerz seine Waffe fallen ließ und laut aufschreiend zu Boden sank. Karin hatte keine Ahnung, wo sie ihn getroffen hatte. Jedenfalls musste der am Boden liegende Mann ziemlich schwer verletzt sein. Er zeigte keine Reaktion, als Karin über ihn stolperte und den Korridor zurück in die Halle lief. Mittlerweile hatten sich ihre Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt. Noch einmal wandte sie sich um, um sich zu vergewissern, dass sie nicht doch verfolgt wurde. Doch so wie es aussah, schien der noch immer leblos am Boden liegende Mann tot zu sein.
Durch die Fenster der nun dunklen Fischhalle schien das Licht der Straßenlaternen. Dieses bot für Karin aber genug Helligkeit, um mühelos die Eingangstür zu finden, durch die Karin ins Freie flüchten wollte. Irgendwie musste es ihr gelingen, sich bis zum Hafenpier durchzuschlagen. Dort waren Menschen und hoffentlich auch die Polizei. Aber vielleicht hatte sie ja auch Glück und die Polizisten waren noch da. Doch ein Blick durch eines der Fenster genügte, um ihre Hoffnung zunichte zu machen.
Im Hof standen zwei von Canettis Männern. Sie waren gerade dabei den Schranken hinter dem Polizeiauto wieder zu schließen, das gerade das Grundstück verlassen hatte.
Karin war verzweifelt. Wie konnte sie es nur anstellen von hier zu verschwinden? Die Zeit saß ihr wie eine brennende Zündschnur im Nacken. Sicherlich hatte der Tote den Auftrag gehabt, sie aus der Kühlkammer zu holen. Wenn er aber nicht bald auftauchte, würde man bestimmt nach ihm suchen.
Karin überlegte nun fieberhaft, wie sich weiter vorgehen sollte. Das Grundstück wurde bewacht. Durch das Fenster konnte sie die Männer sehen, die Patrouille gingen. Das Areal unbemerkt zu verlassen, war also ziemlich ausgeschlossen. Sie brauchte unbedingt ein Telefon, damit sie die Polizei wieder zurückholen konnte. Karin rannte wieder den Korridor zu dem leblos am Boden liegenden Mann zurück. Eine riesige Blutlache hatte sich um den Mann herum gebildet. Einer der Messerstiche hatte seine Aorta durchschnitten, aus der noch immer Blut lief. Widerwillig bückte sie sich und durchsuchte die Taschen seiner Kleidung. Doch Handy fand sie keines. Seine Pistole nahm sie aber an sich.
Schnell rannte sie wieder zurück in die Halle und öffnete die kleine Seitentür, durch welche die Canettis verschwunden waren. Sie führte in ein unbeleuchtetes Stiegenhaus. Gott sei Dank waren Karins Augen an das Nachtlicht gewöhnt, so dass sie mühelos die Treppen ins Obergeschoß hochsteigen konnte. Karin musste unbedingt ein Telefon finden. Doch dieser Tag schien absolut nicht ihr Glückstag zu sein, denn die Türen in die Büroräume waren allesamt verschlossen.
Karin presste sich in eine Nische, als sie Canettis und Pamelas Stimme am Ende des Korridors hörte. Zögernd schlich sie zu Canettis Büro vor. In dem hell erleuchteten Raum konnten Canetti und Pamela Karin nicht sehen, die völlig im Dunklen stand. Canettis feister Körper saß in einem riesigen, schwarzen Ledersessel. Er rieb seine Hände ineinander und fixierte mit starrem Blick die Telefonanlage auf seinem Schreibtisch. Seine Stirn lag in Falten. Ein untrügliches Zeichen, dass er angestrengt dachte. Pamela stand vor der dunklen Fensterscheibe und betrachtete darin ihr Spiegelbild. Mit ihren schönen, langen Fingern strich sie melancholisch über die tiefen Narben ihrer linken Gesichtshälfte. Doch dann wandte sie sich wieder ihrem Onkel zu.
„Das ist ja endlich einmal gute Nachrichten“, sagte sie erleichtert. „Und was machen wir mit dieser kleinen Schlampe?“
„Ich verstehe deine unnötigen Aggressionen gegen diese Frau nicht. Eigentlich kann sie nichts dafür zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein“, erwiderte Canetti leichthin. „Wenn ich dich nicht besser kennen würde, würde ich meinen, du bist auf diese kleine Pseudoindianerin eifersüchtig.“
„Von wegen“, fuhr Pamela ihren Onkel ein wenig zu scharf an. Doch schnell wurde sie sich ihres überhitzten Gemütes bewusst und dämpfte ihre Stimme sofort.
„Du scheinst zu vergessen, dass dieses grässliche Weib an allem Schuld ist. Nur sie hat meine Pläne durchkreuzt und meine jahrelange Planung fast zunichte gemacht. Wäre John ums Leben gekommen, so wie es geplant war, hätten wir heute nicht diese enormen Schwierigkeiten und ich wäre nicht mit diesem grauenvollen Gesicht gestraft“, sagte sie voller Bitterkeit.
„Sieh es positiv, meine Liebe. Dein makellos schönes Gesicht war für diesen Job ohnehin ein Nachteil. Jetzt nimmt dir jeder ab, dass in diesem Kopf kein Stroh steckt. Man wird dich in Zukunft ernst nehmen, wenn du einmal in meine Fußstapfen trittst.“
„Meinst du wirklich?“ zweifelte Pamela, während sie erneut ihr Gesicht im Fensterglas betrachtete.
„Ich bin überzeugt davon. Letztendlich hat sich ja doch noch alles zum Guten gewendet, obwohl ich noch vor einer halben Stunde ziemlich schwarz gesehen habe.“
„Wo ist das Balg jetzt?“ wollte Pamela wissen.
„Zusammen mit der Indianerin auf dem Weg hierher.“
Pamela ließ sich in eines der beiden Fauteuils fallen und zündete sich eine Zigarette an. Genussvoll inhalierte sie den würzigen Rauch, der in einer kleinen Wolke wieder ihrem Mund entwich.
„Ich bin froh, dass der Spuk nun bald vorbei sein wird“, seufzte Pamela erleichtert.
„Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, was du mit den Frauen und dem Kind machen wirst.“
„Das Übliche“, erwiderte Canetti. „Bill und seine Crew wird mit den dreien einen Trip aufs offene Meer machen und sie dort zu Fischfutter verarbeiten.“
„Die Geschworenen und der Richter werden sicherlich erstaunt sein, wenn das Kind samt der Mutter plötzlich weg sind“, überlegte Pamela.
„Davon bin ich überzeugt. Doch sie werden uns genauso wenig nachweisen können wie die Polizei. Wenn die Typen mit dem Durchsuchungsbefehl zurück sind, wird alles schon längst erledigt sein“, sagte Canetti voller Überzeugung. „Denn Vermutungen sind schließlich keine Beweise. Und solange diese fehlen, sind wir aus dem Schneider. Ob man John dann für schuldig oder nicht schuldig erklärt, ist für uns ohne Bedeutung. Seine Firma hat er sowieso schon längst an uns verloren. Folge dessen stellt er für uns keine Gefahr mehr da.“
Pamela hörte ihrem Onkel schweigend zu. Ein wehmütiger Ausdruck glitt über ihr Gesicht, als sie erneut den aromatischen Rauch tief in ihre Lungen inhalierte.
„Und was wird aus ihm, sollte er doch freigesprochen werden?“ fragte Pamela fast zaghaft.
Canetti stand auf und ging zum Fenster.
„Was soll mit ihm schon sein? Vielleicht hat er genug Geld auf der Kante, um woanders neu beginnen zu können. Ansonsten müsste ohnehin die Stelle Summers nachbesetzt werden. Vielleicht werde ich ihm den Vorschlag machen seinen Job zu übernehmen und im Labor unserer Firma weiter zu arbeiten.“
Canetti grinste hämisch in die dunkle Scheibe. Pamela verzog jedoch keine Miene, als sie den boshaften Vorschlag ihres Onkels hörte. Doch dann stand sie auf und dämpfte die Zigarettenkippe im Aschenbecher aus.
„Wir sollten Eddy anrufen, dass er die Frau wieder in die Kühlkammer zurück bringt. Es ist ja nun nicht mehr notwendig, den Aufenthaltsort ihres Bastards aus ihr rauszupressen“, wechselte sie das Thema. Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und drückte eine Nummer.
Beunruhigt blickte Pamela ihren Onkel an, der sich wieder seiner Nichte zugewandt hatte.
„Er hebt nicht ab.“ Pamelas besorgte Stimme ließ Canetti hellhörig werden.
„Ruf Jeff an und sag ihm, dass er nachsehen soll, wo er bleibt.“

 

Karin hatte jedes Wort der Unterhaltung verstanden. Dass Philipp und Cathy wieder in der Gewalt der Canettis waren, löste in ihr pures Entsetzen aus. Doch diese Panik musste sie unterdrücken und einen kühlen Kopf gewahren. Ihr Herz schlug jetzt bis zum Hals. An Flucht war jetzt nicht mehr zu denken. Jetzt gab es nur mehr eine Möglichkeit: sie musste sich ihren Feinden stellen.
Noch einmal atmete Karin tief durch. Mit entsicherter Waffe trat sie aus dem Schatten ins helle Licht des Raumes. Bestürzt starrten Canetti und seine Nichte auf Karin, die die Waffe auf sie gerichtet hielt.
„Leg das Handy weg, sonst knall ich dich nieder!“, forderte Karin so emotionslos wie möglich und ging noch ein Stück näher zu ihren Feinden hin.
„Sieh einer an. Unsere kleine Milchkuh hat es geschafft Eddy zu überlisten“, höhnte Pamela und legte das Handy auf den Couchtisch. „Glaubst du wirklich, dass du hier lebend raus kommst?“
„Das werden wir sehen“, keuchte Karin aufgeregt.
„Ich glaube kaum, dass dir das gelingen wird, denn das Betriebsgelände ist augenblicklich besser bewacht als Fort Knox.“
Obwohl sich Pamela in der Defensive befand, ließ sie sich durch Karins Waffe nicht einschüchtern und demonstrierte offensichtliche Überlegenheit, die Karin aber noch mehr verunsicherte.
„Ich habe keine Ahnung, ob ich hier lebend raus komme. Doch wenn ich sterbe, ist es auch ok. Jedenfalls werden ich und deinen feinen Onkel mitnehmen. Und für eure Henkersknechte da unten hat dann der Mord an meinem Sohn und an meiner Freundin keine Bedeutung mehr“, sagte Karin leichthin. „Wie man es auch drehen und wenden mag, unterm Strich werde ich gewinnen, denn das Leben meines Sohnes ist mir weit mehr wert, als mein eigenes.“
Während sich die beiden Frauen dieses Wortgefecht lieferten, versuchte sich Canetti unauffällig seinem Schreibtisch zu nähern. Doch Karin war nicht entgangen, was er vorhatte. In der Wildnis hatte sie gelernt, alles genau zu beobachten, auch wenn es im äußersten Blickradius lag. Blitzschnell richtete Karin die Pistole auf Canetti, der soeben in die halboffene Schublade greifen wollte.
„Nehmen sie ihre Hände hoch Mr. Canetti, sonst sind Sie ein toter Mann.“ Karin ging zum Schreibtisch und holte die geladene Pistole aus der Schublade. Dann ließ sie die Waffe in der Seitentasche ihrer Tunika verschwinden und ging langsam wieder einige Schritte zurück.
Durch die geschlossenen Fenster hörte man nun gedämpft das Motorengeräusch eines langsam in den Hof fahrenden Autos. Karin ahnte, dass Philipp und Cathy im Wagen saßen. Was sollte sie nun tun? Zuerst die Polizei anrufen und warten? Doch wer weiß wie lange es dauern würde, bis diese kam. In der Zwischenzeit würden Canettis Männer bestimmt unruhig werden und nachsehen, was los ist. Karin entschied sich die Polizei später anzurufen. Zuerst musste sie Philipp und Cathy in Sicherheit bringen.
Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Karins trockener Mund hätte dringend einen Schluck Wasser gebraucht, denn das Reden fiel ihr schwer.
„Mr. Canetti, Sie rufen jetzt ihre Männer da unten an und sagen ihnen, dass sie meinen Sohn und meine Freundin sofort frei lassen sollen und die Beiden ungehindert verschwinden können.“
Canetti erwiderte nichts auf Karins Anweisung. Erst nach einer halben Ewigkeit griff er endlich in die Tasche seines Anzugsakkos und holte sein silbernes Handy hervor. Während er die Nummer drückte und wartete, dass sein Gespräch angenommen wurde, ging er langsam zum Fenster und blickte in den Fuhrpark hinab, wo das Auto bereits unter seinem Bürofenster parkte. Dann wandte er sich mit seinen dunklen, kalten Augen Karin zu.
„Hallo Peet, es gibt eine kleine Programmänderung. Es ist nicht nötig die Beiden zu mir zu bringen. Ich will, dass ihr das Kind und die Indianerin sofort tötet.“
Canettis diabolisches Lächeln schloss jeden Zweifel aus, dass Karin sich verhört hatte.
Eine ungeheure Panikattacke erfasste Karin, der ihr den Hals zuschnürte und ihren Körper erneut unter Strom zu stellen schien.
„Neeeiinn“ schrie Karin entsetzt auf. Die übermächtige Angst und Verzweiflung die Menschen zu verlieren, die sie liebte, verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Wie von fremder Hand gelenkt, ließ sie die Waffe fallen und strürmte auf Canetti zu, der sie fragend anblickte. Erst zu spät erkannte er, was sie vorhatte. Wie eine kreischende Furie kam sie ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Mit aller Kraft stieß Karin ihre Hände gegen seinen Brustkorb, sodass Canetti das Gleichgewicht verlor und hart gegen die Fensterscheibe prallte. Für einen kurzen Moment hatte es den Anschein, dass das Glas dem heftigen Druck standhalten würde. Doch die Spannung war schließlich doch zu groß und ließ das Glas unter einem unerwartet lauten Knall bersten. Entsetzt blickte Canetti in Karins Augen. Sein Körper spürte keinen Widerstand mehr und laut schreiend und mit rudernden Armen stürzte Canetti in die Tiefe.
Ein zweites Mal hörte man nun ein entsetztes „Nein“ rufen. Doch dieses Mal kam der markerschütternde Aufschrei von Pamela, die bestürzt zum Fenster gelaufen kam und zusammen mit Karin durch dem nunmehr glaslosen Fensterrahmen nach unten blickte. Canettis feister Körper lag reglos auf der Motorhaube des Wagens, in dem Peet und seine Kumpane gerade die Anweisung ihres Bosses in die Tat umsetzen wollten, die beiden Gefangenen zu töten.
Canettis Hinterkopf war hart gegen die Windschutzscheibe geknallt, die nun wie ein Spinnennetz in unzählige kleine Risse gesplittert war. Ein Streifen hellroten Blutes klebte an der oberen Hälfte der Scheibe, den Canettis Kopfwunde hinterlassen hatte, ehe die Schwerkraft seinen massigen Körper ein Stück nach unten rutschen ließ. Sein gebrochener Blick ließ keinen Zweifel zu, dass der Mann tot war.
Pamela unerträglicher Schmerz ließ sie laut aufstöhnen. Sie konnte es nicht fassen, dass ihr Onkel, ihr Freund und Mentor, mit dem sie gerade noch gesprochen hatte, nun tot auf einer Motorhaube lag.
In Sekundenbruchteilen kam ihr jene Begebenheit in den Sinn, wo sich vor vielen Jahren in diesem Raum hier eine ähnliche Situation abgespielt hatte. Damals hatte sie aber ihrem Onkel das Leben retten können und ein völlig neuer, inspirierender Lebensabschnitt hatte für sie begonnen und beendete ihr trostloses Dahinvegetieren. War es eine Fügung des Schicksals, dass sich der Kreis gerade hier in diesem Raum wieder schloss und sie nun wieder einsam und verlassen wie in ihrer Kindheit sein würde?
Trauer, Wehmut und Verzweiflung waren plötzlich wie weggewischt und unbändiger Zorn erfüllte Pamela. Noch während Karin ungläubig auf den Toten hinab starrte und den Schock erst verkraften musste, begann Pamela rasch zu überlegen. Die Pistole lag noch immer dort auf dem Boden, wo Karin sie hatte fallenlassen. Blitzschnell wandte sich Pamela vom Fenster ab und rannte zu der Waffe.
Durch Pamelas hektische Aktivitäten aufmerksam geworden, reagierte nun auch Karin. Sofort realisierte sie, was Pamela im Sinn hatte. Karin versuchte ihre Feindin festzuhalten. Doch Pamela riss sich energisch los und hastete zu der am Boden liegenden Pistole. Pamela hob die Waffe hoch und wandte sich wieder ihrer Feindin zu. Karin traf nun derselbe seelenlose und grausame Blick wie vorhin jener des alten Canetti. Kein Zaudern lag in Pamelas Bewegung als sie die Pistole gegen Karin richtete und im Begriff war abzudrücken. Doch plötzlich veränderte sich Pamelas unerbittlicher Gesichtsausdruck. Während sie zu der neben der Tür liegenden Waffe gehastet war, hatte Karin Canettis Pistole aus ihrer Tasche gezogen und wartete darauf, dass sich Pamela ihr wieder zuwandte.


Mit einem gezielten Schuss traf sie Pamela mitten ins Herz. Beinahe unmerklich zuckte die getroffene Frau zusammen. Pamela ließ die Waffe fallen und presste ihre Hand auf ihre linke Brust. Erstaunt betrachtete sie das Blut in ihrer Handfläche. Doch dann begannen sich ihre Augen zu verdrehen und Pamela sank langsam zu Boden.
Karin kickte die Pistole zur Seite und beugte sich dann zu der schwer verletzten Frau hinab.
„Ich sterbe, nicht wahr?“ flüsterte Pamela kaum hörbar.
Karin nickte nur, worauf sich auf Pamelas Gesicht ein grimassenhaftes Lächeln zeigte.
„Dieses Spiel habe ich wohl verloren“, keuchte sie in ihren letzten Zügen. „Der Einsatz war einfach zu hoch gewesen. Niemals hätte ich John...“
Mit ihrem letzten Gedanken an John hauchte Pamela auch ihr Leben aus. Die Spannung wich aus ihrem Körper und ihr Kopf fiel zur Seite, sodass ihre unversehrte Gesichtshälfte die verunstaltete völlig verdeckte. Aus ihrem hochgesteckten Haar hatten sich einige Strähnen gelöst, die nun in weichen Locken ihr scheinbar makellos schönes Gesicht umspielten. Der bittere Zug um Pamelas Kinn hatte sich gelöst. Karin schien es, als ob eine schwere Last von Pamela Canetti genommen worden war. In ihrem Tod wirkte sie nun fast wie ein Engel.
Karin empfand plötzlich keinen Hass mehr gegen diese Frau, die ihr so viel Leid zugefügt hatte. Die wenigen Sekunden bevor Pamela gestorben ist, hatten Karin plötzlich eine ganz andere Frau gezeigt. Eine Frau, die ängstlich und verletzlich gewesen war. Eine Frau, die die Umstände zu einem bösen Werkzeug geformt hatten und die ihre eigenen Bedürfnisse stets unterdrücken hatte müssen.
Benommen schloss Karin Pamelas Augen. Doch dann erinnerte sie sich wieder an ihr Kind und an Cathy. Aufgeregt sprang Karin auf und rannte in den Hof hinunter. Als sie durch die Eingangstür lief, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass bereits drei Streifenwagen die Ausfahrt verstellten. Ein Teil der Polizisten war gerade im Begriff, das Lagerhaus zu stürmen, während die anderen Canettis Männer in Handschellen abführten. Der Leichnam des Mafiabosses lag nun am Boden. Aus seiner tödlichen Kopfverletzung drang noch immer Blut, das sich langsam über den dunklen Asphalt verteilte. Ein Polizist kam auf Karin zu und sprach sie mit ihrem Namen an. Doch Karin schob ihn wie in Trance zur Seite und suchte nach ihrem Sohn und Cathy. Völlig durcheinander sah sie ihre Freundin mit dem schlafenden Kind auf ihrem Schoß auf einer Stapelkiste sitzen, auf der in schwarzen Lettern Canetti & Son aufgedruckt stand.
Unendlich erleichtert die beiden gesund wiederzusehen, ging Karin auf die die alte Frau und ihr Kind zu. Jetzt, wo alles vorbei war, fühlte Karin plötzlich, dass der Damm ihrer Beherrschung dem immensen Druck einer inneren Flutwelle an Empfindungen nicht mehr gewachsen war. Tränen, die Karin so viele Monate unterdrückt hatte, durchbrachen nun diese gewaltige Mauer und schossen wie kleine Quellen aus ihren Augen. Die unsägliche Erleichterung, Philipp und Cathy nicht verloren zu haben, ließen sie laut schluchzen.
Als die Indianerin Karin auf sich zukommen sah, strahlte plötzlich helle Freude aus ihrem alten Gesicht. Cathy sprang auf und lief mit Philipp am Arm ihrer Freundin entgegen. Dann fielen sich die beiden Frauen glücklich in die Arme.
„Es ist vorbei, Cathy“, schluchzte Karin an Cathys Schulter. „Es ist endlich vorbei.“

 


- 33 -

 

Die für den nächsten Tag angesetzte Verhandlung war von Richter Callahan um einige Tage verschoben worden. Der unerwartete Tatbestand hatte eine neue Beweissicherung erfordert, der man genügend Zeit einräumen musste.
Sam hatte so akribisch genau recherchiert, dass bei der nächsten Verhandlung die Beweislast gegen Canetti und Pamela erdrückend war. Selbst der streitsüchtige Staatsanwalt hatte nun klein beigeben müssen. Als dann noch Johns DNA mit jener seines Sohnes Philipps 100%ig übereingestimmt hatte, war die Jury restlos von Johns Unschuld überzeugt gewesen und er wurde nun in allen Anklagepunkten freigesprochen.
Die Medienpräsenz war am Anfang des Prozesses schon recht groß gewesen. Doch nun, wo das Verfahren eine so unerwartete Wendung genommen hatte, war der Andrang der Medien enorm. Selbst jene Zeitungen, Fernsehanstalten und Radiosender, die nur oberflächlich über den Gerichtsfall berichtet hatten, zeigten nun reges Interesse und schickten ihre besten Reporter. Die filmreife Story vom gewaltsamen Tod des zwielichtigen Canettis und seiner einst so bildschönen Nichte durch eine Amazone der Rocky Mountains hatte sich niemand entgehen lassen wollen.
Nachdem John vom Richter freigesprochen worden war, drängten die Fotographen und Reporter zum Anklagestuhl. John war von diesem ausufernden Spektakel ziemlich irritiert gewesen. Die sensationsgeilen Reporter hatten ihn mit unzähligen Fragen bombardiert, die John wie durch eine dichte Nebelwand wahrnahm. Das größte Interesse hatte jetzt aber nicht mehr seinem Freispruch gegolten und wie er in Zukunft die immensen Schadenersatzzahlung begleichen konnte, ohne Lombard-Pharma in den Ruin zu führen, sondern ob er Mrs. Davis nun heiraten wollte.
Empört über die Unverfrorenheit der Journalisten, die die Würde des Gerichtes missachtet hatten, ließ der Richter den Saal räumen. In Sams Begleitung wartete John nun im angrenzenden Besprechungszimmer auf die nötigen Dokumente, die vom Richter noch unterzeichnet werden mussten.
John konnte es immer noch nicht ganz fassen, dass er ein freier Mann war. Doch irgendwie gelang es gelang ihm nicht, Sams überschwängliche Freude zu teilen. Wehmütig ließ er sich in den Sessel fallen und streckte erschöpft seine Beine aus.
„Was ist los John? Freust du dich denn nicht, dass wir auf jeder Linie gewonnen haben?“, versuchte Sam seinen Freund wachzurütteln.
„Das war doch ein sensationeller Prozess, der in die Annalen der Strafprozesse eingehen wird“, triumphierte Sam weiter. „Natürlich haben wir diesen in erster Linie deiner Karin zu verdanken. Aber nichts desto trotz haben wir dem organisierten Verbrechen einen ziemlich heftigen Tiefschlag versetzt. Die hiesige Mafia ist nun führungslos, so dass es zu heftigen Machtkämpfen und Territorialansprüchen zwischen den Russen und der kanadischen Organisation kommen wird.“
John seufzte jedoch nur resigniert und blickte unverwandt zum Fenster hinaus. In den letzten Monaten hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als unbescholten dieses Gericht zu verlassen. Doch paradoxer Weise begann sich nun ein Teil von ihm nach seiner engen Zelle zurückzusehen. John begann plötzlich dieser durchorganisierte Mikrokosmos zu fehlen, wo der Tages-, Wochen- und Monatsablauf genau durchprogrammiert war. Die festen Strukturen und Abläufe in der Haftanstalt hatten Halt, Beständigkeit und Fortdauer verliehen. Man musste keine Verantwortung übernehmen und man wurde nur dann zur Rechenschaft gezogen, wenn man Scheiße gebaut hatte.
Doch nun wurde er wieder in diese böse, kalte Welt hinaus gestoßen, so wie damals, als er die Berge verlassen hatte müssen, um sich dem Ungewissen zu stellen.
„Sam, ich habe Angst vor dem nächsten Schritt. Ich bin total ausgebrannt. Ich fühle mich so, als ob ich im uferlosen Meer schwimme und die Strömung versucht mich in die Tiefe zu ziehen.“
Sams Hochgefühl wurde durch Johns Geständnis ein wenig gebremst.
„Ich weiß John, das letzte Jahr war alles andere als ein Honiglecken für dich“, redete Sam voller Mitgefühl auf seinen Freund ein. „Doch du bist ein Mann mit Format und Rückgrat. Hättest du nur halb so viele Qualitäten, so würde ich daran zweifeln, ob du diese enormen Probleme und Schicksalsschläge bewältigst. Aber du bist stark, ein richtiges Alphatier, auch wenn es augenblicklich wie ein Häufchen Elend auf diesem Stuhl sitzt. Außerdem solltest du nicht vergessen, dass du Verpflichtungen gegenüber jenen Mitarbeitern in der Firma hast, die dich brauchen und die an dich glauben.“
„Sie fehlt mir so zu so sehr“, sagte John unvermittelt. „Ob sie mich wohl schon vergessen hat?“,
Sam war ein wenig enttäuscht, dass sein aufmunterndes Statement von John nicht zur Kenntnis genommen wurde. Doch die Wehmut in seinen Worten ließ ihn nicht unberührt.
Verständnisvoll drückte er Johns Schulter.
„Mein Freund du weißt, dass ich bin mit Leib und Seele Anwalt bin. Daher ist es oft schwer, mich zu überzeugen“, erwiderte Sam nachdenklich. „Doch bei Karin bin ich mir absolut sicher, dass sie dich genauso liebt wie du sie. Die Blicke, die sie dir vom Zeugenstand aus zugeworfen hat, ließen mich fast ein bisschen eifersüchtig werden. Noch nie wurde ich von einer Frau mit einem dermaßen liebenden Blick bedacht. Und vergiss nicht, hättest du ihr nichts bedeutet, dann hätte sie keinen Grund gehabt die Gefahr auf sich zu nehmen und für dich auszusagen.“
„Meinst du wirklich?“ zweifelte John. „Aber wieso ist sie dann nicht geblieben? Gerade jetzt hätte ich sie so dringend gebraucht.“
„John, Karin hat verdammt viel durchgemacht. Sie braucht jetzt einfach Zeit, diese furchtbaren Erlebnisse zu verkraften. Und dieses Aufarbeitung gelingt ihr dort wohl am besten, wo sie sich zu Hause fühlt. Gib ihr und auch dir die nötige Zeit, damit ihr wieder zusammen findet.“
„Du hast Recht, ich sehe wohl alles ein wenig zu eindimensional. Ich werde warten, bis die Zeit reif ist.“

 

 

- 34 -

 

Die nächsten Wochen hatten John ohnehin nicht viel Zeit zum Grübeln gelassen. Direkt nach der Verhandlung war John in die Firma gefahren. Die gesamte Belegschaft hatte John vor dem Haupteingang erwartet und ihn freudig begrüßt. Dieser Empfang war für John ein echtes Highlight gewesen. Zum ersten Mal nach langer Zeit hatte er wieder das Gefühl gehabt, dass er wieder wichtig war und schüttelte jedem seiner Mitarbeiter dankbar die Hand.
Sally hatte in ihrem Büro auf John gewartet. Sie war wieder voll in ihrem Element, um für ihren Boss Termine zu koordinieren, Bilanzen und die Ein- und Ausgänge für ihn zurecht zu legen, wichtige Informationen zu notieren, doch vor allem seinen Rücken frei zu halten. Die Telefone liefen bereits heiß. Jeder erwartete nun von John, dass er Wunder bewirken konnte.
Als Sally ihren Chef endlich bemerkte, der sie von der Tür aus beobachtete, wich ihr konzentrierter Blick und helle Freude ließ ihr rundes Gesicht erstrahlen. Freudig kam sie auf ihn zu und sagte: „Ich freue mich sehr, dass der Kapitän endlich wieder an Bord ist und das Schiff auf den richtigen Kurs bringen wird.“
„Mit Ihnen als ersten Offizier wird mir das sicherlich gelingen“ erwiderte John und fühlte jetzt die noch tiefere Verbundenheit mit seiner Sekretärin.
„Dann lassen sie uns einmal die Segel setzen, damit wir aus diesem Sturmtief rauskommen.“

 

In den nächsten Wochen waren die Tage einfach zu kurz gewesen, um das Arbeitspensum zu schaffen, das sich John selbst auferlegt hatte. Wichtige Angelegenheiten, aber auch kleinere Probleme nahmen wesentlich mehr Zeit in Anspruch, als dafür vorgesehen war. John hatte nun feststellen müssen, dass Philipp die letzten Monate seines Lebens nichts mehr für das Unternehmen getan hatte.
Nachdem Philipp sein Firmenanteile an Pamela überschrieben hatte, war ein zweiter Geschäftsführer eingestellt worden, der nach Philipps Ausscheiden seine Agenden übernehmen hätte sollen. Entweder war der Mann die völlige Fehlbesetzung gewesen, oder Philipp hatte ihn absichtlich anrennen lassen, wo es nur ging. Schließlich hatte sein Bruder nichts mehr zu verlieren gehabt. Nachdem Pamela die Firmenmajorität an sich gerissen hatte, war es nur mehr eine Frage der Zeit gewesen, bis sie die Anteile der anderen Gesellschafter in der Tasche hatte. Als kleines Trostpflaster schien es sich Philipp zur Aufgabe gemacht zu haben, Pamela so viele Schwierigkeiten wie nur möglich zu hinterlassen.
Doch diese ungeheuren Probleme waren nun John auf den Kopf gefallen, dem es irgendwie gelingen musste, diese salzige Suppe nun auszulöffeln.
Tatsache war nun einmal, dass „Lombard Pharma“ schon unter Philipps kaufmännischer Führung an erheblichen finanziellen Problemen gelitten hatte, die sich unter der neuen Leitung zu einem absoluten Desaster entwickelt hatte. Unbezahlte Rechnungen, Regressforderungen, unerledigte Auslieferungen, nicht bezahlte Kreditraten, Steuerschulden, fehlende Rohstoffe, nicht zur Kenntnis genommene Testberichte, ausstehende Lohnzahlungen und vieles mehr stapelten sich in hohen Stößen auf Sallys Tisch. Irgendwie musste es John gelingen einen Ausweg finden, dass ihm die Banken einen größeren Kreditrahmen gewährten. John musste es schaffen auf Zeit zu spielen, damit er zumindest die nächsten Monate die Firma über Wasser halten konnte. An die Schmerzensgeldforderungen wollte er noch gar nicht denken. Erst wenn John wusste, wie es um die Firma wirklich stand, würde er sich mit dieser leidigen Angelegenheit auseinander setzen.
Als John nach Wochen endlich einen genauen Überblick über den Zustand der Firma gewonnen hatte, musste er sich der traurigen Realität stellen, dass das Werk seines Vaters unmittelbar vor dem Untergang stand. Es gab absolut keine Reserven mehr, die man hätte anzapfen können. In dieser Situation konnte nur mehr ein Wunder die Firma retten.
Zwischen all diesen Problemen musste er noch das Begräbnis für seine Frau und seinem Bruder organisieren und sich um deren Nachlass kümmern. Und als ob das alles nicht schon mehr als genug gewesen wäre, schnüffelten nach wie vor Reporter in der Firma herum, weil sie hofften, noch mehr Sensationsstorys aus der Firma herauspressen zu können.
Hätte er nicht Sally zur Seite gehabt, wäre John mit ziemlicher Sicherheit verzweifelt.
John arbeitete täglich zwischen 16 und 18 Stunden. Und wenn er dann endlich nach Hause in seine Wohnung kam, war er dermaßen ausgepowert und müde, so dass er keine Zeit zum Nachdenken hatte und gleich einschlief.
Als er nach seinem Freispruch das erste Mal nach langer Zeit wieder die Wohnung betreten hatte, hatte er den Eindruck gehabt, als ob Pamela jeden Augenblickaus dem Wohnzimmer auf ihn zukommen würde, um ihn lächelnd zu begrüßen. Der zarte Duft ihres Parfums hatte noch immer in der Luft gehangen. Eine ihrer vielen Handtaschen war von der Kommode gefallen, während die dazu passenden Schuhe achtlos im Vorzimmer verstreut gelegen hatten. In der Küche hatten mehrere benutzte Kaffeetassen in der Spüle gestanden. Wie üblich war es Pamela nicht die Mühe wert gewesen, diese gleich in den Spüler zu räumen. Dafür wurde schließlich eine Putzfrau bezahlt. Die Regale im Badezimmer waren vollgestopft mit ihren Cremen, Parfums, Bürsten und Schminkutensilien. Sie hatte auch wieder im Schlafzimmer zu rauchen begonnen. Der ekelige Mief des halbvollen Aschenbechers war John sofort in die Nase gedrungen.
Als er das zerwühlte Bett gesehen hatte, musste er unwillkürlich an diese letzte unglaublich lustvolle Nacht denken, die er hier mit Pamela verbracht hatte. Sie war so hemmungslos geil gewesen, dass sie John beinahe den Verstand geraubt hatte. Wie glücklich und stolz war er doch damals gewesen, eine so schöne, begehrenswerte und sinnliche Frau zu besitzen. Doch das bittere Lächeln der Erkenntnis hatte ihn nun erschaudern lassen. Sie hatte ihn nur deshalb so hart hergenommen, dass er auf dem Zahnfleisch nach Jasper gefahren war. John war so geschafft gewesen, dass ihm die Kraft gefehlt hatte, sich zu konzentrieren, um die richtige Abfahrtsschneise zu nehmen. Dann hätte ihn die Lawine sicherlich nicht überrollt. Alles, was Pamela getan hatte, hatte sie mit Berechnung gemacht. Und genauso wie sein bedauernswerter Bruder war auch er in die Falle dieser gewissenlosen Intrigantin gelaufen.
Es war John unmöglich gewesen, in dieser Wohnung die Nacht zu verbringen und er mietete sich im nächst gelegenen Hotel ein. Am nächsten Tag hatte er Sally den Auftrag erteilt, alle persönlichen Sachen Pamelas aus der Wohnung zu schaffen. Außerdem hatte John ein neues Bett samt Bettwäsche haben wollen. Als John drei Tage später sein Appartement wieder betreten hatte, war nichts mehr von Pamelas Aura zu spüren gewesen. Die Wohnung wirkte nun wieder nüchtern und steril, so wie sie vor Pamelas Einzug ausgesehen hatte. Diese nun leicht befremdende Atmosphäre war ihm jedenfalls lieber, als ständig an Pamela erinnert zu werden.

 

 

- 35 -

 

Philipp wurde in aller Stille beigesetzt. Nur John, Sally, Sam Porter und einige Freunde Philipps hatten an dem Begräbnis teilgenommen. Knappe drei Wochen später fand das Begräbnis für Canetti und Pamela statt.
Canettis Witwe hatte nicht zugelassen, dass ihr verhasster Mann und seine ebenso niederträchtige Nichte in derselben Gruft beigesetzt wurden, in der auch Emilia ihre letzte Ruhe finden sollte. So war für Pamela und ihrem Onkel ein gemeinsames Grab angeschafft worden, wo die Beiden selbst im Tod vereint waren.
Pedro Canetti war aus Südamerika angereist und hielt die Totenmesse für seinen Vater und für seine Cousine. John hatte Pedro kaum wiedererkannt. Die aufreibende Arbeit in seiner Mission und die vielen Entbehrungen hatten tiefe Spuren in seinem hageren Gesicht hinterlassen. Doch trotz aller Mühsal strahlte der Mann Güte und Frohsinn aus. Petros Trauer für seinen Vater hielt sich genauso in Grenzen, wie die seiner Mutter. Seit jeher hatte ihm der Zugang zu diesem Mann gefehlt, dessen Leben durch ganz andere Interessen und Wertigkeiten bestimmt worden war.
Doch Pamelas Tod war Pedro sehr zu Herzen gegangen. Sie war ihm wie eine kleine Schwester gewesen. Pedro hatte immer gewusst, dass Pamela in ihrem Innersten keine Bestie war, wie sie die Medien nun darzustellen versuchten. Doch wie hätte dies ein anderer verstehen können, der keine Ahnung hatte, wie einsam und unglücklich dieses kleine Mädchen mit diesen großen, traurigen Augen war.
Doch Pedro war ein sehr tiefgläubiger Mann. Der Tod bot in seiner Endgültigkeit nicht nur Trauer,
sondern auch die Hoffnung eines neuen Anfangs in einer anderen, für Pamela hoffentlich besseren Welt, in der Gott ihrer gefallenen Seelen den richtigen Weg weisen würde. Seine Predigt war daher auch nicht von der immensen Schuld und der damit verbundenen Vergebung geprägt, sondern wies lediglich darauf hin, dass der Mensch fehlbar ist. Und diese beiden Menschen hatten eben ein wenig mehr von diesem Makel abbekommen und durften daher nun auch ein wenig mehr mit der Gnade Gottes und seiner grenzenlosen Güte rechnen.
Das Begräbnis war ohne großen Pomp über die Bühne gegangen. Unter den gegebenen Umständen hatte man es auch bei diesem Begräbnis vorgezogen, die Trauergemeinde im kleinsten Rahmen zu halten. Nach der Einsegnung hatte auch kein Totenmahl stattgefunden, wie es unter normalen Umständen üblich gewesen wäre. Stattdessen waren Pedro, Emilia Canetti und John gleich zum Notar gefahren, wo die Testamentsvollstreckung stattfand. Der Notar hatte die die Begünstigten im Besprechungszimmer gebeten, wo er mit aller Ehrwürdigkeit die Testamente verlas. Pamelas Vermögen hatte sich auf ein Barvermögen von drei Millionen Dollar plus der Anteile „Lombard Pharma“ erstreckt. Außerdem hatte Canetti seiner Nichte den Fischhandel, das Segelboot und einen nicht unbeträchtlichen Anteil seiner in der ganzen Stadt verstreuten Immobilien hinterlassen. Das Anwesen der Canettis war Emilia zugefallen. Die riesigen Aktienpakete und Investmentfonds, die drei Hotels und das Fischrestaurant am Hafen, das Transportunternehmen, den Rest der Immobilien, die Kunstgegenstände und das Barvermögen wurde zwischen seiner Frau und Pedro zu gleichen Teilen aufteilt.
John hatte keine Ahnung gehabt, dass Pamela so viel Geld auf der Kante hatte. Doch noch weniger hatte er damit gerechnet, Nutznießer von Pamelas Erbe zu sein. Donata hatte dagegen wutentbrannt protestieren wollen, worauf Pedro die Verlesung unterbrochen hatte und seine Mutter aus dem Besprechungszimmer zog. Sehr eindringlich hatte er Emilia zu verstehen gegeben, welche enormen Belastungen und Probleme mit dieser Testamentsanfechtung einhergehen würden. Außerdem war sie eine gottesfürchtige Katholikin, deren christliche Nächstenliebe so weit gehen musste, um auf dieses Vermögen zu verzichten. Sein Vater und Pamela haben schließlich schuld daran getragen, dass Lombard Pharma nun vor dem Ruin stand. Es war daher nur recht und billig, dass John Pamelas Erbe bekommen sollte. Doch soweit hatte Emilias Großzügigkeit nicht gehen wollen und sie bestand weiterhin auf diesen Erbanteil. Erst als Pedro seiner Mutter gedroht hatte, sich von ihr dann abzuwenden und kein Wort mehr mit ihr zu sprechen, gab sie zähneknirschend nach.
Als der offizielle Teil der Verlesung vorbei war und die Witwe und der Notar das Besprechungszimmer verlassen hatten, hielt Pedro John zurück und bat ihn um ein Gespräch unter vier Augen.
„Als Vater das Testament aufsetzen ließ, hatte er bestimmt nicht damit gerechnet, dass er zusammen mit Pamela sterben würde. So gesehen ist das Testament anfechtbar, was meine Mutter sicherlich auch getan hätte. Doch ich konnte sie davon überzeugen, dass dies nicht der richtige Weg sei und durch einen eventuellen Erbschaftskrieg noch mehr von Vaters dunklen Machenschaften ans Licht kommen würden. Außerdem würde sich dieser Prozess ewig in die Länge ziehen und die einzigen Nutznießer wären die Anwälte.“
„Und was schlägst du vor?“, fragte John nun ziemlich interessiert.
Ich biete Dir daher einen Deal an. Du überschreibst mir 30% deiner Firmenanteile und Mutter wird das Testament nicht anfechten. Mit deiner beträchtlichen Erbschaft könntest du „Lombard Pharma“ vor dem Ruin retten und hättest zusätzlich noch einige Reserven.“
John überlegte kurz wie hoch der Schuldenstand der Firma war und auf wie viele Millionen sich ca. seine Erbschaft abzüglich der Steuern belaufen würde. Wenn Pedro 30% der Firma für sich beansprucht, hätte er abzüglich der Firmenanteile der anderen Gesellschafter 51% von „Lombard Pharma“ und damit immer das Sagen in der Firma.
„Wieso willst du unbedingt stiller Miteigentümer der Firma sein?“ fragte John vorsichtig.
Obwohl Pedro in seiner schlichten, schwarzen Soutane sehr einfach wirkte, strafte sein spitzbübisches Lächeln sein bescheidenes Auftreten doch ein wenig Lügen.
„John, ich bin zwar Geistlicher, das heißt jedoch nicht, dass ich nichts von Geschäften verstehe. Den guten Geschäftssinn hat mir wohl doch mein Vater weitervererbt. Aber mit dem großen Unterschied, dass ich ihn dazu verwende, Gutes zu tun. Deine Firma steht zwar augenblicklich nicht sehr gut da, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass du in absehbarer Zeit mit den Geldmitteln, die dir nun zur Verfügung stehen, diese bald wieder in ein florierendes Unternehmen verwandeln wirst. Ich wäre doch blöd, wenn ich mir diese Einnahmequelle nicht sichern würde.“
„Wozu brauchst du das Geld?“, wollte John wissen.
„Nun, wie du sicherlich noch weißt, leite ich eine Mission, die immer in Geldnöten steckt. Außerdem möchte ich ein neues Kinderheim im Süden Brasiliens bauen, das eine Menge Geld verschlingen wird.
Und „Lombard-Parma“ wird meine persönliche Zapfsäule sein.“
Pedros verbindliches Grinsen ließ John nicht unberührt. Im Leben gab es doch noch eine ausgleichende Gerechtigkeit. Canetti hatte mit dem Leid, den Nöten und Schwächen der Menschen schweres Geld gemacht. Und nun floss es auf Umwegen wieder dahin zurück, damit das Leid und die Not gelindert werden würde.
„Dein Vorschlag scheint gut zu sein und würde jedem von uns etwas bringen. Frei von der Leber weg würde ich sagen, der Deal ist ok und ich bin damit einverstanden. Doch unsere Anwälte sollten im Vorfeld die Sachlage prüfen, damit es zu keinen unvorhersehbaren Komplikationen kommt.“
John streckte Pedro die Hand hin, worauf dieser erfreut einschlug.
„Ich sehe schon, das ist der Anfang einer guten und harmonischen Geschäftsverbindung“, stelle Pedro zufrieden fest.
„Ja, aber diese Geschäftsverbindung gehe ich mit dir und nicht mit der Kirche ein. Ist das klar?“
„So sicher wie das Amen im Gebet“, erwiderte Pedro verschmitzt. „Ich will ja auch nicht, dass der Vatikan von meiner kleinen Geldquelle weiß, sonst bin ich diese schneller los, als die Hostien bei der Kommunion.“
Doch dann wurde Pedro wieder ernst. Er langte in seine Aktentasche und zog ein großes, braunes Kuvert heraus.
„Da gibt es noch etwas, was ich dir geben sollte.“
John betrachtete neugierig den großen Briefumschlag, auf dem Philipps energische Schriftzüge zu erkennen waren.
„In diesem Kuvert befinden sich ein Kaufvertrag, die Besitzurkunde und der damit verbundene Grundbuchsauszug von drei nebeneinander liegenden Kaffeeplantagen im Hochland Kolumbiens, die dein Bruder Ende letzten Jahres gekauft hatte. Außerdem liegt eine Bestätigung eines Lagerhauses in Bogota bei, wo Philipp einen Teil seiner persönlichen Sachen zwischengelagert hat.“
Erstaunt und verwirrt zugleich betrachtete John den dicken Packen an Unterlagen, die Pedro aus dem Kuvert zog.
„Ich verbrachte das letzte Weihnachtsfest hier in Vancouver und lernte bei dieser Gelegenheit deinen Bruder kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb ziemlich gut. Doch um Freunde zu werden, hatten wir zu wenig Zeit. Diese wenige Zeit reichte aber, dass er sich mir in seiner Verzweiflung anvertraute. Bei einem langen Spaziergang erzählte er mir, wie er sich unwissentlich und in aller Gutgläubigkeit in die Abhängigkeit meines Vaters und Pamelas begab“, sagte Pedro voller Bedauern. „Philipp wusste, dass er keine Chance mehr hatte die Firma zu retten, da Pamela und natürlich auch mein Vater ihn unter Druck gesetzt haben. Deshalb versuchte er so viel Geld wie möglich aus den beiden herauszupressen, um mit diesem ein neues Leben in einer anderen Welt zu beginnen. Doch Philipp unterschätzte Pamelas Intelligenz, denn sie ahnte, dass er etwas im Schilde führte. Meine Cousine ließ ihn überwachen und jede seiner Aktivitäten prüfen. Zu Weihnachten kam es dann zu einem Eklat zwischen meinem Vater, Pamela und Philipp, wo man von ihm das gestohlene Geld zurück forderte bzw. die Plantagen als Ersatz haben wollte. Doch Philipp weigerte sich die nötigen Unterlagen rauszurücken. Pamela konnte ihn aber auch nicht beseitigen, weil das neue Medikament kurz vor dem Durchbruch stand und er noch gebraucht wurde. Da er absolut niemanden mehr vertraute, gab er mir die Unterlagen zur Aufbewahrung. Pamela wäre nie und nimmer auf den Gedanken gekommen, dass ich die Kaufverträge und Besitzurkunden aufbewahrt habe.“
Verwundert sah John die Unterlagen durch. Unter diesen fand John auch ein Sparbuch einer Schweizer Bank, wo in den vergangenen Monaten mehrere Einzahlungen zwischen 10- und 20.000 Dollar getätigt wurden. Auf dem Sparkonto befanden sich knapp 70.000 Dollar.
„Wieso informierst du mich erst heute von diesen Grundstücken?“ wollte John wissen.
„Ich hatte keine Ahnung, dass du überlebt hast. Und als ich es erfuhr, bist du bereits im Gefängnis gesessen. Außerdem sah die Lage für dich alles andere als rosig aus. Mit ein bisschen weniger Glück hättest du lebenslänglich ausgefasst. Was hätten dir dann diese Plantagen noch geholfen? Ich hingegen hätte damit viel Positives bewirken können. Zumindest ein wunderschönes, sich selbst versorgendes Kinderheim im Hochland von Bolivien?“ erklärte ihm Pedro, der absolut kein schlechtes Gewissen hatte.
„Du bist ein ausgekochtes Schlitzohr, ehrenwerter Pater.“ Pedros Unverfrorenheit verblüffte John. Ein Gottesmann, der ob der guten Sache wegen nicht davor zurück schreckte, doch ein bisschen link zu sein.
„Der Ausdruck Schlitzohr ist doch wohl ein wenig übertrieben“, lächelte Pedro seinen Schwager verwegen an. „Der Zweck heiligt schließlich die Mittel. Außerdem bist du ja frei gesprochen worden. Und unter diesen Umständen fand ich es an der Zeit, dich nun von den Besitzungen in Kenntnis zu setzten, die dir Philipp laut des beiliegenden Testamentes vererbt“, fuhr Pedro fort und zog das gefaltete Testament aus dem Kuvert.
„Du hast doch mehr von deinem Vater als ich vermutet habe.“
„Aber nur das Gute, wovon bei ihm leider nicht allzu viel da gewesen ist“, erwiderte Pedro sarkastisch.
„Aber solltest Du kein Interesse an dem Land habe, ich hätte absolut nichts dagegen, wenn du mir die Plantagen überschreiben würdest. Ich würde dich dann auch besonders innig in meine Abendgebete einschließen.“
Pedros trockener Humor und sein ausgeprägter Geschäftssinn ließen John erneut schmunzeln.
„Lieber Pedro, alles hat seine Grenzen, selbst wenn es um so soziale Projekte geht, die du verfolgst.“
„Nun ja, einen Versuch war es zumindest wert.“
Pedros gütiges Gemüt, dem Gier und Hass völlig fremd zu sein schienen, ließen John plötzlich die Tragweite seiner noblen Handlung bewusst werden. Hier ging es nicht um Peanuts, sondern um ein verdammt großes Vermögen. Angenehm überrascht und beschämt zugleich betrachtete erneut den hageren Mann in seinem schwarzen Ornat, der gewissenhaft die Unterlagen wieder in das braune Kuvert zu stecken versuchte.
„Ich bin noch nie einem Menschen wie dir begegnet, der dermaßen selbstlos und ehrlich ist“, sagte John beeindruckt. „Man kann es kaum glauben. Der Sohn eines gewissenlosen Verbrechers ist ein Heiliger.“
„He, he, nun lass einmal die Glocken in Rom und übertreibe nicht so maßlos. Glaub mir, darin sind wir Italiener um einiges besser als ihr trockenen Kanadier“, erwiderte Pedro ein wenig beschämt. „Aber ich freue mich, wenn ich ein wenig dazu beitragen konnte, die große Schuld meiner Familie sühnen kann.“

 

Nachdem John die Kanzlei verlassen hatte, fuhr er nicht gleich in die Firma zurück. Im Moment fühlte er sich ziemlich überfordert. John musste erst seine Gedanken auf die Reihe bringen und über die völlig neuen Perspektiven nachdenken. Dazu brauchte Zeit und Ruhe.
Es war ein herrlich schöner Herbsttag. Das klare Licht und der tiefblaue Himmel weckten seine Lust mit Pamelas Boot aufs Meer hinaus zu segeln. Dort war er absolut alleine und konnte über alles ungestört nachdenken.
Die Nacht war bereits herein gebrochen als John das Boot in den Yachthafen steuerte. Der Wind hatte aufgefrischt und ließ John in seinem dünnen Hemd und der schwarzen Anzugshose frösteln. Doch es war ein angenehmer Schauer, der ihn umfing. Die kalte Luft erinnerte ihn an die Berge und an Karin, die so oft mit ihm durch den Wind gepeitschten Wald gewandert war.
John wusste nun was er zu tun hatte. Er wollte die Möglichkeit nutzen, die ihm das Schicksal unverhofft zuteilwerden ließ.
Der nächste Morgen war ein Sonntag. Ein willkommener Tag, um ungestört in der Firma die nächsten Schritte in die Wege zu leiten. Wie erwartet, war Sally bereits in ihrem Büro und bestürmte ihn mit tausend Fragen.
„Sally seien Sie still und hören Sie mir zu“, unterbrach er seine Sekretärin, die sofort ihren Redeschwall unter Kontrolle brachte.
„Zuerst holen Sie mir sofort Sam Porter ans Telefon, egal ob er schläft, scheißt oder Golf spielt. Danach buchen Sie mir den nächsten Flug nach Kolumbien.
„Kolumbien?“, fragte Sally erstaunt.
„Ja, und zwar einen Platz in der Businessclass, denn diese kann ich mir nun wieder leisten.“
Dann wandte er sich augenzwinkernd ab und verschwand in seinem Büro.
Anfänglich war Sam ein wenig ungehalten gewesen, weil er sein Golfspiel unterbrechen musste. Doch als er von den unerwarteten Neuigkeiten hörte, war sein Ärger verflogen und Sam hörte mit großem Interesse zu. Er versprach in Johns Abwesenheit die Verträge und Canettis Angebot zu prüfen, so dass nach seiner Rückkehr klare Fakten auf dem Tisch lagen und John sich entscheiden konnte.
Nach dem Telefonat mit Sam rief er Sally zu sich und informierte sie ebenfalls vom Stand der Dinge.
„Ich kanns nicht glauben! Weihnachten und Ostern fallen zusammen“, rief Sally euphorisch, während sie sich erleichtert in den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen ließ.
„Aber wieso wollen Sie sich diese Plantagen ansehen?“, fragte Sally vorsichtig.
„Weil sie mein Eigentum sind. Ich möchte ganz einfach wissen, was mein Bruder mir hinterlassen hat.“
Intuitiv spürte Sally, dass John mit etwas hinterm Berg hielt.

 

Am nächsten Morgen flog John nach Südamerika. Sally hatte in weiser Voraussicht bereits einen Fahrer organisiert, der John mit einem Geländewagen vom Flughafen in Bogota abholte und ihn in jene Hochebene bringen sollte, wo sich die Kaffeeplantagen befanden.
John brauchte einige Zeit, um sich an das feucht-tropische Klima zu gewöhnen. Dieses Land unterschied sich grundlegend von dem, das ihm vertraut war. Die Menschen hier waren bei weitem nicht so introvertiert wie in Kanada. Die bunten Kleider und das freundliche und offene Wesen der größtenteils sehr armen und einfachen Bevölkerung gefielen ihm aber letztendlich doch und John begann seine Vorurteile abzulegen.
Als der Jeep dann in die Berge immer höher fuhr, wurde auch die Besiedlung nach und nach weniger. Vereinzelt sah man Bauern, die auf ihren Eseln Gemüse und Obst zum nächsten Marktplatz brachten. Ab und zu begegnete man auf der holprigen Landstraße einem alten Lastwagen oder einem Autobus, der zum Bersten mit Menschen vollgestopft war.
Die lange Fahrt durch den Tropenwald auf den schlecht gewarteten Straßen ließ John rasch ermüden. Doch seinem Fahrer schien das nicht zu stören. In einem Kauderwelsch aus englisch und spanisch erzählte der John ohne Unterlass von den Vorzügen, die sein Land bot. Mit einem zweifelnden Blick betrachtete er Paolo von der Seite, denn nach mehr als zwei Stunden Fahrt konnte John nicht viel von den angesprochenen Besonderheiten erkennen, außer dass er selbst wie ein Schwein schwitzte, ihm jeder Knochen weh tat und die Mosquitos ihn fast um den Verstand brachten. Außerdem wurden sie während der Fahrt von zwei heftigen Regengüssen heimgesucht, so dass man keine 10 Meter weit sehen konnte. Der Regen hinderte Paolo jedoch nicht daran seine Geschwindigkeit zu vermindern, sondern er preschte mit Dreck spuckenden Reifen die ansteigende Straße hoch, ohne auch nur ein Schlagloch zu verpassen. Je höher sie jedoch kamen, umso frischer und reiner wurde die Luft. Den schwülen Dunst des Waldes hatten sie hinter sich gelassen und eine angenehm kühle Brise wehte ihnen entgegen. Der Blick über die Tropenwälder war gigantisch und entschädigte John für die erlittene Mühsal der anstrengenden Fahrt.
Nach mehr als drei Stunden Fahrt erreichten sie endlich die größte der drei Plantagen. Auf den ersten Blick konnte John erkennen, dass die Farm abgewirtschaftet war. Seit längerer Zeit ist hier nicht mehr geerntet worden und die Wildnis hatte rasch wieder die Felder zurück erobert.
Das große Farmerhaus hatte ebenfalls schon bessere Tage erlebt. Es befand sich in einem vernachlässigten Zustand, obwohl es ein ausnehmend schönes Haus war, das eine wunderbar breite Veranda hatte. Doch vor allem war es der Ausblick, der John nun aufs Neue faszinierte. Überall gab es kleinere und größere Wasserfälle, die kraftvoll aus den Felsen schossen und sich in kleine grüne Bergseen ergossen. Unwillkürlich musste John an den kleinen Wasserfall denken, wo John mit Karin gebadet hatte.
Dieser Platz hier war einfach nur schön und friedlich. John fühlte wieder diese besondere Atmosphäre, diese Eintracht mit der Natur, so wie damals, als er mit Karin durch die Wälder streifte.
Paolo fuhr John dann zu den beiden kleineren Plantagen, die unter denselben Problemen wie die Hauptplantage litten. Eines der Farmhäuser war gewohnt. Emilio Mendes lebte mit seiner Frau Joana und ihrem Baby hier. Emilio hatte angenommen, dass John sein Bruder Philipp sei und begrüßte seinen vermeintlichen Chef mit überschwänglicher Freude der Erleichterung, nachdem er so lange nichts von ihm mehr gehört hatte. John musste Emilio erst einmal klar machen, dass er nicht Philipp, sondern der Zwillingsbruder war. Emilio hatte keine Ahnung gehabt, dass Philipp gestorben war. Diese Neuigkeit versetzte dem Verwalter einen ordentlichen Tiefschlag, obwohl Emilio schon geahnt hatte, dass etwas vorgefallen sein musste, da sich sein Chef seit Monaten nicht mehr gemeldet hatte. Mendes hatte nur eine Telefonnummer. Doch Philipp hatte auf seine Anrufe nicht reagiert. Auch seine Mails blieben unbeantwortet, so dass Emilio nichts anderes übrig geblieben war, als hier auf ihn zu warten. Das Geld, dass Philipp Mendes gegeben hatte, um sich hier häuslich niederzulassen, war mittlerer Weile fast verbraucht und Mendes trug sich bereits mit dem Gedanken, mit seiner Familie von hier wieder wegzuziehen und in der Stadt sein Glück zu versuchen.
Mendes hatte darauf bestanden, dass John bei ihnen wohnte und nicht mehr nach Bogota zurück fuhr. John nahm auch dankbar die Gastfreundschaft an, denn er hatte absolut keine Lust, noch am selben Tag wieder diese Höllenstrecke in die Stadt zurück zu fahren. So vereinbarte er mit Paolo, dass er ihn in zwei Tagen wieder abholen sollte.
Die Unterkunft des Verwalters war ärmlich eingerichtet. Es fehlte rundherum an allem. Doch das Haus war sehr sauber und Joana war eine ausgezeichnete Köchin. Zum Abendessen gab es Burritos mit Bohnen und Käse gefüllt und dazu Tomatensalat. Es war ein sehr einfaches, aber nichts desto weniger köstliches Essen, insbesondere wenn man den ganzen Tag nichts in den Magen bekommen hatte.
Der kleine Carlos war sechs Monate alt und war ein wenig älter als sein Sohn Philipp. In einem selbst gefertigten Hochstuhl saß er ebenfalls beim Tisch und trank sein Abendfläschchen. Wehmütig dachte John an seinen Sohn. Wie sehr sehnte er sich plötzlich nach seinem Kind und nach Karin.

 

In den nächsten beiden Tagen gewann John einen ziemlich genauen Überblick über die Plantage. Emilio war Agraringenieur und konnte John auch in englischer Sprache genau erklären, worauf man beim Anbau von Kaffee achten musste. Zusammen fuhren sie in Emilios alten Pickup die Kaffeefelder ab. Der Anblick der von Unkraut überwucherten Kaffeestauden war deprimierend. Aber auch die Lager- und Trockenräume waren in einem sehr desolaten Zustand. Man brauchte kein Farmer zu sein, um zu erkennen, dass hier schon seit Jahren nichts mehr investiert wurde.
Und doch, je mehr John mit dem Land hier vertraut wurde, umso mehr fühlte er sich mit der Farm verbunden. Emilio spürte Johns positive Gesinnung. Diese Chance wusste der Verwalter auch zu nutzen und es gelang Emilio auch immer mehr, Johns Interesse zu wecken. Aber auch John gefiel der junge Mann, der mit Leib und Seele Pflanzer war und mit allen Mitteln versuchte, John das Leben hier schmackhaft zu machen.
Es war ein gutes und schönes Land. Wie damals in den Rocky Mountains konnte John nun wieder diesen besonderen Gleichklang in sich schwingen spüren. John konnte Philipp nur zu gut verstehen, dass er hier einen neuen Anfang starten wollte. Die Weite und Stille, die ihn langsam ruhig werden ließ, diese besondere Eintracht mit der Natur empfand John unglaublich anregend, so dass in ihm immer mehr das Gefühl ausbreitete, hier zu Hause sein zu wollen.
Nach zwei Tagen wurde John wieder von Paolo abgeholt. John verabschiedete sich herzlich von Emilios schüchterner Frau Joana und dem kleinen, putzigen Carlos. Die kleine Familie, die ihn so liebevoll aufgenommen hatte, war John in der kurzen Zeit ziemlich ans Herz gewachsen.
Dann ging er zu Emilio, der bereits beim Jeep auf ihn wartete. John konnte in seinen hoffnungsvollen Augen seine stumme Bitte lesen. Nachdem John seine Tasche auf den Rücksitz des Jeeps geworfen hatte, wandte er sich lächelnd dem Verwalter zu und zog seine Brieftasche aus dem Sakko.
„Emilio, diese 500 Dollar sind ein kleiner Vorschuss auf Ihr nächstes Gehalt. Ich werde in Bogota bei der Banco de Bogota ein Konto auf Ihren Namen eröffnen, wo ich jeden Monat Ihr Gehalt überweisen werde, das mein Bruder mit Ihnen vereinbart hat. Ich kann nicht sagen, wann ich zurückkomme. Zu viele Probleme warten in Vancouver auf mich, die unbedingt gelöst werden müssen. Ich weiß nur, dass ich wieder zurückkomme und mit Ihrer Hilfe diese Plantage wieder aufbauen will.“
Ergriffen und sehr dankbar schüttelte er mit seinen abgearbeiteten Händen Johns Hand.
„Mr. Lombard, glauben Sie mir, sie werden es nicht bereuen in diesem Land ein neues Leben zu beginnen. Meine Frau und ich sind Ihnen zutiefst dankbar. Wir werden Sie nicht enttäuschen.“
Auf der Rückfahrt in die Hauptstadt spürte John weder die Schlaglöcher in der holprigen Straße, noch die schwüle Hitze, die wieder in einem Regenguss endete. John fühlte, dass er an einer Wende in seinem Leben angekommen war. Die Stadt und ihr hektisches Treiben interessierte ihn nicht mehr. Diese Tage im Hochland bestätigten ihm nun, dass er sich nicht nur durch die Liebe zu Karin der Weite der Berge und Wälder verbunden fühlte, sondern weil dieses besondere Fühlen tief in seinem Herzen steckte und erst geweckt werden musste.

 

 

- 36 -

 

Die nächsten Wochen verliefen noch turbulenter ab als die vorangegangenen. Durch den unerwarteten Geldsegen nahm vieles in der Firma eine ganz andere Wendung, sodass endlich wieder ein effizientes Arbeiten möglich war. Pedro, der nun als sein Partner Johns ebenfalls an einer Produktionssteigerung interessiert war, schoss einen saftigen Batzen Geld aus seiner Erbschaft zu, damit Rohstoffe gekauft und die ausstehenden Gehälter der letzten Monate ausbezahlt werden konnten.
John konnte sich mit den Banken arrangieren. Die Kredite wurden nicht sofort fällig gestellt, so dass die Schulden langfristig mit den Gewinnen aus dem gut gehenden Fischhandel getilgt werden konnten. Die durch einen Vergleich festgesetzten Schadensersatzzahlungen an die Betroffenen waren verdammt hoch, so dass Pamelas 3 Millionen Dollar bei weitem nicht ausreichten. Es blieb John nichts übrig, als selbst in die eigene Tasche zu greifen, um endlich diese leidliche Angelegenheit aus dem Weg geräumt zu haben.
Da der Fischhandel führerlos dastand, musste John einen vertrauensvollen Geschäftsführer finden. Obwohl ihm seine Entscheidung absolut gegen den Strich ging, blieb ihm aber nichts anderes übrig, als Sally diese schwierige Aufgabe zu übertragen. Besonders in den letzten Wochen hatte Sally bewiesen, welch ungeheures Potential in ihr steckte. John hatte sie schlichtweg unterschätzt. Ohne ihre Unterstützung stünde Lombard-Pharma bei weitem noch nicht so gut da.
Sally war die Einzige, der er vertraute und die auch aufgrund ihres organisatorischen Talents und ausgeprägten Geschäftssinns fähig war, diesen riesigen Betrieb zu leiten.
Als John einige Andeutungen in diese Richtung machte, um zu orten, ob sie eventuell Interesse an dem Job hätte, ließ sie ihn kurzer Hand abblitzen. Sie wollte nicht weg von „Lombard Pharma“. Doch John brauchte sie dort wesentlich dringender. Irgendwie musste es ihm gelingen, ihr den Fischhandel schmackhaft machen. Als sich Sally am späten Freitagabend von John verabschiedete, bat er sich noch kurz in sein Büro.
„Sally, Sie wissen, dass ich dringend einen Geschäftsführer für das Fischgeschäft brauche. Ich habe versucht den passenden Mann dafür zu finden, doch alle, die sich um den Job beworben haben, waren mit Canetti mehr oder weniger gut bekannt, was in dieser Branche nichts Besonderes ist. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass mich jeder der Interessenten hochgradig übers Ohr hauen würde.“
„Und was habe ich damit zu tun?“ fragte Sally vorsichtig. Die Müdigkeit war schlagartig aus ihren Augen gewichen und sie belauerte John wie ein Beutetier.
„Ich brauche Sie dort. Ich möchte, dass Sie den Fischhandel leiten.“
„Auf keinen Fall werde ich in dieser stinkenden Fischbude arbeiten. Ich habe Fisch schon als Kind gehasst. Allein der Geruch bringt mich schon zu kotzen“, unterbrach sie in ungehalten.
„Sally, ich weiß welchen großen Dienst ich von Ihnen erbitte. Doch Canettis Fischhandel ist ein sehr florierendes Unternehmen. Halb Vancouver kauft dort den Fisch. Wenn aber nicht bald eine strenge Hand den Laden führt, springen die Kunden ab und der Betrieb geht den Bach runter. Doch ich brauche diesen Betrieb, denn dieser sichert das Fortbestehen von meiner Firma. Mit den Profiten finanziere ich meine Kreditraten. Sie wissen nur zu gut, dass diese nicht gerade läppisch sind.“
Sally begann auf ihrem Sessel nervös herum zu rutschen. In den letzten Wochen hatte sie durch den Stress in der Firma ziemlich viel an Gewicht verloren und wirkte nun um einiges attraktiver, obwohl sie sehr abgespannt aussah. Mit einem Typberater und einem guten Friseur würde sie sicherlich noch einiges mehr aus sich rausholen können und man würde ihr bestimmt den nötigen Respekt entgegen bringen, ging es John durch den Kopf.
„John ich fühle mich einer so großen Verantwortung ganz einfach nicht gewachsen. Ich bin eine gute Zweite, aber kein Chef. Außerdem bin ich mental auch nicht ganz auf der Höhe, da mich mein Mann vor zwei Wochen verlassen hat“ gestand sie John frustriert.
„Oh Sally, das tut mir wirklich leid. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es in Ihrer Ehe Probleme gab“, sagte John betroffen.
John mache sich nun Vorwürfe, dass er keinen einzigen Gedanken an Sally als gute Freundin verschwendet hatte, sondern nur an sich und diese verdammte Firma gedacht hatte. Es war John durchaus gewusst gewesen, dass Sally keine besonders glückliche Ehe geführte. Und da Sally die letzten Monate nur mehr in der Firma gewesen war, hatte dieser Umstand das Fass wohl zum Überlaufen gebracht, sodass ihr Mann das Handtuch geworfen hatte. Doch Johns Schuldgefühle hielten sich in Grenzen, als er erkannte, welch unverhoffte Möglichkeit sich nun bot, Sally zu motivieren, nicht nur privat, sondern auch beruflich völlig neu durchzustarten.
„Sally Ihr Leben ist im Augenblick sowieso im Umbruch begriffen. Wieso setzen Sie daher nicht gleich eins drauf und machen einen beruflichen Quantensprung. Das Zeug dazu hätten Sie allemal. Jetzt hindert Sie niemand mehr, sich zu entfalten und Ihr Können richtig unter Beweis zu stellen. Ich versichere Ihnen freie Hand zu lassen und Sie zu unterstützen, soweit es in meiner Macht steht. Außerdem zahle ich Ihnen ein Grundgehalt, das das Fünffache ihres jetzigen Gehaltes übersteigt zuzüglich einer 5%igen Gewinnbeteiligung, eines Spesenkontos und einen Firmenwagen Ihrer Wahl. Sie würden einen Top-Managerposten bekleiden und in den besten Kreisen verkehren, sofern Sie darauf Wert legen.“
Sally ließ sich Johns Angebot durch den Kopf gehen. Man sah förmlich wie ihre Gedanken durch ihren Kopf flitzten und sie Johns Worte abwog. Schließlich sagte sie: „Ok John, ich werde es mir übers Wochenende überlegen. Aber wenn ich den Job mache, dann nur unter der Prämisse, dass ich wieder meinen alten Job zurück haben kann, wenn ich es innerhalb des nächsten halben Jahres nicht schaffe, den Betrieb so zu führen wie ich es mir vorstelle.“
„Ich bin überzeugt davon, dass Sie dort die Puppen nach ihrer Musik tanzen lassen werden. Aber ich bin damit einverstanden, dass Sie zurückkommen können, wenn Ihnen der Job nicht gefallen sollte.“
Am Montag der kommenden Woche stellte John Sally Hamilton der Belegschaft von „Canetti&Son“ als neue Chefin vor.

Ende November begann sich endlich der gröbste Stress zu legen und langsam kehrte wieder eine gewisse Routine in die Firma ein. Das Vertrauen der alten Kunden kehrte nach und nach zurück und die Bestellungen stiegen auch wieder.
Louis Sandman, der Geschäftsführer, den Pamela statt Philipp eingestellt hatte, hatte John beschworen, ihn nicht vor die Tür zu setzen und er versprach sein Bestes zu geben. John hatte anfänglich ziemliche Bedenken gehabt, da er vermutete, dass der Mann ein Spitzel der Mafia war. Doch nachdem das organisierte Verbrechen nun nach einigen Machtkämpfen von den Russen übernommen worden war, gab er dem jungen Betriebswirt die erhoffte Chance und wurde nicht enttäuscht. Sandman erwies sich als ziemlich fähiger Manager, der seine durch Unwissenheit und Fehlleitung entstandenen Fehler durch Fleiß, Einfallsreichtum und Gewissenhaftigkeit bald wettmachte.
John konnte sich nun wieder seiner ursprünglichen Aufgabe widmen. Alex hatte ein tiefes Loch im der Forschungsabteilung hinterlassen, das nicht so leicht zu füllen war. Doch John fehlte Alex nicht nur als fähiger Chemiker, sondern auch als Freund, mit dem er nach dem Job bei einem Glas Whisky über anstehende geschäftliche Schwierigkeiten sprechen, aber sich auch private Probleme von der Seele reden hatte können
Fast immer fuhr John nach seinem Job nach Hause. Er mied die gesellschaftlichen Events, wo er früher immer mit Pamela dabei gewesen war. Es war ihm unangenehm wie eine bunte Kuh begafft zu werden oder mitleidige Blicke der sogenannten feinen Gesellschaft zu ernten. Außerdem ging es ihm hochgradig auf die Nerven, von heiratswütigen Singledamen bedrängt zu werden.
Dies war auch einer der Hauptgründe, wieso John kaum noch ausging. Er hatte absolut kein Verlangen mit fremden Frauen in Kontakt zu treten.
Am wohlsten fühlte sich John, wenn er die Wohnungstür hinter sich schließen konnte. Auf dem Weg nach Hause blieb er entweder beim Chinesen stehen, wo er sich im Pappkarton etwas Undefinierbares oder eine Pizza vom gegenüber liegenden Italiener mitnahm. Während John sein Abendessen zu Hause in aller Ruhe verzehrte, studierte er die neusten Pläne der Waschanlage und der Schwemmmaschine, die für die Nassaufbereitung der Kaffeebohnen notwendig waren. Er las Bücher über den Anbau von Kaffeestauden, welche Sorten es gab und worauf man beim Pflanzen achten musste. John interessierte alles, was mit Kolumbien zusammen hing. Schließlich wollte er über das Land Bescheid wissen, in dem er bald seine Zelte aufschlagen würde.
Sein Verwalter hatte es geschafft, einen Internetzugang zu bekommen. John stand mit Emilio jetzt nicht nur in regem Mailkontakt, sondern konnte mit ihm über Skype auch die anstehenden Entscheidungen, Probleme und die Bau- und Pflanzfortschritte besprechen. Emilio hatte bereits zehn Landarbeiter eingestellt, die die verwahrlosten und überwucherten Kaffeestauden wieder auf Vordermann brachten, aber auch um die brach liegenden Felder zu roden, um diese für neue Pflanzungen vorzubereiten. Es würde schließlich Jahre dauern, bis von einer Pflanze die erste Bohne geerntet werden konnte.
Auch die Ausbesserungsarbeiten an dem großen Farmerhaus machten nun große Fortschritte. Das Dach war neu eingedeckt worden, die brüchigen Fenster waren durch neue ersetzt und die Fassade weiß getüncht worden. Emilio schickte auch immer Fotos mit, um die Baufortschritte zu dokumentieren.
John wollte noch bis zum Frühjahr warten, bis die Firma soweit gefestigt war, dass er sich größtenteils aus dem Unternehmen zurückziehen konnte. Es war wohl eine ganz besondere Ironie des Schicksals, dass er seiner toten Frau jetzt auch noch dankbar sein musste. Pamela hatte ein ziemlich gutes Gespür für qualifiziertes Personal gehabt. Mit Sandman hatte sie noch einige andere Mitarbeiter eingestellt, die sich als höchst kompetent erwiesen hatten und für das Unternehmen von unschätzbarem Wert waren. Der einzige Fehlgriff war der Leiter der Forschungsabteilung, der an völliger Inkompetenz, dafür an grenzenloser Selbstüberschätzung litt. Diesen konnte John aber durch einen begabten Physiker ersetzen, der vor vielen Jahren während seines Studiums sein Praktikum in der Firma absolviert hatte und der John damals schon ziemlich positiv aufgefallen war.
Im Großen und Ganzen war John recht zufrieden, wie sich das Unternehmen wieder erholt hatte. In ein paar Jahren würde dieser bedauerliche Zwischenfall mit RNV3 vergessen sein. Spätestens aber ab dem Zeitpunkt, wo seine vor mehr als zwei Jahren eingeleitete Studie ziemlich sicher jenen gewünschten Erfolg bringen würde, dass die pflanzliche Misteltherapie chemischen Präparaten um nichts nachstand, sodass der Verkauf des firmeneigenen Medikamentes um ein vielfaches ansteigen würde und die Firma auf Dauer stabilisieren würde.


Wie erwartet hatte sich auch Sally in ihrem neuen Job bestens bewährt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit dem Personal, die lieber einen Mann als eine Frau in dieser Position gesehen hätten, konnte sie jedoch mit ihrem harten aber fairen Führungsstil behaupten. Einfache Männer brauchten klare Strukturen und Vorgaben, an die sie sich orientieren konnten. Und Sally gab ihnen das, wonach sie verlangten.
Außerdem hatte sie sich Johns Rat zu Herzen genommen, auch ihr äußeres Erscheinungsbild zu verändern. Ein kompetenter Typberater hatte aus dem unscheinbaren Entlein fast einen Schwan gezaubert.
Mit ihrem attraktiven Aussehen war auch ihre Selbstsicherheit gestiegen, so dass sie sich zu einer ziemlich taffen Geschäftsfrau verändert hatte, die den Fischhandel in absolut schwarzen Zahlen hielt.
Noch ahnte niemand etwas von Johns bevorstehenden Veränderungen. Es war ihm klar, dass er auf massiven Widerstand von Sam und Sally, aber auch von seinem neuen Geschäftsführer stoßen würde. In der letzten Zeit hatte sich aber immer mehr bestätigt, dass er in dieses Leben mit seinen engen Räumen und Strukturen nicht mehr hinein passte. John fühlte, dass es langsam Zeit wurde zu gehen.
Alles lief bestens. Es war kaum zu glauben, dass der Betrieb vor drei Monaten noch vor dem Aus gestanden hat und man nicht wusste, ob es die Lombard-Pharma noch im nächsten Jahr geben würde. John war stolz auf sich, das Unmögliche geschafft zu haben. Doch der große Wehrmutstropfen war und blieb Karin. Oft blickte er sehnsüchtig auf die in der Ferne liegenden, schneebedeckten Bergspitzen und dachte an die unglaublich schöne Zeit mit ihr zurück. Es war jetzt nun drei Monate her, dass er ihr im Gerichtssaal wieder begegnet war. Seitdem hatte er nichts mehr von Karin gehört.
Doch John brachte nicht den Mut auf, sie anzurufen oder zu besuchen. Die Angst, zurück gewiesen zu werden, war einfach zu groß.
Doch einmal hatte er seine große Sehnsucht nicht mehr zügeln können und war am späten Nachmittag nach Japser gefahren. Aus sicherer Entfernung hatte er ihr Haus beobachtet. Durch die Fenster war gedämpftes Licht gedrungen. Ab und zu hatte John den Schatten eines Körpers an einem der Fenster vorbeihuschen sehen. John war auch Bonnys Bellen nicht entgangen und einmal sogar Philipps lautes Geplärre. John hatte so lange gewartet, bis im Haus Stille einkehrt und die Lichter erloschen waren. Erst dann hatte er unglücklich den Wagen gewendet und war in die Stadt zurückgefahren.

 

 

- 37 -

 

Die Firmenweihnachtsfeier ließ sich dieses Mal keiner der Mitarbeiter entgehen. Der Vortragssaal war so voll wie schon lange nicht mehr und eine fröhlich entspannte Stimmung lag in der Luft.
Wie üblich hielt John zu den Festtagen und zu dem bevorstehenden Jahreswechsel eine kurze Ansprache. Doch er stieg nicht ganz so fröhlich zum Rednerpult hoch, wie er es sonst immer getan hatte. Einen langen Moment ließ John seinen wehmütigen Blick über seine Belegschaft gleiten. Alle waren gut drauf, denn jeder freute sich, dass es mit dem Unternehmen wieder aufwärts ging und keiner seinen Arbeitsplatz verlieren würde. Nach einem kurzen Räuspern begann John mit seiner Rede und dankte allen seinen Mitarbeitern, dass sie mit ihm gemeinsam die schwierigen Zeiten in der Firma durchgestanden haben. Zu ihren Ehren hob er sein Sektglas, worauf ihm seine Mitarbeiter ergriffen zuprosteten.
Dann begann aber jener Teil seiner Rede, der ihm nicht ganz so leicht über die Lippen kommen wollte. Sein ernster Blick blieb an jenen Menschen hängen, die schon für seinen Vater gearbeitet hatten und schon viele Jahre im Betrieb waren. Viele dieser altgedienten Angestellten waren John besonders ans Herz gewachsen.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen, das vergangene Jahr hat viele Einschnitte und ungewollte Veränderungen mit sich gebracht. Nach so vielen Turbulenzen und heftigen Tiefschlägen wäre es langsam an der Zeit, dass endlich wieder Ruhe bei Lombard-Pharma einkehren sollte. Doch damit kann ich leider noch nicht so ganz aufwarten, denn es gibt da noch eine Veränderung, die mir schwer fällt, Ihnen mitzuteilen.“
Das Lächeln in den Gesichtern der Belegschaft war schlagartig erloschen. Absolute Stille erfüllte nun den Saal, während die Belegschaft verunsichert zu ihm hochblickte.
„Das Unternehmen ist nun wieder gefestigt und mit Top-Managern besetzt, sodass ich mich ruhigen Gewissens aus der Firma zurückziehen kann und nur mehr in kontrollierender Funktion tätig sein werde.“
Ein überraschtes Raunen ging durch die Reihen. Gerade jetzt, wo die Firma wieder im Begriff war Profit zu machen, hatte niemand mehr mit Johns Ausstieg gerechnet. Die vielen ungläubig-fragenden Blicke ließen John nun keine andere Wahl, als mit dem Rest der Wahrheit rauszurücken.
Mit beiden Händen stützte sich John am Rednerpult ab, so, als ob er sich daran festhalten wollte.
„Das letzte Jahr hat mich nicht nur völlig aus der Bahn geworfen, es hat mich auch erkennen lassen, wo meine Prioritäten liegen. Als ich das letzte Mal hier vor Ihnen stand und meine kleine Ansprache hielt, hätte ich ohne Zögern gesagt, dass meine Familie und Lombard Pharma das Wichtigste in meinem Leben ist. Meine Familie habe ich verloren und fast auch die Firma. Doch alles Negative birgt auch sein Positives. In der Abgeschiedenheit der Rocky Mountains ist mir langsam bewusst geworden, wer und was ich wirklich bin. Und die langen Monate im Gefängnis haben zusätzlich noch dazu beigetragen, dass diese Veränderung in mir keine plötzliche Laune war, sondern ein tiefgreifender Wandel, der nicht mehr zu stoppen oder gar rückgängig zu machen war. Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass ich nicht wirklich zur Laborratte geboren wurde. Deshalb werde ich in der zweiten Hälfte meines Lebens in eine völlig andere Richtung durchstarten. Und den Weg dazu hat mir Philipp gewiesen. Ich habe mich dazu entschlossen, den Traum meines Bruder zu verwirklichen und in Kolumbien als Kaffeepflanzer noch einmal völlig neu durchzustarten.“
Ein bestürztes, aber vor allem missbilligendes Murmeln erfüllte nun den Saal. Absolut niemand hatte damit gerechnet, dass der Chef eines hochtechnologischen Pharmabetriebs als kleiner Bauer im hintersten Eck der Welt Kaffeesträucher pflanzen wollte.
Vor allem Sam Porter und Sandmann ließen ihrem Unmut sofort freien Lauf, als John vom Pult stieg. Die beiden bombardierten ihn mit vorwurfsvollen Fragen und versuchten John mit äußerst negativen Zukunftsprognosen zu überzeugen, dass ein Neubeginn in einem Land, das fast noch zur dritten Welt zählte und durch kriminelle Drogenkartelle diktiert wurde, vom Anfang an zum Scheitern verurteilt war.
John wusste nicht, ob er erfreut oder genervt reagieren sollte. Es schmeichelte ihm zwar, dass seine Leute versuchten, ihn mit allen Mitteln in der Firma zu halten. Doch alle Überredungskünste Sams halfen nicht. John musste seiner inneren Stimme folgen, die ihm sagte, dass dieser Lebensabschnitt für ihn hier dem Ende zuging.
Sally lehnte einige Meter entfernt am Buffettisch und beobachtete John und die beiden Männer, die ihn energisch bestürmten. John war angenehm überrascht, in welch elegantem Cocktailkleid Sally steckte. Mit ihrem erblondetem und locker hochgesteckten Haar, den hochhackigen Schuhen und den rot lackierten Fingernägeln wirkte sie in diesem dunkelgrünen Kleidchen fast wie eine Femme Fatale. Schon in den vergangenen Wochen war John aufgefallen, dass Sally abgenommen und einige Anleihen an Pamelas Kleidungsstil genommen hatte. Solange sie nur ihre Klamotten kopierte, war das für John ok. Ihr neuer Job als Boss hatte sie auch mental ziemlich reifen lassen. Die letzten Unsicherheiten gehörten der Vergangenheit an, sodass Sally äußerst souverän und selbstsicher rüberkam. Es war nun absolut kein Thema mehr als kleine Sekretärin zu „Lombard Pharma“ zurückkehren zu wollen. Ihre Mitarbeiter hatten nach einigem Kräftemessen ihren Führungsstil akzeptiert und auch bald zu schätzen gelernt. Sie brachten ihr den nötigen Respekt entgegen, der ihr genug Feedback gab, um sich voll und ganz mit dem Fischgeschäft zu identifizieren.
Sally hob ihr Sektglas und prostete John lächelnd zu. Sie war die einzige, in deren Blick nicht der stumme Vorwurf, oder gar Empörung zu lesen war. Lediglich ein Anflug von Trauer lag in ihren gütigen Augen. John ließ die beiden Männer mit ihren erhitzten Gemütern einfach stehen und ging zu Sally. Auf dem Weg dorthin nahm er dem Kellner ein Glas Sekt vom Tablett.
„Nun, meine Liebe, ernte ich denn von Ihnen keine Vorwürfe?“
„Wieso sollte ich John. Sie hatten ja ohnehin schon mit Sandmanns und Porters eifrigen Überredungskünsten zu kämpfen.“
„In der Tat“, erwiderte John ein wenig genervt. „Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Sie die Einzige sind, die mich versteht.“
„Natürlich verstehe ich Sie. Das war ja jahrelang mein Job“, lächelte sie ihn wissend an. „Aber aus rein ökonomischen Gründen und Überlegungen heraus würde ich auch meinen, dass sie ein Idiot sind. Die Firma befindet sich gerade im Aufwind. Wider Erwarten hat die negative Publicity dem Unternehmen sogar geholfen. Sie sind augenblicklich der Star am glitzernden Medienhimmel. Eigentlich sollte Sie diese einmalige Gelegenheit nutzen, Ihre Eisen zu schmieden, solange sie noch heiß sind.“
Sally stellte ihr leeres Glas auf den Tisch und fischte sich ein volles, ehe sie nachdenklich fort fuhr:
„Doch andererseits bin ich auch eine Frau, die versteht, dass man seinem inneren Ruf folgen muss. Ich kenne Sie zu gut, um nicht zu wissen, was in Ihnen vorgeht. Für die meisten schienen Sie der alte geblieben zu sein. Doch wenn Menschen so intensiv wie wir zusammen gearbeitet haben, fällt einem jede noch so kleine Gemütsregung auf.“
John war beschämt über Sallys Worte. Ihm war zum Beispiel überhaupt nicht aufgefallen, dass sie in Scheidung gelebt hatte.
„John vielleicht ist es nicht der richtige Weg, den Sie einschlagen wollen. Doch sie würden ewig mit dem Schicksal hadern, wenn sie ihrer inneren Stimme nicht gefolgt wären.“
„Ach Sally, manchmal habe ich das Gefühl, dass sie mich besser verstehen, als ich mich selbst.“
„Was soll ich sagen? Sie sind eben nur ein Mann. Männer verstehen prinzipiell nie sehr gut, wenn es um ihre Gefühle geht“, erwiderte sie mit einem sarkastischen Lächeln.
John musste über Sallys spöttische Bemerkung lachen. Seit sie nicht mehr seine Sekretärin war und den Canetti Betrieb leitete, ließ sie ihrer spitzen Zunge ziemlich freien Lauf. Doch das war für John absolut ok, wenn man das Kind beim Namen nannte. John war ohnehin viel zu lange an der Nase herumgeführt worden, sodass er Ehrlichkeit nun wirklich zu schätzen wusste. In einem Anfall überschwänglicher Gefühlsaufwallung drückte er Sally einen Kuss auf die Wange.
„Oh Sally, ich liebe Sie.“
Für einen kurzen Mann umspielte ein leicht melancholischer Zug ihre Lippen, ehe sie sagte:
„Ja, ich weiß. Aber leider nicht so wie ich es mir wünschen würde“, erwiderte sie ein wenig deprimiert. „Irgendwie hatte ich immer ein schlechtes Timing und eine Andere kam mir zuvor, ihr Herz zu gewinnen.“
Bedauernd lächelte er Sally an. Zum ersten Mal hatte sie ihm gestanden, dass sie verliebt in ihn war.
„Meine gute Sally. Wir bekommen wohl nie das, was unser Herz begehrt.“
„Bei mir trifft das sicherlich zu. Bis jetzt zumindest“, sagte Sally nüchtern. „Doch bei Ihnen ist das ganz und gar nicht der Fall.“
„Nein Sally, wir sitzen im selben Boot. Auch meine Liebe wird nicht erwidert.“
Ungläubig starrte Sally zu ihm hoch.
„Das ist jetzt ein Scherz, oder?“
„Wenn es nur so wäre“, seufzte John. „Karins Interesse an mir scheint erloschen zu sein. Ich habe seit der Verhandlung nichts mehr von ihr gehört.“
Verblüfft blickte ihn Sally über den Rand ihres Glases an.
„John, wieder einmal stellt sich heraus, dass sie absolut keine Ahnung von Frauen haben.“
„Ich kann Ihnen nicht ganz folgen“, sagte John verwirrt.
„Sind Sie schon jemals auf den Gedanken gekommen, dass Karin vielleicht auf Sie wartet?“
„Aber ich war doch bereit für sie. Sie wusste doch, wie sie mir bedeutet.“
„John überlegen Sie doch mal“, redete Sally nun sehr eindringlich auf ihn ein. „Karin hat Ihre Frau getötet. Woher sollte sie denn wissen, ob sie Ihnen nach dieser Tat noch willkommen war?“
Verwirrt blickte John auf Karin hinunter.
„Das war doch sonnenklar.“
„Nein, war es nicht“, erwiderte Karin energisch. „Außerdem scheinen Sie zu vergessen, dass Sie der Vater ihres Kindes sind. Wäre sie auf Geld aus, hätte sie schon längst einen Antrag beim Gericht wegen ausstehender Alimentationszahlungen eingereicht. Wäre sie mediengeil, so hätte sie sich sicherlich den Rummel um ihre Person nicht entgehen lassen, um sich hochzupuschen. Doch absolut nichts davon ist der Fall. Diese besondere Frau wartet still und zurückgezogen auf ihren Märchenprinzen, der kommt und holt. Karin ist noch eine Frau vom alten Schlag, die sich nicht nimmt was sie will, sondern darauf wartet, dass sie genommen wird.“
Diese neue Perspektive ließ John ziemlich nervös werden. Er trank den Rest des Glases aus und stellte es neben Sallys leeres Glas auf den Tisch.
„Und was soll ich jetzt tun?“
Karin verdrehte seufzend die Augen.
„Heute ist der 23. Dezember. Und Morgen ist Weihnachten. Ich bin davon überzeugt, dass Karin sich ungeheuer freuen würde, wenn sie das Weihnachtsfest wieder gemeinsam verbringen könnten“, sagte sie. „Deshalb sollten Sie jetzt aufbrechen. Bis nach Jasper ist es eine ziemlich weite Strecke. Außerdem hat der Wetterfunk schwere Schneefälle angekündigt.“
John sah aufgeregt auf seine Uhr und neue Hoffnung erfüllte John. Überglücklich, dass Sally ihm die Augen geöffnet hat, drückte er seine hübsche Geschäftsführerin an sich und flüsterte ihr dankbar ins Ohr:
„Oh Sally, was würde ich nur ohne sie machen?“
„Das frage ich mich schon lange“, erwiderte sie trocken.
Noch einmal lächelte er Sally dankbar an und lief zur Tür.
„John!“
Sofort drehte sich John wieder um.
„Nicht vergessen, morgen ist Weihnachten, auch der Tag der Geschenke genannt.“
Sofort erlosch Johns Lächeln und der Anflug von Panik zeigte sich in seinem Gesicht. Sally konnte zwar nicht mehr hören was er sagte, doch sie war sicher, dass sie an seinen Lippen „shit“ ablesen konnte, ehe er sich wieder dem Ausgang zuwandte und davon eilte.

 

Sally hatte leider Recht behalten. Als John aus der Tiefgarage fuhr, fielen die ersten dicken Schneeflocken ganz sachte vom Himmel. Sein Blick fiel auf den Beifahrersitz, wo die Wildlederhandschuhe lagen, die Karin für ihn gemacht hatte. Wie so oft in den letzten Monaten drückte er sie sehnsuchtsvoll an seine Lippen. Doch jetzt fühlte er dabei nicht Trauer und Wehmut, sondern Glück und Freude, sie bald wiederzusehen und ihr zu sagen, wie sehr er sie liebt und braucht.

 

Bevor er aber nach Hause fuhr, um sich umzuziehen, musste er dringend ins Einkaufcenter. Der um diese Zeit noch sehr träge Abendverkehr ließ ihn fast verzweifeln. Anscheinend dürfte es einer nicht gerade geringen Minderheit von Pseudokatholen wie Schuppen von den Augen gefallen sein, dass in ein paar Stunden das Megaevent des Jahres stattfand und sie ohne Geschenke dastanden, die sie für ihre Liebsten unter den hell erleuchteten Weihnachtsbaum legen konnten. Die Geschäfte waren voll von kaufwütigen Menschen, die in letzter Sekunde nicht mit leeren Händen dastehen wollten. Auch John zählte nun zu dieser gestressten Spezies.
Selbst auf die Gefahr hin, dass sein Auto abgeschleppt wurde, blieb er vor einer Shoppingmall in der Ladezone stehen und eilte verwirrt durch die Gänge auf der Suche nach einem Spielwarengeschäft. Nach einer halben Ewigkeit hatte er endlich eines entdeckt. Der riesige Teddy und das ferngesteuerte Auto stachen ihm sofort ins Auge. In dem anschließenden Hutwarengeschäft entschied sich John für einen blauen Cashmereschal, den er Cathy schenken wollte.
Doch für Karins Geschenk musste er das Einkaufscenter verlassen und zwei Häuserblocks weiter laufen, ehe er das kleine Geschäftslokal seines Goldschmieds betrat. Er wolle für Karin ein ganz besonderes Geschenk. Doch obwohl ihm der Juwelier viele erlesene Schmuckstücke vorlegte, glitt sein Blick immer wieder zu dem schlichten Goldring zurück, der ihm gleich zu Beginn seiner Suche aufgefallen war. Dieser unspektakuläre Goldreif war wohl das einzige Geschenk, das ihm für Karin passend erschien. Dieser schmale Goldring symbolisierte wohl am besten, wie sehr er sie liebte und brauchte.
Kurz vor Mitternacht hatte John sein Auto in der Parkgarage seines Wohnhauses abgestellt und fuhr mit dem Lift ins Foyer hoch. Mit all den Einkauftaschen bepackt hastete er zum Infopoint, hinter dem der Portier saß und John mit einem unsicheren Lächeln begrüßte.
„Guten Abend Sir“, begrüßte ihn Rufus, ehe er zögernd fortfuhr. „Da gäbe es etwas, was sie wissen sollten…“
„Rufus ich steh ziemlich unter Stress und habe jetzt absolut keine Zeit“, unterbrach John den glatzköpfigen Schwarzen und ließ die Post in seinem Aktenkoffer verschwinden. Schnell zog er aus einer seiner vielen Plastiktüten eine Flasche Whiskey hervor, in dessen Schleife ein 100 Dollar Schein steckte.
„Ein frohes Weihnachtsfest und vielen Dank für alles“, wünschte John dem Mann und drückte ihm die Flasche in die Hand.
„Danke Sir, das wäre doch nicht notwendig gewesen. Sie wissen doch, dass ich gerne für Sie da bin“, bedankte sich Rufus und ließ den Whiskey schnell hinter dem Infopoint verschwinden.
„Genau deshalb ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen meine Wertschätzung zu zeigen“, sagte John und hastete wieder zum Aufzug. „In einer knappen halben Stunde sitz ich wieder Im Auto. Rufen Sie mich dann am Handy an und erzählen sie mir, was Ihnen am Herzen liegt. Dann habe ich genug Zeit, Ihnen in aller Ruhe zuhören!“
„Sir, ich glaube kaum, dass die Angelegenheit bis dahin warten kann“, rief Rufus mit seiner tiefen Stimme dem davoneilenden so laut nach, dass dieser unwillkürlich stehenblieb.
„Was gibt es denn so dringendes?“
Nervös lockerte Rufus die Krawatte seiner Dienstuniform, die um seinen feisten Hals plötzlich ziemlich eng geworden war.
„Sir seit knapp drei Stunden wartet eine Lady auf Sie“, rückte Rufus endlich mit der Sprache raus. „Ich habe ihr angeboten, dass ich Sie anrufe. Doch das wollte die Dame nicht. Sie sagte, sie will Sie überraschen und es sei egal wie lange sie warten müsste.“
„Wo ist die Lady jetzt?“ fragte John und ein unbestimmtes Gefühl der Vorahnung ließ sein Herz schneller schlagen.
Rufus nickte mit seinem Kopf in den hinteren Teil der Empfangshalle, dort, wo sich die Sitzgelegenheiten befanden.
„Sie ist da hinten. Ich hab vorhin nach ihr gesehen und wollte sie fragen, ob sie etwas braucht. Doch die Lady und ihr Baby haben es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht und sind eingeschlafen.“
John brauchte einen Moment, um die Bedeutung dessen zu erfassen, was Rufus soeben gesagt hatte. Er konnte es nicht glauben. War sie wirklich da? Benommen ließ er seine Taschen zu Boden gleiten und steuerte zögernd den riesigen Tannenbaum an, der nun hell erleuchtet ein mattes Licht auf die nahestehenden Sitzmöbel warf. Aus den Lautsprecherboxen klang angenehm leise Weihnachtsmusik, die den lauten Hall seiner Schritte auf dem glatten Granitboden ein wenig dämpfte. Zu dieser späten Stunde hielt sich niemand mehr in der Lobby auf, wofür John sehr dankbar war. Die freudige Vorahnung ließ seinen Körper vibrieren. Noch einmal schickte er ein schnelles Stoßgebet zum Himmel und bat Gott: ‚Lass es sie bitte sein.‘
Und dann sah er sie, wie sie mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf dem Sofa lag, während Philipp auf ihrer Brust schlief. Karinsregelmäßige Atemzüge waren ein untrügliches Zeichen, dass auch sie tief und fest schlief.
Ihre rechte Hand lag auf dem Rücken des Babys, während ihre andere Hand nach unten gefallen war.
John ließ sich vor dem Sofa auf seine Knie sinken. Wie verzaubert betrachtete er nun jene Frau, die er mehr liebte als sich selbst. Er grenzte an ein Wunder, das dieses wundervolle kleine Wesen, das auf Karin lag, sein Fleisch und Blut war. Dieser unglaublich süße Wonneproppen würde für immer das Bindeglied zwischen Karin und ihm sein. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, verharrte er vor den beiden Menschen, nach denen er sich so gesehnt hatte.
Johns Innerstes war in Aufruhr. Am liebsten hätte er vor Glück und Freude laut aufgeschrien, getanzt oder Luftsprünge gemacht. Doch nichts dergleichen setzte er in die Tat um. Dieser Zauber des Augenblicks war zu wertvoll, um ihn zu zerstören. Lediglich dem Impuls gab er nach, nach ihrer Hand zu greifen und ihren rauen Handrücken zu streicheln. John wollte Karin nicht wecken, sondern sie nur berühren und fühlen, so wie er es sich schon seit vielen Monaten gewünscht hatte. Doch Karin spürte seine liebevolle Berührung und öffnete ihre Augen. Schweigend trafen sich ihre Blicke, in denen sich all ihre Sehnsüchte, Freude und Liebe füreinander widerspiegelten. Mit einem zärtlichen Lächeln entzog sie ihm ihre Hand und berührte sein nun fast völlig weißes Haar.
„Du bist ja ein Silberfuchs geworden“, flüsterte sie von zärtlicher Liebe erfüllt.
„Das sind die äußerlichen Auswirkungen, weil ich mich nach dir so verzehrt habe.“
John nahm erneut ihre Hand und presste sie leidenschaftlich auf sein Gesicht, so wie er es mit den Handschuhen getan hatte. Ein tiefes und erlösendes Schluchzen löste sich nun aus seiner Brust. Endlich konnte er wieder den unvergesslichen Duft ihrer Haut einatmen und ihre Wärme und Nähe spüren.
„Versprich mir, dass du mich nie mehr verlässt“, schluchzte John, während dicke Tränen des Glücks und der Erleichterung aus seinen Augen quollen.
„Ich hab dich niemals auch nur eine Sekunde verlassen“, erwiderte Karin. Auch ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. „Wie könnte ich auch? Du bist mein Herz, mit dem, aus dem und durch das ich lebe. Wo immer du auch bist, dort werde auch ich sein“, lächelte sie ihn voller Liebe an. „Kannst du dich nicht mehr an Cathys Prophezeiung erinnern, dass wir wie zwei ineinander fließende Quellen sind und untrennbar den Lauf des Lebens gemeinsam zu fließen?“
„Ja, wie recht Cathy nur hatte. Du bist meine Quelle, mein Licht, mein Leben.“
Er beugte sich über Karin und küsste zärtlich ihre weichen Lippen.
Philipp war nun auch wach geworden und begann zu quengeln. Karin setzte sich auf und reichte John das Baby.
„Nimm deinen Sohn John. Es wird Zeit, dass Philipp seinen Vater kennen lernt.“
Nach so vielen, langen Wochen hielt John endlich seinen Sohn in den Armen in den Armen. Als ihn Philipp mit seinen dunklen, großen Augen neugierig betrachtete, glaubte John für einen kurzen Moment, dass sein Bruder ihn anblickte. Glücklich drückte er den kleinen Mann an sich und küsste zärtlich seine weiche Stirn.
Langsam ging John mit Karin und seinem Sohn im Arm zum Aufzug, welchen Rufus schon gerufen hatte. Die vielen Taschen hatte der Portier bereits in der Kabine verstaut, so dass die drei nur mehr einsteigen brauchten, um in die Wohnung hochzufahren.
Bevor sich die Türe schloss, lächelte Rufus die beiden Liebenden erfreut an und sagte dann feierlich:
„Sir, ich wünsche ihnen und ihrer kleinen Familie ein frohes Weihnachtsfest, auf dass alle ihre Wünsche in Erfüllung gehen mögen.“
„Danke Rufus, das ist gerade geschehen“, erwiderte John bewegt, während sich langsam die Aufzugstür schloss.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /