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Prolog

Zu dieser frühen Morgenstunde war hier noch keine Menschenseele anzutreffen. Die erhabene Schönheit des zerklüfteten, aus dem Wüstensand emporragenden Bergmassivs und der noch tiefblaue, wolkenlose Himmel bildeten ein ergreifend schönes Szenario. Völlig reglos nahm Rainer diese friedvolle Einsamkeit in sich auf. Auf wundersame Weise fühlte er sich plötzlich eins mit den Elementen. Rainer spürte eine besondere Kraft, die ihn anzog und zu durchströmen begann. Diese grenzenlose, nur durch das Pfeifen des Windes unterbrochene Stille fühlte sich an wie die unendliche Ewigkeit. Rainer schloss seine Augen und atmete tief durch. Ein noch nie gekanntes Empfinden von Ruhe und Frieden begann in seiner Seele Oberhand zu gewinnen und ließ seine Nervosität und seine Ängste immer mehr in den Hintergrund treten.
Wie von unsichtbarer Hand geleitet stieg Rainer auf einen nahe gelegenen Hügel, auf dessen kleinem Hochplateau vier mannshohe Felssteine in den Himmel ragten. Diese sogenannten Ringsteine markierten einen Kreis. Noch bevor er diesen betrat, wusste Rainer, dass dies ein besonderer, ein heiliger Ort war. Seine Kraft war so alt wie der Boden, der ihn trug.
Ehrfürchtig stand Rainer in der Mitte des Kreises und begann nach den in die Steinwand geritzten Symbolen der Urzeitgöttin zu suchen. Er wandte sich zum nördlichen der vier Ringsteine und streckte seine rechte Hand aus. Bald fühlte Rainer im unteren Bereich des Steines die verwitterten Spiralen und die besondere Bedeutung, die diese Symbole für ihn hatten.
Für viele Besucher hatten diese Zeichen keine oder nur wenig Bedeutung. Es waren eben nur irgendwelche Schneckenlinien und Kreise, die irgendwer irgendwann einmal in den Stein geritzt hatte. Doch für den Schamanen zeigten diese Symbole den ewigen Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt, die immerwährende Wiederkehr des Lebens mit dem Versprechen, irgendwann in Raum und Zeit ewige Erfüllung und Frieden zu finden.
Aber Rainer wusste auch um die Bedeutung der vier Steine. Sie symbolisierten die Verbindung des weiblichen Mondes mit der männlichen Sonne und verwiesen auf eine direkte Verbindung der Erdkraft mit dem Universum.
Rainer spürte, wie ihn eine ungeheure Kraft zu durchdringen begann. Ein nie gekanntes Gefühl von Frieden, Stärke und Zuversicht begann seine Seele zu durchfluten. Plötzlich hörte er im Pfeifen des Windes eine weibliche Stimme, die ihm fast zärtlich ins Ohr flüsterte:
„Junge, es ist an der Zeit, dich deiner Prüfung zu stellen. Sei stark und erweise dich würdig.“
Rainer lehnte sich an den senkrecht aufragenden Stein. Mit geschlossenen Augen versuchte er, diesen Wellen aus Zuversicht und unsäglichem Vertrauen in seinem Herzen Herr zu werden. Er wusste nun, dass Angelina ihn hierher geführt hatte, um ihn für das Kommende mit der nötigen Kraft und dem urzeitlichen Wissen der Schamanen zu wappnen.
Noch einmal atmete Rainer tief durch, während er mit den Fingern seiner rechten Hand den Boden dieser magischen Stätte berührte. Seine Handfläche fühlte sich plötzlich sehr warm an und seine Finger empfingen Kraftlinien, die tief aus dem Boden unter ihm kamen. Rainer hatte seine Mitte gefunden. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwarten würde. Intuitiv fühlte er jedoch Vertrauen und Sicherheit. Diese starken Gefühle hatten ihm bisher noch gefehlt. Das hatte ihn geängstigt und irritiert.
Noch einige Minuten verweilte er an diesem besonderen Ort des Friedens. Bedauernd riss er sich schließlich los. Unruhe und Angst waren nun aus seiner Seele gewichen. Was immer nun passieren mochte, es würde gut sein.

Kapitel 1

Ein heftiger Stoß in seine linke Schulter ließ ihn nach vorne stolpern. Er fühlte, wie er den Halt unter seinen Füßen verlor. Das losgetretene Schneebrett löste eine Lawine aus und riss ihn den Abhang hinunter. Der Schnee um ihn herum wirbelte auf, begann zu fließen und schließlich wie ein Meer von tausend kleinen Sternen zu schweben. Wie von einem weichen weißen Mantel umhüllt, der immer mehr bläulich zu schimmern begann, umfing ihn das sanfte Dämmerlicht eines sehr friedlichen, tiefen und endgültigen Platzes. Langsam färbten sich Schnee und Eis um ihn herum tiefrot und schließlich schwarz. Er wollte sich bewegen, aber er konnte es nicht. Er wollte schreien, aber kein einziger Ton kam über seine Lippen. Er wollte weg von hier, aber er musste sich in das unsagbar Endgültige seines Schicksals fügen. Die friedliche Ruhe, die sich in ihm auszubreiten begann, dämpfte langsam seine Angst und seine Panik. Er versuchte seine Situation zu analysieren, aber selbst dafür reichten seine geistigen Kräfte nicht mehr aus. Er hatte doch noch eine so wichtige Aufgabe zu erfüllen! Doch welche Aufgabe war das eigentlich? Wo war er überhaupt? Doch vor allem, wer war er?
Die ewige Stille begann immer stärker von seinem Denken Besitz zu ergreifen, während sein Bewusstsein sanft seinen Körper verließ. Eis und Schnee um ihn herum waren jetzt hell und klar. Das bläuliche Licht begann ihn sachte anzuheben und zu tragen. Diese gleißende, schöne und saubere Helligkeit kam nun direkt von oben und bildete einen Lichtkanal, in dessen Mittelpunkt er nun zu schweben begann. Liebevoll hüllte ihn dieses strahlend helle Licht immer mehr ein, bis er schließlich ganz darin verschwand…

Schweißgebadet fuhr Rainer aus diesem qualvollen Traum hoch und seufzte erleichtert auf. Gott sei Dank, er lag noch immer in seinem bequemen, aber nun völlig zerwühlten Bett und nicht unter diesen schrecklich kalten Eismassen.
Beruhigt ließ er sich wieder in das durchgeschwitzte Polster zurückfallen. Bereits zum dritten Mal in kurzer Folge hatte Rainer dieser Albtraum heimgesucht, doch noch nie zuvor hatte er ihn dermaßen wirklichkeitsnah durchlebt. Selbst seine linke Schulter tat ihm weh. Doch Rainer führte diesen unangenehmen Schmerz darauf zurück, dass er beim Schlafen wahrscheinlich eine schlechte Körperhaltung eingenommen hatte.
Dieses schreckliche Erlebnis hatte ihn dermaßen erregt und aufgewühlt, sodass sich sein ansonsten ziemlich guter Schlaf nicht mehr einstellen wollte und er unruhig dem dämmernden Tag entgegenschlummerte.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen kroch Rainer wie gerädert aus dem Bett und ging unter die Dusche. Seine Schulter war total verspannt und brannte höllisch. Selbst Dehnungsübungen brachten nicht die erhoffte Linderung. Rainer holte die Wundersalbe gegen Muskelverkrampfungen aus dem Apothekerkasten, die er immer nach einem zu heftigen Tennismatch für seinen dann allzu schmerzenden Tennisarm verwendete.
In verrenkter Haltung betrachtete er seine cremebehafteten Finger im Spiegel seines Badezimmers, wie diese die Heilsalbe an jener Stelle einmassierten, wo er das unangenehme Brennen fühlte. Ungläubig blickte Rainer noch einmal genauer in den Spiegel und hob seine Finger. Halluzinierte er oder war ihm über Nacht ein ellipsenförmiges Muttermal in der Mitte seines Schulterblattes gewachsen? Verwirrt betastete er die leicht erhabene und dunklere Stelle seiner Haut und versuchte, diese Veränderung mit freiem Auge zu erkennen. Vielleicht spielte ihm ja auch der Spiegel ein bösen Streich. Ja, zweifelsohne, auf seinem Schulterblatt befand sich ein ca. vier Zentimeter langes und 1,5 Zentimeter breites, dunkelbraunes Muttermal. Beunruhigt ließ Rainer die Hand sinken. Er konnte sich absolut keinen Reim darauf bilden, woher dieser dunkle Fleck plötzlich gekommen war.
Doch noch während er überlegte, welche Ursache dieser Veränderung zugrunde liegen könnte, läutete sein Handy und auf dem Display war der Name „Max“ zu lesen. Max Henning war Rainers bester Freund und Geschäftspartner. Seine aufgeregte Stimme ließ Rainer den rätselhaften Fleck auf seiner Schulter sofort vergessen.
„Hallo Alter, ich hoffe, ich hab dich nicht aufgeweckt. Doch ich bin dermaßen aufgeregt, dass ich nicht warten konnte, bis du ins Büro kommst. Du wirst es nicht glauben, doch ich hab ein absolutes Megageschäft an Land gezogen, das uns beide innerhalb kürzester Zeit steinreich machen wird.“
„Nun mal langsam. Wovon schwafelst du eigentlich?“, unterbrach Rainer ihn gereizt.
„Es geht um Minensuchgeräte, die eine amerikanische Firma unter Lizenz herstellt. Dieses Unternehmen trägt sich ernsthaft mit dem Gedanken, sein Headquarter aus den Staaten abzuziehen und nach Europa zu verlegen. Dem Firmenchef wird der Boden in den USA langsam zu heiß! Kein Wunder bei der schlechten und einseitigen Weltpolitik, die Bush dort macht. Die haben doch als amerikanische Firma in den arabischen Ländern nicht den Funken einer Chance. Mehr als höfliches Interesse und anschließend den Stinkefinger werden die dort nicht ernten. Du musst mir helfen, diese Typen zu überzeugen, dass der einzig passende Standort für ihr Unternehmen nur in Österreich liegen kann.“
Rainer verstand nur Bahnhof. Max’ Euphorie und die damit verbundenen Gedankensprünge waren für ihn nicht nachvollziehbar. Er befürchtete, dass dieses Geschäft wieder nur eine jener unzähligen Seifenblasen seines Freundes war, die einer genaueren betriebswirtschaftlichen Prüfung nie standhalten würde. Mit ziemlicher Sicherheit war es auch eines dieser unsicheren Spekulationsgeschäfte, mit denen sich Max immer wieder an den Rand der Legalität brachte.
Max war in vielen wirtschaftlichen Belangen ein ziemlicher Heißsporn. Nur zu leicht konnte man ihn für dubiose Geschäfte begeistern. Doch Rainer hatte ein feines Gespür für unsichere und zweifelhafte Geschäfte, die das große Geld versprachen. Er brauchte nie lange, um zu erkennen, was zwischen den Zeilen stand. In der Folge musste Rainer seinen Freund schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Zwar starb bei derartigen „Bruchlandungen“ dann jedes Hochgefühl in Max und sein Ego fuhr kurzfristig in den Keller, doch in seinem Innersten war er seinem Geschäftspartner dankbar für dessen Umsicht und Realitätsnähe.

Die Freundschaft der beiden Männer begann vor vielen Jahren in der Oberstufe des Schottengymnasiums. Damals hatte man sie nur die „siamesischen Zwillinge“ genannt. Denn wenn der eine wo aufgetaucht war, wusste man, dass der andere nicht weit sein konnte. Beide waren ungewöhnlich groß und erregten dadurch überall Aufsehen.
Max hatte beinahe blauschwarzes Haar und schöne, tiefblaue Augen. Sein äußerst attraktives Aussehen hatte Max auch skrupellos einzusetzen gewusst und so manches Mädchenherz zum Schmelzen gebracht. Seine natürliche Selbstsicherheit und sein betörender Charme hatten ihn spätestens auf der Uni zum absoluten Schwerenöter gemacht. Max stammte aus einer gut situierten und angesehenen Anwaltsfamilie, die ihre Sozietät bereits in dritter Generation führte. Er hatte daher nicht nur einen guten Rückhalt durch seine Familie, sondern auch immer ein gut gefülltes Portemonnaie in der Tasche, was unter den Studenten eher selten der Fall war. Und da er absolut nicht knauserig war, war ihm sein „Hofstaat“ am Campus immer sicher gewesen.
Rainer Barkhoff hatte hingegen nicht so viel Glück in seine Wiege gelegt bekommen. Sein Vater hatte als Küchenplaner in einem großen Einrichtungshaus gearbeitet und seine Mutter war Schwester im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Schon im zarten Alter von 8 Jahren hatte Rainer seinen Vater verloren, als dieser plötzlich durch Herzversagen verstarb. Seit diesem einschneidenden Ereignis war die Mutter völlig auf sich alleine gestellt. Rainer hatte daher auch früh lernen müssen, dass das Leben nicht nur aus Jux und Tollerei besteht, sondern noch viel mehr aus Verantwortung und Pflichtbewusstsein. Diese früh trainierten Eigenschaften waren Rainer auch als erwachsenem Mann erhalten geblieben. Im Gegensatz zu Max war Rainer daher auch immer der stillere und bedachtere, der seinen Freund nicht nur einmal von seinen oftmaligen Höhenflügen auf den Boden der Realität zurückholen musste. Es gab Zeiten, da schien es Rainer, dass er nicht nur der beste Freund von Max war, sondern manchmal auch dessen Kindermädchen.

Während Rainer sich für das Studium der Betriebswirtschaft entschieden hatte, war Max der beruflichen Tradition seiner Familie treu geblieben und inskribierte an der juridischen Fakultät. Zusammen mit seinem älteren Bruder Klaus hätte er danach die Rechtsanwaltskanzlei der Eltern übernehmen sollen.
Obwohl der berufliche Werdegang die beiden Freunde nun in verschiedene Richtungen geführt hatte, schadete dieser Umstand ihrer Freundschaft nie wirklich. Zwar hatten sie als Studenten und Berufseinsteiger nicht mehr sehr viel Zeit für private Aktivitäten, doch gerade deshalb waren ihre eher seltenen Treffen besondere Highlights in ihrem arbeitsreichen Alltag.
Nach dem Studium war Max wie geplant in die Kanzlei seiner Eltern eingetreten, während sich Rainer bei einigen Steuerberatungs- und Wirtschaftskanzleien beworben hatte. Da ihm jedoch jede Protektion gefehlt hatte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als einen eher schlecht bezahlten Konsulentenjob in einer abgehalfterten Unternehmensberatung anzunehmen. Der Senior war bereits in die Jahre gekommen, sodass sein Betrieb nur mehr auf Sparflamme lief. Rainer hatte bald erkannt, dass sein Chef Heinrich Rotter den Betrieb nur noch deshalb aufrecht erhielt, um den Attacken seiner zänkischen Frau zu entgehen. Diese Xantippe war ein richtiger Sargnagel. Deshalb hatte der Senior gerne seine beruflichen Aktivitäten vorgeschoben, um dadurch möglichst viel zeitlichen Freiraum zu gewinnen. Diese für ihn so wertvolle Zeit hatte er seiner äußerst liebenswürdigen Geliebten geschenkt, die im Haus neben seiner Kanzlei in einem englischen Tuchgeschäft als Verkäuferin arbeitete.
Rainer war zu Beginn seines beruflichen Werdeganges ziemlich frustriert. Anfänglich hatte es ihm völlig an der nötigen Motivation gefehlt, in dieser absterbenden Kanzlei zu arbeiten. Seine Hauptaufgabe hatte darin bestanden, seinem Chef den Rücken freizuhalten und ihm die nötigen Alibis zu verschaffen, damit dieser so viel Zeit wie möglich mit seiner kleinen Verkäuferin verbringen konnte. Doch gerade dieser bedenkliche Umstand hatte sich für ihn im Laufe der Jahre zu einem absoluten Glücksfall entwickelt.
Anfang der 70er-Jahre hatte sich die neue Berufssparte der Unternehmensberatung auch in Wien zu etablieren begonnen. Rotter hatte damals seine Chance genützt und sein volles Engagement und Talent eingesetzt, um sich mit viel Fleiß, aber auch mit einer ordentlichen Portion Glück ins berufliche Spitzenfeld dieser Branche zu katapultieren. Rotters Betrieb hatte auch bald zu den erfolgreichsten Wirtschaftskanzleien in ganz Wien gezählt.
Obwohl Rotter sehr spät geheiratet hatte, erkannte dieser ansonsten durchaus intelligente Mann erst nach seiner Eheschließung, welchen Drachen er sich in sein Haus und ins Bett geholt hatte. Der jahrelange enervierende Terror hatte ihn schlussendlich resignieren lassen, was sich auch auf seine geschäftlichen Ambitionen ziemlich negativ ausgewirkt hat. Die Aufträge sind sukzessive zurückgegangen, sodass er nach und nach alle seine Angestellten entlassen musste. Rotter selbst wäre reich genug gewesen, um den Rest seines Lebens bequem von den Früchten seiner Arbeit leben zu können. Doch das Weiterführen seiner Firma war die einzige Gelegenheit, um den nervtötenden Tiraden seiner Frau zu entgehen. Deshalb war es auch so wichtig für ihn, seine Unternehmensberatung und damit auch seine Freiheit so lange wie nur möglich zu behalten.
Als seine Freundin in Pension gegangen war, wollte Rotter noch mehr Zeit mit ihr verbringen. Aus diesem Grund suchte er einen Mitarbeiter und potenziellen Nachfolger, dem er fast alle seine Agenden vertrauensvoll übergeben konnte. Mit Rainer hatte er die richtige Wahl getroffen. Dieser intelligente junge Mann war für den Job wie geschaffen.
Nach anfänglichem Hadern mit seinem Schicksal erkannte Rainer sehr bald, welche ungeahnten Möglichkeiten ihm sein Chef bot. So waren die beiden Männer eine Art Symbiose eingegangen. Rainer hatte seinen Chef gedeckt, wo er nur konnte, während Rotter ihm völlig freie Hand in seiner Firma ließ. Rotter hat es aber niemals verabsäumt, dem jungen Mann mit seinem immensen Wissen und seiner jahrzehntelangen Erfahrung beizustehen. Innerhalb weniger Jahre hat Rainer alle Tricks und Finten dieses alten Fuchses übernommen, aber auch taktisches Gespür und enormes Fachwissen aufgebaut. Die wenigen verbliebenen Kunden waren mit Rainers Arbeit äußerst zufrieden, sodass er bald wohlwollend auch an andere Unternehmen weiterempfohlen wurde.
Beinahe acht Jahre lang war alles wie am Schnürchen gelaufen. Zwischen Rotter und Rainer hatte sich im Laufe der Zeit eine Freundschaft entwickelt, die fast einer Vater-Sohn-Beziehung gleichkam. Dank Rainers enormen Engagements hatte sich die Kanzlei bald wieder zu einem florierenden Unternehmen gemausert. Nach und nach musste man wieder zusätzliche Mitarbeiter einstellen, damit man den stetig steigenden Arbeitsaufwand bewältigen konnte.
Doch dann hatte das Schicksal unerwartet hart zugeschlagen. Ausgerechnet im Theater war Rotter in Begleitung seiner Freundin seiner Ehefrau in die Arme gelaufen. Offiziell war er gerade in Tirol unterwegs, wo er zwei Firmen fusionieren sollte. Zutiefst verletzt und gedemütigt reichte die betrogene Ehefrau umgehend die Scheidung ein.
Da Rotter für den Fall einer Scheidung jede finanzielle Absicherung verabsäumt hatte, ließ ihn seine Frau mit Hilfe ihrer Anwälte wie ein koscheres Schaf ausbluten. Schlussendlich war Rotter nichts anderes mehr übrig geblieben, als seine Firma zu verkaufen, um die gigantischen Forderungen seiner geschiedenen Frau erfüllen zu können.
Durch diesen unerwarteten Schicksalsschlag hatten sich Rainers Träume und Zukunftsperspektiven von einer Minute auf die andere in Schall und Rauch aufgelöst. Rotter hätte es natürlich nur zu gerne gesehen, wenn sein Adlatus ihm die Firma abgelöst hätte. Doch Rainer hatte bei Weitem nicht so viel Geld auf der Kante, um sich die Kanzlei leisten können.
Noch vor zwei Jahren wäre Rainer flüssig genug gewesen, um Rotters Firma zu übernehmen. Doch sein Chef hatte sich damals noch nicht zurückziehen wollen. Sein Vorschlag war, in fünf Jahren das Feld zu räumen und Rainer einen anständigen Preis zu machen. Rainer hatte dieses Angebot angenommen und verwendete nun seine Ersparnisse dafür, um endlich seine Einzimmer-Wohnung in der Bronx von Wien gegen ein menschenwürdiges Appartement im 4. Bezirk zu tauschen. Die gediegene Dachgeschosswohnung in einem alten Patrizierhaus in der Paniglgasse mit einem gigantischen Ausblick über den Karlsplatz bis hin zum Stephansdom hatte es ihm auf den ersten Blick angetan. Rainer wusste sofort, hier würde er sich zu Hause fühlen.
Der Kaufpreis war horrend. Sein gespartes Geld hatte bei Weitem nicht ausgereicht, um die Wohnung vollständig zu finanzieren. Rainer war daher nichts anderes übrig geblieben, als auf einen Kredit zurückgreifen. Seine Kalkulationen hatten aber ergeben, dass in sieben Jahren keine Hypotheken mehr auf der Wohnung liegen würden. Wenn die Geschäfte bis dahin weiterhin so gut liefen wie jetzt, dann hätte er bald wieder so viel Geld auf der hohen Kante gehabt, um Rotter die Firma ablösen zu können, die ja eigentlich schon längst seine war.
Deprimiert erkannte Rainer, dass er im guten Glauben die absolute Arschkarte gezogen hatte. Seine Kanzlei wurde von einer internationalen Beratungsfirma geschluckt, die Rotter ohne mit der Wimper zu zucken den verlangten Preis gezahlt hat. Rainer hätte weiterhin als kleiner Mitarbeiter bleiben können, jedoch mit einem wesentlich geringeren Gehalt und einem ziemlich eingeschränkten Kompetenzbereich. Das hatte er natürlich weder gekonnt noch gewollt. Nach seiner bisherigen Tätigkeit hätte Rainer unmöglich als kleiner Befehlsempfänger in einem riesigen Unternehmen sein Dasein fristen können. Er war es nun gewohnt, selbstständig Entscheidungen zu treffen und seinem feinen Gespür zu folgen. Sich jetzt wieder den Weisungen anderer fügen zu müssen, wäre ihm absolut gegen den Strich gegangen.
Früher als erwartet musste Rainer daher den Sprung in die Selbstständigkeit wagen. Wenigstens hatte er noch das Glück, die Räumlichkeiten Rotters übernehmen zu können. Die neue Firma betrieb ein zentrales Großraumbüro am Stephansplatz und hatte kein Interesse an der eher kleinen Kanzlei. Als Abschiedsgeschenk, aber auch aufgrund seines schlechten Gewissens überließ Rotter seinem ehemaligen Angestellten das gesamte Inventar der Kanzlei. Der Vermieter war ein alter und sehr guter Freund des alten Rotter. Mit einigem guten Zureden schaffte es sein ehemaliger Chef schließlich, dass Rainer auch in den bestehenden Mietvertrag einsteigen konnte.
Als absolut qualifizierter und anerkannter Consultant konnte Rainer fast die Hälfte der von ihm in der ehemaligen Firma betreuten Kunden behalten. Dadurch hatte er einen halbwegs akzeptablen Start, sodass zumindest seine monatlichen Fixkosten gedeckt waren.

Kapitel 3

Doch nicht nur Rainer war ein beruflicher Erdrutsch beschieden gewesen. Beinahe zeitgleich war es zwischen Max und seinem Bruder zu unüberwindlichen Differenzen gekommen. Der Wunsch seiner Eltern, dass nach ihrem Rücktritt die beiden Brüder in friedlicher Eintracht das Anwaltsbüro zusammen weiterführen sollten, hatte sich nicht realisieren lassen. Zu unterschiedlich waren beider Temperamente, sodass es immer wieder zu Zwistigkeiten gekommen war. Solange die Eltern in der Kanzlei noch das Sagen hatten, konnten sie die beiden Streithähne in Schach halten. Doch nach ihrem Ausscheiden war es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem entscheidenden Zerwürfnis kam.
Klaus war ein Beamtentyp, Pfennigfuchser und Paragraphenreiter in ausgeprägtester Form. Im Aufsetzen von Verträgen und Vergleichen war er absolut Spitzenklasse. Doch wenn es darum ging, für den Klienten ein wenig kühner und kreativer in die Bresche zu springen, zog er wie ein verängstigter Hund den Schwanz ein. Max hingegen war da weitaus wagemutiger, liebte die Herausforderung und wusste sich in Szene zu setzen. Für seine Klienten war er vor Gericht der geborene Strafverteidiger.
Doch aufgrund der unterschiedlichen Charaktere der Brüder hatten sich immer wieder Streitigkeiten ergeben. Bei einer strittigen Erbschaft war es schließlich zum Eklat gekommen.
Wie so oft schon hatten die Brüder einen wichtigen Klienten gemeinsam betreut. Klaus wollte wie üblich den Weg des geringsten Widerstandes einschlagen und strebte einen Vergleich an. Max wollte aber für den Klienten weit mehr herausholen. Der Konflikt ließ nicht lange auf sich warten und eskalierte in einem mordsmäßigen Streit. Klaus warf seinem Bruder skrupellose Gewinnsucht vor und dass er seinen ahnungslosen Klienten bei absolut aussichtslosen Fällen den letzten Euro aus der Tasche ziehen wollte. Max hingegen bezeichnete Klaus als minderbegabten Anwalt, der nie wirklich über den trägen Durchschnitt der Jurisprudenz hinausragen würde. Aus Max‘ Sicht wäre Klaus sicherlich besser als Archivar der unzähligen Totenbücher des Zentralfriedhofs geeignet gewesen, da ihm absolut das Zeug eines dynamischen, engagierten, doch vor allem einfallsreichen Strafverteidigers fehlte.

Beim ersten Glas Bier hatten sich die beiden Freunde gegenseitig ihr großes Leid geklagt. Ab der dritten Runde waren sie zu der Überzeugung gelangt, dass sie sträflich vom Schicksal vernachlässigt worden sind. Aus dieser flüssig-kreativen Stimmung heraus wurde dann schließlich die Idee geboren, dass Max den Anwaltsberuf an den Nagel hängen und in Rainers Firma einsteigen sollte. Max investierte daraufhin in das Unternehmen seines Freundes und akquirierte außerdem einige nicht ganz unbedeutende Firmenkunden, die bereits anwaltlich durch seine Eltern oder auch durch ihn selbst vertreten worden sind. Rainer und Max vereinbarten eine völlig gleichberechtigte Partnerschaft für ihre gemeinsame Beratungskanzlei.

Innerhalb weniger Wochen hatten Rainer Barkhoff und Max Henning die neue Unternehmensberatung „Consult 2 Vienna“ gegründet. Das Geschäft lief außerordentlich gut an, sodass bald genügend Geld vorhanden war, um wieder eine Sekretärin anstellen zu können. Insbesondere die neuen Firmen erwiesen sich als gute und finanzkräftige Kunden. Zusätzlich kam auch noch der einsetzende Wirtschaftsaufschwung ihrem Consultingunternehmen zugute. Jeder Betrieb suchte nach effizienten und optimalen Lösungen, sodass Rainer und Max bald mehr Aufträge hatten als sie eigentlich bewältigen konnten.
Max war ein tüchtiger Mann und sprühte vor Energie und Tatendrang. Sein neuer Job bereitete ihm viel Freude, sodass er der Anwaltskanzlei seiner Eltern keine Träne mehr nachweinte. Doch gerade in dessen euphorischen Phasen musste Rainer ein wenig mehr Augenmerk auf Max‘ Wirken legen, damit er nicht zu sehr abhob und die Bodenhaftung verlor. Rainer achtete immer darauf, dass seine, aber auch die Ergebnisse seines Geschäftspartners trotz eines sehr hohen Arbeitspensums nie an Qualität verloren. Halbe Sachen oder unfertige, suboptimale Lösungen waren absolut nicht das, was die beiden Freunde ihren Kunden bieten wollten. Jeder einzelne Klient sollte in ihrer Firma die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Beraters und optimale Ergebnisse erwarten können.
Im Großen und Ganzen liefen die Geschäfte einige Jahre ziemlich gut. Beinahe hatte es den Anschein, als hätten die beiden Freunde ihrem Schicksal ein Schnippchen geschlagen. Doch mit den extrem steigenden Erdölpreisen nahm auch die Rezession zu und den Firmen stand weniger Geld für eine gute Beratung zur Verfügung. Stattdessen versuchten viele, mit eigenem Personal einen Weg aus den internen Schwierigkeiten zu finden.
Obwohl die Geschäfte noch nicht wirklich schlecht liefen, konnte es sich die „Consult 2 Vienna“ nicht mehr leisten, Firmen abzulehnen, die kleinere Aufträge zu vergeben hatten. In absehbarer Zeit versprach die Wirtschaftslage aber wenig Aussicht auf Besserung, sodass die beiden Freunde begannen, sich um ein anderes Standbein umzusehen.
Doch in Zeiten, wo jeder auf seinem Geld saß wie die Glucke auf ihrem Ei, war es schwierig geworden, lukrative Geschäfte an Land zu ziehen. Ob nun dieses Business, das Max trotz äußerst widriger Rahmenbedingungen aufgetan hatte, wirklich so profitabel war, bezweifelte Rainer sehr.

Kapitel 4

Rainer ging ins Bad zurück, um seine Morgentoilette zu beenden. Nun kam ihm auch wieder dieser dunkle Fleck auf seiner Schulter in den Sinn, der ihn doch ziemlich beunruhigte. Er musste sich heute die Zeit nehmen, um einen ihm befreundeten Dermatologen aufzusuchen. Dieses sonderbare Mal musste unbedingt genauer unter die Lupe genommen werden.
Rainer war in Eile. Um 9 Uhr hatte er mit einem Maschinenbauunternehmer einen Termin in seinem Büro, der sich mit dem Gedanken trug, einen Börsegang zu wagen. Doch vorher musste er die Unterlagen noch genauer durchsehen, die ihm der neue Kunde erst gestern per Mail zugesandt hatte. Zur Vorbereitung auf dieses Gespräch hatte Rainer sofort nach der Zusendung der Unterlagen Kontakte mit verschiedenen Finanzexperten aufgenommen und einige vorläufige Termine vereinbart. Sie mussten möglichst rasch ihre Leadbank finden, um mit der Due Diligence beginnen zu können. Bei diesem Prozess werden die Börsereife sowie der Wert und die Erfolgswahrscheinlichkeit für das betreffende Unternehmen festgestellt. Daraus errechnet die Bank dann eine erste Preisvorstellung für die Platzierung der Aktien am Markt. Aus Erfahrung wusste Rainer nur zu gut, wie viel Arbeit jetzt auf ihn selbst, aber auch auf das Management seines Kunden zukommen würde. Die interne Strategie und eine Abstimmung für diese wichtigen Schritte zu finden, war Ziel des geplanten Gesprächs. Rainer war es sehr wichtig, seinem Kunden rechtzeitig klar zu machen, welch gigantischer Arbeitsaufwand auf alle Beteiligten zukommen würde. Der größte Brocken darunter war sicherlich der Börseprospekt, in dem das Unternehmen sich selbst für seine potenziellen Investoren zu präsentieren hatte. Hier waren viele Partner notwendig und Rainer war als Berater seines Kunden nur einer von vielen am Tisch. Er durfte sich bei diesem Geschäft absolut keinen Schnitzer leisten, denn einerseits waren sehr viel Geld und Risiko im Spiel, auf der anderen Seite hatte er aber auch seinen guten Ruf zu verlieren. Sollte es ihm aufgrund seiner Erfahrung, Kompetenz und Charakterstärke gelingen, bei diesem Projekt die ihm zugedachte Funktion eines beratenden und ausgleichenden Koordinators gut zu erfüllen, war ihm ein sechsstelliges Beratungshonorar sicher.

Ein letzter kritischer Blick in den Spiegel seiner Garderobe bestätigte Rainer, dass er in seinem dunkelgrauen Anzug aus feinem Tuch, dem hellgrauen Batisthemd und der ebenfalls im passenden Grau perfekt abgestimmten Seidenkrawatte einen sehr seriösen und kompetenten Eindruck vermittelte. Noch schnell polierte er mit einem weichen Lappen über seine schwarzen Lederschuhe bis sie glänzten, ehe er sein Handy und seine Geldspange in der Hosentasche verschwinden ließ. Dann nahm er seinen Aktenkoffer und seine Schlüssel von der Kommode und warf die Eingangstür hinter sich ins Schloss.

 

Kapitel 5

Eine frische Brise schlug ihm entgegen, als er aus seinem Wohnhaus auf den Gehsteig trat. Ein untrügliches Zeichen, dass der Herbst bereits mit großen Schritten ins Land gezogen war. Rainer empfand es als ungeheuren Luxus, keine 15 Gehminuten entfernt von seinem Büro in der Walfischgasse zu wohnen. Was ihm aber doch ein wenig aufstieß, war die kurze Gehstrecke durch die Opernpassage. Gerade in der kalten Jahreszeit war der Durchgang ein beliebter Treffpunkt von Junkies und Bettlern.
Aber diesen Weg nahm er nur zu gern in Kauf, wenn er an Max dachte, der aus dem weit entfernten 19. Bezirk kam, wo er zusammen mit seiner Familie in einem alten Winzerhaus aus dem 18. Jahrhundert lebte. Fast jeden Tag musste sein Freund sich mit Verkehrsstau, Baustellen und Parkplatzproblemen herumärgern, die oft beträchtliche Verspätungen mit sich brachten.
Rainer ging nun ziemlich rasch durch den Resselpark. Völlig in Gedanken versunken, wie das bevorstehende Gespräch mit dem neuen Klienten verlaufen sollte, schenkte er der auf einer Parkbank sitzenden alten Bettlerin keine Aufmerksamkeit. Mit ausgestreckter Hand rief sie ihm auffordernd zu:
„He Junge, hast du 50 Cent für eine alte, blinde Frau?“
Rainer fuhr erschrocken hoch und blickte um sich. Außer ihm gab es aber niemand anderen, der gemeint sein könnte. Nun traf sein Blick die ziemlich heruntergekommene Alte. Zwischen einer recht beachtlichen Zahl von prall gefüllten Plastiksäcken kauerte sie auf der Bank und schenkte ihm ihr zahnloses Lächeln. Der graue Silberschleier über ihren Augen ließ auf den ersten Blick vermuten, dass sie blind war.
„Ja, Junge, dich meine ich!“, rief sie ihm in einem derben und ziemlich gewöhnungsbedürftigen Dialekt zu.
Rainer war ein wenig verärgert. Diese zerfledderte Bettlerin glaubte doch allen Ernstes, dass er so beschränkt sei und diesen offensichtlichen Betrug nicht durchschaute. Doch diesen organisierten osteuropäischen Bettlerbanden war ja nichts heilig. Ein paar milchige Kontaktlinsen und dieses verschrumpelte Etwas konnte ohneweiters als blind durchgehen. Unwillkürlich kam ihm der Pariser Stadtteil Pont Neuf des 16. Jahrhunderts in den Sinn, wo es Bettelnde mit allen nur möglichen Gebrechen gegeben hatte. Doch kaum war die Sonne untergegangen, verloren die Bettler wie durch ein Wunder ihre furchtbaren Leiden, die sich erst wieder mit dem Sonnenaufgang einstellten. Nicht umsonst war dieses Viertel auch „Hof der Wunder“ genannt worden.
„Für wie blöd hältst du mich eigentlich, Alte? Du spielst hier eine Blinde, die aber sehr genau weiß, dass ich jung bin?“ 
„Junge, wenn ich auch nichts sehen kann, so kann ich doch sehr gut fühlen, wer an mir vorübergeht. Schon aufgrund deines dynamischen Schrittes und dem besonderen Hall deiner teuren Schuhe weiß ich, dass du sicherlich mehr als 50 Cent eingesteckt hast.“
„Diese ungeheuerliche Anmaßung schlägt doch dem Fass den Boden aus. Solchen Menschen wie dir sollte man verbieten, anständige Leute zu belästigen!“, erwiderte Rainer erzürnt.
„Nun mal halblang, Junge. Du hast absolut keine Ahnung von mir. Lass deinen Griesgram nicht an anderen aus. Keiner kann etwas dafür, dass du wieder einmal schlecht geträumt hast.“
„Woher weißt du, dass ich einen Traum hatte?“, hakte Rainer erstaunt ein.
Die Alte lächelte geheimnisvoll, sodass der einzig verbliebene, schon ziemlich abgenützte schwarz-gelbe Eckzahnstumpf zum Vorschein kam.
„Ich weiß mehr als du glaubst. Zigeunerinnen haben manchmal die Gabe des zweiten Gesichts und sehen oft mehr, als ihnen lieb ist.“
Die alte Frau strich eine dünne, weiße Haarsträhne aus ihrem faltigen Gesicht.
„Was ist nun? Hast du nun 50 Cent für mich oder nicht?“
Rainer war über die Unverfrorenheit der Zigeunerin nun doch ein wenig belustigt und vergaß seinen Zorn. Rasch griff er in seine Hosentasche und suchte nach einer Münze. Doch Rainer hatte das auf der Kommode liegende Kleingeld vergessen und nur die Geldspange eingesteckt.
„Es tut mir leid, doch ich habe nur Papiergeld dabei“, erwiderte Rainer fast entschuldigend.
„Macht nichts, ich nehme auch einen Fünfer. Dafür hast du dann aber auch etwas gut bei mir.“
Die sympathische Dreistigkeit der Bettlerin ließ Rainer schließlich verbindlich schmunzeln. Er holte die Geldspange hervor und suchte nach einer 5-Euro-Note, die er der Alten schließlich in die Hand drückte.
„Nimm, Alte, und werde glücklich damit.“
Die Frau tastete gierig nach dem Geldschein und zog ihn unter ihrer Nase vorbei.
„Mmmh! Nichts riecht so gut wie Geld.“ 
Diese Erkenntnis ließ Rainer erneut lächeln. Er wandte sich ab und wollte seinen Weg fortsetzen.
„Junge, für das Scheinchen gebe ich dir einen guten Rat, den du befolgen solltest. Wenn du das nächste Mal diesen Traum hast, lass dich nicht abschütteln und versuch, in ihm zu bleiben und der Sache auf den Grund zu gehen.“
Verwundert wandte sich Rainer wieder der Alten zu.
„Wieso weißt du, dass ich Träume habe und wieso sollte ich versuchen, im Traum zu bleiben?“, fragte Rainer neugierig.
„Frag nicht Junge, tu es ganz einfach. Glaub mir, dieser Tipp ist weit mehr wert als deine Knete.“
Nachdenklich nickte Rainer, wobei er sehr bezweifelte, ob dieser Ratschlag wirklich 5 Euro wert war. Doch dann setzte er seinen Weg fort und konzentrierte sich wieder auf sein bevorstehendes Meeting, so dass die alte Bettlerin schnell vergessen war.

Kapitel 6

Der Termin mit dem Maschinenbauer zog sich bis in die Mittagstunden hin. Doch das mit seinem Klienten in mühseliger Kleinarbeit ausgearbeitete Konzept war nun übersichtlich und zielorientiert. Es ließ auf den ersten Blick erkennen, dass es sich bei diesem Unternehmen um eine solide, geschäftstüchtige und nach den neuesten Erkenntnissen der Technik ausgerichtete Firma handelte. Sein sechster Sinn sagte Rainer, dass er mit diesen Voraussetzungen leichtes Spiel haben würde. Die Banken und Kontrollinstanzen mussten einfach grünes Licht geben. Eigentlich konnten nur noch wirklich gravierende, negative Änderungen am Aktienmarkt dieses Placement vereiteln.

Zum Mittagessen trafen sich Rainer und Max beim Italiener. Sein Freund war direkt von Wiener Neudorf gekommen, wo er einen Termin bei einem Unternehmen hatte, das medizinische Software herstellte. Als Rainer das Lokal betrat, wartete Max bereits an einem Ecktisch auf ihn und konzentrierte sich auf die vor ihm ausgebreiteten Unterlagen. Als er Rainer näherkommen sah, lächelte ihn Max erfreut an.
„Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, ich müsste eine Vermisstenanzeige aufgeben“, scherzte er gut gelaunt.
„Ich kann wohl schlecht zu meinem Klienten sagen, dass er auf mich warten soll, bis ich vom Essen zurückkomme“, antwortete Rainer ziemlich unwirsch, während er sich erschöpft auf den Stuhl beim Tisch niederließ.
„Nun, wenn er genügend Geld ins Haus bringt, dann ist deine Verspätung entschuldigt“, zwinkerte ihm Max mit einem schelmischen Lächeln zu, ohne auf Rainers üble Laune einzugehen. Nachdem die beiden Männer aus der Speisekarte ausgewählt und bestellt hatten, schob ihm Max die Unterlagen unter die Nase, die er gerade studiert hatte.
„Was ist das?“, wollte Rainer wissen, ohne die losen Textblätter mit Auflistungen, Skizzen und Zahlentabellen genauer in Augenschein zu nehmen.
„Mein Bruder rief mich gestern an und informierte mich, dass er von einem amerikanischen Unternehmen Wind bekommen habe, das in Europa den neuen Standort für sein Headquarter sucht.“
„Und? Was ist daran so besonders? Jedes Jahr gibt es doch hunderte Firmen, die ihren Standort verlegen“, erwiderte Rainer mürrisch und trank aus seinem schäumenden Bierglas.
„Das ist richtig. Doch dieses Unternehmen ist etwas Besonderes.“
„Max, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, sondern komm endlich auf den Punkt. Ich muss heute noch einiges aufarbeiten und hab nicht die Zeit, mit dir ‚ich weiß, ich weiß, was du nicht weißt‘ zu spielen.“
Rainer hatte jetzt absolut nicht die Nerven, den weitschweifigen und fantasievollen Ausführungen von Max zu folgen. Die beinahe schlaflose Nacht und der Termin am Vormittag hatten ihn so ziemlich an den Rand seiner psychischen Kräfte getrieben. Außerdem beunruhigte ihn der dunkle Fleck auf seiner Schulter, der auch nicht unbedingt seine Stimmung hob.
Nachdem Max erkannte, dass Rainer heute nur sehr eingeschränkt genießbar war, kam er gleich zum Punkt.
„Die Firma heißt ‚Mine-Dedecting‘ und der Eigentümer ist ein gewisser Jake Coleman. Der Betrieb hat seinen Sitz derzeit noch im mittleren Westen der USA. Coleman beschäftigt sich mit der Räumung von Landminen. Er hat vor kurzem ein Sensorsystem für Kleinhelikopter entwickelt, mit dem er Landminen jeglicher Art identifizieren und lokalisieren kann. Das Produkt ist wesentlich effizienter als die bisherige Form der manuellen und mechanischen Minenräumung. Zum Unterschied von der ziemlich langwierigen, äußerst zeitintensiven, doch vor allem gefährlichen klassischen Minenräumung, die noch dazu sehr teuer ist, bietet das neue System viel mehr Sicherheit, Schnelligkeit und Kosteneffizienz. Dieser 2,5 Meter lange und 16 Kilo schwere Hubschrauber hat eine Reichweite bis zu 16 Kilometern und eine Flugdauer von 50 Minuten. Zwei am Hubschrauber befestigte Sensoren scannen zuerst das Terrain aus großer und dann aus niedriger Flughöhe. Mittels einer eigens dafür geschaffenen Software werden die gescannten Daten in eine GPS-Landminenkarte übertragen. Ein Handscanner bestätigt dann dem Räumpersonal die Lage jeder einzelnen Mine. Menschen müssen jetzt nur noch genau auf jenen Flächen arbeiten, wo diese neue Technologie tatsächlich Minen erkannt und zugeordnet hat. Überall sonst können sie sich völlig frei und sicher bewegen. Dieses System ist dreimal so schnell wie jede mechanische Räumung. Und so eine Hubschrauberdrohne kostet nicht mehr als knapp 90.000 Dollar.“
Rainer ließ sich den kurzen Bericht noch einmal durch den Kopf gehen. Nach wie vor noch ziemlich skeptisch fragte er Max:
„Wenn dieses Produkt eine so tolle Erfindung ist, wieso will Coleman unbedingt nach Europa, wo die Kosten bestimmt um die Hälfte höher sind als in den Staaten? Wieso geht er nicht nach Osteuropa oder Asien?“
„Ganz einfach, die Rüstungsindustrie sitzt Coleman im Nacken. Wenn man dieses Verfahren im großen Stil in Ländern wie beispielsweise Ägypten, Libyen, Sudan und Algerien zum Einsatz bringen könnte, dann würde man der amerikanischen Hegemoniepolitik einen empfindlichen Schlag versetzen. Denn dies würde nicht nur heißen, dass Landminen ihren Schrecken weitestgehend verlieren würden, sondern in der Folge würden auch viele Menschenleben gerettet und unzugängliche Gebiete wieder urbar gemacht werden. Und zu guter Letzt könnte man an die restlichen großen unerschlossenen Kohlenwasserstoffvorkommen gelangen, die jetzt noch brach unter den konterminierten Gebieten liegen. Ein weiterer Grund ist auch jener, dass in den Staaten die wirtschaftliche Lage immer instabiler wird. Jeder hat Angst, dass die Parität des Dollars weiter fällt und man alles verliert. Osteuropa oder Asien kommen schon deshalb nicht in Frage, weil die nötige Infrastruktur, die politische Sicherheit sowie gut ausgebildete Fachkräfte fehlen.“
Rainer hörte immer aufmerksamer Max’ Ausführungen zu. Langsam begann sich seine Voreingenommenheit zu legen. Das, was er zu hören bekam, machte wirklich Sinn. Doch einige Zweifel plagten Rainer noch immer.
„Und wieso glaubst du, dass gerade Österreich der ideale Standort für diese Firma und ihr Headquarter sein könnte?“
Max lächelte seinen Freund siegessicher an und spielte seine Trumpfkarte aus:
„Ganz einfach: Österreich ist ein neutrales Land. Es gibt keine Zugehörigkeit zu irgendeinem militärischen System und keine eigenen Rüstungsinteressen. Außerdem würde die Firma Tür an Tür mit wichtigen Organisationen wie beispielsweise der UNO, UNIDO, UNICEF, AIEO oder der OPEC liegen. Und nicht zuletzt sollte man auch den ethischen Aspekt nicht von der Hand weisen. Gerade Österreich sieht sich gerne in der Rolle des Vorreiters für den Weltfrieden und humanitäre Einrichtungen. Die Regierung wird sich daher dieses Projekt nicht entgehen lassen wollen, denn es schafft nicht nur Ansehen in der Weltpolitik, sondern auch Arbeitsplätze. Außerdem wird sich die Regierung durch die Unterstützung dieser Firma Folgegeschäfte mit jenen Staaten ausrechnen, in denen die Minenfelder geräumt werden. Genau hier in Österreich liegen das Geld und wichtige Ressourcen, die man für solch ein einmaliges Unternehmen braucht.“
Rainers Kopfschmerzen, die Müdigkeit und das Ziehen in der Schulter waren plötzlich vergessen. Max war es dieses Mal gelungen, seinen Freund mit seinem Enthusiasmus und seinen absolut plausiblen Argumenten zu überzeugen. Dieses Unternehmen hatte wirklich gute Chancen, wenn es nach Österreich verlegt werden würde.
„Und welche Rolle sollen wir dabei spielen?“
„Wir sollen das Unternehmen hier etablieren, das Geld für die Fertigstellung der Technik besorgen und den anschließenden Börsegang vorbereiten.“
„Und wieso macht sich dein Bruder für das Projekt so stark?“, fragte Rainer vorsichtig.
Max verschmitztes Lächeln bestätigte Rainers Vermutung:
„Nun ja, sollte das Geschäft wirklich zustande kommen, dann will er das Einzige machen, was er als Jurist wirklich kann, und das sind die Verträge.“

 

Kapitel 7

Ziemlich erleichtert verließ Rainer die Ordination des Dermatologen. Die Hautveränderung auf seiner Schulter war kein Melanom, sondern ein stinknormaler Leberfleck. Der Arzt hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass die Anzahl der Muttermale im Laufe eines Lebens zunehmen können. Sicherlich war seines ungewöhnlich groß, doch Rainer sollte das Auftauchen des Mals als positives Zeichen werten. Nach einer alten Binsenweisheit würde die Zahl der Muttermale am Körper mit steigender Lebenserwartung zusammenhängen. 

Der Abend war schon lange angebrochen, als Rainer das Büro verließ. Seine anfängliche Niedergeschlagenheit hatte sich im Laufe des Tages in ein stilles Hochgefühl gewandelt, das ihn nun beschwingt nach Hause gehen ließ. Es war ein guter Tag gewesen, obwohl er keinesfalls so begonnen hatte. Kurz bevor Rainer das Büro verlassen wollte, hatte einer jener Investmentbanker angerufen, dem er noch vor dem Mittagessen wichtige Unterlagen bezüglich des Börsegangs seines Maschinenbauers gemailt hatte. Rainer hatte sich gefreut, dass schon so kurz nachdem er seine Angel ausgeworfen hatte, der erste Fisch daran zu zappeln begann. Für ihn war das ein sehr positives Zeichen, dem sicherlich noch andere folgen würden.
Aber auch diese „Mine-Dedecting“ ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Rainer hatte die Unterlagen in seinem Aktenkoffer, sie würden heute seine Abendlektüre werden. In der Kanzlei hatte er die Präsentation nur rasch überflogen. Der Störfaktor im Büro war einfach zu groß, als dass er sich voll und ganz auf den Inhalt hätte konzentrieren können. Aber schon nach der ersten kurzen Durchsicht hatte Rainer das untrügliche Empfinden, dass dieses Projekt eine grundlegende Veränderung in seinem Leben bewirken würde.
Als Rainer wieder durch den Resselpark ging, blickte er unwillkürlich auf die nun leere Parkbank, wo heute Morgen die alte bettelnde Zigeunerin gesessen war. Unerklärlicherweise fühlte er einen Funken von seltsamer Wehmut in sich aufsteigen, weil sie nun nicht mehr da war. Obwohl Menschen ihres Formats absolut nicht in seinen Fokus passten, war da doch eine gewisse Affinität gewesen, man hätte fast sagen können, ein Funken von Vertrautheit, die ihm jetzt wieder in den Sinn kam. 
Verwundert über seine sonderbaren Empfindungen schüttelte Rainer den Kopf. Sein Testosteronspiegel war derzeit überhaupt nicht im Lot, sodass ihn seine Gefühle schon die merkwürdigsten Kapriolen schlagen ließen. Er musste sich endlich die Zeit nehmen und nach einer passenden Frau Ausschau halten. Vielleicht sollte er es in einer dieser unzähligen Singlebörsen im Internet versuchen oder ganz einfach mehr ausgehen, um Frauen anbaggern zu können. Seine letzte Freundin lag schon fast ein Jahr zurück. Obwohl, die Bezeichnung Freundin war doch ein wenig zu hoch gegriffen. Die Beziehung war auf nichts anderem als auf Sex aufgebaut. Man hatte sich auf einen Drink getroffen und nach spätestens 15 Minuten wurde wie üblich dieselbe Frage gestellt: „Zu dir oder zu mir?“ Ja, Babsi war eine echte Wucht im Bett. Ihre ausladenden Hüften und das nicht zu verachtende Holz vor der Hütte hatten ihn förmlich dazu eingeladen, fester zuzupacken und mit ihr in die Welt der grenzenlosen Geilheit zu entfliehen. Doch wie bei reinen Sexbeziehungen üblich, war innerhalb kürzester Zeit die Luft raus und das Interesse verflogen. Obwohl Rainer mit Max nicht konkurrieren konnte und auch wollte, hatte er im Laufe der Jahre doch den Überblick verloren, wie viele Frauen seinem Charme erlegen waren. Doch keine dieser Frauen hatte jemals wirklich sein Herz berührt. Rainer war nur ein einziges Mal wirklich verliebt gewesen. Doch das war lange her.

Er öffnete die Terrassentür seiner Wohnung und ließ den Blick über das Lichtermeer der Innenstadt schweifen. Kein Straßenlärm erreichte ihn hier und nur der auffrischende Wind pfiff leise über die Giebel der Dächer. Seinen Anzug hatte er nun gegen alte Jeans und einen bequemen Sweater getauscht. Die geöffnete Flasche Zweigelt stand schon auf dem Wohnzimmertisch bereit. Seine Stimmung verlangte danach, diesen erfreulichen Tag in Ruhe mit einem oder auch zwei guten Gläsern Wein ausklingen zu lassen. Rainer wählte auf der Tastatur seiner endlosen CD-Sammlung eine aus und schenkte sich dann das dünne Kristallglas halb voll, während nun leise Jazzmusik dieses stilvolle Ambiente untermalte. Dann ließ er sich zufrieden in seinen bequemen Ohrenfauteuil fallen und begann, die Unterlagen der „Mine-Dedecting“ zu studieren.

Kapitel 8

In dieser Nacht wurde Rainer von keinem Albtraum mehr heimgesucht. Doch das untrügliche Empfinden, dass diese Schreckensbilder noch nicht vorbei waren, saß tief in seiner Seele. Er ahnte, dass diese Szenen ein Teil von etwas waren, das er absolut nicht zuordnen konnte.
Rainer hatte die Unterlagen der „Mine-Dedecting“ genau und ausführlich geprüft. Je länger er sich mit dieser neuen Materie auseinandersetzte, umso mehr zog ihn dieses Projekt in seinen Bann. Doch seine Beweggründe waren andere als jene von Max. Sein Freund sah in diesem Unternehmen eine schier unerschöpfliche Geldquelle, die ihn in den nächsten zehn Jahren zu einem steinreichen Mann machen würde. 
Es wäre gelogen gewesen, wenn Rainer die finanziellen Aussichten nicht auch angesprochen hätten. Mit einer so schönen Rendite würde es ihm sicherlich möglich sein, innerhalb kürzester Zeit alle seine Schulden zu begleichen und sich vielleicht sogar noch die lang erträumte Yacht zu kaufen, mit der er irgendwann über die sieben Weltmeere segeln wollte. Außerdem würde dann noch immer genug Geld vorhanden sein, dass er sich um einen abgesicherten Lebensabend keine Sorgen mehr machen müsste.
Je länger sich Rainer mit dem Konzept der „Mine-Dedecting“ auseinandersetzte, umso klarer erkannte er, welch große humanitäre Verantwortung er bei einer Mitarbeit an diesem Projekt übernehmen würde. Er könnte persönlich dazu beitragen, unnötiges Leid in vielen Teilen dieser Welt ein klein wenig zu mindern. Es gäbe dann keine Kinder mehr, die arglos in Minenfeldern spielen und irgendwann auf eine dieser schrecklichen Werkzeuge des Teufels treten. Im „besten“ Fall wurden diesen armen Würmern bisher „nur“ die Beine abgerissen, deren Knochensplitter dann teilweise sogar in ihrem eigenen Unterleib steckten. Meist aber verbluteten sie gleich hilflos an Ort und Stelle, denn nur selten hatte jemand den Mut, sich selbst in eine derartige Gefahrenzone zu begeben. In diesen konterminierten Regionen wissen die Einwohner nur zu gut, dass eine Mine sehr selten alleine kommt. 
Aber Rainer würde nicht nur dazu beitragen, Leben zu retten und Leid zu verhindern, sondern auch dieses brach liegende Land wieder urbar zu machen. Diese großartige technische Innovation würde den betroffenen Menschen endlich mehr Lebensqualität und Zufriedenheit bescheren.
Rainer hatte sich noch nie zuvor Gedanken gemacht, wie viel Verzweiflung und Verbitterung Landminen immer wieder für die betroffene Bevölkerung mit sich brachten. Doch nicht nur der subjektive Schmerz begann ihn zu bewegen, sondern auch die politische Ebene erregte immer stärker sein Interesse. Minen verändern keine Grenzen, halten aber ganze Völker in Geiselhaft und verhindern deren soziale und menschliche Entfaltung.
Unbewusst waren Minen Rainer immer schon ein Gräuel gewesen. Doch erst jetzt erwachte in ihm das Bewusstsein, wie perfid und teuflisch diese Geräte wirklich waren. Dieses unnötige Leid wurde wie so oft schon in der menschlichen Geschichte von skrupellosen Profithaien verursacht, denen nur die eigenen Gewinne wichtig sind.

Kapitel 9

Plötzlich war Rainer wieder in seinem Albtraum gefangen. Erneut fühlte er den Druck in seiner Schulter und die Schneemassen, mit denen er abwärts glitt und die ihn zu ersticken drohten. Doch diese unsägliche Ruhe verdrängte erneut seine Ängste und Panik. Wieder begann dieses wundersame blaue Licht von ihm Besitz zu ergreifen. Sanft und liebevoll hob es ihn empor. Es würde nun nicht mehr lange dauern, bis er als Teil dieses weißen, gleißenden Lichtstrahles zum Ursprung zurückkehrte. 
Doch plötzlich hörte er eine energisch hallende Stimme, die ihm zurief:
„Lass dich nicht abschütteln, Junge. Geh zurück und suche nach der Ursache!“
Doch er wollte lieber weiter in diesem unsäglich weichen und friedlichen Licht verweilen und sich darin auflösen. Er sehnte sich nach diesem unendlichen Frieden, in den er eintauchen und mit dem er eins werden wollte. Doch diese immer lauter werdende Stimme war unglaublich hartnäckig und ließ nicht locker. Immer wieder forderte sie ihn mahnend auf zurückzukommen, bis er sie einfach nicht mehr ignorieren konnte.
„Junge, tu was ich dir sage. Du musst zum Anfang zurück und nach dem Auslöser suchen.“
Mit unsäglicher Anstrengung widerstand er schließlich dieser schönen Verlockung und langsam hob sich das wundersame Licht von ihm. Seine Sinne kehrten zurück und sein Blick wurde immer klarer. Immer deutlicher begann er zu erkennen, zu fühlen und zu wissen...

Das Abschneiden der Birkenporlinge vom Stamm einer schon absterbenden alten Birke nahm seine ungeteilte Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Zeit saß ihm im Nacken und er musste sich beeilen. Ein Wetterumschwung stand kurz bevor. Unter allen Umständen musste er noch so hoch in die Berge hinaufsteigen, wo die weißen Felsen aus dem dunklen Gestein herausragten. Hinter diesen Felsen befand sich eine kleine, nur ihm bekannte versteckte Höhle. Dort würde er den dringend benötigten Bergkristall finden, der unter vielen Schichten dunklen Tons ruhte. 
Ruak kannte jeden Stein in den Bergen. Diese Welt hier oben war ihm bei Weitem vertrauter und heimeliger als das Dorf, in dem er nun lebte. Er wusste aber auch, wie gefährlich es war, den Aufstieg zu dieser Jahreszeit zu wagen. Der Spätherbst war längst ins Land gezogen und kündigte einen harten Winter an. Schon vor Wochen hatte der Frost die Blätter von den Bäumen fallen lassen und der kalte Nordwind pfiff um die Bergspitzen. Die letzten Tage waren jedoch ungewöhnlich mild und sonnig, sodass er gute Chancen hatte, noch einige Birkenporlinge sowie Wurzeln und Kräuter zu finden. 
Erst der heutige Tag kündigte mit seinen frostigen Temperaturen nun den endgültigen Wetterumschwung an. Der Winter stand vor der Tür und ließ sich nicht mehr aufhalten. Das Wetter in den Bergen war unberechenbar. Doch Ruak roch nicht nur den bereits nahenden Schnee, sondern er fühlte ihn auch in seinen schmerzenden Bandscheiben. Die Dämmerung würde bald hereinbrechen. Er musste sich beeilen, die Höhle zu erreichen, bevor es dunkel wurde und die Schneefälle einsetzen würden.
Zu spät erkannte Ruak die drohende Gefahr. Im sicheren Abstand waren ihm unauffällig vier Männer durch den Wald gefolgt. Das laute Knacken eines trockenen Astes ließ ihn endlich aufhorchen. Ruak waren die Laute des Waldes vertraut. Doch dieses durchdringende Geräusch von berstendem Holz wurde durch kein Tier, sondern vom Fuß eines Menschen verursacht. Sein misstrauisch suchender Blick schweifte durch den kahlen Laubwald, dessen Bäume mit ihrem nun nacktem Geäst einen morbiden Anblick boten.
Ruak stopfte die Pilze in den Ziegenlederbeutel und befestigte diesen an seinem Gürtel. Hastig schulterte er seine Kraxe, den Bogen und seinen Pfeilköcher. Seinen Dolch hielt er kampfbereit in der rechten Hand, während seine Linke nach dem noch am Boden liegenden Kupferbeil tastete. Ruak konnte gerade noch rechtzeitig der scharfen Feuersteinklinge des ersten Angreifers ausweichen, sodass dieser durch die Wucht seines eigenen Stoßes ins Leere hechtete. Blitzschnell versetzte Ruak seinem Widersacher noch einen kräftigen Tritt ins Gesäß, worauf der mit hohem Tempo den flachen Abhang hinunterstürzte. 
Ruak sah nun auch die anderen drei Männer laut schreiend den Hang hochstürmen. Die Mordlust in ihren Gesichtern war unverkennbar. Ruak konnte sich hier unmöglich einem Angriff dieser Übermacht stellen. Vielleicht schaffte er es ja auch, seine Feinde abzuhängen. Wenn es ihm gelang, ein wenig mehr Abstand zu schaffen, hatte er gute Chancen, sich in den zerklüfteten und steil aufragenden Felsen des noch in einiger Entfernung liegenden Bergmassivs zu vestecken. 
Behände lief er den schmalen Trampelpfad der Bergziegen hinauf, der in die oberen, schon schneebedeckten Bergregionen führte. Die Baumgrenze hatte Ruak bald hinter sich gelassen. Hier boten die nackten Steinfelder weder Schutz noch Deckung. Trotz größter Anstrengung war es Ruak nicht gelungen, seine Verfolger abzuhängen. Ein kurzer Blick über seine Schulter beschied ihm Gewissheit, dass ihm die Männer immer dichter auf die Fersen rückten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn eingeholt haben würden. Bis zu seinem Versteck hoch oben, wo die Bergspitzen aus dem Fels herausragten, würde er es nicht schaffen.
Ruak spürte weder den eisigen Wind, der sich in sein bärtiges Gesicht brannte, noch das Schneewasser in seinen aus Bären- und Hirschleder gearbeiteten Schuhen. Das darin zur Wärmedämmung eingelegte Stroh hatte sich zu nassen Ballen zusammengepresst und beeinträchtigte ihn jetzt in seinem schnellen Lauf. Immer wieder rutschte er auf dem nun schon leicht angefrorenen Schnee aus. Der Aufstieg begann mehr und mehr an seinen Kräften zu zehren. Trotz der beißenden Kälte klebten die Beinkleider aus Ziegenfell an seinem schweißnassen Körper und schränkten seine Bewegungsfreiheit ein. Doch Ruak rannte um sein Leben und konnte nicht auf diese Nebensächlichkeiten achten. Er musste zumindest den alten Lagerplatz erreichen, der nun strategisch der beste Punkt war, um sich den Angreifern zu stellen. Die überhängenden Felsen würden jetzt den besten Schutz zur Abwehr bieten. Seine Häscher wären in der taktisch ungünstigen Lage, bergan kämpfen zu müssen. Diesen Vorteil musste Ruak unbedingt für sich nutzen. Ruak zählte schon weit mehr als 40 Jahre. Unmöglich konnte er mit den Kräften dieser jungen, energiegeladenen Männer mithalten. Dieser Lagerplatz war die einzige Stelle, wo er sein taktisches Angriffspotenzial und seine Kampferfahrung gegen dieses mörderische Pack zu seinen Gunsten einsetzen konnte. Nur dort hatte er vielleicht eine Chance zu überleben. Er war groß, wendig und kampferprobt, aber kein Heißsporn, der sich unüberlegt und sinnlos in jedes Kampfgetümmel warf. 
Mit letzter Kraft erreichte er sein Ziel. Rasch warf Ruak seine Kraxe weg, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Zum Spannen seines Bogens blieb keine Zeit mehr. Seine Widersacher waren ihm bereits zu nahe auf den Leib gerückt. Kampfbereit und mit möglichst kühlem Kopf erwartete Ruak die vier mordlüsternen Männer unter seinem Felsvorsprung. In gebückter, leicht gegrätschter Haltung hielt er den Dolch und sein wertvolles Kupferbeil fest und entschlossen in seinen Händen. Er war bereit, sich diesem hinterhältigen Angriff mit all seinen geistigen und körperlichen Möglichkeiten zu stellen.
Wie auf Kommando blieben die vier Männer einige Meter vor ihm stehen. Keuchend belauerten sie Ruak, der keine Miene verzog. Nur sein konzentriertes Augenspiel verriet, dass er keinen der vier Männer außer Acht ließ. Schließlich wagte der Kleinste und auch Jüngste den ersten Angriff. Sein noch glattes Gesicht, das aber schon mit einem leichten Flaum dünnen Barthaares überzogen war, ließ ihn sicher am schwächsten erscheinen. Diesen Mangel an Männlichkeit versuchte der Heißsporn mit unüberlegtem Wagemut zu kompensieren. Laut schreiend und mit erhobenem Dolch in der Hand rannte er auf den alten Mann zu. Doch geschmeidig wie eine Katze wich Ruak dem plumpen Angriff aus. Blitzschnell hob er sein Messer und stieß es dem Jüngling mit gezieltem Stich mitten in die Kehle. Mit einem qualvollen Röcheln blieb sein Angreifer abrupt stehen und ließ sein Messer fallen. In fassungslosem Erstaunen griff er mit beiden Händen an seinen schwer verletzten Hals, aus dessen Wunde nun stoßweise hellrotes Blut gepumpt wurde. Der junge Mann ging in die Knie und fiel zur Seite, um langsam an seinem eigenen Blut zu ersticken.
Entsetzt starrten seine Gefährten auf ihren sterbenden Kameraden. Die erneut auflodernde Wut machte sie nun noch aggressiver. Mit hassverzerrten Gesichtern griffen die drei Männer jetzt gleichzeitig an. Ruak wusste, dass er nun extrem vorsichtig sein musste. Seine Gegner waren nicht leicht abzuwehren, noch dazu, wenn einer von ihnen genauso groß war wie er selbst. Sein Vorteil lag jetzt in der Tatsache, dass sich seine Angreifer gegenseitig behinderten. Schnell hieb Ruak sein Beil einem der Männer in die Brust, die scharfe Schneide drang durch das Fleisch tief in die Knochen des Feindes ein. Tödlich getroffen verharrte der Verletzte und sah erstaunt auf das in seinem Körper steckende Beil hinunter, bevor er zur Seite fiel. Nun griffen die verbliebenen zwei Männer mit aller Härte an. Doch Ruak wich ihren Angriffen immer wieder mit der Wendigkeit einer Bergforelle aus. Es schien unmöglich, dass seine Widersacher ihm eine ernsthafte Wunde zufügen konnten. Ruak fügte den beiden Männern mit seinem Messer Verletzungen zu und hieb mit Fuß und Fäusten auf sie ein. Doch langsam spürte er seine Kräfte schwinden. Ruak brauchte dringend sein Beil, das noch immer im Brustkorb des mittlerweile toten Gegners steckte, und startete einen Ausfall. Sich über seinen Rücken abrollend, hechtete er in Richtung des toten Mannes. Blitzschnell zog er das Beil aus dem erkaltenden Körper. Gerade noch rechtzeitig, um damit den Angriff einer der beiden Männer abzuwehren, dessen Dolch gefährlich nahe an seinem Brustkorb vorbeisauste. Mit aller Kraft schleuderte Ruak das herabstoßende Messer aus der Hand des großen Mannes, sodass es in hohem Bogen in den Schnee flog. Schnell wollte sich Ruak wieder aufrichten, doch der andere Mann warf sich auf ihn, sodass beide fast im kniehohen Schnee versanken. Ein wildes, Kräfte raubendes Ringen begann, wobei Ruak so gut wie möglich den Stichattacken auszuweichen versuchte. Ruak erkannte bald, dass dieser Gegner absolut ebenbürtig war. Auch er verstand es geschickt zu parieren und den Messerattacken Ruaks gewandt auszuweichen. 
Aus den Augenwinkeln konnte Ruak sehen, dass der zweite Mann seinen Dolch wieder gefunden hatte und nun auf die beiden Kämpfenden zustürmte. Ruak musste unbedingt den auf ihm liegenden Mann abschütteln und in eine aufrechte Kampfposition kommen, sonst würde er mit ziemlicher Sicherheit im nächsten Augenblick tot sein.
Mit letzter Kraft drückte Ruak das ihn bedrohende Messer zur Seite und versetzte seinem Widersacher einen kräftigen Fausthieb direkt auf die Nase, der diesem das Nasenbein zersplitterte. Sein Gegner wurde starr vor Schmerz. Diese kurze Zeitspanne reichte aber aus, um mit seinem Beil auszuholen und seinem Widersacher den Schädel zu spalten. In letzter Sekunde konnte sich Ruak noch zur Seite rollen, um dem tödlichen Dolchstoß des großen Mannes zu entgehen. Schnell war er wieder auf den Beinen und fixierte die eiskalten blauen Augen seines Gegners. Vor Erschöpfung laut keuchend begannen nun beide Kämpfer, sich wie zwei einander belauernde Wölfe zu umkreisen. Jeder der beiden wartete nun auf den günstigsten Moment, um zum tödlichen Sprung anzusetzen. Sein Widersacher wagte den ersten Ausfall. Blitzschnell versuchte er, mit seinem Dolch in Ruaks Brustkorb zu stechen. Doch der kampferfahrene Mann ahnte diesen Angriff und drehte sich rechtzeitig zur Seite. Mitten in dieser raschen Drehung holte Ruak mit seinem Beil aus und versetzte dem Mann einen Hieb in den Rücken. Doch die Klinge wurde vom dicken Lederwams seines Feindes gestoppt. Der Mann stolperte nach vorne und landete im Schnee. Ruak setzte ihm nach und wollte ihm nun wie dem anderen den Schädel spalten. Doch sein Gegner hatte genug Reaktionsvermögen und auch die nötige Wendigkeit, um dem tödlichen Hieb auszuweichen. Erneut begannen die Männer, miteinander zu ringen. In einem unbedachten Moment schlug ihm nun sein Gegner das Beil aus der Hand, sodass Ruak nun unbewaffnet war. Der alte Mann spürte nun immer mehr, wie ihn seine Kräfte verließen. Er wusste, in diesem Kampf würde er bald der Unterlegene sein. Noch einmal sammelte Ruak alle seine Kräfte und griff seinen Gegner frontal an. Mit einem unerwarteten Kopfstoß setzte er den blauäugigen Hünen kurzfristig außer Gefecht. Diesen Moment der Schutzlosigkeit nutzte Ruak und trat dem Mann mit aller Kraft in den Schritt, worauf sein Gegner sich vor Schmerz krümmend den Abhang hinabstürzte. 
Keuchend und total erledigt suchte Ruak nach seinem Beil und Messer und steckte es in seinen Gürtel. Schnell lief er zu dem überhängenden Felsen zurück und holte seine Kraxe, seinen Bogen und den Pfeilköcher, ehe er seine Flucht in die Berge fortsetzte. Erleichtert atmete Ruak nun durch. Der einzige noch lebende Gegner würde sicherlich noch einige Zeit brauchen, bis er wieder kampfbereit war und ihm folgen konnte. Diese Zeit sollte Ruak reichen, um sich aus dem Staub zu machen. In der Abenddämmerung hatte Schneefall eingesetzt. Dieser würde schnell seine Spuren verdecken, sodass man ihm nicht mehr folgen konnte. Ruak schöpfte neue Hoffnung und hastete den Berg hinauf. 
Doch plötzlich hörte er ein scharfes Surren in der Luft. Ein heftiger Druck in seinem linken Schulterblatt ließ ihn das Gleichgewicht verlieren und er stolperte nach vor. Ruak wusste, dass er von einem Pfeil getroffen worden war, der nun tief in seinem Körper steckte. Der Boden unter ihm begann sich zu bewegen. Durch sein hartes Trampeln hatte sich eine große Schneeplatte zu lösen begonnen, die ihn mit sich abwärts trug.
Während des Falles gelang es Ruak aber noch, sich seinem Mörder zuzuwenden. Diese eiskalten blauen Augen waren das Letzte, was er sah, bevor ihn die abgehende Lawine verschüttete.

Rainer erlebte nun jenen vertrauten Abschnitt des Traumes wieder, den er bereits kannte. Doch als er dieses Mal aus dem Schlaf gerissen wurde, fühlte er nicht mehr dieses so intensiv beklemmende Gefühl der Angst. Er verspürte nun eher eine gewisse Unzufriedenheit und Neugier.
Als Rainer am nächsten Morgen erwachte, war er missgelaunt und aufgewühlt. Erneut versuchte er, seinen Traum zu analysieren. Zwar wusste Rainer nun, wie er umgebracht worden war, doch der Grund und die Motivation seines Mörders waren ihm nach wie vor völlig unbekannt.
Interessiert betrachtete er wieder den Leberfleck auf seinem Schulterblatt. Konnte es denn möglich sein, dass dies genau jene Stelle war, wo ihn der tödliche Pfeil in seinem Traum getroffen hatte? Doch schließlich tat Rainer diese alberne Vermutung mit einem nachsichtigen Kopfschütteln ab. Das war doch einfach zu lächerlich. Manchmal plagte ihn wirklich eine viel zu lebhafte Fantasie. Doch was war mit dieser Stimme, die ihn so gedrängt hatte? Irgendwie kam ihm diese Stimme bekannt vor. Doch so sehr er sich auch den Kopf darüber zerbrach, er konnte sie nicht zuordnen. 
Rainer atmete tief durch. Auf keinen Fall durfte er sich von irgendeinem esoterischen Hokuspokus hinreißen lassen. Er brauchte endlich wieder Sex, dann würde er sicherlich auch wieder klarer im Kopf werden. Rasch überlegte Rainer, welche Frau er zu einem Schäferstündchen überreden könnte. Wie üblich blieb er bei Babsi hängen. Schon bei dem Gedanken an diese kleine, dralle Blondine begann sich sein kleiner Freund aufzurichten. Rainer stieg in die Dusche. Während der warme Schauer angenehm massierend auf seine Schultern niederprasselte, erinnerte er sich genussvoll an Babsis Verwöhnkünste.

Deutlich entspannter stieg Rainer aus der Dusche. Er nahm sich vor, Babsi im Laufe des Tages anzurufen, um einmal vorzufühlen, wie seine Chancen standen. Vielleicht litt sie ja unter einem ähnlichen Notstand wie er und hatte auch Lust darauf, etwas Druck abzulassen. 
Doch das neue Projekt „Mine-Dedecting“ hatte ihn Babsis besondere Fähigkeiten rasch wieder vergessen lassen. Jack Coleman war gestern Abend zusammen mit seiner Frau aus den Staaten angereist, um ein erstes informatives Gespräch mit Max und ihm zu führen. Rainer hatte bereits eine weitläufige Lager- und Produktionshalle in Vösendorf ausfindig gemacht, die ein Kunde von ihm vermieten wollte. Die Lage war gut. Direkter Anschluss an die Autobahn, der Flughafen keine 20 Minuten entfernt und die nötige Infrastruktur war auch vorhanden. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, ob ihre Argumente und Möglichkeiten ausreichen würden, um den Amerikaner davon zu überzeugen, seine Firma in Wien anzusiedeln.

Während seines morgendlichen Fußmarsches ins Büro ging Rainer in Gedanken noch einmal alle Standortvorteile von Wien durch. Der einzig negative Punkt war vielleicht, dass die Personalkosten hier doch um einiges höher lagen als in Amerika oder den Oststaaten. Doch bei der Produktion so hochsensibler Geräte musste man höchstmögliche Sorgfalt walten lassen. Schlecht ausgebildetes und unterbezahltes Personal würde ziemlich sicher schlampig und verantwortungslos arbeiten. Dies war auf jeden Fall sein gutes Gegenargument.
Während Rainer noch alle Für und Wider abwog, sah er unerwartet die alte Zigeunerin auf ihrer Parkbank sitzen. Ihre blinden Augen wandten sich ihm zu, als sie ihn näherkommen hörte.

„Na Junge, angenehme Träume gehabt?“, fragte sie ihn in ihrem derben Dialekt, den Rainer einfach nicht zuordnen konnte. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass das die Stimme war, die er in seinem Traum gehört hatte, auch wenn die Aussprache nun eine ganz andere war.
Rainer blieb vor dieser rätselhaften alten Frau stehen und fragte sie neugierig:
„Wer bist du?“
„Wer ich bin?“, wiederholte die Bettlerin überrascht seine Frage.
„Nun ja, sicherlich nicht die First Lady“, kicherte sie über ihren eigenen Witz, während ihr zahnloser Oberkiefer zitterte.
„Was fragst du, Junge, das siehst du doch. Wer von uns beiden ist nun blind? Du oder ich?“ 
Auffordernd hielt sie ihm eine alte Katzenfutterdose hin, in der ein paar Münzen klimperten.
„Du bist mehr als du vorgibst zu sein“, bohrte Rainer weiter und ignorierte die klimpernde Dose.
„Nein, nein, da bist du völlig auf dem Holzweg. Ich zähle schon in der dritten Generation zur alteingesessenen Gilde der Bettler. Man will ja schließlich dem Berufsstand der Vorfahren nicht untreu werden.“
Der Schalk in ihren toten Augen strafte ihre Worte Lügen. Um von dem Thema abzulenken, fragte sie ihn ungeniert:
„Hast du vielleicht 50 Cent für mich? Aber wenn nicht, lasse ich mich auch wieder zu einem Fünfer überreden.“
Rainer lächelte belustigt auf das Weiblein hinab, während er in seiner Hosentasche kramte und einige Münzen zum Vorschein brachte. 
„Du nimmst mich aus wie eine Weihnachtsgans“, scherzte er und drückte ihr eine Euro-Münze in die Hand.
Die Bettlerin befühlte die Münze und sagte schließlich: 
„Da müsstest du aber schon ein bisschen mehr als einen Euro rüberwachsen lassen, damit man von ausnehmen sprechen kann, wo du ja ohnehin bald ein reicher Mann sein wirst. Was macht es da schon aus, wenn man einer armen blinden Frau ein wenig Geld zukommen lässt, damit sie sich in den kalten Winternächten ab und zu ein warmes Bett leisten kann.“
„Wieso weißt du, dass ich reich sein werde?“, hakte Rainer interessiert nach.
„Sagte ich das? Nun ja, das sagen alle Zigeunerinnen, damit ihnen ihre Kunden gut gesinnt bleiben“, lächelte sie ihn freundlich an.
Rainer wusste genau, dass ihm die Alte gerade einen ziemlichen Bären aufgebunden hatte.
„Wie heißt du eigentlich?“, wechselte Rainer das Thema.
„Ich heiße Angelina.“
„Das ist ein sehr schöner Name.“
„Ja, wenn es heute vielleicht auch nicht mehr so aussieht, aber ich hatte nicht nur einen schönen Namen, ich war auch einmal eine sehr schöne Frau.“
Rainer zweifelte sehr an ihren Worten. Wenn er sie so betrachtete, konnte er nicht einmal ansatzweise erkennen, dass diese Frau in ihrer Jugend einmal schön gewesen war, bestenfalls war sie Durchschnitt gewesen. Der ausgeprägte Basedow ihrer Augen hatte sicherlich erst in den letzten Jahren so an Dimension gewonnen. Außerdem erinnerten ihre gebogene Nase und die schmalen Lippen darunter irgendwie an einen Geier. Rainer unterließ aber jeden kritischen Kommentar. Es lag ihm fern, diese arme alte Frau zu verletzen.
„Freut mich Angelina, ich heiße Rainer Barkhoff.“ Vorsichtig nahm er ihre dünne, faltige, von vielen Altersflecken überzogene Hand und schüttelte sie. Wie ungewöhnlich kalt sie doch war. Aber alten Leuten war ja immer kalt. Doch als er für diesen kurzen Moment ihre Hand in seiner hielt, stellte er überrascht fest, welch ungeahnte Energie und Wärme von ihr auf ihn überging. Doch rasch verdrängte er diese Empfindungen und kam auf ihre Frage zurück:
„Ja, ich hatte diesen Traum wieder und ich befolgte deinen Rat, in ihm zu bleiben.“
„Und?“, fragte sie voller Interesse, während sie die Münze in die Seitentasche ihrer zerlumpen Weste gleiten ließ.
„Nun, ich vermute, dass ich in der Jungsteinzeit gelebt habe und von vier Männern attackiert worden war. Drei von denen habe ich übern Jordan geschickt. Doch der vierte hatte mir dann einen Pfeil in die Schulter verpasst und das wars für mich.“
„Und was war davor?“, drängte Angelina neugierig.
„Nun, das weiß ich nicht.“ 
Die Alte schüttelte enttäuscht den Kopf.
„Junge, du musst zum tatsächlichen Beginn dieser Ereignisse zurück. Nur mal schnell in der Mitte einzusteigen, bringt dir nicht wirklich was.“
Fragend blickte Rainer auf die Bettlerin hinab, die ein wenig unzufrieden wirkte. 
„Wieso sind diese Träume denn so wichtig? Ich bin jedes Mal total erledigt, wenn ich aufwache.“ 
„Träume sind der Spiegel unserer Seele und der Schlüssel zu unserem Unterbewusstsein. Sie liefern geheimnisvolle Botschaften aus unserem tiefsten Inneren.
Man sollte sie daher niemals unterschätzen, denn mit ihrer Hilfe ist es dir möglich, deine versteckten Wünsche, Ängste und Sorgen ans Licht zu bringen. Wenn du sie ernst genug nimmst, kannst du vieles an dir und in dir entdecken, das dir bisher fremd gewesen ist.
Ab und zu merkt sich die Seele aber auch besondere Ereignisse aus einem deiner früheren Leben. Auf deiner Wanderung durch Raum und Zeit werden deine Träume für dich diese Erinnerungen bewahren. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, kehren sie dann wieder zurück.“
Der Klang in Angelinas Stimme hatte sich während ihrer Ausführung leicht zu verändern begonnen. Der derbe Ausdruck war in den Hintergrund getreten und eine klare, helle, ja beinahe jugendliche Stimme ließ Rainer aufhorchen.
„Angelina, ich weiß, es ist absurd, doch kann es sein, dass deine Stimme in meinen Traum hineingerufen hat? Hast du mich etwa zurückgerufen, als ich gerade wieder am Weg war, mich in diesem wundervollen Licht aufzulösen? “ 
Die Zigeunerin hob abwehrend ihre Hände und schüttelte vehement den Kopf:
„O Gott nein! Glaub mir Junge, ich habe selbst genug Probleme am Hut. Da hätte ich ja wirklich einen schönen Knall, wenn ich mich auch noch in deine nicht gerade rosigen Träume einklinken würde.“
„Aber wieso hörte ich dann deine Stimme?“
„Du hörtest mich wahrscheinlich nur deshalb, weil du mich auch hören wolltest. Vielleicht blieb unsere gestrige Begegnung so stark in deinem Unterbewussten haften, dass du mich ganz einfach in diesen Traum mit eingebaut hast. Das ist die einfache Erklärung.“
„Nein Angelina, das glaube ich nicht. Du bist sicherlich mehr als nur eine zufällige Begegnung.“
„Junge, miss meinen Worten nicht so viel Bedeutung bei. Ich bin nur eine einfache Zigeunerin, die aufgrund ihren blinden Augen eben ein wenig anders fühlt.“
„Und was fühlst du jetzt?“
Angelinas toter Blick war in die Ferne gerichtet, ehe sie langsam und bedacht zu sprechen begann:
„Ich könnte mir vorstellen, dass du schon einmal gelebt hast und dir diese Traumfragmente wichtige Aufschlüsse aus einem vergangenen Leben aufzeigen. 
Du solltest versuchen, in Erfahrung zu bringen, wieso man dich getötet hat.“
„Wieso sollte das wichtig sein?“
„Keine Ahnung. Doch ich weiß, im Leben hat alles eine Bedeutung. Es gibt keine Zufälle, denn unser Schicksal ist uns vorgegeben, dem können wir nicht entrinnen.“
Noch vor einigen Wochen hätte Rainer diese Aussagen als esoterisches Gefasel nicht ganz ernst zu nehmender Spinner abgetan, die die Bodenhaftung schon längst verloren haben. Doch seit seinen immer wiederkehrenden Träumen begann sich Rainers Einstellung zu derart spirituellen Formen des Unterbewusstseins zu verändern. Langsam begann er zu ahnen, dass es wesentlich mehr geben musste als nur die wahrnehmbare Realität des nüchternen 21. Jahrhunderts. 
Rainer hätte sich jetzt gerne zu Angelina auf die Parkbank gesetzt. So viele unbeantwortete Fragen gingen in seinem Kopf herum, über die er sich mit diesem verwahrlosten Weiblein austauschen wollte. Mit Max konnte er unmöglich über seine Träume sprechen. Der würde ihm nur mitleidig auf die Schulter klopfen und ihm lächelnd raten, schnellstmöglich ein Puff aufzusuchen.
Doch ohne zu wissen warum, fühlte sich Rainer zu dieser alten Frau hingezogen und von ihr verstanden.
Doch wie so oft drängte die Zeit. Rainer musste dringend ins Büro, wo ihn Max bereits erwartete. Zusammen wollten sie noch einmal Punkt für Punkt den in Erwägung gezogenen Standortwechsel der „Mine-Dedecting“ durchgehen. Beide Männer wollten so gut wie möglich auf die Gespräche und die Diskussion mit Coleman vorbereitet sein, der für den frühen Nachmittag erwartet wurde.
Bedauernd verabschiedete sich Rainer von Angelina. Doch wie beim letzten Mal rief sie ihm nach:
„He Junge, dein Ami ist übrigens ein Modelleisenbahnfreak. Ich habe gehört, in der Kurrentgasse soll es ein kleines Geschäft geben, das ein äußerst gut sortiertes Sortiment von diesen Dingern hat.“
Rainer wusste sofort, worauf Angelina hinauswollte.
„Danke für den Tipp. Aber woher weißt gerade du, dass es ein Ami ist und er Modelleisenbahnen mag?“
„Hab ich wirklich Ami gesagt? Das war bestimmt nur ein Zufall.“
Zwinkernd hob sie ihre knochigen Schultern und stellte lakonisch fest:
„Doch welcher Mann spielt nicht gern mit Eisenbahnen?“
Angelina konnte Rainers belustigtes Lächeln nicht sehen. Diese alte Zigeunerin hatte es echt drauf und verblüffte ihn erneut.
„Ich glaube, ich werde einen kleinen Umweg über die Kurrentgasse machen müssen. Bis zum nächsten Mal, Angelina.“

Dieser kleine Umweg zahlte sich aus. Nach kurzer Suche fand Rainer das kleine, fensterlose Geschäft, das eher einem Kellerloch als einem Verkaufslokal glich. Man musste mit eingezogenem Kopf die drei Stufen in das Lokal hinuntersteigen, um schließlich in einem nur knapp 15 m2 großen Raum zu stehen, der mit Regalen vollgestopft war. Dort lagen und standen die verschiedensten Modelle von Eisenbahnen und Waggons in scheinbar buntem Durcheinander. Ein altes, verhutzeltes Männchen mit schütterem, weißem Haar kam hinter der Verkaufstheke hervor und begrüßte Rainer mit einem freundlichen Lächeln. Rainer erklärte dem Mann, dass er ein besonderes Geschenk für einen amerikanischen Geschäftsfreund brauchte, der als Modelleisenbahnfreak bekannt sei. Der Besitzer überlegte kurz und rieb seine ungewöhnlich großen und knochigen Hände aneinander, während sein suchender Blick über die vielen, leicht verstaubten Ausstellungsstücke schweifte. Doch dann fixierte er lächelnd eine schwarze Dampflokomotive, an die drei Waggons angekuppelt waren. Zufrieden und fast liebevoll griff er nach diesen Modellen und stellte den kleinen Zug vorsichtig auf das Verkaufspult.
„Diese Rarität wird Ihrem Gast sicherlich eine Riesenfreude bereiten. Das ist ein Modell der dienstältesten Dampflokomotive der Welt mit historischer Zugsgarnitur und sogar einem Buffetwaggon. Sie fährt zu besonderen Anlässen immer noch über die von Carl Ritter von Ghega gebaute Semmeringbahnstrecke von Gloggnitz bis Mürzzuschlag und feierte vor kurzem ihren 150. Geburtstag“, erklärte ihm der alte Mann mit beinahe ehrfürchtiger Stimme.
„Wenn Sie sagen, dass dieses Modell etwas Besonderes ist, werde ich es nehmen. Wenn mein Gast aber keine Freude damit haben sollte, dann bringe ich es Ihnen wieder zurück“, drohte Rainer.
„Natürlich können Sie dieses Stück jederzeit wieder zurückbringen. Doch glauben Sie mir, ich verkaufe seit beinahe 50 Jahren Modelleisenbahnen und weiß ganz genau, wenn ein Modell etwas Besonderes ist. Wenn dieser Amerikaner nur ein bisschen etwas von Eisenbahnen versteht, wird er sich über dieses Geschenk sicherlich sehr freuen.“

Als Rainer die Kanzlei betrat, kam ihm Max schon ziemlich nervös und verärgert entgegen.
„Wo hast du nur so lange gesteckt? Ich warte schon seit knapp einer Stunde auf dich. Und dein Handy hast du wie üblich ausgeschaltet.“ 
„Jetzt reg dich ab. Ich habe noch schnell etwas besorgen müssen“, schnitt ihm Rainer das Wort ab.
Als er die Lok mit den drei Waggons aus dem alten Schuhkarton herausholte, starrte Max verblüfft auf die Miniatureisenbahn.
„Wozu, um Gottes Willen, brauchst du gerade jetzt dieses alberne Spielzeug?“, fuhr Max seinen Partner verärgert an.
„Sicherlich nicht für mich. Es ist ein Geschenk für Coleman, der ein passionierter Modelleisenbahnfreak ist.“
„Woher weißt du das?“, fragte Max nun verblüfft.
Rainer konnte seinem Freund schlecht sagen, dass ihm diese Information von einer alten bettelnden Zigeunerin geflüstert worden war. 
„Heut früh habe ich in meinem Morgenharn gelesen, dass dieser Ami auf nostalgische Eisenbahnen steht.“
Max musste lachen und sein Ärger war verflogen.
„Du hast wirklich einen totalen Knall. Aber wenn’s hilft, soll es mir recht sein.“

Kapitel 10

Kurz nach 13 Uhr kam Coleman in die Kanzlei. Der Mann sah absolut untypisch für einen Amerikaner aus. Coleman war ein mittelgroßer, hagerer, schon leicht ergrauter Mann so um die 50. Er hatte ein gut geschnittenes, sympathisches Gesicht. Außerdem ließ sein perfekt sitzender dunkler Anzug darauf schließen, dass er einen guten Schneider haben musste. Es war offensichtlich, dass diesem Mann sein äußeres Erscheinungsbild sehr wichtig war. Aber auch Colemans kultivierte Umgangsformen und seine gewählte Ausdrucksweise standen in einem unvermuteten Widerspruch zu den sonst ziemlich bodenständigen und manchmal ein wenig zu direkten Amerikanern, die Max und Rainer bisher kennen gelernt hatten.
Die drei Männer nahmen im Besprechungszimmer Platz. Bevor der Kaffee serviert wurde, tauschte man einige Höflichkeiten aus, bis man schließlich zum Thema kam. Rainer hatte die Modelleisenbahn so auf das mittlere Brett des Bücherregals gestellt, dass sie unmöglich Colemans Blick entgehen konnte. Zufrieden beobachtete Rainer den Amerikaner, dessen interessierter Blick immer wieder zu der Lok hinüber wanderte.
Coleman erläuterte den beiden Männern noch einmal seine Beweggründe.
„Meine Herren, wie Sie ja bereits wissen, trage ich mich schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, mein Unternehmen aus den Staaten nach Europa zu verlegen. Es ist kein Geheimnis, dass die wirtschaftliche Lage in Amerika durch die Volatilität an den Finanzmärkten und die schlechte Situation der Banken immer instabiler wird. 
Kredite sind, wenn überhaupt, nur noch extrem teuer und mit entsprechenden Sicherheiten zu bekommen. Viele Experten befürchten, dass die Wirtschaft mangels Liquidität zusammenbrechen und die Börse in New York deshalb bald eine absolute Talfahrt erleben könnte. Der zweite, nicht minder schwerwiegende Grund einer Standortverlegung ist jener, dass sich Teile der Rüstungsindustrie durch mein konkurrenzlos effektives Minensuchkonzept bedroht fühlen und ziemlich große Bedenken haben, mittelfristig auf ihren produzierten Minen sitzen zu bleiben. Außerdem würde unsere neue Technologie der Minensuche sehr gut in die Strategie eines Angriffskrieges wie beispielsweise gegen den Iran passen. Man müsste nur knapp vor dem Losschlagen die Kriegsgebiete mit unseren Drohnen überfliegen und Lage und Art der Minen feststellen. Diese Daten spielt man dann in die GPS-Navigation der eigenen Fahrzeuge ein und kann diese dann zentimetergenau an den gefährlichen Stellen vorbei navigieren. Diese Gruppen wollen daher unbedingt meine Technologie in ihre schmutzigen Finger bekommen. Ich habe den berechtigten Verdacht, dass man bald drakonische Maßnahmen ergreifen wird, um an meine Patente zu gelangen, wenn sie verstehen, was ich meine.“
Die beiden Männer ahnten natürlich sofort, wovon er sprach. Ein tödlicher Verkehrsunfall, eine plötzliche Herzattacke mit Todesfolge oder ein letaler Freizeitunfall waren nur einige der zahlreichen Möglichkeiten, um Coleman als treibenden Motor auszuschalten und um dann die Firma mit ihren Patenten in die „richtigen“ Hände zu bekommen.
Coleman nippte an seiner Tasse und ließ seine Blicke wieder hinüber zu der kleinen Dampflok schweifen, ehe er weitersprach:
„Ich habe bereits mit Schweizern, Holländern und Ungarn verhandelt, die eigentlich alle großes Interesse zeigen. Die Schweizer bieten den Vorteil der absoluten Stabilität. Die Schweiz ist ein neutrales und ziemlich reiches Land. Die dort ansässigen Banken wären sicherlich gute Investoren für meine Firma. Die Holländer sind zwar auch neutral, besitzen aber nicht die finanzielle Potenz des Züricher Finanzplatzes. Die Niederlande haben aber das Plus, dass die Lohnkosten für ihre sehr gut ausgebildeten Facharbeiter und Ingenieure deutlich niedriger sind. Die Ungarn hingegen sind zwar nicht neutral, aber die Arbeitskräfte sind dort noch billiger, arbeitswillig und zuverlässig, aber nicht ganz so gut ausgebildet. Was kann mir also Österreich bieten, damit mein Unternehmen gerade hier seinen Standort haben sollte?
Rainer wusste, dass er nun recht vorsichtig und präzise in seiner Argumentation sein musste. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde. Schnell trank er einen Schluck Wasser, ehe er sich ins Zeug legte.
„Mr. Coleman, ich bin davon überzeugt, dass jedes der von Ihnen angeführten Länder sicherlich gute Voraussetzungen für die Ansiedlung Ihres Hauptquartiers bietet. Und doch bin ich absolut davon überzeugt, dass für Ihr nicht gerade unproblematisches Projekt der einzig sinnvolle Standort nur Wien sein kann. Genau wie die Schweiz und Holland bietet auch Österreich den für Sie nicht von der Hand zu weisenden Vorteil der Neutralität. Das heißt, dass Ihnen bei uns weder die Nato noch die amerikanische Rüstungsindustrie auf den Leib rücken können und Sie ziemlich sicher sind. Österreich hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem Drehpunkt der internationalen Politik entwickelt, wovon auch Sie mit Ihrer Firma profitieren können. Die Schweiz, Holland und auch Ungarn liegen bezüglich internationaler Politik noch etwas abseits Europas. Es mag zwar richtig sein, dass die Schweizer Banken genug Geld flüssig machen könnten. Doch da kann auch der Finanzplatz Wien locker mithalten. Und vergessen Sie bitte nicht, dass Wien der Hauptsitz der UNO, der UNICEF, der UNIDO, der IAEO sowie der OPEC ist. Alles weltweite Organisationen, denen sehr wohl daran liegt, konterminierte Gebiete wieder rasch, sicher und preiswert gesäubert zu bekommen. 
Ich kann mir daher sehr gut vorstellen, dass diese Vereinigungen nicht nur eigenes Geld locker machen würden, um ihre Interessen durchzusetzen, sondern die „Mine-Dedecting“ auch in ihr Netzwerk integrieren würden. Die UNO ist der Hauptfinanzier für weltweite Minenräumung. Einer österreichischen Firma kann keine amerikanische Regierung vorschreiben, wo sie gerade räumen darf und wo nicht. Von Spezialbanken gewährte Kredite könnten aufgrund ihres ethischen Geschäftsziels eventuell sogar etwas niedriger verzinst sein. Und besonders das Synergiepotenzial bei einem eventuellen Börsegang ist nahezu unbezahlbar. Jede Information, die das Unternehmen über seine Öffentlichkeitsarbeit lanciert, wird auch von den Beamten und Mitarbeitern dieser Organisationen empfangen werden. Das Gleiche gilt für alle Finanzdaten und Börsemitteilungen.“
Rainer machte eine rhetorische Pause, um Coleman Zeit zu geben, seine Informationen in aller Ruhe zu verarbeiten. Langsam stand Rainer auf und ging zu dem Regal, in dem die kleine Lok mit ihren Waggons stand. Mit seinem Zeigefinger rückte er die Lok vorsichtig ein Stück nach vorne, damit sie besser zur Geltung kam. Mit sichtlichem Interesse beobachtete Coleman ihn dabei. Dann setze sich Rainer wieder auf seinen Platz und fuhr fort.
„Es ist zwar richtig, dass uns der Zugang zum Meer fehlt. Aber dafür liegt Wien im Zentrum Europas und die Minenfelder im arabischen Raum sind kaum länger als vier Flugstunden von uns entfernt. Ich habe mich bereits um eventuelle Produktionsstätten umgesehen, die unbedingt in einer Zollfreizone liegen sollten. Möglichst nahe am Flughafen und möglichst gut erreichbar. Ich bin davon überzeugt, dass Flugtransporte viel schneller, effizienter und sicherer als Beförderungen mit Schiffen sind. Was die billigen Arbeitskräfte betrifft, bieten die ehemaligen Ostblockstaaten unbestritten noch gewisse Vorteile. Die Frage ist aber, wie lange das noch so bleibt. Die wichtigsten dieser CEE - Länder sind bereits in der EU, der Wirtschaftsaufschwung ist nur noch eine Frage der Zeit und die Löhne und Gehälter der qualifizierten Mitarbeiter steigen dort bereits überproportional. Außerdem sind diese Länder nicht neutral bzw. sogar Mitgliedsstaaten der NATO. Sie hätten dann vielleicht in absehbarer Zeit dasselbe Problem, das Sie derzeit in den Vereinigten Staaten haben. Und last but not least ist Österreich eines der reichsten, sichersten und schönsten Länder der Welt. Bei uns liegt die Lebensqualität weit über dem Durchschnitt. Wenn Sie hier Ihre Zelte aufschlagen, würde es Ihnen sicherlich an nichts fehlen.“
Rainer beendete sein Statement in der Hoffnung, die richtige Mischung aus Unaufdringlichkeit, unverhohlenem Interesse und Engagement gefunden zu haben. Coleman hatte ihn kein einziges Mal unterbrochen, sich aber in seinen Unterlagen Notizen gemacht. Sicherlich würde er Rainers Argumente überprüfen.
Max führte noch einige Vorteile aus dem betriebstechnischen Bereich an. Er erklärte, dass er einige ziemlich gute Ingenieure und Informatiker an der Hand hätte, die mit ihrem Know-how die notwendige Forschung, Entwicklung und Anwendung professionell weiter vorantreiben würden. 
Das Gespräch dauerte nicht länger als zwei Stunden. Am Schluss des Gespräches ließ es sich Max nicht nehmen, Coleman zusammen mit seiner Frau und Rainer zum Abendessen zu sich nach Hause einzuladen. Der Amerikaner schien doch überrascht zu sein. Mit dieser privaten Einladung hatte er sichtlich nicht gerechnet. Dankend nahm er aber an. Bevor die Männer das Besprechungszimmer verließen, sprach Coleman Rainer wegen der kleinen Modelllok an.
„Welch schönes und fein gearbeitetes Exemplar einer Bavaria haben Sie da stehen. Obwohl sie den Wettbewerb zwischen ihr und der Seraing, der Neustadt und der Vindobona auf der Semmeringbahnstrecke gewonnen hat, wurde sie meines Wissens nach nie eingesetzt.“
Colemans bewundernder Blick glitt nun genauer über das Modell.
„Ich bin erstaunt, welch profundes Fachwissen Sie haben. Mein Urgroßvater fuhr mit dieser Dampflok. Eigentlich steht sie ja nur aus nostalgischen Gründen hier, da mein Vorfahre Zugsführer war“, erwiderte Rainer mit gespielter Überraschung.
„Oh, Ihr Großvater war also Zugsführer dieser Besonderheit?“ Coleman war sehr überrascht und angetan von Rainers Mitteilung.
„Ja, das war er noch zu Kaisers Zeiten“, log Rainer seufzend und ohne mit der Wimper zu zucken.
Dann nahm er die Lokomotive samt der restlichen Garnitur vorsichtig in die Hände und hielt sie Coleman hin. 
„Es würde mich freuen, wenn ich sie Ihnen schenken dürfte.“
„Nein, das geht doch nicht. Schließlich hat dieses Modell einen großen ideellen Wert für Sie.“ 
„Mr. Coleman, es wäre mir aber wirklich eine Freude. Mir fehlt ohnehin der richtige Bezug dazu. Doch Ihr großes Interesse lässt nur zu leicht darauf schließen, dass diese Zuggarnitur bei Ihnen sicherlich besser aufgehoben wäre als bei mir. Sie erkennen ihren Wert und wissen ihn sicherlich zu schätzen.“
Ergriffen und beschämt zugleich ergriff Coleman beinahe ehrfurchtsvoll die filigrane Nachbildung. 
„Vielen Dank, Herr Barkhoff. Damit machen Sie mir eine große Freude.“ 
„Die Freude liegt bei mir. Vielleicht ist dieses kleine Präsent ja sogar der Auftakt einer harmonischen geschäftlichen und hoffentlich sehr freundschaftlichen Zusammenarbeit.“ 
„In der Tat. Wir werden ja bald sehen, ob sich diese Wünsche auch realisieren lassen“, erwiderte Coleman diplomatisch.

Kapitel 11

„Du falscher Hund. Seit wann hast du einen Großvater, der Lokomotivführer war?“, warf Max Rainer mit gekünstelter Entrüstung an den Kopf. Rainer lächelte weise und sagte: „Nun ja, schließlich heiligt der Zweck die Mittel. Coleman freut sich jedenfalls über die Lok und hat mir diese Geschichte abgekauft. Kleine Geschenke erhalten schließlich die Freundschaft. Dieser kleine, vertrauensbildende Schritt in die richtige Richtung könnte uns Coleman und sein Unternehmen näherbringen.“
Doch dann wurde Rainer wieder ernst und schnitt ein ganz anderes Thema an: 
„Weiß eigentlich Isabell schon davon, dass wir zum Abendessen kommen, oder ist dir diese Idee spontan eingefallen?“ 
„Oh Gott, natürlich weiß sie noch nichts von dem Abendessen! Sei doch bitte so gut und ruf sie für mich an. Sag ihr, dass wir um 20 Uhr kommen.“ 
Hektisch blickte Max auf seine Uhr.
„Oh, schon nach drei. Ich muss dringend zu einem Vortrag. Ich weiß nicht, wie lange ich brauche. Aber sag Isabell, dass ich rechtzeitig um 20 Uhr zu Hause sein werde. Sie soll einfach ein Catering-Service für das Abendessen beauftragen.“
Noch während er Rainer diese Anweisungen gab, griff er nach seinem Handy, seinem Autoschlüssel und seiner Aktentasche und verließ mit wehendem Mantel die Kanzlei. Deprimiert seufzend nahm Rainer das Telefon zur Hand und drückte die Festnetznummer der Hennings. Nach dem dritten Rufzeichen hörte er Isabells weiche, melodische Stimme. Wie immer, wenn er mit ihr telefonierte, spürte er einen leichten Stich in seinem Herzen. 
„Hallo Isabell, wie geht es dir?“ 
Wenn er mit Isabell telefonierte, wurde seine Stimme immer ein wenig zärtlicher.
„Ach Rainer, wie soll es einer Mutter, Ehefrau, Hausfrau und Lehrerin schon gehen? Der Tag hat ganz einfach zu wenig Stunden, um all das zu bewältigen, was anliegt.“
„Und jetzt komm auch ich noch und setz deinem Stress ein kleines Häubchen auf. Max hat mich nämlich gebeten, dich anzurufen. Er will, dass du einen Cateringservice beauftragst, denn er hatte plötzlich die geniale Idee, Coleman mit seiner Frau und mich zum Abendessen einzuladen.“
Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Doch dann hörte er sie resigniert aufseufzen. 
„Wann kommt Ihr?“ 
„Um 20 Uhr sollen wir in Sievering sein.“
„O.k., es wird alles fertig sein. Wo musste denn Max so dringend hin, dass er mich nicht einmal selbst anrufen konnte?“ 
Rainer warf einen kurzen Blick aus dem Fenster seines Büros und sah gerade noch, wie sein Freund eng umschlungen mit einer strohblonden und extrem jungen Frau in Richtung Kärntner Straße schlenderte. 
„Ein Kollege hat ihn vorhin angerufen und gebeten, kurzfristig für ihn einzuspringen, da er mit Grippe im Bett liegt. Er soll im Austria Center einen Vortrag über verschiedene Risiken für Manager in internationalen Konzernen halten.“
Rainer schämte sich, dass er sie wie schon so oft angelogen hatte. Doch diese Notlüge empfand er noch als das kleinere Übel. Unmöglich hätte er sie davon in Kenntnis setzen können, dass ihr Mann ein dreckiger Hurenbock ist. 
„Ich nehme an, dass ich ihn die nächsten Stunden nicht erreichen kann“, fragte sie mit ausdrucksloser Stimme.
„Nun, du weißt doch, bei Vorträgen ist das nicht wirklich möglich“, erwiderte Rainer fast entschuldigend.
„O.k., also dann sehen wir uns später.“
„Soll ich etwas mitbringen?“ 
„Bring dich mit, das genügt mir vollkommen.“ 
Und mit einem Mal hatte sich ihre betrübte Stimme wieder fröhlicher angehört.

Kapitel 12

„Hallo Rainer. Wo steckst du denn? Womöglich schon wieder in einer Frau, he, he, he. Ich wollte dich nur informieren, dass ich die Colemans von ihrem Hotel abhole. Der Vortrag zieht sich ein bisschen in die Länge, sodass ich erst gegen 20 Uhr zu Hause sein werde. Auf dem Nachhauseweg nehme ich dann gleich die Amis mit. Du brauchst dich daher nicht mehr um sie kümmern. Versuche aber ein bisschen früher in Sievering zu sein. Vielleicht braucht Isa noch Unterstützung, um rechtzeitig fertig zu werden. Du weißt ja, wie Frauen sind. Die spinnen doch immer gleich herum, wenn sie einmal ein bisschen Stress auf sie zukommt.“
Dann war nur noch das obligate Sprüchlein seiner Mail-Box zu hören: „Wenn Sie die Nachricht nochmals hören wollen, dann…“.
Max war sein bester Freund, doch es gab Momente, wo Rainer ihn zutiefst verabscheute. Einer dieser Momente war jetzt. Die Oberflächlichkeit und Ignoranz seiner Frau gegenüber versetzten Rainer in ohnmächtige Wut. Obwohl er gerade aus der Dusche gestiegen war, überlegte er für einen kurzen Moment, noch einmal zurückzusteigen und einen eiskalten Wasserstrahl auf sich niederprasseln zu lassen, damit sich sein erhitztes Gemüt ein wenig abkühlte. Doch dann ging Rainer in sein Schlafzimmer und überlegte, was er anziehen sollte. Seine neuen Jeans, ein hellblaues Streifenhemd und ein dunkelblauer Blazer waren genau das richtige Outfit für diesen Anlass. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig war seine Devise. Das Abendessen sollte schließlich in einer lockeren Atmosphäre ablaufen, wo man sich ungezwungen unterhalten konnte. 
Bevor Rainer die Wohnung verließ, bestellte er noch einen Strauß gelber Rosen in dem kleinen Blumengeschäft an der Ecke. Rainer wusste, wie sehr Isabell Teerosen liebte.
Die Fahrt in den 19. Bezirk zog sich so lang wie ein ausgelutschter Kaugummi. Es war Freitagabend und die Wochenendpendler flüchteten jetzt scharenweise aus der Stadt. Zumindest wollten sie zwei Tage in der Woche in ihrem kleinen, grünen Paradies verbringen, weg vom Großstadtlärm, dem Smog und den hektischen Aktivitäten zu vieler Menschen. 
Seine Gedanken schweiften zu Isabell. Wie üblich wurde der Druck in seinem Herzen intensiver, wenn er an sie dachte. Isabell…
Vor mehr als 12 Jahren hatte Rainer Isabell auf einer Studentenparty im Museumsquartier kennen gelernt. Sie war ihm sofort aufgefallen, als er den Saal zusammen mit Max betreten hatte. Isabell war nicht nur ausnehmend attraktiv, sondern sie hatte auch etwas Besonderes an sich, womit sie Rainer sofort in ihren Bann gezogen hatte. Zusammen mit einer Freundin stand Isabell an der Bar. Nie würde er vergessen, wie sie auf Zehenspitzen stehend versuchte, größer zu wirken, um den Kellner endlich auf sich aufmerksam zu machen. Doch ihre kleine, zarte Gestalt schien völlig in der Menge unterzugehen. Intuitiv bahnte sich Rainer einen Weg zur Bar, während sich Max sofort ins Partygetümmel warf. Aufgrund seines hohen Wuchses war er nicht zu übersehen. Mit einem kurzen Wink lenkte er sofort die Aufmerksamkeit einer der Kellner auf sich. Erbost hatte sich Isabell zu ihm umgedreht, um ihm gehörig die Meinung zu geigen, als Rainer sie fragte: 
„Was wollt Ihr trinken?“ 
Völlig überrascht schaute Isabell zu dem Hünen hoch. Damit hatte sie absolut nicht gerechnet.
„Zweimal Wodka Orange, bitte.“
Rainer bestellte dreimal Wodka Orange. Zusammen mit den beiden Mädels bahnte er sich dann einen Weg durch das wilde Gedränge. In einer Fensternische hatte er ein halbwegs ruhiges Plätzchen erspäht, wo er die Gläser auf dem Fensterbrett abstellen konnte.
Isabell lächelte ihn freundlich an.
„Danke, das war sehr nett von dir. Wenn du uns nicht geholfen hättest, würden wir wahrscheinlich morgen noch immer dort stehen.“
Auch das andere Mädchen, das aber einen eher schüchternen Eindruck machte, bedankte sich bei Rainer.
„Übrigens, ich heiße Isabell und das ist meine Freundin Sophie.“
„Freut mich. Ich bin Rainer.“
Sofort entwickelte ein angeregtes Gespräch zwischen Rainer und Isabell. Sophie hatte bald bemerkt, dass sie überflüssig war, worauf sie sich kurzerhand einigen Mädels anschloss, die an der Nische vorbeikamen. 
Rainer hatte keine Ahnung, wie lange er mit Isabell ans Fenster gelehnt stand und munter drauf los plauderte. Ihr Charme und diese besondere Ausstrahlung nahmen ihn völlig gefangen, so dass er bald jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren hatte. Isabells volles, kastanienbraunes Haar umspielte ihr makellos schönes Gesicht, aus dem ihm ihre grünen, mandelförmigen Augen wie Smaragde entgegenleuchteten. Im perfekten Einklang mit den hohen Wangenknochen erinnerte ihn ihr eher blasses Gesicht mit den vollen, roten Lippen und der fein geschwungenen Nase an die russisch-blaue Katze seiner Mutter. Isabells kleine Brüste zeichneten sich unter dem engen, tief dekolletierten Top markant ab, sodass Rainer sich permanent zwingen musste, nicht allzu oft auf diese alabasterfarbenen Appetithäppchen zu starren. Alles an diesem Mädchen war fein und zart. Selbst ihre helle Stimme passte perfekt. Rainer konnte sich an dieser jungen Frau nicht sattsehen, die mehr mit einer Elfe als mit einem irdischen Wesen glich. Stundenlang hätte er schweigend in dieser Fensternische lehnen können, um ihre Worte wie ein Schwamm aufzusaugen und ihr glockenhelles Lachen zu hören, das ihn an ein berauschendes Frühlingslüftchen erinnerte.
Im Laufe des Abends erfuhr Rainer, dass sich Isabell im letzten Studienabschnitt für Germanistik und Anglistik befand und in einem knappen Jahr, wenn alles nach Plan liefe, ihr Lehramtsstudium abschließen würde. Nach ihrer Sponsion wollte sie wieder nach Oberösterreich zurückgehen, um an einem Linzer Gymnasium zu unterrichten.
Weiters erfuhr er, dass sie in der Nähe von Linz in einem großen Aussiedlerhof zu Hause war, wo ihr älterer Bruder zusammen mit den Eltern eine ansehnliche Rinderzucht betrieb. Isabell wohnte während ihrer Studienzeit in Wien und teilte sich mit Sophie ein Zimmer in einem Studentenheim in der Strozzigasse. 
Ganz nebenbei hatte Rainer dieses entzückende Wesen gefragt, ob in Linz ihr Freund auf sie warten würde. Doch Isabell verneinte vehement und sagte, dass sie derzeit absolut keine Zeit für eine Beziehung hätte. Sie fühlte sich mit ihren 24 Jahren auch noch etwas zu jung für eine feste Beziehung. Doch wie schnell sich Meinungen ändern können, wurde Rainer nur allzu schnell bewusst.
Plötzlich stand Max neben ihm und mit einem Schlag war der Zauber gebrochen. Sofort riss er das Gespräch an sich, ohne darauf zu achten, dass Rainer gerade versuchte bei der jungen Frau zu landen. 
„Hallo Alter, hier finde ich dich also.“
Sofort glitt Max‘ anerkennender Blick über Rainers Gesprächspartnerin. 
„Welch niedlicher kleiner Käfer ist denn das?“
Rainer sah sofort, dass Max schon leicht angetrunken war. In diesem halbnüchternen Zustand hatte er auf Frauen schon immer extrem anziehend gewirkt. Sein immenser Charme verfehlte auch diesmal keineswegs seine Wirkung. Ohne den geringsten Skrupel seinem Freund gegenüber fuhr er sofort mit schwersten Geschützen ins Feld, um diesen kleinen Wonnebrocken zu erobern.
Bedauernd musste Rainer zur Kenntnis nehmen, dass Max innerhalb weniger Augenblicke die volle Aufmerksamkeit Isabells auf sich zog und er dadurch ins Hintertreffen geriet. Max’ Naturell, auf Frauen zuzugehen und ihnen ganz offensichtlich zu zeigen, welch ein Prachtstück von Mann er ist, erinnerte an das Balzverhalten eines Fregattenvogels, der seinen leuchtend roten Kehlsack immer mehr aufbläst, um dem Weibchen zu imponieren.
Isabell machte auch kein Hehl daraus, wie sehr sie von diesem Mann angetan war. Rainer fehlte leider der nötige Biss und die verführerische Ausstrahlung seines Freundes, um bei vielen Frauen mithalten zu können. Max’ ausgeprägtes Selbstbewusstsein und sein fabelhaftes Aussehen stellten Rainer unwillkürlich in den Schatten, obwohl er mit seinem nordischen Touch durchaus attraktiv war. Doch in diesen Tagen hatten die Frauen nun einmal den feurigen Antonio Banderas-Typen den Vorrang gegeben.
Im Laufe des restlichen Abends ist es Rainer zur traurigen Gewissheit geworden, dass sich Isabell und Max immer mehr voneinander angezogen fühlten. Max konnte beinahe jede Frau erobern, die er wollte. Doch gerade auf die Frau, für die Rainer soeben tiefere Gefühle zu entwickeln begann, war Max jetzt ganz besonders scharf.
Rainer hatte gehofft, dass es zwischen den beiden nur bei einem Flirt bleiben würde. Doch diese Hoffnung musste er schon nach wenigen Tagen begraben. 
Isabell und Max hatten sich heftig ineinander verliebt. Doch keiner der beiden ahnte auch nur ansatzweise, wie sehr Rainer darunter litt.

Kapitel 13

Seit dieser ersten Begegnung waren viele Jahre vergangen und so manches hatte sich verändert. Nachdem Isabell ihr Studium abgeschlossen hatte, war auch ihr Interesse verflogen, wieder nach Oberösterreich zurückzukehren. Um jede eventuelle Gesinnungsänderung gleich im Ansatz zu ersticken, hatte Max seiner Freundin sofort nach ihrem Abschluss einen Heiratsantrag gemacht, worauf die beiden schon wenige Monate später heirateten. 
Für zwei, drei Jahre hatte es wirklich den Anschein, als ob Max sich geändert hätte und das Interesse an anderen Frauen verloren wäre. In dieser Zeit hatte er wirklich nur noch Augen für seine wunderschöne Frau. Doch irgendwann war auch dieser herrliche Zauber des Verliebtseins vorüber. Sukzessive war Max wieder in sein altes Verhaltensmuster des Jägers und Sammlers zurückgefallen. Anfänglich hatte er noch versucht, seine neu entfachte Triebhaftigkeit so gut wie möglich geheim zu halten. Doch im Laufe der Zeit war Max wieder zur alten Bestform aufgelaufen. Die Vorsichtsmaßnahmen, seine Schäferstündchen klammheimlich über die Bühne gehen zu lassen, wurden daher auch immer nachlässiger.

Natürlich war Rainers Aufmerksamkeit diese Veränderung nicht entgangen. Nachdem er innerhalb nur einer Woche seinem Freund dreimal ein Alibi verschaffen musste, stellte Rainer ihn zur Rede und überhäufte Max mit schweren Vorwürfen: 
„Du solltest endlich aufhören, dich mit anderen Frauen herumzutreiben. Schließlich bist du kein Junggeselle mehr und trägst Verantwortung gegenüber deiner Frau, die dich aus ganzem Herzen liebt. Du missbrauchst ihr Vertrauen auf gemeinste Art und Weise.“
Doch Rainers Anschuldigungen ließen Max ziemlich kalt.
„Wieso kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Scheiß, anstatt dich in meine Angelegenheiten einzumischen?“
„Freundchen, ich muss permanent für dich in die Bresche springen und lügen, wenn Isabell fragt wo du schon wieder bist. Ich fühle mich schon fast wieder in jene Zeiten zurückversetzt, wo ich die Alte von Rotter hinhalten musste.“
„Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals darum gebeten zu haben! Es hätte voll und ganz genügt, wenn du ihr gesagt hättest, du wüsstest nicht, wo ich bin, was ja auch gestimmt hätte.“
Ohnmächtiger Zorn stieg in Rainer hoch und ließ jede einzelne Faser seines Körpers vibrieren.
„Du verdammter Hurenbock bist mit einer der nettesten und hübschesten Frauen verheiratet, die ich kenne. Isabell hat es ganz einfach nicht verdient, von dir so niederträchtig hintergangen zu werden!“
Langsam wurde nun auch Max wütend. Er stützte sich auf Rainers Schreibtisch ab und funkelte ihn zornig an.
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Warum nimmst du dir das Recht heraus, mich zu kritisieren? Schließlich bin ich ein Mann und mein Sexualtrieb ist nun einmal sehr ausgeprägt. Eine Frau reicht mir ganz einfach nicht, was aber nicht heißen soll, dass ich Isa nicht liebe. Ich bin da absolut keine Ausnahme. Sieh dich doch nur einmal um, wie viele Männer es in deinem Bekanntenkreis gibt, die sich parallel zu ihrer Ehe eine Geliebte halten? Der Unterschied ist eben nur der, dass ich die Abwechslung brauche und deshalb ziemlich oft meine Gespielinnen wechsle.“
Rainer sprang nun ebenfalls von seinem Stuhl auf, um mit Max auf einer Augenhöhe zu sein.
„Hast du dir schon jemals überlegt, wie sehr du Isabell verletzen würdest, wenn sie von deinen Amüsements jemals Wind bekommen sollte?“
„Na und? Irgendwann wird sie es sicherlich erfahren. Wenn nicht von dir, dann eben von jemand anderem in unserem sensationsgeilen Bekanntenkreis. Was dann weiter sein wird, wird sich weisen.“
„Hast du denn überhaupt kein schlechtes Gewissen?“ 
Rainer konnte nicht fassen, dass Max dermaßen gefühlsverroht und kaltschnäuzig war.
„Keiner bekommt im Leben die gewünschten 100% ab. Nicht einmal Isa. Schließlich fehlt es ihr ja an nichts. Sie hat alles, was sich eine Frau nur wünschen kann. Ein schönes Zuhause in der besten Gegend Wiens, einen attraktiven und erfolgreichen Mann, tolle Urlaube, teure Kleider, einen Job, der sie erfüllt und bald sogar auch ein Baby.“
Rainer dachte, er habe sich verhört.
„Was? Isabell ist schwanger?“
„Ja, sie war Anfang der Woche bei ihrem Gynäkologen. Er bestätigte ihren Verdacht, dass ein Spross im Werden ist.“
Obwohl es naheliegend war, dass die beiden irgendwann Kinder haben würden, traf Rainer diese völlig unerwartete Neuigkeit mit ziemlicher Wucht. Im Stillen hatte er gehofft, dass Isabell von den Eskapaden ihres Mannes erfahren und ihm vielleicht den Laufpass geben würde. Dann wollte er endlich seine Chance nutzen und ihr zeigen, wie sehr er sie liebte. Doch dieses Kind schob seinen zaghaften Hoffnungen endgültig einen Riegel vor. 
Obwohl Max Frauen gegenüber ein egoistischer Arsch war, entwickelte er sich wider Erwarten zu einem äußerst fürsorglichen und liebevollen Vater, dem das Wohl seines Kindes über alles ging. Nach der Geburt seiner Tochter Elisabeth riss sich Max auch wieder ein wenig am Riemen und hielt seine erotischen Eskapaden in Grenzen. Er verbrachte wieder mehr Zeit zu Hause und alles schien sich zum Guten zu wenden. 
Die kleine Elisabeth war ein entzückender kleiner Fratz, der seine Eltern auf einer Woge des Glücks schweben ließ. Traurig musste Rainer erkennen, dass er sich endlich aus dieser aussichtslosen Liebe lösen und beginnen musste, nach einer anderen Frau Ausschau zu halten.
Doch die passende Lebenspartnerin hatte Rainer in all den vergangenen Jahren nicht gefunden. Dafür begann Max im Laufe der Zeit mehr denn je, seine Fühler nach neuen potenziellen „Opfern“ auszustrecken.

Kapitel 14

Mittlerweile hatte Rainer das Ziel seiner Fahrt erreicht. Die Hennings wohnten am Ende der Sieveringer Straße in einem idyllischen alten Winzerhaus, das eingebettet zwischen Feldern und Weingärten lag. Irgendwie erinnerte das alte Gehöft an ein etwas zu groß geratenes Knusperhäuschen. Die kleinen niedrigen Fenster waren mit dunkelgrünen Läden versehen, die hinter weitläufigen Arkaden hervorlugten. Aber auch der Wetterhahn auf dem Dach und der künstlich angelegte plätschernde Bach, der sich in einen kleinen Seerosenteich ergoss, waren untrügliche Zeichen, dass bei der Gestaltung dieses Heims sehr viel Wert aufs Detail gelegt worden war. Das Haus war erst frisch getüncht worden und erstrahlte in einem sauberen matten Weiß. Die aus jedem noch so kleinen Topf überschwänglich hervorblühenden Pelargonien, Fuchsien, Petunien und Verbenen bildeten jetzt im Herbst ein buntes Blumenmeer, das sich über jedes Fensterbrett und über die weitläufige Terrasse ergoss. Man sah auf den ersten Blick, dass in diesem Haus viel Liebe und damit verbunden auch viel Arbeit steckte, die sicherlich nicht von Max erledigt wurde.
Der dunkle Ding-Dong-Ton der Türglocke kündigte Rainers Kommen an. Bald hörte er leichtfüßiges Getrappel und die Tür wurde von Elisabeth geöffnet. Als sie Rainer erblickte, begann das Mädchen übers ganze Gesicht zu strahlen. Die Kleine war das Ebenbild ihres Vaters. Die dunkelblauen Augen bildeten einen jähen Kontrast zu ihrer hellen Haut und dem dichten schwarzen Haar, das ihr gelockt über die Schulter fiel. Es war nicht schwer zu erahnen, dass Lisi bald zu einer wunderschönen jungen Frau heranwachsen und so manches Männerherz in ihren Bann ziehen würde.
„Hallo, Onkel Rainer. Da bist du ja endlich. Hast du mir was mitgebracht?“, fragte die Kleine erwartungsvoll, nachdem sie den wundervollen Rosenstrauß gesehen hatte, der sicherlich für ihre Mutter bestimmt war. „Shit!“, Rainer hatte völlig auf Lisi vergessen. Doch dann griff er schnell in seine Hosentasche, zog eine 10-Euro-Note hervor und drückte sie der Kleinen in die Hand.
„Für dich, Süße. Sag’s aber deiner Mama nicht. Du weißt ja, sie mag es nicht, wenn ich dir Geld schenke. Kauf dir damit einige von diesen Sammelkarten für dein Album.“
Rasch griff die Kleine nach dem Geldschein und ließ ihn rasch in einer Tasche ihrer Jeans verschwinden.
„Danke, das mach ich. Du bist echt der Beste!“ 
Mit einem verschwörerischen Augenzwinkern lächelte sie ihm noch einmal zu, ehe sie wieder in ihr Zimmer lief.
Rainer ließ die Eingangstür leise ins Schloss fallen und ging in die Küche, wo er den Ventilator des Dunstabzugs leise surren hörte. Isabell war so in das Schälen der Kartoffeln vertieft, dass sie ihn nicht kommen hörte. Still im Türrahmen lehnend beobachtete er, wie sie fein säuberlich in langen Bahnen die heiße Schale von den Kartoffeln abzog. Wie sehr mochte er diese Momente, in denen sie sich unbeobachtet fühlte und er sie ungeniert betrachten konnte. Aber wie sehr musste er jetzt auch dem Drang widerstehen, hinter sie zu treten, sie liebevoll mit seinen Armen zu umfassen und einfach sanft an sich zu drücken. Rainer stellte sich vor, wie er seine Nase in ihr duftendes Haar vergraben und ihr zärtlich „ich liebe dich!“’ ins Ohr flüstern würde.
Doch leider währten diese Augenblicke immer viel zu kurz. Zuerst ein wenig erstaunt, dann aber wirklich erfreut blickte sie ihn an und ließ die halbgeschälte Kartoffel samt der darin steckenden Gabel in den Topf fallen. Lächelnd kam Isabell auf ihn zu, während sie sich ihre klebrigen Finger an der Schürze abwischte.
„Hallo Rainer, sind die für mich?“ Isabell bestaunte den prachtvollen Rosenstrauß, dessen volle Blüten einen wunderbaren, schweren Duft verbreiteten.
„Natürlich. Wohin sollte ich sonst mit diesem Grünzeug?“
Isabell lächelte ihn glücklich an. Für einen kurzen Moment glich sie wieder jenem jungen Mädchen, das er vor so vielen Jahren im Museumsquartier kennen gelernt hatte.
„Danke, du bist mir wirklich der liebste Freund. Außerdem bringst du es immer wieder fertig, mich froh zu stimmen, auch wenn mir gar nicht danach ist.“ 
Wie glücklich hätte es Rainer gemacht, wenn sie ihn nicht als Freund, sondern als Geliebten bezeichnet hätte. Liebevoll erwiderte er ihre Umarmung und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Wange.
„Wieso bist du denn schon jetzt schon da?“, fragte sie ihn verwundert, während sie auf die Küchenuhr blickte.
„Max hat mich gebeten, ein bisschen früher zu kommen. Ich soll dir etwas unter die Arme greifen, da er sich nicht eher von seinem Vortrag loseisen kann, um dir zu helfen. Auf dem Heimweg nimmt er dann die Colemans gleich mit.“
„Natürlich.“ Isabells leicht bitterer Tonfall und ihr betrübtes Lächeln ließen Rainer aufhorchen. Seine feinen Sensoren stellten sofort fest, dass sie mehr wissen musste als ihm lieb war. Um die aufkeimende Spannung zu entschärfen, lenkte Rainer das Thema rasch in eine andere Richtung.
„Ich sehe, du kochst? Max hat dich doch gebeten, das Catering-Service zu beauftragen.“
Isabell hatte die Blumen in eine Vase auf den bereits gedeckten Tisch im Esszimmer gestellt. Geschäftig kam sie nun wieder in die Küche zurück.
„Ich habe es versucht, doch so kurzfristig konnte keine Firma meine Bestellung mehr entgegennehmen.“
„Warum hast du mich dann nicht angerufen? Wir hätten doch zum Heurigen gehen können. Oder ich hätte ja auch noch irgendwo etwas halbwegs Genießbares aus einem Restaurant in der Stadt organisieren können.“
Isabell warf ihm ein dankbares Lächeln zu und strich sich die eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrem müden und sehr blassen Gesicht.
„Immer mehr komme ich zu jener Überzeugung, dass ich mir damals den Falschen von euch beiden angelacht habe.“
Obwohl Rainer ihre Bemerkung genau verstanden hatte, erwiderte er scheinbar ahnungslos: 
„Ich versteh nicht, was du meinst?“
Erneut spürte er, dass die Spannung zwischen ihnen zunahm, was in den letzten Wochen schon öfters der Fall war. Doch dieses Mal wollte er bei diesem Thema bleiben und nicht ablenken.
Isabell ging auf ihn zu, nahm seine Hände und drückte sie zärtlich, während sie ihm tief in die Augen blickte.
„Du verstehst sehr wohl, was ich meine. Glaubst du denn wirklich, dass ich so unsensibel bin und nicht fühle, was du für mich empfindest?“
Rainer lief es vor Aufregung heiß und kalt über den Rücken. Er wollte seine plötzlich feucht gewordenen Hände zurückziehen. Schwitzende Handflächen waren ihm ein absoluter Gräuel. Doch Isabell hielt ihn fest und lächelte ihn wissend an:
„Du brauchst nicht nervös zu werden, nur weil ich dir etwas sage, was wir beide sowieso schon lange wissen.“
Rainer war restlos davon überzeugt, dass fast alle Flüssigkeitsreserven seines Körpers nun in konzentrierter Form in seinen Händen gesammelt sein mussten, denn sein Mund war trockener als die Wüste Gobi.
„Ich glaub, ich brauch jetzt dringend ein Glas Wein.“ 
Isabell ließ ihn lächelnd los und holte eine Flasche Chardonnay aus dem Kühlschrank. Dann schenkte sie zwei Gläser ein und reichte ihm eines davon. Ohne auf einen vielleicht noch kompromittierenderen Trinkspruch zu warten, nahm Rainer das Glas und schüttete den kühlen Weißwein in einem Zug hinunter. Danach war ihm ein wenig besser. Doch er fühlte Isabells wissenden Blick auf sich, der ihn gleich einem Scanner in- und auswendig durchleuchtete. Rainer begann sich in seiner Haut sehr unwohl zu fühlen.
Schließlich nahm Isabell der angespannten Situation die Schärfe und sagte:
„Hilfst du mir die Schnitzel zu panieren?“
Rainer nahm eine Schürze vom Haken. Er war nun dankbar, dass Isabell ihn nicht gezwungen hatte, Stellung zu beziehen.
„Madame, Ihr Hilfskoch wartet auf Ihre Anweisungen“, versuchte sich Rainer so locker wie möglich zu geben.
Schweigend standen die beiden einige Zeit nebeneinander und bereiteten das in dünne Scheiben geschnittene Fleisch zu. Schließlich begann Isabell zaghaft zu fragen:
„Rainer, sag einmal, kennst du die Frau, die Max in letzter Zeit beglückt?“
Rainer war es, als ob er in eine Stromdose gegriffen hätte und nicht in den Berg Semmelbrösel für die Panier des Fleisches.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, log Rainer stotternd. 
Ohne ihn anzublicken, drückte sie das letzte Stück dünn geklopftes Kalbfleisch ins Mehl und wendete es dann im versprudelten Eiklar.
„Eine deiner besten Eigenschaften ist es sicherlich, dass du deinen Freunden gegenüber absolut loyal bist. Doch sei jetzt auch mir genug Freund und lüg mich bitte nicht mehr an. Ich weiß nur zu gut, wie oft du meinen Mann gedeckt hast, damit ich nicht misstrauisch werde. Doch irgendwann habe ich trotzdem angefangen, zwei und zwei zusammenzuzählen. Du kennst Max mindestens genauso gut wie ich und du weißt, dass er in manchen Dingen nicht immer die nötige Vorsicht walten lässt.“
„Isabell, du irrst dich. Max liebt dich und würde dich nie so verletzen. Er hat eben momentan nur viel um die Ohren, das ist alles“, versuchte Rainer die oftmalige Abwesenheit seines Freundes zu rechtfertigen.
Isabell wusch sich die Hände und lächelte Rainer wissend an.
„Ich hab heute im Austria Center angerufen. Die nächsten Tage finden dort überhaupt keine Events oder sonstige Veranstaltungen statt, denn derzeit wird dort wird gerade ein großer Kongress vorbereitet.“
Rainer wusste, dass sie ihn in die Enge getrieben hatte. Auch er wusch sich die Hände und schenkte sich noch einmal sein Glas voll, ehe er tief betrübt zu erzählen begann: 
„Früher fuhr er auf rassige Südamerikanerinnen ab. Aber er ist absolut kein Kostverächter, wenn es sich um junge, leicht ordinäre Frauen handelt, egal welcher Haut- oder Haarfarbe.“
„Ja, ich dachte mir schon, dass er diesen vulgären Frauentyp bevorzugt. Das billige Parfüm dieser Frauen schwebte oft tagelang in seinem Anzugschrank. Doch wie es scheint, hat er seit einigen Monaten eine blonde Dauerfreundin. Der Duft des teureren Parfüms ist mir mittlerweile sehr vertraut und auch die blonden Haare auf seinen Anzügen sprechen eine eindeutige Sprache.
„Wirklich? Das ist mir aber neu“, log Rainer nicht sehr überzeugend.
„Komm schon, Max ist doch bekannt wie ein bunter Hund. Glaubst du wirklich, dass mir niemand gezwitschert hat, dass eine junge Russin augenblicklich seine Favoritin ist?“
„Isabell, Max ist kein schlechter Mensch und er liebt dich und Lisi mehr als sonst irgendjemanden. Für euch beide würde er durchs Feuer gehen. Aber seine Schwäche ist nun einmal sein ausgeprägter Sexualtrieb“, versuchte er wieder, Max zu verteidigen.
„Ich war vor vier Wochen bei meinem Hautarzt und der hat bei mir Gonorrhoe festgestellt. Da hatte ich ja noch Glück im Unglück. Was wäre gewesen, wenn er Aids oder Hepatitis mit nach Haus geschleppt hätte?“
Rainer sah sie bestürzt an und er fühlte schließlich unermessliche Wut in sich hochsteigen.
„Ist dieser Vollidiot denn von allen guten Geistern verlassen? Es ist unfassbar, dass er so ignorant ist und mit diesen Weibern, die ich nicht einmal mit der Kneifzange angreifen würde, ungeschützten Sex hat. Das konnte ja nicht ausbleiben, wenn man ständig nur mit seinem Schwanz denkt und ihn überall hineinstecken will.“ 
Sein Zornesausbruch ließ Isabell überrascht innehalten. Noch nie hatte sie Rainer dermaßen aufgebracht erlebt. Diese vulgäre Ausdrucksweise, mit der er seinen Unmut zum Ausdruck brachte, entsprach so gar nicht seiner noblen und zurückhaltenden Art.
„Ich werde diesem verdammten Scheißkerl morgen die Leviten lesen. Bis jetzt hab ich den Mund gehalten und stillschweigend seine Eskapaden zur Kenntnis genommen. Doch irgendwann ist das Maß voll. Schließlich geht es hier um dich und nicht um eine seiner billigen Bordsteinschnepfen.“
Zutiefst erregt begann Rainer in der Küche auf und ab zu laufen, während sich seine Hände zu Fäusten ballten und seine Knöchel vor Spannung weiß hervortraten. Dieser große Mann in seiner geballten Aggressivität hätte fast gefährlich wirken können, hätte er nicht dieses alberne gelb geblümte Spitzenschürzchen getragen, das ihm einen leicht schwulen Touch verlieh. Unwillkürlich musste Isabell über diese groteske Szene lachen.
Verdutzt blieb Rainer stehen und sah sie fragend an. Doch Isabell schüttelte nur belustigt den Kopf und sagte mit weicher Stimme:
„Mein Lieber, ich bin ganz gerührt, wie du da stehst in deinem Schürzchen und den Mehlspuren im Gesicht und dich um mich ängstigst.“
Rainer blickte an sich hinunter und begann nun selbst zu grinsen.
„Nun ja, man kann eben nicht immer perfekt gestylt sein, wenn der Zorn in einem hochsteigt.“ 
In einem Anflug von Rührung und Verbundenheit kam Isabell auf Rainer zu und umarmte ihn. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, während Rainer zärtlich über ihr Haar strich.
„Versprich mir, dass du nicht mehr mit ihm schläfst, bevor er beim Arzt war und wieder clean ist.“
„Keine Angst, ich schlafe nicht mit ihm. Er weiß nur zu gut, dass ich gerade eine Geschlechtskrankheit behandle, die ich mir durch ihn eingefangen habe.“
„Ich werde mit ihm morgen ein ernstes Wort reden. So kann es nicht mehr weitergehen. Dieser Trottel bringt dich und sich selbst noch um.“
Isabell löste sich aus der Umarmung, sodass sie Rainer in die Augen blicken konnte.
„Ich danke dir, dass du so um mich besorgt bist. Doch es gibt Situationen, wo du nicht wirklich helfen kannst. Solche Gespräche können nur Ehepartner miteinander führen.“
In einem Anfall von großer Sorge und Angst drückte er Isabell noch einmal heftig an sich.
„Ich schneide diesem triebgesteuerten Idioten seinen Schwanz ab, wenn er dich noch einmal so in Gefahr bringt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er dich mit einer tödlichen Krankheit infiziert und du langsam sterben musst.“
Durch diesen schrecklichen Gedanken zutiefst erschüttert, drückte er sie noch fester an sich. Rainer spürte jedoch keinen Widerstand ihres Körpers. Eher das Gegenteil war der Fall. Dicht an ihn geschmiegt, fühlte er ihre Brüste, ihren kleinen Bauch und ihre Arme, die seinen Druck erwiderten.
Plötzlich ertönte der Türgong. Schnell lösten sich Rainer und Isabell voneinander, als ob sie etwas Unrechtes getan hätten. Ein Blick auf die Küchenuhr sagte den beiden, dass sie völlig auf die Zeit vergessen hatten. Es war acht Uhr und Max kündigte sich mit seinen Gästen an.
„Verdammt, ich bin noch nicht fertig. Sei so gut und halt sie noch ein bisschen hin. Ich muss noch den Salat fertig machen und mich umziehen.“ Liebevoll lächelnd wischte sie ihm wie einem Kind die Mehlspuren aus dem Gesicht.
Noch während sie Rainer weitere Anweisungen gab, nahm sie ihm rasch seine Schürze ab. Verwirrt ging Rainer aus der Küche zur Eingangstür und versuchte, sich auf der Achterbahn seiner Gefühle zurechtzufinden.

Kapitel 15

Der Abend verlief in einer unverhofft lockeren und angenehmen Atmosphäre. Weder Rainer noch Isabell ließen sich anmerken, dass sich für beide eine Tür geöffnet hatte, durch dessen Spalt in das dunkle Labyrinth ihrer Gefühle warmes und helles Licht zu strömen begann. Obwohl Rainer stiller als sonst war, tat dies der guten Stimmung keinen Abbruch. Max war schließlich ein geborener Showman und fuhr mit seinem reichhaltigen Repertoire an Anekdoten und Bonmots auf, die Coleman und seine Frau amüsierten und oft zum Lachen brachten.
Colemans Frau Grace war eine attraktive und gebildete Lady aus der Bostoner Gesellschaft. Sie war um einiges jünger als ihr Mann, was ihrer harmonischen Beziehung zueinander aber keinen Abbruch tat. Kennen gelernt hatten sich die beiden vor einigen Jahren in England, wo Jake Coleman eine Gastprofessur an einem technischen Institut der University of London innehatte. Grace hatte an einem internationalen Ärztekongress in London teilgenommen. Im Zuge dieser Veranstaltung nutzte sie gleich die Möglichkeit, einige Freunde in der Stadt zu besuchen. Bei einem dieser Anlässe hatte sie auch Jake kennen gelernt. Colemans Mutter war Engländerin gewesen. Dieser Umstand erklärte nun auch die für einen Amerikaner ungewöhnlich stilvolle und höfliche Umgangsart und seine sehr gewählte Ausdrucksweise. Grace stand in Stil und Würde ihrem Mann aber um nichts nach. Man sah auf den ersten Blick, dass die Colemans einander in tiefer Liebe und Verbundenheit zugetan waren. Immer wieder tauschten sie vertraute Blicke, sodass Rainer fast ein wenig neidisch war, weil er seine Gefühle für Isabell nicht so ungehemmt zeigen durfte. 
Während des Abends wurde sehr wenig über Geschäftliches gesprochen. Doch weder Rainer noch Max ließen sich keine Gelegenheit entgehen, die Standortvorteile Wiens ins rechte Licht zu rücken.
Die Colemans waren nicht nur von dem heimeligen Ambiente des alten Winzerhauses beeindruckt, sondern auch von Isabells Kochkünsten. Rainer hatte keine Ahnung, wie es Isabell innerhalb so kurzer Zeit geschafft hatte, eine Kürbiscremesuppe auf den Tisch zu zaubern, die Salate fertig zu machen, die Schnitzel zu panieren und herauszubacken und zum Dessert auch noch einen Apfelstrudel zu backen. Dass sie es dann trotz dieses Stresses auch noch fertig brachte, so bezaubernd schön auszusehen, grenzte fast ans Unmögliche. In unbeobachteten Momenten warf er Isabell immer wieder liebevolle Blicke zu, die sie mit einem besonderen Funkeln in ihren schönen grünen Augen erwiderte.
Isabell hatte in den letzten Jahren an weiblichen Formen ein wenig zugelegt, sodass ihr mädchenhafter Touch der femininen Aura einer reifen Frau gewichen war. Ihre ehemals kleinen Brüste hatten nach der Geburt von Lisi wider Erwarten ihr Volumen behalten und kamen als wunderschönes Dekolleté in dem eng anliegenden, tief ausgeschnittenen schwarzen Cashmerepulli bestens zur Geltung. Diesen besonderen alabasterfarbenen Teint hatte lsabell aber nicht verloren und erinnerte Rainer noch immer an eine kleine, leuchtende Elfe.
Vor einigen Jahren hatte Isabell ihr hüftlanges Haar schneiden lassen, worüber Rainer sehr betrübt gewesen war. Er hatte aber gewusst, dass im Leben jedes Menschen optische Veränderungen unausbleiblich waren. Mit der Zeit hatte sich Rainer an ihren frechen Pagenkopfschnitt gewöhnt und fand sie nun attraktiver denn je. Rainer weinte nicht mehr dem Mädchen nach, in das er sich vor so vielen Jahren verliebt hatte, sondern begehrte das erblühte Weib in ihr, welches sich ihm nun von seiner schönsten Seite offenbarte. Isabell war jetzt 35 Jahre alt. Kleine Krähenfüße begannen sich um ihre Augen zu bilden und auch ihre Lachfalten nahmen langsam an Prägung zu. Ob schon vereinzelt weiße Strähnen ihr kastanienbraunes Haar durchzogen, konnte er nicht sagen, da Isabell sicherlich jeden noch so kleinen Grauansatz sofort im Keim erstickte. Man hätte nicht sagen können, dass sie jünger aussah. Doch sie trug die Schönheit in sich, die dieses Alter einer Frau nur bieten konnte.
Im Vergleich zu Isabells Attraktivität hatte das ausschweifende Leben in Max’ Gesicht und auch Körper deutliche Spuren des Verfalls hinterlassen. Sein südländischer Touch ließ ihn jetzt älter und verbrauchter aussehen als er wirklich war. Das ergraute Haar begann bereits über sein schwarzes zu dominieren. Max’ ausgeprägte Tränensäcke und die schon ein wenig hängenden Gesichtsbacken erinnerten Rainer immer mehr an einen Basset. 
Ihre gemeinsamen sonntäglichen Morgenläufe durch den Wiener Prater hatten ein jähes Ende gefunden, seit Max mit Isabell aus dem Stadtzentrum nach Sievering gezogen war. Seither lief Rainer Sonntag vormittags alleine die Prater Hauptallee entlang. Max hatte sein körperliches Fitnessprogramm in den letzten Jahren deutlich reduziert und konzentrierte sich vorzugsweise auf horizontale „Sportarten“. Der Schwimmreifen um seine Taille und der ansetzende Spitzbauch waren schon seit einigen Jahren nicht mehr zu übersehen.
Rainer war aufgefallen, dass nun immer öfter interessierte und begehrliche Blicke der holden Damenwelt ihn und nicht Max trafen, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. 
Obwohl Max noch immer ein attraktiver Mann war, forderte das Alter von ihm schneller als erwartet seinen Tribut. Dagegen hatte sich Rainer im Lauf der Jahre kaum verändert. Seine nun markanteren Gesichtszüge verliehen ihm ein herberes Aussehen, was seine männliche Attraktivität nur noch unterstrich. 
„Wo hat man ihn gefunden, Rainer?“

Rainer fuhr erschrocken aus seinen Gedanken hoch. Rasch versuchte er die letzten, noch nachhallenden Worte der Unterhaltung zu erfassen.
„Entschuldigung, ich war kurzfristig mit meinen Gedanken weg und konnte daher eurem Gespräch nicht ganz folgen.“
„Unsere Gäste sind sehr an unserem Ötzi interessiert. Selbst in Amerika hat er einen gewissen Bekanntheitsgrad. Hast du eine Ahnung, wo man ihn gefunden hat?“, wiederholte Max seine Frage.
„Ja, soviel ich weiß, tauchte er im Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen aus dem Gletscher auf. Die Mumie stammt aus der Jungsteinzeit. Sie lag in einer Gletscherquerrinne, wo keine Eisbewegungen stattfinden konnten. Das war auch der Grund, warum sie nach mehr als 5000 Jahren fast unzerstört gefunden werden konnte. Durch die Erderwärmung hat sich der Gletscher aber wieder zurückgezogen, sodass ein zufällig des Weges wanderndes Ehepaar auf den aus dem Eis herausragenden Oberkörper gestoßen war.“
„Man sagt, dass die Mumie ungewöhnlich gut erhalten sein soll. Einer der großartigsten archäologischen Funde der Neuzeit“, unterbrach Coleman Rainer voller Interesse.
„Ja, das stimmt. Der Mann war Mitte der Vierzig. Ein richtiger Methusalem für damalige Verhältnisse. Außerdem war der Mann sehr groß und noch ziemlich fit und durchtrainiert. Allem Anschein nach dürfte der Typ so etwas wie ein Schamane gewesen sein, denn kurz bevor er starb hatte er noch Kräuter und Pilze gesammelt, die er an einem Kalbsledergürtel mit sich trug. 
Der Inhalt dieses Beutels hat der Wissenschaft große Aufschlüsse über das pharmazeutische Wissen seines Besitzers und seiner Zeit gegeben.“ 
Je länger Rainer über den Mann aus dem Eis erzählte, umso mehr begann sich vor seinem inneren Auge ein Szenario abzuspielen, in das er immer mehr eintauchte.
„Es war ein kalter und sehr klarer Herbsttag, als er am Nachmittag ins Hochgebirge aufsteigen musste. Zu dieser fortgeschrittenen Jahreszeit war ein Aufstieg in die Berge ein ziemlich gewagtes Unternehmen. Er musste unbedingt zu einer geheimen Höhle, die nur ihm bekannt war. In dieser befand sich unter einer dicken Lehmschicht verborgen ein natürliches Bergkristallvorkommen. Doch bis zur Höhle schaffte er nicht mehr. Er wurde von vier jüngeren Männern verfolgt, die ihm nach dem Leben trachteten. Bei einem überhängenden Felsen, der in der Steinzeit vielen Wanderern als Rastplatz gedient hatte, musste er sich schließlich seinen Häschern stellen. Dem ersten seiner Widersacher stieß er seinen Dolch so tief in den Hals, dass dieser an seinem eigenen Blut erstickte. Dem zweiten trieb er sein wertvolles Kupferbeil in den Brustkorb und dem dritten spaltete er damit den Schädel. Den vierten und letzten trat er mit seinem Fuß dermaßen heftig in den Schritt, sodass sich dieser vor Schmerz krümmte, das Gleichgewicht verlor und den flachen Abhang hinunterstürzte. Selbst vom Kampf verletzt und ziemlich geschwächt wollte der Schamane weiter flüchten und lief hinauf in die Berge. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen und es hatte zu schneien begonnen. In der nahenden Dunkelheit sah er seine letzte Chance. Aber der vierte Mann hatte sich schnell wieder hochgerappelt und die Verfolgung aufgenommen. Sein Widersacher kam bald wieder bis auf Schussweite seines Bogens an den Flüchtenden heran und schoss dem Schamanen einen Pfeil in sein linkes Schulterblatt. Durch die Wucht des Geschosses stürzte der Mann und löste dadurch eine Schneelawine aus, die ihn schließlich unter sich begrub. Ötzi erstickte aber nicht unter den Schneemassen, sondern er verblutete innerlich, da der Pfeil eine Hauptschlagader getroffen hatte. 
Als die Schneefälle abgeklungen waren und ihr Anführer noch immer nicht ins Dorf zurückgekehrt war, machten sich besorgte Angehörige seiner Sippe auf und suchten nach ihm. Trotz der großen Gefahr, plötzlich in einen Schneesturm zu geraten und hoch oben in den Bergen zu erfrieren, suchten sie mit Hilfe zweier Wolfshunde so lange, bis sie seinen leblosen Körper im Kegel der Pulverschneelawine fanden. Wölfe oder Füchse hatten bereits begonnen, den Leichnam des toten Mannes auszugraben und ihn anzufressen.
Abtransportieren konnten sie das Oberhaupt ihrer Sippe jedoch nicht mehr, da hoch oben in den Bergen der Winter bereits voll hereingebrochen war. Sie mussten danach trachten, so schnell wie möglich wieder ins Dorf zu gelangen, um nicht selbst Opfer diese viel zu früh herein gebrochenen Winters zu werden. Daher trugen sie ihn zurück in die Nähe jenes Lagerplatzes, wo er sich so verbissen gegen seine Häscher gewehrt hatte. In einer Steinmulde betteten sie ihn auf seine Grasmatte.
Ötzi war ein Magier. Aus diesem Grund führte er auch halbfertige Waffen zur Abwehr von bösen Geistern mit sich. Solche Männer galten damals als Mittler zwischen den Menschen und ihren Geistern und Göttern. Seine Familienangehörigen behandelten ihn daher mit besonders großer Ehrfurcht. Seine Söhne legten seine Waffen und Ausrüstung im Umkreis von 5 Metern um ihn herum. So entstand ein magischer Kreis, in dessen Mitte der Körper des Schamanen ruhte. Dieser Kreis würde seinem Geist Kraft geben und ihm die Richtung weisen. Seine Ausrüstung sollte er auf dem Weg zurück zur Erdmutter leicht erreichen und benützen können. Seine Angehörigen packten Schnee und Eis um den toten Körper herum und legten Äste und Steine darüber, damit er nicht verwesen und auch kein Raubtier an ihn herankommen konnte. Im Frühling wollten sie wiederkommen, um ihn ins Tal zu bringen und dort würdig zu bestatten. Aber dazu ist es dann nicht mehr gekommen. Der Gletscher ist über diese Steinmulde hinweggezogen und war Ötzi zum eisigen Grab geworden, wo seine lange Reise durch die Zeit seinen Anfang fand.
Er wurde von der Erdmutter zu uns geschickt, um Zeugnis über sein Leben, sein Zeitalter und sein Umfeld abzulegen. Es war kein Zufall, sondern seine Bestimmung, gefunden zu werden. Das Eis wurde im Laufe der Tausenden von Jahren immer höher und damit auch immer dichter. Es floss direkt über die Querrinne und schob Steine und Geröll mit sich.
In wenigen Jahren wäre sein Körper völlig zermalmt und zerstört gewesen, wenn ihn seine Angehörigen nicht am tiefsten Punkt in dieser Mulde abgelegt hätten. Das Eis direkt um ihn herum konnte sich nicht mehr bewegen, bis es durch den Klimawandel einfach weggeschmolzen ist.“
Erst jetzt bemerkte Rainer die vier Augenpaare, die ihn völlig überrascht anstarrten. 
„Woher weißt du das alles?“, fragte Isabell beeindruckt.
„Du hast uns nie erzählt, dass du dich so mit dem Fund dieser Mumie auseinandergesetzt hast?“, fuhr Max erstaunt fort.
„Ich hab mich nicht damit auseinandergesetzt und hab auch nicht mehr als andere darüber gelesen. Ich weiß es einfach“, erwiderte Rainer schlicht und über sich selbst ein wenig verwundert.
Natürlich wusste keiner der Anwesenden von seinen Träumen. Doch plötzlich begann Rainer Zusammenhänge zu erkennen, die ihm bisher nicht bewusst gewesen waren. Konnte es denn sein, dass zwischen ihm und jenem Mann aus dem Eis, der vor mehreren tausend Jahren umgebracht und dann zu einer makaberen archäologischen Sensation wurde, ein Zusammenhang bestand?
Wider Erwarten war Rainer nun extrem aufgewühlt. Er wollte jetzt nur noch alleine sein. Gott sei Dank war der Abend bereits so weit fortgeschritten, dass die Colemans in ihr Hotel zurück wollten. Rainer bot sich nur zu gerne an, das Ehepaar in die Stadt mitzunehmen. Der Aufbruch ging nun ziemlich schnell vonstatten. Max zwinkerte Rainer vielversprechend zu, worauf er bestätigend mit dem Kopf nickte. Als Rainer sich dieses Mal von Isabell verabschiedete, hatte er das untrügliche Empfinden, dass sich ihr Kuss auf seiner Wange nun ganz anders anfühlte als die freundschaftlichen Küsschen, die er von ihr gewohnt war.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Rainer mit den Colemans in der Innenstadt ankam. Den beiden hatte der Abend sichtlich gefallen. Grace hielt mit ihren Komplimenten nicht hinter dem Berg. Immer wieder erwähnte sie, wie sehr ihr das schöne Haus der Hennings gefallen hatte und welch bezaubernde Gastgeberin Isabell doch wäre. Außerdem wisse sie jetzt, wie vorzüglich ein Apfelstrudel schmeckt, von dem ja auch der kalifornische Gouverneur so schwärmte.
Rainer parkte sein Auto vor dem Hotel der Colemans und verabschiedete sich von den beiden. Bevor Coleman in die Drehtür stieg, wandte er sich noch einmal Rainer zu:
„Wien ist wirklich eine sehr schöne Stadt. Ich glaube, hier könnten wir es aushalten.“
Dann folgte er mit einem vielsagendem Augenzwinkern seiner Frau in das Foyer des Hotels.

Kapitel 16

Max war bester Laune. Das Leben meinte es doch wirklich gut mit ihm. Was konnte sich ein Mann in seiner Lage noch mehr wünschen? Nun ja, vielleicht noch ein bisschen mehr Geld. Doch mit Colemans vielversprechenden Projekt war er ohnehin bald in der Lage, sich in das finanzielle Spitzenfeld der österreichischen Managerriege zu katapultieren. 
Nachdem sich die Gäste verabschiedet hatten, ging Isabell gleich zu Bett. Die Erschöpfung stand ihr jetzt ins Gesicht geschrieben, als sie ihrem Mann eine gute Nacht wünschte. Doch Max war dermaßen überdreht, dass er noch einige Zeit brauchen würde, um wieder herunterzukommen. Langsam ging er ins Wohnzimmer zurück und schenkte sich den Rest der Rotweinflasche in sein Glas. Mit sich und der Welt zufrieden ließ er sich in einen der Fauteuils fallen und zündete sich eine Zigarre an. Voller Genuss paffte er den würzigen Rauch. Isabell hasste es, wenn im Haus geraucht wurde. Doch heute war ein besonderer Tag, sodass er sich diese Ausnahme bewusst leistete.
Max war nicht nur auf dem besten Weg, dieses Bombengeschäft an Land zu ziehen und sich eine goldene Nase zu verdienen, sondern es war ihm auch gelungen, für Ekaterina eine befristete Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken. Schon bei dem bloßen Gedanken an seine junge blonde Russin spürte er sofort wieder Geilheit in sich aufsteigen und sein Schwanz nahm deutlich an Volumen zu. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er nicht Isa mit seinem prallen Ständer beglücken sollte. Doch schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Isa war nun schon die vierte Woche in Therapie, um diesen verdammten Tripper loszuwerden. Er und Ekaterina hingegen hatten nicht einmal zehn Tage gebraucht, um wieder in allen Variationen ficken zu können. Isa war einfach zu zart und wirklich kein Weib, das er schonungslos rannehmen konnte. 
Verträumt lehnte er sich zurück, schloss seine Augen und dachte an Ekaterina. Die Kleine war mit ihm im Web in Kontakt getreten, wo Max unter falschem Namen in einer internationalen Singlebörse registriert ist. Als ihm die Kleine das erste Bild schickte, wusste Max sofort, dass dieser entzückende Käfer von knapp 23 Jahren seinen Wünschen und Begierden absolut gerecht werden konnte.
Im Internet suchte die Russin nach einem reichen Mann aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz, der sie aus ihrem Land herausholen und für sie sorgen sollte. Sie wollte keinen russischen Mann mehr und beschwerte sich bei Max über die weit verbreitete Trunkenheit ihrer männlichen Landsleute, die ihre Frauen nur schlugen und schlecht behandelten. Ekaterina stammte aus Sanchursk, einer kleinen Stadt, die ca. 800 Kilometer nordöstlich von Moskau liegt. Ihr Wunsch war es, durch eine Heirat Russland endlich den Rücken kehren zu können. Dafür war sie bereit, ihren zukünftigen Mann zum glücklichsten Menschen der Welt zu machen.
Max überlegte nicht lange und schrieb zurück. Natürlich verheimlichte er Ekaterina, dass er bereits verheiratet und Familienvater war. Doch wenn sie einmal hier war, würde sie den Stand der Dinge noch früh genug erfahren. Und sollte sie seinen Wünschen doch nicht entsprechen, dann konnte er sie ja jederzeit wieder in ihr Kaff nach Russland zurückschicken.
Als Max die junge Frau dann vom Flughafen abholte, wusste er sofort, dass die Russin die Lücke in seinem Leben schließen würde. Ekaterina war typisch eines der vielen jungen russischen Mädchen, die dem Leben so viel Luxus wie nur möglich abgewinnen wollten. Ihre Gier nach einem sorgenfreien Leben und die vorgespielte Liebe und Demut ließen Max rasch erkennen, dass er endlich gefunden hatte, was er schon so viele Jahre gesucht hat. Eine Frau, die ihn emotional in keinster Weise berührte und nur für sein sexuelles Wohlbefinden da war.
In Grunde genommen war Max nicht der Frauenheld, für den er gehalten wurde.
Die ständige Abwechslung war nicht wirklich wichtig für ihn. Doch seine teilweise ziemlich abartigen Wünsche schreckten auf Dauer seine Gespielinnen ab, die ihm über kurz oder lang dann den Laufpass gaben. Seine Perversitäten waren der eigentliche Hauptgrund, warum er so oft auf Frischfleischsuche gehen musste. Im Laufe der Jahre waren diese ständigen Partnerinnenwechsel ziemlich anstrengend geworden. Die Anlaufzeiten dauerten Max ganz einfach viel zu lange, bis er endlich zu dem kam, was er wirklich wollte. Doch noch bevor es wirklich ans Eingemachte ging, endeten die meisten Intermezzi auch schon wieder, sodass seine Wünsche zumeist schon im Ansatz erstickt wurden.
Schon sehr früh hatte Max erkannt, dass er einen sehr ausgeprägten, sadistischen Zug in sich trug. Als Kind hatte er nur zu gerne Hunde, Katzen, Kaninchen und Vögel gequält oder mit Kröten Fußball gespielt. Manchmal hatten aber auch einige schwächere Schulkollegen dran glauben müssen. Doch schon damals war ihm der bittere Beigeschmack nicht erspart geblieben, dass das Quälen von Menschen meist Konsequenzen mit sich zog. Strafen, Revancheaktionen und Gehässigkeiten waren nicht ausgeblieben. Erst im Zuge seiner aufkeimenden Sexualität hatte Max erkannt, dass Sadismus sein Weg zum eigenen Lustgewinn war, ohne deswegen Konsequenzen erwarten zu müssen. Doch selbst stark masochistisch veranlagten Frauen waren seine Praktiken großteils zu heftig. Und die wenigen Schmerzensprinzessinnen, die auf derart extreme Praktiken abfuhren, waren sehr dünn gestreut und dann auch noch in sicheren festen Händen.
Als Max Isa kennen lernte, hatte er gewusst, dass er sich mit ihr in einem normalen sexuellen Rahmen bewegen musste, um sie nicht zu verlieren. Max liebte Isa wirklich und hatte deshalb auch versucht, seine Triebe zu unterdrücken. Doch die Glut in seinem Inneren hatte ständig weiter geschwelt, bis der Druck sie schließlich wieder zu groß wurde und seine Suche nach einer idealen Gespielin von Neuem begann. 
Als Ekaterina von Max erfahren hatte, dass er gebunden war und er sie nicht heiraten würde, brach für die junge Frau eine Welt zusammen. Umgehend wollte sie wieder abreisen, um Max damit unter Druck zu setzen. Doch Ekaterina hatte schnell erkannt, dass diese Strategie sowie die gleichzeitige Show eines mentalen Zusammenbruchs nicht wirklich die gewünschten Früchte trugen.
Die junge Russin war rasch zur Einsicht gelangt, dass Max sie ohne Weiteres wieder hätte ziehen lassen, worauf sie ihren Plan umgehend änderte. Ekaterina wollte ihm jetzt Zeit geben, damit er sich an sie gewöhnen konnte. Sie würde ihm sexuell jeden seiner Wünsche erfüllen, damit er schließlich einsehen musste, dass sie die einzig Richtige für ihn sei. Dann würde Max auf sie nicht mehr verzichten wollen und sie wäre am Ziel. Natürlich hatte Max diese Strategie schnell durchschaut, aber er hoffte doch, zumindest für einige Monate diesen kleinen Leckerbissen in seinem Sinne benutzen zu können.
Seine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im 8. Bezirk hatte Max nie aufgegeben und für Lisi aufgehoben. Auch seine Tochter sollte in ein paar Jahren eine sturmfreie Studentenbude haben, falls sie während ihrer Studienzeit nicht zu Hause wohnen wollte. Das hatte sich jetzt recht gut getroffen, denn so konnte er Ekaterina eine fix und fertig eingerichtete Wohnung in der Nähe der Innenstadt bieten. Bereits im Vorfeld hatte Max das Schlafzimmer in eine seinen Bedürfnissen angepasste Kammer umfunktioniert. Das Sortiment an verschiedensten Gerten, Peitschen und Paddeln war reichhaltig und gut sortiert. Überall hatte er Spiegel und Haken montiert. An den Wänden hingen neben dem Andreaskreuz verschiedene Handschellen, Stricke und Ketten, sodass seinem Spieltrieb fast keine Grenzen gesetzt waren. Aber auch Dildos, Plugs , Klammern und Nadeln in verschiedenen Größen und Ausfertigungen warteten nur darauf, verwendet zu werden. 
Als Ekaterina die Wohnung betrat, war sie zuerst aufs Angenehmste überrascht. Max hatte keine Kosten und Mühen gescheut, seine ehemals heruntergekommene Bude in ein behagliches Liebesnest zu verwandeln. Doch als Max der jungen Frau dann auch das „Schlafzimmer“ zeigte, war sie ehrlich entsetzt. Ekaterina hatte natürlich sofort gewusst, welchen Vorlieben Max frönte und was er hier mit ihr vorhatte. Jetzt erst war er mit der ganzen Wahrheit herausgerückt und stellte sie vor die Alternative: Entweder nahm sie seine sexuellen Perversitäten in Kauf, oder sie konnte gleich wieder die Heimreise antreten. Für den Fall ihrer Einwilligung könnte sie auf seine Kosten eine Ausbildung machen und ein gutes Leben führen. Bei einer Ablehnung hätte sie dann wieder gute Chancen, von einem betrunkenen russischen Mann geschlagen und gedemütigt zu werden. Das dann allerdings ohne angenehme Wohnung und ohne jede Zukunftsperspektive.
Ekaterina war intelligent genug, um zu erkennen, dass ihre Zukunft ohne Aussicht auf ein schönes und behagliches Leben nicht in einem verdreckten Provinznest Russlands lag. Noch am selben Tag hatte Max mit seiner kleinen Russin das neue Schlafzimmer eingeweiht. Anfangs hatte er sich noch bemüht, seine dunklen Triebe etwas unter Kontrolle zu halten. Erst wenn Ekaterina sich an ihn und seine Vorlieben einigermaßen gewöhnt haben würde, wollte er seinem unbefriedigten Drang nach ihrer völliger Erniedrigung und maximaler Schmerzzufügung freien Lauf lassen. 
Schon nach dem ersten Spielchen hatte er äußerst befriedigt festgestellt, dass Ekaterina in hohem Maß belastbar und ausbaufähig war.
Seither waren mehr als zwei Monate vergangen. Ekaterina hatte sich ungewöhnlich rasch eingewöhnt. Innerhalb kürzester Zeit fand sie sich in Wien zurecht und hatte auch rasch Freundinnen gefunden, die ebenfalls Russinnen waren. Max hatte ihr einen Ausbildungsplatz zur Hilfskrankenschwester verschafft, wo sie tagsüber beschäftigt war und auf keine dummen Gedanken kam. Nach und nach ließ Max immer mehr von seinen abwegigen sexuellen Gelüsten in ihre Liebesspiele einfließen. Er hatte jedoch nicht den Eindruck, dass Ekaterina seine Praktiken als abstoßend empfand. Im Gegenteil, je tiefer er mit ihr in seine Perversionen eintauchte und seine dunklen Seiten zum Vorschein kamen, umso lustvoller gebärdete sie sich. Seiner Aufmerksamkeit war es jedoch nicht entgangen, dass mit seiner immer stärkeren sexuellen Erfüllung auch ihre Ansprüche und materiellen Forderungen zunahmen. Obwohl er selbst diese Beziehung als eine Art Zweckgemeinschaft sah, befremdete es ihn doch, dass Ekaterinas Wünsche im selben Ausmaß stiegen wie sie zu seiner Lusterfüllung beitrug. Ihr wöchentliches Salär wurde rasch von 150 auf 300 Euro aufgestockt und auch ihre Ansprüche in punkto Bekleidung stiegen. Sie griff nun immer gezielter nach Designerjeans und Markenware, für die Max noch extra Bares hinblättern musste. Außerdem lehnte sie es immer öfter ab, mit ihm in netten, kleinen Lokalen zu essen, wo das Preis-Leistungs-Verhältnis noch passte. Immer mehr bevorzugte Ekaterina Gourmettempel, wo die Rechnung weit jenseits des Betrages lag, den Max ihr wöchentlich überwies. 
Doch Max wusste nur zu gut, dass alles im Leben seinen Preis hatte. Und diese sexuellen Höhenflüge, die ihm Ekaterina so überaus befriedigend bescherte, waren die paar Euros allemal wert. Schließlich musste er nun nicht mehr nächtelang die In-Lokale Wiens durchstöbern, um passenden Nachschub zu finden. Er konnte sich nun seine Zeit so einteilen, dass er Ekaterina zwei- bis dreimal in der Woche beglücken konnte. 

Obwohl Max seine Frau nach wie vor liebte und Lisi sein absoluter Augenstern war, versuchte er aber immer mehr Zeit für Ekaterina herauszuschlagen. Bei dem Gedanken an das nachmittägliche Schäferstündchen mit seiner jungen Geliebten spürte er erneut die Geilheit in sich wachsen. Bei der Erinnerung, dass sie vor ihm an Seilen gefesselt über dem Boden schwebte und er dieser vor Schmerz und Qualen laut schreienden Dirne mit der kurzen Reitgerte wundervoll blutunterlaufene Striemenmuster über ihren makellosen Rücken zog, wurde ihm die Ausbuchtung seine Anzughose zu klein.
Max sah auf seine Uhr und überlegte nur kurz. Sein Entschluss war gefasst. Er musste heute unbedingt noch einmal zu Ekaterina. Der Nachmittag mit ihr war ganz einfach zu superb gewesen. Dieses Intermezzo verlangte unbedingt nach einem Nachspiel. Er wollte sie heute Nacht nur noch ununterbrochen von hinten ficken und dabei ihren wunderschönen, mit Striemen übersäten Rücken betrachten, der ihn immer wieder neu inspirieren würde, noch tiefer und fester in sie hinein zu stoßen. 
Rasch dämpfte Max seine Zigarre aus und stellte sein leeres Glas auf den Tisch zurück. Dann schlich er leise zur Eingangstür hinaus. Es würde Isa sicherlich nicht auffallen, dass er für drei, vier Stunden nicht da war. Kurz vor dem Morgengrauen wollte er wieder zu Hause sein und sich dann vorsichtig in das Gästezimmer schleichen, wo er ohnehin schon die vierte Woche schlief. Isa grollte ihm noch immer, weil er sie angesteckt hatte. Bevor sie nicht absolut gesund war, durfte er nicht mehr ins eheliche Schlafzimmer zurück. Obwohl Max darüber anfänglich ziemlich empört war, fand er aber an einem eigenen Zimmer immer mehr Gefallen. Bereits zweimal hatte er sich nächtens aus dem Haus gestohlen, um seine Geilheit an Ekaterina zu stillen. Max trug sich nun sogar ernsthaft mit dem Gedanken, endgültig aus dem ehelichen Schlafzimmer auszuziehen und auf Dauer im Gästezimmer zu übernachten.

Kapitel 17

Obwohl Isabell völlig erschöpft war und die Müdigkeit tief in ihren Knochen saß, fand ihr Geist keine Ruhe. Zu aufwühlend waren ihre Gedanken, so dass an einen erholsamen Schlaf nicht zu denken war. Plötzlich war ihr, als ob die Eingangstür leise ins Schloss fiel. Kurze Zeit später hörte sie den Wagen ihres Mannes, der leise aus der Garageneinfahrt zur Straße hinunter rollte. Bereits zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen schlich sich Max nachts wie ein Dieb aus dem Haus. Erst wenn der Morgen dämmerte, kam er zurück nach Hause. Seinen Wagen parkte er dann etwas entfernt, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. 
Doch selbst wenn Isabell seine nächtliche Abwesenheit nicht aufgefallen wäre, ein einziger Blick in sein aufgedunsenes Gesicht beim Frühstückstisch hatte ihr genügt, um zu wissen, dass er nicht zu Hause gewesen war. Nach solchen Ausflügen waren seine ansonsten strahlend blauen Augen wässrig und völlig blutunterlaufen und seine erschöpften Gesichtszüge erinnerten sie dann an eine alte, runzelige Kartoffel aus dem Vorjahr. 

Der bittere Geschmack in ihrem Mund war daher nicht auf den ein wenig zu schweren Rotwein zurückzuführen, sondern spiegelte nur ihren unglücklichen Seelenzustand wider. Isabell stand auf und blickte dem unbeleuchteten Auto nach, bis es schließlich so leise wie möglich in die Straße einbog, die in die Stadt führte. Schweren Herzens ging sie in die Küche hinunter, um sauber zu machen. Sie räumte die Kristallgläser vom Esszimmertisch und sammelte die verwendeten Stoffservietten ein. Als Isabell Rainers gebrauchte Serviette in die Hand nahm, hielt sie inne. Intuitiv führte sie jene Stelle des Stoffes an ihre Lippen, wo sie den Abdruck seines Mundes vermutete. Im Stoff hing noch ganz leicht der Duft seines Aftershaves, das ihr sehr vertraut war. Gedankenverloren ließ sich Isabell auf seinem Stuhl nieder und sog sehnsuchtsvoll seinen zart-herben Duft in ihre Nase.
Der Groschen war zwei Wochen zuvor gefallen, als Rainer sie in die Oper begleitete. Wie so oft in den letzten Monaten musste er für Max einspringen, der das geile Amüsement mit seiner neuen Geliebten dem dramatischen Selbstmord der Madame Butterfly vorgezogen hatte. In der Pause holte Rainer zwei Gläser Sekt vom Buffet, während Isabell auf ihn wartete. Unbeabsichtigt belauschte sie zwei Freundinnen, die sich miteinander unterhielten: „Mmmh, schau dir mal diesen großen, blonden Feschak an, der dort beim Buffet wartet. Also den würde ich nicht von meiner Bettkante stoßen.“
„Von wegen“, erwiderte die andere süffisant. 
„Doch ich glaube kaum, dass wir alte Schachteln bei diesem Prachtstück Chancen hätten. Der Kerl weiß nur zu gut, wie sehr er auf Frauen wirkt. Solche Typen können sich die besten Leckerbissen aussuchen und halten sich neben ihren Frauen noch unzählige Gspusis.“ 
Wie aus heiterem Himmel fuhr ein unsichtbarer Blitz auf Isabell nieder. Durch das dreiste Geschwätz dieser alternden Schnepfen begann sie Rainer plötzlich in einem ganz anderen Licht zu sehen und ein Funke von Eifersucht glomm in ihr auf. Wie Schuppen viel es Isabell plötzlich von den Augen: der gute und geschlechtslose Freund der Familie war ein richtiger Homme, dem Frauen lüsterne und begehrliche Blicke zuwarfen. Wieso hatte sie bis jetzt nie erkannt, wie gut Rainer wirklich aussah und wie sehr er auf die holde Damenwelt wirkte? Rainer hatte seiner Attraktivität nie besondere Bedeutung beigemessen oder gar Kapital daraus zu schlagen versucht. Manchmal hatte Isabell sogar den Verdacht, dass er schwul war. Doch Max dementierte ihre Vermutung sofort. Niemand kannte Rainer schließlich besser als ihr Mann. Trotzdem sah man ihn niemals in Begleitung einer Frau oder dass er einmal eine Freundin erwähnt hätte, die ihm wichtig gewesen wäre.
Als ob man einen Schalter umgelegt hätte, so fühlte sich Isabell von nun an wie elektrisiert in seiner Nähe. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass Rainers Gefühle für sie intensiver waren und über jene der Freundschaft hinausgingen. Doch in all den vergangenen Jahren hatte er ihr nicht nur ein einziges Mal Avancen gemacht. Lediglich wenn sich Rainer unbeobachtet fühlte, fing Isabell manchmal einen seiner sehnsuchtsvollen Blicke auf. Doch ertappt und verlegen wandte er sich sofort ab.
Seufzend stand Isabell auf und warf die Servietten in den Schmutzwäschecontainer. Auf dem Rückweg ins Esszimmer blieb ihr Blick an den wunderschönen Rosen hängen, deren Blütenkelche sich unter dem Einfluss des Wassers und der Raumwärme leicht geöffnet hatten. Welch schöner Glücksmoment war es doch gewesen, als Rainer sie so unverhofft mit diesem prachtvollen Strauß überrascht hatte. 
Erst heute hatte sie zum ersten Mal den Mut aufgebracht und ihm zaghaft zu verstehen gegeben, dass sie in ihm nicht mehr nur den Freund sah, sondern auch den Mann, den sie begehrte. 
Rainers Blicke hatten sich schlagartig geändert. Ihnen fehlte nun dieser freundschaftlich wohlwollende Touch. Es waren genau jene sehnsuchtsvollen und leidenschaftlichen Blicke, die er vor Isabell nun nicht mehr verheimlichen musste. Mit aller Intensität und Offenheit blickte Rainer sie nun an, worauf ein schaurig-schönes Prickeln ihren Körper durchströmte.
Isabell hatte keine Ahnung, was nun weiter passieren würde. Doch nach sehr langer Zeit fühlte sie wieder, dass sie lebte und eine Frau war, die begehrt wurde.

Kapitel 18

Im Wissen, gleich getroffen und unter der Lawine begraben zu werden, rannte Ruak wieder den Berg hinauf. Rainer wusste, dass er sich in seinem Traum in die falsche Richtung bewegte, die wieder in sein Ende führte. So als ob er im dichten Nebel die Orientierung verloren hätte, versuchte er umzukehren und den Weg zurück zu finden. Rainer war verzweifelt. Er spürte den tödlichen Pfeil immer näher kommen und hörte bereits das Surren des tödlichen Geschosses. Doch plötzlich kam aus dem Nichts wieder diese weibliche Stimme seines letzten Traums, die ihm wie ein Nebelhorn den Weg durch die dichte weiße Wolke wies.
„Ruak, folge meiner Stimme!“
Immer wieder wiederholte sich der Satz und langsam begann sich Rainers Panik zu legen. Mit geschlossenen Augen folgte er vertrauensvoll dieser wundervollen ätherischen Stimme, die ihn schließlich aus dem Nebelfeld ins klare Licht führte.

Ruak stand nun auf der kleinen Anhöhe. Besorgt blickte er auf sein mit hohen Palisaden umgebenes Dorf hinunter. Die Siedlung bestand aus neun strohbedeckten Langhäusern, die strahlenförmig um den Dorfplatz herum angeordnet waren. Der Morgen brach um diese Jahreszeit erst spät an, sodass die Aktivitäten in der Siedlung noch auf sich warten ließen. Der schneidend kalte Nordwind brannte in seinem zerfurchten Gesicht und kündigte den nahenden Wetterumschwung an. Der Winter stand vor der Tür und würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Die Ernte war dieses Jahr gut ausgefallen. Die Kornspeicher waren randvoll mit Emmer, Einkorn, Dinkel und Spelzgerste. Diesen Winter würden weder Mensch noch Tier an Hunger sterben müssen. Doch heuer war nicht der Hunger das Problem, sondern eine furchtbare Erkältung, die in wenigen Tagen schon einige seiner Sippenmitglieder dahingerafft hatte. Mit Grauen erinnerte sich Ruak an eine ähnliche Situation vor knapp zwei Sommern. Eine schreckliche Epidemie hatte im Dorf gewütet, sodass jede Familie einige Tote zu beklagen hatte. Besonders die Kinder, aber auch die Alten und Schwachen fielen dem heimtückischen Fieber rasch zum Opfer.
Ruak griff in seinen Ziegenlederbeutel und zog ein Stück Birkenpech heraus. Er brach es in der Mitte auseinander und steckte die eine Hälfte davon in den Mund, während er die andere wieder in seinem Beutel verstaute. Möglichst gleichmäßig begann er nun auf der bitteren und klebrigen Masse zu kauen. Seine heftigen Zahnschmerzen raubten ihm noch einmal den Verstand. Doch die betäubende Wirkung des Pechs würde den dumpfen Schmerz bald lindern. Ruak musste jetzt einen klaren Kopf bewahren, um sich auf die anstehenden Probleme konzentrieren zu können. 
Die letzten Tage waren ungewöhnlich mild gewesen. Diese sicherlich nicht so schnell wiederkehrende Gelegenheit musste Ruak unbedingt nutzen, um noch schnell seine rasch geschmolzenen Vorräte an Heilkräutern aufzustocken. Die vielen Kranken hatten seine Bestände bereits so stark dezimiert, dass ihm nichts anderes übrigblieb als noch einmal nach den letzten, nur noch spärlich vorhandenen Heilsubstanzen zu suchen. Seit gestern morgen war er unterwegs, um nach Kieferrinden, Kampfer, Bartflechten, Birkenporlingen, Eibischwurzeln und Weidenrinden zu suchen. Jetzt war seine Kraxe fast voll mit verschiedensten Wurzeln, Blättern, Pilzen und Rinden, die hoffentlich bald zur ersehnten Linderung und schließlich Gesundung in seiner Sippe beitragen sollten. 
Langsam setzte die Wirkung des Birkenpechs ein. Der pochende Schmerz in seinem Oberkiefer begann nachzulassen. Doch Ruak wollte noch etwas warten, bis seine Zahnschmerzen halbwegs erträglich wurden. Er ließ sich auf einem mit Moosflechten überzogenen Stein nieder und betrachtete das Dorf, in dem er nun schon seit mehr als 46 Sommersonnwenden lebte. Ruak war oft auf sehr langen Reisen gewesen, die ihn über die Berge nach Süden und einmal sogar über das große Wasser geführt hatten. Durch seineTouren in verschiedenste Gegenden hatte er ein ungeheuer großes Wissen erworben. Ruak kannte einen großen Teil seiner damaligen Welt und er wusste deshalb viel mehr als alle anderen aus seiner Sippe. Solange es seinen Stammesangehörigen gut ging, achteten und ehrten sie ihn. Doch jetzt wurde die Seuche auf sein Versagen zurückgeführt. Zwar brachten sie ihm immer noch Achtung und Wertschätzung entgegen, doch die Skepsis ihm gegenüber nahm von Tag zu Tag zu. Ruak war ihr Schamane und auch der Älteste des Dorfes. Sein Wissen und seine Kontakte zu den benachbarten Stämmen taten ihr Übriges, um ihn zum unangefochtenen Anführer seiner Sippe zu machen. Manchmal konnte es Ruak selbst nicht fassen, dass er schon so alt war. Viele seiner Söhne und Töchter, aber auch Enkelkinder und Urenkel hatte er schon überlebt. Er zählte sich aber noch lange nicht zu den nutzlosen Greisen, die bald das Zeitliche segnen würden. Ruak war stark und nutzte sein Wissen. Obwohl die meisten seiner Zähne bereits ausgefallen waren und ihn seine Bandscheiben ziemlich quälten, sein Haar bereits schlohweiß war und seine Haut getrocknetem Hirschleder glich, war er geistig und auch körperlich immer noch in einer unglaublich guten Verfassung. Sein immenses Wissen über Heilkräuter und sein spiritueller Kontakt zu den Geistern und den Ahnen verliehen ihm zusätzlich noch großes Ansehen und Bewunderung. Dieses große Vertrauen seiner Sippe konnte aber auch eine ziemliche Belastung sein, so wie das gerade jetzt der Fall war. 
In jeder Familie gab es mindestens drei bis vier Kranke mit steigender Tendenz. Zuerst traten Müdigkeit und Gelenksschmerzen auf, dann wurden die Atemwege durch einem harten Husten stark in Mitleidenschaft gezogen, bis schließlich das hohe Fieber den Schwächeren innerhalb von wenigen Tagen den Rest gab. 
Dieselbe Seuche hatte die Siedlung zur Schneeschmelze vor kaum acht Vollmonden heimgesucht. Damals hatten die immer wärmer werdenden Sonnenstrahlen den Kranken aber viel Linderung. Außerdem war sein Tisch mit vielen frischen Heilkräutern reich gedeckt gewesen. Durch diese positiven Gegebenheiten hatte die Seuche sein Dorf nur halb so schwer getroffen. Damals war es bereits so warm gewesen, dass sie die Kranken während des Tages im Freien lagern konnten, was auch die Ansteckung reduzierte. Die warme und würzige Luft hatte geholfen, die Körperabwehr der Kranken deutlich zu aktivieren und zu einem rascheren Gesundungsprozess beizutragen. 
Doch mit Kälte und Schnee stand nun die schwerste und gefährlichste Zeit des Jahres unmittelbar bevor. Der Frost würde unbarmherzig durch die Ritzen des lehmverputzten Rutenflechtwerks der Häuser dringen, sodass sich der ohnehin kalte festgetretene Erdboden noch unangenehmer anfühlen würde. Die Luft stand bereits jetzt staubig und verbraucht in den Häusern. Der vordere Bereich des riesigen Raumes war den Menschen als Wohnbereich vorbehalten. Im hinteren Teil des Hauses mussten die Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe und Hühner die kalte Jahreszeit über ausharren, was aber nicht unbedingt zur Gesundung der Kranken beitrug. Die Gefahr, die Tiere zu verlieren, war aber zu groß, wenn sie den Winter über in den Pferchen verbringen mussten. Nicht nur die Kälte war das Problem, sondern auch Bären und Wölfe, die der Hunger in die Nähe der Siedlungen trieb. 
Die Feuerstellen waren jetzt Tag und Nacht in Betrieb und dichte Rauchschwaden hingen wie eine dichte Nebelwolke über der Siedlung. Bis auf die Jäger hielten sich jetzt die Familienmitglieder fast ausschließlich im Haus auf und mussten auf engstem Raum zusammenleben. Durch diesen Umstand stieg die Ansteckungsgefahr natürlich beträchtlich. Ruak befürchtete, dass bis zum Frühjahr mindestens ein Drittel seiner Leute der Epidemie zum Opfer fallen würden. 
Schweren Herzens stand er auf, schulterte seine Kraxe und ging den schmalen, Tampelpfad ins Dorf hinunter. Es war noch früh am Morgen und die meisten Menschen schliefen noch. Ruak hoffte, dass während seiner Abwesenheit in seiner Familie nicht noch ein weiterer Krankheitsfall aufgetreten war. In tiefer Sorge öffnete er die niedrige Tür. Das Lagerfeuer im vorderen Bereich des Hauses und die zwei Kienspanfackeln an den Wänden spendeten in dem fensterlosen Raum nur wenig Licht. Im Haus war es kaum wärmer als im Freien. Doch die Wände würden zumindest Schutz vor dem kalten Nordwind bieten, der bald um die Häuser pfeifen würde. 
Die Frau seines verstorbenen Sohnes saß beim Feuer. Gedankenverloren rührte sie für das Frühstück mit einem riesigen Holzlöffel den brodelnden Gerstenbrei in dem bauchigen Tontopf. Plötzlich begannen Elias Augen zu leuchten, als sie den großen Mann erblickte, der gebückt durch die geöffnete Tür trat. Trotz des diffusen Lichts erkannte sie sofort ihren Schwiegervater. Aber auch Ruak machte kein Hehl daraus, wie glücklich er war, sie zu sehen. Ihr rotes Haar glänzte im Feuerschein wie Kupfer in der hellen Morgensonne und bildete einen wunderbaren Kontrast zu ihren tiefgrünen Augen und ihrer blassen Haut, die mit unzähligen Sommersprossen übersäht war. Über ihrer Tunika aus hellem Rehleder trug sie eine Jacke aus Biberfell, die Ruak letztes Jahr für sie genäht hatte. Immer dann, wenn er weg war, zog sie diese an. Elia hatte dann das Gefühl, ihm nahe zu sein, selbst wenn er viele Tagesmärsche weg weilte. Sofort war sie aufgesprungen und lief ihm freudestrahlend entgegen. Im Gegensatz zu seinem großen Wuchs wirkte Elia unglaublich klein und zart. Ruak beugte sich zu ihr hinunter und umfasste mit seinen riesigen Pranken ihre schmale Taille. Wie eine Feder hob er sie hoch, bis ihre Augenpaare auf gleicher Höhe waren. Wenn Elia ihn mit diesem liebenden Blick ansah, war es Ruak, als ob die warme Sonne seiner Jugend nochmals in ihm aufging. In solch wunderbaren Momenten konnte er es kaum fassen, dass ihm in seinem hohen Alter nochmals so ein unerwartet berauschendes Glück widerfahren war. Ruak hatte seine beiden bereits verstorbenen Frauen auch geliebt. Doch diese tiefe Liebe, die ihn mit Elia verband, war so unglaublich schön, so absolut erfüllend und bereichernd, dass Ruak in Sphären schwebte, aus denen er niemals mehr zurückkehren wollte.

Elia war die Frau seines Sohnes Iguz gewesen. Vor vier Jahren war Iguz ins Nachbardorf gegangen, um Tauschhandel mit Feuerklingen, Tongefäßen und Fellen zu betreiben. Dort hatte er die damals 15-jährige Elia kennen gelernt. Die beiden hatten sich sofort ineinander verliebt. Wie in solchen Fällen üblich, hatte Ruak kurz danach die Nachbarn besucht und eine junge Frau aus seinem Dorf zum Tausch angeboten. Damals war diese Vorgangsweise unter benachbarten Siedlungen durchaus üblich, um dorfübergreifende Verbindungen zu stärken und für die notwendige Blutauffrischung zu sorgen. Bald darauf hatte Iguz Elia als seine Frau mit ins Dorf nehmen können. Doch das Glück hatte nicht lange gewährt, denn Iguz war von einem seiner Jagdgänge nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Das Schicksal seines Sohnes hatte sich erfüllt und seine Frau und seine kleine Tochter waren alleine zurückgeblieben. Elia ging nicht in ihr Dorf zurück, sondern war in Ruaks Sippe geblieben. Bald verband die beiden weit mehr als nur die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen und die Freude an dem kleinen, entzückenden Mädchen. Zuerst wehrte sich Ruak gegen seine Gefühle. Schließlich war er fast dreimal so alt wie Elia und er musste jeden Tag mit seinem Tod rechnen. Andererseits war er aber das Oberhaupt seiner Familie und eine Frau stand ihm zu.
Elia ignorierte seine Bedenken. Ohne sich über die Zukunft Gedanken zu machen, setzte sie ihre Reize ein, um diesen Mann für sich zu gewinnen. Obwohl Ruak alt war, so war seine Männlichkeit noch ungebrochen. Elia war wie ein Jungbrunnen für ihn, da sie seine Sexualität nun wieder in einem Ausmaß zu wecken verstand, wie er es nicht erwartet hätte. Er begehrte sie weit mehr als seine beiden verstorbenen Frauen zusammen. Ruak fühlte sich durch dieses wundervolle Wesen angezogen wie eine Motte vom Licht. Aber auch Elia liebte ihn so sehr, dass sie keinem anderen Mann mehr Beachtung schenkte. 
Diese besondere Nahebeziehung war Maruk ein Dorn im Auge. Vor einem Jahr hatte er seine Frau bei der Geburt des dritten Kindes verloren. Seine Trauer hatte sich jedoch in Grenzen gehalten, denn seit jenem Tag, als Iguz Elia als Frau mit ins Dorf genommen hatte, begehrte er sie. Maruks Frau war noch kaum begraben gewesen, als er bereits um Elia zu werben begann. Doch Elia hatte Maruk abblitzen lassen und damit nicht hinterm Berg gehalten, dass ihr Herz bereits Ruak gehörte.. 

Maruk war in seinem Stolz zutiefst verletzt gewesen. Er konnte es nicht akzeptieren, dass er als einer der geachtetsten Mitglieder des Dorfrates zugunsten eines Greises zurückgewiesen worden war. Aber nicht nur diese kränkende Zurückweisung machte ihm zu schaffen, sondern auch die Tatsache, dass er eigentlich schon lange das Stammesoberhaupt des Dorfes hätte sein müssen. Seit Jahren wartete Maruk nun schon darauf, dass Ruak endlich sterben und er seine Stelle einnehmen konnte. In der Zwischenzeit war er selbst schon 27 Jahre alt geworden. Seine beste Zeit würde bald vorüber sein und ein Jüngerer würde Anspruch auf Ruaks Nachfolge erheben. Doch wie es aussah, hatte die Liebe zu der jungen Frau den Stammesführer neu erblühen lassen, sodass sein Ziel in noch weitere Ferne gerückt war. Eifersucht, Hass und Machtgier hatten sich immer tiefer in Maruks Seele eingebrannt.
Der verheerende Verlauf der Seuche schien Maruk ein Wink der Götter zu sein, die seine Meinung bestätigten: Es war an der Zeit, dass sich Ruak zu seinen Ahnen begeben sollte. Maruk hatte sich immer um die Dorfgemeinschaft gekümmert und war ihr Führer gewesen, wenn Ruak fern war. Ruak hingegen hatte sich mit den Menschen und ihren Problemen im Laufe der Jahre immer weniger zu identifizieren gewusst, denn seine Welt begann dort, wo sie für seine Stammesgenossen endete. 
Maruk hatte seit dem letzten Sommer mehrere Gleichgesinnte um sich geschart, die mit ihm zusammen auf eine günstige Gelegenheit warteten, dieses Problem ein für alle Mal zu lösen. Maruk hatte es endgültig satt, immer in die zweite Reihe gedrängt zu werden, wenn dieser alte Geisterbeschwörer nach Hause kam. Mit Ruaks Tod würde er aber auch endlich an die junge Frau herankommen, die unter anderem das notwendige Statussymbol seiner unangefochtenen Führungsposition sein würde. 

Schneller als gewollt wurde Ruak von der Realität eingeholt. Der glückliche und liebende Blick Elias wandelte sich rasch in einen angstvollen und ließ auf keine guten Neuigkeiten hoffen. 
„Nelis ist seit gestern Abend auch krank“, sagte Elia mit banger Stimme.
Rasch stellte Ruak sie wieder auf ihre eigenen Beine. Der Ernst der Lage ließ ihn sofort in sein nüchternes Denken zurückfallen. Ruak eilte zu seiner Enkeltochter und kniete neben ihr nieder. Die Kleine war ein schmächtiges Mädchen mit dunklen Locken und den gleichen leuchtend grünen Augen wie die ihrer Mutter. Doch vielleicht gerade deshalb, weil sie so zart war und ihrer Mutter so sehr ähnelte, liebte Ruak sie unter seinen Enkelkindern am meisten. Nelis schlief unter einem dichten Bärenfell, so dass nur ihr kleiner Lockenkopf unter dem Pelz hervorlugte. Vom Fieber schon derart mitgenommen, spürte sie nicht einmal mehr die kühle Hand ihres Großvaters auf ihrer heißen Stirn. 
Beunruhigt ließ Ruak den Blick über die knapp 30 schlafenden Menschen seiner Familie gleiten. 
„Hat es sonst noch jemanden erwischt?“, fragte Ruak besorgt. 
„Nein, außer Nelis, Aja und Ufar ist noch niemand krank.“ 
„Wir müssen die drei Kranken unbedingt hier hinaus schaffen. Die Luft hier drinnen ist so schlecht, dass den Kranken das Atmen schwerfällt. Außerdem ist die Gefahr zu groß, dass sie hier die anderen anstecken.“
Hinter dem Langhaus hatte Ruak eine kleine Hütte angebaut, in die er sich immer dann zurückzog, wenn er mit seinen Kräutern experimentierte oder neue Heilsubstanzen herstellte. Die Hütte war groß genug, um seiner ältesten Tochter Aja, seinem drittältesten Sohn Ufak und Nelis genug Platz um die Feuerstelle zu bieten. Ruak bettete Nelis vorsichtig zwischen die beiden Erwachsenen, damit das Kind möglichst gut vor der Kälte geschützt war. Hier waren die Kranken sicherlich wesentlich besser aufgehoben als in dem dunklen und stickigen Langhaus. Die Luft war hier viel reiner, die Hütte war wärmer und die Kranken wurden durch niemanden unnötig gestört. Durch die Ritzen der Schilftür entstand ein leichter Luftzug, der den Rauch des Feuers durch das Loch im Schilfdach abziehen ließ.
Den ganzen Vormittag war Ruak von einem Haus zum anderen unterwegs, um den Kranken zu helfen. Wie er bereits befürchtet hatte, war die Zahl der Infektionen weiter gestiegen. Ruak verteilte die mitgebrachten Kräuter unter den Familien und erklärte ihnen deren Handhabung und Zubereitung. 
Erst gegen Mittag kehrte er wieder in sein Kräuterhäuschen zurück. Der Sud aus Kampfer, Kiefernrinde, Eibischwurzeln und getrocknetem Spitzwegerich schien bei Aja und Ufar zu helfen, denn das Fieber hatte im Laufe des Tages nicht mehr weiter zugenommen. Auch ihr trockener und harter Husten schien etwas nachgelassen zu haben. Doch Nelis‘ Zustand war besorgnisserregend. Sie lag völlig lethargisch in den Armen ihrer verängstigten Mutter, die dem Kind immer wieder ein Stück nasses Leder auf die Stirn legte, um sie zu kühlen. Auf den ersten Blick musste Ruak erkennen, dass sich der Zustand seiner Enkeltochter weiter verschlechtert hatte. Wenn das Fieber nicht bald zurückginge, würde das ohnehin schon ziemlich geschwächte Kind keinerlei Abwehrkräfte mehr besitzen und den Kampf um sein Leben verlieren.
Angestrengt überlegte Ruak nun, wie er dieses teuflische Fieber der Kleinen in den Griff bekommen konnte. Auch die kalten Melissenwickel um ihre kleinen Füßchen hatten nichts an ihrem Zustand geändert. Nelis war kaum noch bei Bewusstsein. Nur der trockene Husten schüttelte ihren schwachen Körper. Schon seit mehr als einem Tag hatte sie nichts mehr gegessen. Elia versuchte, ihrer Tochter wenigstens ein wenig Ziegenmilch mit Honig einzuflößen. Doch Nelis spuckte die Milch immer wieder aus.
Mit einem stummen Schrei der Verzweiflung blickte Elia ihrem Geliebten in die Augen. Ruak hatte ebensoviel Angst wie Elia, die Kleine zu verlieren. Das Einzige, was dem Kind vielleicht noch das Leben retten konnte, war brennender Bernstein. Als Heiler wusste Ruak über den krampflösenden Effekt auf die Atemwege und die fiebersenkende Wirkung des freigesetzten Harzrauchs Bescheid. Aber auch ein in Wasser eingelegter Bergkristall konnte helfen. Diese Kristalle waren die Tränen der Urmutter, die hoch oben in den Klüften der Berge ruhten. Die Energie des Kristalls würde ins Wasser übergehen und Nelis wieder neue Kräfte schenken. Aber Ruak wollte diesmal sogar noch einen Schritt weiter gehen. Wenn es ihm gelänge, Nelis ein Gemisch aus zerstoßenem Bergkristall und Wasser einzuflößen, würde die volle Energie des Steines und damit die Kraft der Urmutter direkt auf Nelis kleinen Körper übergehen. Sicherlich hätte sie dann wesentlich bessere Chancen zu überleben. 
Doch leider besaß Ruak derzeit weder Bernsteine noch Bergkristalle. Seine Bergkristalle hatte er im Sommer gegen das geschäftete Kupferbeil getauscht und seine Bernsteinbestände hatten sich aufgrund der letzten Seuche längst in Rauch aufgelöst. Die nächsten Bernsteinvorkommen lagen mindestens drei Tagesreisen weit entfernt. Also würde er selbst bei gutem Wetter sechs Tage brauchen, um wieder zurück zu sein. Doch dann käme jede Hilfe für Nelis sicherlich zu spät. Aber hoch oben in den Bergen kannte Ruak eine tiefe Kluft mit einer kleinen Höhle, die voller Bergkristalle war. Er hatte sie vor vielen Sommern zufällig auf der Jagd entdeckt. Die Felswand war aus einem fast weißen, harten Stein und die Ritzen waren mit dichtem Moos und Flechten bewachsen. Nach einem plötzlichen Witterungswechsel konnte sich Ruak damals in die kleine Höhle retten. Erschöpft hatte er sich an den Felsen gelehnt und mit der Hand in das kühlende Moos gegriffen. Nicht wie erwartet fühlte er harten Stein, sondern weiches Erdmaterial. Sofort hatte Ruak das untrügliche Empfinden, dass diese Höhle etwas Besonderes verbarg. Vorsichtig hob er das Moos ab und begann, mit seinen Händen im Lehm zu graben. Es dauerte nicht lange und seine Finger waren auf die ersten Kanten der Kristalle gestoßen. Nach und nach hatte er eine kleine Fläche der Höhle vom Lehm befreit. Wie Ruak richtig vermutete hatte, waren unter den Lehmschichten die Wände mit Bergkristallen übersät. Das Geheimnis dieser besonderen Höhle hatte er von nun an wie seinen Augapfel gehütet. 
Diese kleine Höhle war zwar nicht weit entfernt. Doch um diese Jahreszeit war es schon ziemlich riskant, so hoch in die Berge hinaufzusteigen und dann auch noch eine gefährliche Kletterpartie zu wagen. Ruak hatte zwar eine gute Ausrüstung, doch er würde sich trotzdem einer ziemlich großen Gefahr aussetzen. Doch welche Wahl hatte er um das Leben seines geliebten Enkelkindes zu retten?
„Ich werde heute noch in die Berge hinaufsteigen und aus der Höhle Bergkristalle holen. Wenn ich gleich aufbreche, dann schaffe ich es vielleicht bis morgen vor Sonnenuntergang, wieder hier zu sein“, informierte er Elia.
„Du kannst nicht mehr ins Hochgebirge hinaufsteigen. Sieh doch, jeden Augenblick kann das Wetter umschlagen. Die Gefahr dort oben zu erfrieren, ist viel zu groß“, versuchte Elia ihren Geliebten abzuhalten.
„Ich kann doch nicht hier sitzen und einfach abwarten, bis Nelis stirbt. Ich würde es mir nie verzeihen, nicht alles unternommen zu haben, um dein Kind und die Tochter meines Sohnes zu retten.“
„Aber was ist, wenn du dort oben umkommst? Dann habe ich euch beide verloren“, flüsterte Elia in ihrer Verzweiflung.
Zärtlich drückte er Elia mit ihrer Tochter an sich und küsste beide auf die Stirn.
„Ich verspreche dir, dass ich zurückkomme. Ich werde es nicht zulassen, euch schutzlos zurückzulassen,“ erwiderte er so überzeugend wie nur möglich und dachte dabei an Maruk, der nicht nur nach seiner gesellschaftlichen Stellung im Dorf gierte.
Ruak stand auf und griff nach seiner braun-weiß gefleckten Ziegenfelljacke, seiner Bärenfellmütze und seinem Umhang aus Pfeifengras.
„Aber du bist doch viel zu erschöpft für den Aufstieg. Du bist erst heute Morgen zurückgekehrt. Außerdem ist Maruk wieder da. Ich habe ihn von der Jagd zurückkommen sehen. Wenn er sieht, dass du dich aus dem Dorf entfernst, gibst du ihm eine Chance, dich zu töten,“ konterte Elia verzweifelt und versuchte ihn von seinem Entschluss abzubringen.

Ruak wusste selbst, wie gefährlich es für ihn war, sich jetzt aus dem Dorf zu entfernen. Das Wetter würde jeden Augenblick umschlagen und Maruk wartete nur auf solch eine Gelegenheit. Doch Ruak hatte keine Wahl. Wenn Nelis stirbt, würde auch ein Teil von ihm mit ihr gehen. Er musste es ganz einfach versuchen, es stand viel zu viel auf dem Spiel.
Schnell suchte Ruak seine Waffen zusammen, vergaß auch nicht auf seine Geisterpfeile, nahm seinen großen Beutel aus Ziegenleder für Kräuter, die er vielleicht auf dem Weg in die Berge noch finden würde, und seine geflochtene Kraxe aus Weidenzweigen. Elia hatte ihm schnell noch etwas Proviant zusammengepackt und in der Kraxe verstaut. Zum Abschied küsste er sie und seine Enkeltochter noch ein letztes Mal, bevor er sich vorsichtig aus dem Dorf stahl.
Ruak konnte nur hoffen, dass Maruk oder einer seiner Kumpane nicht gesehen hatten, wie er das Dorf verließ. Schon einmal wäre es ihnen fast gelungen, ihn zu töten. Ruak war auf der Jagd gewesen. Glücklicher Weise war er über einen Stein gestolpert und der Länge nach hingefallen. Der Pfeil hatte seinen Kopf nur um Haaresbreite verfehlt und war surrend im Holz einer Eibe stecken geblieben. Den flüchtenden Schützen hatte Ruak nicht genau erkennen können. Doch intuitiv hatte er gewusstt, dass es Maruk oder einer seiner Anhänger war. Von diesem Zeitpunkt an war Ruak auf der Hut gewesen und ging nur noch dann alleine aus dem Dorf, wenn er wusste, dass Maruk auf der Jagd war. Doch dieses Mal konnte er auf die Anwesenheit seiner Widersacher keine Rücksicht nehmen. Er hatte keine andere Wahl, die Zeit saß ihm im Nacken. 

Beim Aufstieg ins Gebirge musste Ruak diese letzte Gelegenheit nutzen, noch einige Kräuter und die jetzt noch immer häufig vorhandenen Birkenporlinge zu sammeln. Ruak versuchte, so wenig Lärm wie möglich zu verursachen und bewegte sich beinahe lautlos und in halbwegs sicherer Deckung vorwärts. Seine Gedanken begannen während des Aufstiegs wie so oft um seine Familie und um sein Dorf zu kreisen. Trotz aller Versuche Maruks, den Stammesführer anzuschwärzen, war sich aber Ruak noch immer der Mehrheit der Dorfgemeinschaft sicher. Doch es war nicht zu verleugnen, dass die Kluft zwischen ihm und den Menschen in der Siedlung aufgrund seiner Spiritualität immer größer wurde.
Für ihn als Wissenden, als Schamanen gab es eben noch viel mehr als nur Jagdglück und Vermehrung. Sein ruheloser Geist war auf der Suche nach absoluter Erkenntnis. Er erahnte den Sinn seines Lebens, doch es fehlten ihm noch immer die nötigen Zusammenhänge. Natur, Himmel, Tod und Leben bildeten eine Einheit und über allem lag der Wille Gaias. Sein ganzes Leben war er auf der Suche nach ihrem Willen gewesen, der alles durchdrang. Die vielen Meditationen hatten ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass er eine Aufgabe zu erfüllen hatte, die noch jenseits seiner Vorstellung lag. Ruak kannte den Lauf der Gestirne und er wusste über die immer wiederkehrenden Zusammenhänge in der Natur bestens Bescheid. Durch dieses besondere Wissen war er in der Lage, durch den Mondverlauf den richtigen Moment für Aussaat und Ernte zu bestimmen. Die Erde galt als weiblich, weil aus ihr immer wieder neues Leben entstand. Die Sonne hingegen schien auf die Welt der Jäger. Sie stand für den männlichen Teil seiner Welt. Dieses Wissen um den immer wiederkehrenden Ablauf von Tod und Wiedergeburt war der Beginn der bewussten Zeit. Ruak hatte dieses Wissen bisher für sich behalten, um seine Führungsposition in der Sippe nicht zu gefährden. Er wusste aber, dass er diese besonderen Kenntnisse weitergeben musste, bevor er sterben würde. Von diesem existenziellen Wissen hing das Überleben seiner Sippe ab. Doch bis jetzt war es ihm noch nicht gelungen, einen geeigneten Nachfolger zu finden, der menschlich und auch spirituell die nötigen Voraussetzungen in sich getragen hätte, um als nächster Stammesführer in seine Fußstapfen zu treten. Ruak war aber absolut davon überzeugt, dass Maruk die schlechtesten Voraussetzungen für dieses hohe Amt mitbringen würde. Mit ihm als Oberhaupt der Dorfgemeinschaft hätten die Menschen in seiner Siedlung keine allzu guten Überlebenschancen. 

Maruk und seine Spießgesellen schienen nichts von seinem Aufbruch bemerkt zu haben. Zur Sicherheit vergewisserte sich Ruak aber immer wieder, ob er vielleicht doch verfolgt wurde. 
Der Wind hatte sich gelegt und im Wald herrschte völlige Stille. Ruak schnitt gerade einen der Porlinge aus der Birkenrinde, als er ein verdächtig lautes Brechen eines dürren Astes hörte. Sofort waren all seine Sinne sensibilisiert und sein unruhiger Blick glitt über die blattlosen Bäume. Dieses Geräusch war viel zu laut und hart gewesen, als dass es von einem Tier des Waldes verursacht worden wäre. Intuitiv spürte Ruak die nahende Gefahr. Maruk und seinen Schergen musste sein Aufbruch also doch nicht entgangen sein und sie waren ihm in sicherer Entfernung gefolgt. Jetzt, wo sie sich unbeobachtet und sicher fühlten, würden sie wahrscheinlich bald einen hinterhältigen Angriff wagen. Rasch suchte Ruak seine Sachen zusammen. Doch er war nicht schnell genug. Im letzten Moment gelang es ihm noch, sein geschäftetes Beil vom modrigen Waldboden aufzuheben und der vorschnellenden Feuersteinklinge auszuweichen. Instinktiv versetzte Ruak dem ins Leere hechtenden Mann einen heftigen Tritt, sodass dieser strauchelte und in hohem Bogen den flachen Hang hinabstürzte. So rasch wie möglich flüchtete Ruak den schmalen Pfad hoch in die Berge. Er musste es unbedingt bis in das zerklüftete Gebirgsmassiv schaffen, wo sich die kleine, versteckte Höhle befand.
Doch die schlaflose Nacht und die anstrengenden Krankenbesuche im Dorf hatten ihn keinen Moment zur Ruhe kommen lassen und forderten nun ihren Tribut. Immer öfter musste er für einen Augenblick verweilen, um wieder zu Atem zu kommen. Wertvolle Zeit, die die anderen zu nutzen wussten, um den Abstand stetig zu verringern. Ruak musste bald erkennen, dass er seine Verfolger nicht abschütteln konnte.
Doch unter allen Umständen musste er den Rastplatz der alten Handelsroute erreichen. Dort würde er die nötige Rückendeckung finden, um sich seinen Gegnern zu stellen.
Ruak mobilisierte noch einmal seine letzten Kraftreserven und lief auf den erhöhten Rastplatz zu. Schnell warf er seine Kraxe an die Felsmauer des Platzes. In kampfbereiter Stellung erwartete Ruak mit Messer und Beil in der Hand seine Feinde. Alle vier Männer stammten aus seinem Dorf, wo er sie als ihr Häuptling von Kindern zu Männern heranwachsen gesehen hatte. Einst waren sie kleinlaut und demütig an ihm vorübergegangen. Doch jetzt war in ihren Blicken weder Hochachtung noch Respekt zu finden. Jetzt stand die pure Mordlust in ihren Gesichtern.
Ruak war sich durchaus bewusst, dass die drei Männer von Maruk manipuliert worden waren. Sie folgten ihrem Anführer blindlings, ohne Fragen zu stellen. Ruak schickte sich an zu verhandeln, um Zeit und Kraft zu gewinnen. Doch noch bevor ein einziges Wort über seine Lippen dringen konnte, preschte auch schon der Jüngste unter ihnen vor und versuchte, den Schamanen zu töten. Doch Ruak war erfahren und wendig genug, um dem eher plump geführten Dolchstoß gegen seine Brust auszuweichen. Der Junge war noch unerfahren und hatte seine eigene Deckung vernachlässigt. Aus der eigenen Drehbewegung heraus stieß er dem jungen Mann blitzschnell sein Messer in den Kehlkopf.
Für einen kurzen Moment herrschte betretenes Schweigen unter seinen Widersachern, die den Sterbenden verblüfft anstarrten. Doch als ob ein imaginärer Schlachtruf erklungen war, stürmten die Männer im selben Augenblick mit lautem Geschrei auf ihn zu. Es kam zu einem wilden und harten Kampf, in dem Ruak all sein kämpferisches Potenzial einsetzen musste, wenn er auch nur eine Chance zum Überleben haben wollte. Ruak kämpfte wie ein Wolf und gnadenlos, effizient und zielgerichtet übte er seine Angriffe aus.
Es ging ja nicht nur um sein eigenes Leben, sondern auch um das Leben von Nelis und das der vielen anderen Kranken im Dorf. Die Existenz von vielen Menschen und vielleicht sogar das Überleben seiner ganzen Sippe hingen an einem dünnen Spinnenfaden. Er kämpfte aber auch um sein Dorf, das er vor Maruks Willkür beschützen wollte. Doch vor allem kämpfte er um seine Liebe zu Elia, die sonst schutzlos diesem gefährlichen Mann ausgeliefert war.
Diese schrecklichen Gedanken schossen Ruak wie Kugelblitze durch den Kopf und verliehen ihm ungeheure Kraft, Konsequenz und Zielsicherheit. Es gelang ihm, einen nach dem anderen von Maruks Schergen zu töten. Und doch waren alle seine Anstrengungen in dem Moment umsonst gewesen, als ihn der tödliche Pfeil Maruks in den Rücken traf. Sterbend sah er noch einmal die strahlend blauen Augen seines Mörders vor sich. In seinem triumphierenden Blick erkannte Ruak, dass er alles verloren hatte…

Kapitel 19

Schweißgebadet und völlig erschöpft erwachte Rainer aus seinem aufwühlenden Traum. Er fühlte jetzt weder die furchtbare Angst, die ihm sein Tod beim ersten Male beschert hatte, noch die entsetzliche Hilflosigkeit, in der ihn dieser Traum beim zweiten Mal zurückgelassen hatte. Diesmal fühlte Rainer nur noch eine unendliche Leere in sich. Sein Herz war mit eintöniger Mattigkeit und unsäglicher Trauer erfüllt.

Es war noch sehr früh an diesem Morgen, als Rainer niedergeschlagen und ausgelaugt aus seinem Bett stieg. Seine Mattheit und die trostlosen Gedanken gerieten jedoch rasch in Vergessenheit, als ihm Isabell in den Sinn kam. Sein Herz begann erneut zu frohlocken und er fühlte sich plötzlich wieder frisch und in freudiger Erwartung wie ein verliebter Primaner. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren hatte ihm Isabell ganz sachte zu verstehen gegeben, dass sie in ihm doch ein wenig mehr als nur den „geschlechtslosen“ Freund sah. Die sehnsuchtsvollen Blicke, die sie ihm während des Abends immer wieder zugeworfen hatte, waren genau jene Blicke, die ein Männerherz höher schlagen lassen. Was war geschehen, dass Isabell nach so langer Zeit endlich erkannt hatte, wie sehr er sie liebte?
Still in sich hineinlächelnd ging Rainer in die Küche und drückte aus dem Kaffeeautomaten einen Espresso in die Tasse. Während der Zubereitung ließ er in seinen Gedanken den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren. Coleman war ein Mann nach seinem Geschmack. Seine stille, bedachte Umgangsart, sein ausgeglichener Charakter und die damit verbundene Bescheidenheit ließen ihn eher unauffällig, ja fast farblos erscheinen. 
Doch wenn man sein waches Augenspiel beobachtete und seine treffenden Aussagen und Meinungen verfolgte, kam man nicht umhin zu erkennen, welch hohes Potenzial an Intelligenz und Wissen in diesem Mann steckte. Rainer fühlte sich zu Coleman auf eine sehr freundschaftliche Weise hingezogen. Seit dem ersten Zusammentreffen mit dem Amerikaner spürte Rainer schon diese besondere Symbiose und eine erregende Erwartungshaltung in sich, die ihn belebte und inspirierte. Auf unerklärliche Weise fühlte er sich von dieser neuen Aufgabe angezogen, die ihnen Coleman eventuell bieten würde. Eine neue, ihm bis jetzt unbekannte Kraft durchströmte nun seinen Körper und Geist. Rainer stand auf der Schwelle zu einer neuen Herausforderung, die ihm weit mehr abverlangen würde als eine heruntergekommene Unternehmensberatungskanzlei wieder auf Vordermann zu bringen. Noch konnte Rainer nicht orten, was das Schicksal bereithalten würde. Doch eine innere Stimme sagte ihm, dass er an der Schwelle zu einem neuen Leben stand, das ihn aus seinem eigenen Schatten der Mittelmäßigkeit und Anpassung heraustreten lassen würde.

Kapitel 20

In der Hoffnung, dass der Kolporteur in der Opernpassage bereits seine Zelte aufgeschlagen hat, schlüpfte Rainer rasch in seine Jeans und zog sich einen alten Sweater über. Er hasste es, über das Web Zeitung zu lesen. Die großen und manchmal ziemlich unhandlichen Formate von Presse und Standard waren ihm wesentlich lieber und vertrauter als der sterile Bildschirm seines Laptops. In der Nacht hatte es geregnet und das nasse Laub klebte wie zugekleistert auf dem schmalen Asphaltweg, der durch den Resselpark führte. In den vergangenen Tagen hatten sich die Blätterkronen der Bäume nach und nach zu lichten begonnen. Die kahlen Äste und der beißende Nordwind kündigten bereits recht energisch den nahenden Winter an. Einsam und verwaist lag der kleine Park in der Wiener Innenstadt im nebelig-diffusen Licht eines feuchtkalten Morgens. Dieser Samstagmorgen hatte absolut nichts Einladendes an sich, sodass er nur wenige hartgesottene Frühaufsteher aus ihren warmen Betten lockte. 
Außer einigen aus der Opernpassage torkelnden und betrunkenen Junkies war niemand zu sehen. Grölend blieben die vier jungen Männer vor einer auf der Parkbank sitzenden Person stehen und rissen derbe Scherze. Plötzlich sah Rainer ein prall gefülltes, gelbes Einkaufssackerl durch die Luft fliegen. Ein alter Schuh und eine beige Mütze fielen dabei aus dem Sack und landeten auf dem nassen Gehweg. Einer der Jugendlichen warf den Schuh in hohem Bogen in das verzweigte Geäst eines Haselnussstrauches, während ein anderer mit aller Kraft auf die Mütze trat und diese total verschmutzte. Dann hob er sie auf und versuchte, die völlig verdreckte Haube dem ängstlich zusammengekauerten Wesen vor sich über den Kopf zu stülpen. Obwohl Rainer nicht erkennen konnte, wen diese vier Halbstarken attackierten, hatte er eine Vermutung, die ihn schnell zum Zentrum dieses bösen Treibens eilen ließ.
Dann sah er sie, wie sie sich gegen diese vier Rowdys verzweifelt zu wehren versuchte. Einem der Junkies war es schließlich gelungen, Angelina die schmutzige Haube über den Kopf zu ziehen. Während die alte Frau mit der einen Hand versuchte, sich so gut wie möglich gegen diese Übermacht zu wehren, verteidigte sie mit der anderen Hand verbissen ihre Katzenfutterdose, in der das Klimpern einiger Münzen zu hören war.
Plötzlich wurde einer der vier Junkies auf Rainer aufmerksam, der sich nun im Laufschritt der Gruppe näherte. Ein kurzes Warnsignal ließ die anderen drei für einen kurzen Moment innehalten und dann rasch davonlaufen. Doch bevor sie die Flucht ergriffen, riss einer der Burschen der Alten ihre Dose brutal aus der Hand und tauchte mit seinen Kumpanen in der Opernpassage unter.
Angelina bot jetzt noch einen weit armseligeren Anblick als das ohnehin schon der Fall war. Die schmutzige Haube war tief in ihr Gesicht gezogen, sodass ihre blinden Augen darunter völlig verschwunden waren. Mit ihrem schmutzigen Gesicht und dem zerzausten, weißen Haar weckte sie Rainers Mitleid noch mehr. Aufgeregt hechelnd versuchte sie noch immer, ihre imaginären Feinde abzuwehren. Rainer griff nach einer ihrer wild herumfuchtelnden Hände und drückte sie beruhigend. Bestürzt fühlte er die eisige Kälte, die von dieser knochigen alten Hand ausging. Sofort wurde die alte Frau ruhig und fragte erleichtert:
„Bist du es, Junge?“
Obwohl Angelina ihn nicht sehen konnte, nickte Rainer lächelnd und zog ihr die schmutzige Mütze vom Kopf.
„Ja, Angelina, ich bins, der Junge.“
Seufzend vor Erleichterung strich sie sich ihre wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Gott sei Dank bist du gekommen. Ich dachte schon, meine letzte Stunde hätte geschlagen.“
„Was um Gottes Willen machst du hier? Samstags um diese Zeit gibt es doch noch keine Leute, die du da anbetteln kannst?“
„Alte Leute können ganz einfach nicht mehr so lange schlafen. Ich dachte mir, bei den Temperaturen ist es egal, wo ich sitze. Hier oben ist zumindest eine bessere Luft als in den U-Bahnschächten. Und wenn ich Glück habe, kommt vielleicht doch jemand vorbei, der mir einen Euro in meine Büchse wirft. Doch jetzt haben mir diese Halunken auch noch die Dose mit meinem Geld gestohlen.“
„Wie es aussieht suchte dich heute nicht das Glück, sondern eher das Pech heim.“
Rainer suchte die Habseligkeiten der alten Frau zusammen und stopfte sie zurück in den halbleeren Einkaufssack. Dann setzte er sich neben die alte Zigeunerin auf die Bank und begann, mit seinem Taschentuch ihr schmutziges Gesicht zu säubern. 
Angelina hielt ganz still und sah ihn mit ihren blinden Augen direkt an.
„Warum tust du das?“ fragte Angelina erstaunt.
Rainer befeuchtete sein Taschentuch und versuchte, die letzten Schmutzspuren an ihrer Stirn zu beseitigen.
„Hmm, keine Ahnung. Aber es löst ganz einfach ein gutes Gefühl aus, wenn ich für dich etwas tun kann“, erwiderte Rainer, während er versuchte, so gut wie möglich ihr wirres Haar zu glätten.
„Du kommst jetzt zu mir nach Hause, nimmst ein heißes Bad und wärmst dich auf. Du bist total durchgefroren. Um diese Jahreszeit sitzt man nicht auf nassen, kalten Parkbänken und lässt sich von Halbstarken anpöbeln.“
Angelina lächelte ihn liebevoll an, sodass wieder ihr zahnloser, rot glänzender Oberkiefer zum Vorschein kam. Zutiefst dankbar drückte sie seine Hand.
„Du bist ein guter Junge. Doch ich werde nicht mit dir mitgehen. Dort gehöre ich nicht hin. Ich schlepp dir höchstens noch Läuse und Flöhe in die Wohnung und womöglich musst du dann noch den Kammerjäger holen.“
Verschmitzt lächelte sie ihn an, ehe sie fortfuhr:
„Aber in der Opernpassage gibt es einen Branntweiner, der um diese Zeit schon offen hat. Ein doppelter Slibowitz würde mich schneller wärmen als das heißeste Bad.“

Diese Kaschemme wäre Rainer nie aufgefallen. Das Lokal lag versteckt in einem Teil des U-Bahnbereiches, der ihm bisher völlig verborgen geblieben ist. In der fensterlosen Gaststube stand die Luft förmlich vor Zigarettenrauch. Das Publikum war jener sozialen Schicht zuzuordnen, deren Weg nach der Auszahlung der Sozialhilfe sofort zum Alkohol führte. Rainer überlegte ernsthaft, ob er hier überhaupt etwas konsumieren sollte. Doch als der glatzköpfige und stoppelbärtige Wirt mit seinem schmuddeligen Hemd und der schmutzigen Schürze um seinen dicken Bauch nach der Bestellung fragte, entschied er sich doch für einen kleinen Braunen, während er für Angelina einen doppelten Slibowitz bestellte.
Nachdem er das eher abstoßende Ambiente des Lokals halbwegs verdaut hatte, sagte er zu der alten Frau:
„Angelina, ich hatte wieder diesen Traum.“
Sofort wurde die alte Frau hellhörig und fragte interessiert:
„Damit hatte ich gerechnet. Und hast du meinen Rat befolgt?“ 
„Ja, ich hab mich diesmal nicht wieder ins Nichts abdrängen lassen, sondern bin standhaft dran geblieben und in der Geschichte zurückgegangen.“
Rainer begann, den heißen Kaffee in der nicht besonders sauberen Tasse mit dem Löffel zu rühren.
„Angelina, ich hab wieder diese Stimme gehört. Auch dieses Mal konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es deine Stimme war, die ich vernommen hatte. Sie war glockenhell, hatte aber nicht deinen schrecklichen Akzent.“
Amüsiert begann die alte Frau vor sich hin zu kichern, wobei ihr vorstehendes Hexenkinn leicht zitterte.
„Junge, lös dich von der irren Anschauung, dass ich etwas mit deinen Träumen zu tun habe. Doch jetzt bin ich da, sitz dir gegenüber und freu mich über meinen Slibowitz.“
Voller Freude hob sie das Glas und schüttete den billigen Fusel ihre Kehle hinunter. Genussvoll schmatzte sie und ließ sich den Nachgeschmack auf der Zunge zergehen.
„Geht sich noch ein zweiter aus?“, fragte sie Rainer unverfroren. Nachsichtig lächelnd bestellte er ihr noch einen Doppelten.
Dann begann Rainer, seinen Traum noch einmal in ungekürzter Fassung zu erzählen. Angelina hörte ihm schweigend zu. Als er mit seiner Geschichte fertig war, wartete Rainer neugierig auf eine Erklärung von der alten Bettlerin. Doch diese schüttelte nur unbeteiligt den Kopf.
Ein wenig enttäuscht fragte er sie:
„Und? Kannst du mir nun sagen, was ich mit diesem Traum anfangen soll und was er zu bedeuten hat?“
„Hmm, ich habe absolut keine Ahnung.“
Frustriert bohrte Rainer weiter:
„Aber mit diesem Traum muss es eine Bewandtnis haben. Ich spüre, dass da mehr dahinter steckt als nur bloße Sinnestäuschung.“
„Junge, du bist viel zu ungeduldig. Glaub mir, zur richtigen Zeit und am richtigen Ort wird sich dir die Bedeutung deines Traumes bestimmt offenbaren. Grüble jetzt nicht unnötig darüber nach. Die Dinge werden sich von selbst ergeben und dann wirst du verstehen“, erwiderte sie mit geheimnisvollem Lächeln. Die Antwort war nicht die, auf die Rainer gehofft hatte. Doch irgendwie ließ ihn ihr vernünftiger Ratschlag etwas ruhiger werden.
Rainer versuchte nun ein wenig mehr über Angelina zu erfahren. Doch die alte Frau wich seinen Fragen so geschickt aus, dass er schlussendlich nicht mehr von ihr wusste als vorher. Der dichte Rauch im Lokal begann immer mehr in seinem Hals zu kratzen und in seinen Augen zu brennen. Rainer hielt es in diesem stickigen und engen Gastraum nicht mehr aus.
„Wollen wir gehen?“, fragte er Angelina.
Doch allem Anschein nach fühlte sich die alte Frau trotz des üblen Gestanks und der verrauchten Luft ziemlich wohl.
„Wenn es dir nichts ausmacht, so würde ich gerne noch ein bisschen bleiben. Hier ist es schön warm. Deinen Kaffee könnte ich dann auch noch austrinken. Du hast doch sicherlich nichts dagegen, oder?“
„Natürlich nicht. Aber wieso weißt du, dass ich ihn nicht getrunken habe?“, fragte er zweifelnd und blickte sie mit Argusaugen an.
„Erstens würde ein Mann deines Kalibers nie freiwillig in solch einer miesen Kneipe etwas trinken. Und zweitens kann ich den Kaffee noch riechen, obwohl er schon kalt ist.“
Als Rainer das Lokal verließ, verspürte er wieder dieses untrügliche Gefühl, dass Angelina weit mehr war als sie ihm gegenüber vorgab zu sein. Obwohl die alte Frau den Prototyp einer Obdachlosen verkörperte, passte ihre hohe Intelligenz, die Wendigkeit ihrer Sprache und ihr ausgeprägtes empathisches Empfinden nicht mit dem eines Sandlers zusammen.
Obwohl Rainer nun überzeugt war, dass Angelina ihre Sehkraft verloren hatte, schien es ihm doch, dass sie durch den milchigen Schleier ihrer Augen weit mehr erkannte als viele sehende Menschen.

Kapitel 21

Die nächsten Tage verliefen ziemlich hektisch. Der Börsengang seines Maschinenbauers nahm viel von Rainers Zeit in Anspruch. Aber auch Coleman schien immer mehr an Wien als Standort interessiert zu sein. Fast täglich rief der Amerikaner an und zog neue und immer detailliertere Erkundigungen ein.
Überraschend lud Coleman Rainer zum Mittagessen in sein Hotel ein. Diese Einladung kam so kurzfristig, dass Max seine Termine nicht mehr rechtzeitig ändern konnte und Rainer alleine teilnehmen musste. Wie sich herausstellte, hatte es Coleman bewusst darauf angelegt, mit ihm alleine zu sprechen. Ohne sich lange mit unnützen Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten, informierte er Rainer, dass er alle Fakten geprüft habe und zur Einsicht gelangt war, dass Wien wirklich der beste Standort für seine Firma sein dürfte.
Rainer fiel der Stein der Erleichterung vom Herzen. Aber instinktiv fühlte er, dass Coleman noch etwas anderes am Herzen lag.

„Gibt es sonst noch irgendwelche Punkte, die wir besprechen sollten, Mr. Coleman?“
Coleman wusste nicht so recht, wie er beginnen sollte. Doch dann rückte er geradewegs mit seinen Bedenken heraus:
„Ja, da gibt es wirklich ein Problem, das mich ein wenig beunruhigt.“
Um der anstehenden Problematik mehr Nachdruck zu verleihen, legte Coleman sein Essbesteck zur Seite und fuhr in sachlich-ernstem Ton fort:
„Herr Barkhoff, Sie wirken auf mich als Geschäftsmann überlegt, vertrauenswürdig und verlässlich. Ich kann mir daher sehr gut vorstellen, dass sich mein Betrieb hier und mit Ihnen als Geschäftsführer zu einem sehr florierenden Unternehmen entwickeln könnte. Meine Bedenken richten sich nicht gegen Sie, sondern gegen Ihren Kompagnon Max Henning.“
„Da kann ich Sie voll und ganz beruhigen. Max ist ein absolut integerer Geschäftsmann, dem nichts mehr am Herzen liegt als Ihre „Mine-Dedecting“ in Österreich ansässig zu machen und zu einem gewinnbringenden Unternehmen auszubauen. Er war es auch, der das enorme Potenzial Ihres Produktes auf den ersten Blick erkannt hat und mich erst davon überzeugen musste“, versuchte Rainer Colemans Zweifel zu zerstreuen.
„Das mag schon sein. Doch dieses Unternehmen, das ich hier etablieren will, ist keine Süßwarenfabrik und auch kein kleiner Baustoffhandel. Mit meiner Technologie wird man sich in den höchsten Regierungs- und Geschäftsebenen befassen. Dieses absolut neue und sehr effiziente Verfahren wird nicht nur die politische Landschaft, sondern auch Grenzen verändern. Wir werden nicht nur die Minenindustrie und einige Regierungen als Gegner haben, auch Geheimdienste und diverse Splittergruppen terroristischer Vereinigungen werden ihr besonderes Augenmerk auf uns richten. Soziale Organisationen und betroffene Länder werden sich hilfesuchend an uns wenden, damit die „Mine-Dedecting“ dieser schrecklichen Geißel endlich ein Ende setzen wird. Aus diesen nicht von der Hand zu weisenden Gründen brauche ich an der Spitze meines Unternehmens absolut verlässliche, seriöse und überlegte Männer, die genau wissen, was sie tun und in problematischen Situationen einen kühlen Kopf bewahren können. Ich bin überzeugt, in Ihnen genau den richtigen Mann gefunden zu haben. Im Vergleich mit Ihnen erscheint mir Henning emotional aber doch ziemlich instabil. Ich frage mich, ob er dieser verantwortungsvollen Aufgabe auf Dauer gewachsen sein wird.“
„Mr. Coleman, Sie unterschätzen meinen Geschäftspartner. Henning ist ein absolut loyaler und verlässlicher Partner, der mit mir schon einige Höhen und Tiefen durchgestanden hat.“ 
„Ohne Sie beleidigen zu wollen Herr Barkhoff, dieser Betrieb wird keine kleine Unternehmensberatung sein. Dieser Job verlangt jedem Einzelnen von uns die volle Konzentration und absolut überlegtes Denken und Handeln ab. Nicht nur das geistige und intellektuelle Potenzial muss passen, auch das private Umfeld sollte stabil und in Ordnung sein.“
„Ich kann Ihnen nicht ganz folgen“, erwiderte Rainer vorsichtig, obwohl er bereits ahnte, was Coleman auf den Lippen lag.
„Am Freitag ist es meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass Henning seine Freizeit in ziemlich fragwürdiger Gesellschaft verbringt. Nach dem Verlassen Ihrer Kanzlei sah ich Ihren Partner in Begleitung einer sehr jungen und hübschen blonden Frau eng umschlungen die Kärntner Straße hinabspazieren. Meine erste Vermutung war richtig gewesen, dass es sich bei der Dame nicht um seine Gattin, sondern um seine Geliebte gehandelt hat. Als uns Henning dann am Abend abholte, machte er einen ziemlich erschöpften Eindruck, wenn Sie verstehen, was ich meine. Doch als er uns zu guter Letzt seine Frau vorstellte, die ganz anders aussah und wesentlich besser zu ihm passt als dieses junge, leicht ordinäre Mädchen, war mir völlig klar geworden, dass Henning recht unbekümmertes Zweitleben führt.“
Der Schock, dass Coleman über Max’ Hang zur halbseidenen Damenwelt Bescheid wusste, fuhr Rainer durch alle Glieder. Rasch suchte er nach einer Ausrede, die glaubwürdig genug war, um Colemans Vermutungen zu entschärfen.
„Ja, es stimmt, dass Max im Augenblick einige private Probleme hat. Der Mann ist schon eine halbe Ewigkeit verheiratet. Nach so vielen Ehejahren ist es ja nichts Ungewöhnliches mehr, wenn man von einer Ehekrise durchgerüttelt wird. Ausgerechnet zu diesem problematischen Zeitpunkt lief Max dieses junge Ding über den Weg und nutzte seine Angeschlagenheit. Natürlich weiß Max am besten, dass diese Frau absolut nicht zu ihm passt. Deshalb ist er gerade im Begriff, diese Liaison wieder zu lösen. Für Max ist seine Familie bestimmt das Wichtigste im Leben. Niemals würde er seine Ehe wegen einer anderen Frau aufs Spiel setzen“, log Rainer so überzeugend er nur konnte.
Colemans zweifelhafter Blick sprach Bände. Doch dann fragte er völlig überraschend: 
„Weiß Henning eigentlich, was Sie und seine Frau füreinander empfinden?“
Wie vom Blitz getroffen zuckte Rainer erneut zusammen. Für einen kurzen Augenblick war ihm, als ob man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte und er sich im tiefen Fall befand.
„Mr.Coleman, Sie irren sich. Zwischen mir und Isabell besteht nur ein rein platonisches Verhältnis. Max hat schließlich seine Frau durch mich kennengelernt“, versuchte sich Rainer stotternd zu rechtfertigen.
„Ich will nicht bestreiten, dass diese Art von Beziehung noch vor einigen Tagen, Wochen oder auch Monaten noch platonisch gewesen sein mag. Doch wenn diese sehnsuchtsvollen Blicke, die Sie einander zugeworfen haben, nur platonisch sind, dann führe ich mit meiner Frau auch eine rein platonische Ehe.“
Rainer war sprachlos. Er hatte keine Ahnung, dass seine und auch Isabells Gefühle füreinander so offensichtlich waren. Doch Coleman lächelte ihn beruhigend an und sagte:
„Herr Barkhoff, ich mache mir ja auch keine Sorgen um Sie. Sie scheinen mir umsichtig und einsichtig genug zu sein, um zu wissen, was Sie tun. Henning können Sie aber ausrichten, dass er sobald wie möglich sein Privatleben in den Griff bekommen sollte, wenn er weiter mit uns im Boot bleiben will. Ich brauche vertrauenswürdige und verlässliche Männer in meinem Unternehmen, die einen absolut einwandfreien Leumund haben. Sollte er das nicht bis dahin auf die Reihe bekommen haben, ist er raus.“

Kapitel 22

Nicht nur über Max’ Leichtsinnigkeit war Rainer aufgebracht, sondern auch über seine eigene Unachtsamkeit. Wie konnte er nur so ignorant sein und nicht darauf achten, dass man eventuell Schlüsse aus ihren sehnsuchtsvollen Blicken ziehen würde. In Zukunft musste er darauf achten, seine Gefühle besser unter Verschluss zu halten.
Nach dem Mittagstermin mit Coleman kehrte Rainer direkt in die Kanzlei zurück. Sofort ging er in Max’ Büro, der konzentriert in sein Diktafon sprach. Als Max ihn sah, unterbrach er sofort sein Diktat und blickte Rainer erwartungsvoll an. Rainer war noch immer ungeheuer über die Gedankenlosigkeit seines Freundes verärgert. Voller Wucht warf er die Tür ins Schloss und fuhr Max so heftig an, dass dieser erschrocken zurückfuhr:
„Du verdammtes Arschloch bist mit deinen billigen Huren am besten Weg, unsere Zukunft aufs Spiel zu setzen!“
Völlig verwirrt durch Rainers Anschuldigungen stand Max auf.
„Kannst du mir bitte sagen, wovon du sprichst?“
„Wovon ich spreche, willst du wissen? Von deinem kleinen russischen Flittchen natürlich, mit dem du am Freitag direkt nach dem Termin mit Coleman in der Kärntner Straße flanieren musstest. Er hat dich dabei beobachtet.“
„Und wenn schon, was geht das Coleman an? Will sich dieser bigotte Ami jetzt auch noch als Richter über Moral und Sitte aufspielen?“
Rainer wurde immer zorniger. Wutschnaubend stützte er sich am Schreibtisch ab und fuhr Max grimmig an:
„Sehr viel, du Vollidiot. Coleman will ganz einfach keine Männer in seiner Crew haben, die nicht integer sind. Seit er dich mit dieser Schlampe gesehen hat, zweifelt er an deiner Rechtschaffenheit und deinem Einschätzungsvermögen. Wenn du in diesem Geschäft mitmischen willst, dann solltest du schleunigst beginnen, dein Privatleben in Ordnung zu bringen. Es ist höchste Zeit, dass du aufhörst, dich mit zwielichtigen Weibern herumzutreiben!“
Rainers ungehemmter Zorn ließ ihn fast ausrasten. Er war drauf und dran, Max vorzuwerfen, wie ignorant und verantwortungslos er sich gegenüber Isabell verhielt. Doch im letzten Augenblick nahm sich Rainer zurück und schluckte seine Vorwürfe hinunter. Um Öl ins Feuer zu schütten, war jetzt der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Die Situation war ohnehin schon problematisch genug. Noch ein weiterer Streitpunkt hätte unter Umständen einen Flächenbrand ausgelöst, der sicherlich nicht ohne Nachwirkungen geblieben wäre.
Max ging von seinem Schreibtisch zum Fenster und blickte suchend auf den Gehsteig hinab. Er war mit Ekaterina zum Shoppen verabredet. Doch wie üblich verspätete sie sich. Letzten Freitag hatte er seine kleine Russin doch ein wenig zu hart hergenommen. Einige der Striemen auf ihrem Rücken würden diesmal ziemlich sicher Narben hinterlassen. Als kleine Wiedergutmachung wollte er daher seiner bezaubernden Gespielin ein paar kesse Klamotten kaufen, um sie wieder freundlich zu stimmen.
Mit zornigen Augen wandte sich Max wieder Rainer zu.
„Was glaubt dieser verdammte Amerikaner eigentlich, wer er ist? Spielt sich hier auf als Richter über Gut und Böse und versucht, mir seinen Willen aufzuzwingen. Mein Privatleben geht nur mich etwas an und sonst niemanden.“
„Das sieht Coleman aber ganz anders. Wenn die ‚Mine-Dedecting‘ auch nur zur Hälfte unseren Erwartungen entspricht, dann stehen wir im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Unsere Gegner werden keine Möglichkeit ungenutzt lassen, uns zu schaden. Ich glaube kaum, dass es für das Unternehmen dann von Vorteil sein wird, wenn du in der Presse als verruchter Hurenbock mit sündhaft jungen Mädchen abgebildet bist. Wenn uns die ‚Mine-Dedecting‘ auch allen einen ordentlichen Batzen Geld einbringen wird, so handelt es sich bei diesem Unternehmen in erster Linie um eine ethische Einrichtung. Ich gehe mit Coleman völlig konform, dass die Manager des Unternehmens ein absolut einwandfreies Format haben müssen. Wenn du also dabei bleiben willst, dann ist es höchste Zeit, dass du dich am Riemen reißt und diese Affäre beendest.“
Ohne noch eine Antwort abzuwarten, ging Rainer aus Max’ Büro. Selbst im Zwiespalt seiner Gefühle gefangen wusste er nicht, worin für ihn das kleinere Übel bestand.
Wenn Max wirklich wieder beginnen sollte, ein solides Leben als Ehemann und Familienvater zu führen, dann würde dieser unerwartet wundervolle Zauber zwischen Isabell und ihm sich schnell wieder im Nichts auflösen. Sein Verstand sagte ihm, dass diese Entscheidung nicht nur der einzig gangbare Weg für die Firma wäre, sie würde auch die Freundschaft zu Max erhalten. Doch sein Herz und seine Seele sprachen eine ganz andere Sprache. Isabell war die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte, liebte und, wie es aussah, auch immer lieben würde. Sollte der Rest seines Lebens dann wirklich nur durch Sehnsucht und unerfüllte Träume geprägt sein?

Nachdem Rainer sein Büro verlassen hatte, ließ sich Max wieder in seinen Sessel fallen. Für einige lange Minuten stierte er tief in seine Gedanken versunken ins Leere. Nur der Kugelschreiber, den er permanent zwischen seinen Fingern tanzen ließ, verriet, wie erregt er war. Schwer seufzend holte er schließlich sein Handy hervor und wählte Ekaterinas Nummer. 
„Hallo Schatz. Mit dem Einkaufsbummel wird es heute leider nichts. Kehr um und fahr in die Wohnung zurück. Ich werde am frühen Abend bei dir sein. Wir müssen reden.“
Max achtete nicht weiter auf Ekaterinas heftige Proteste und drückte auf die „Beenden“-Taste.

Am nächsten Morgen betrat Max das Büro und ging direkt in Rainers Zimmer. Mit steinerner Miene ging er zu seinem Schreibtisch und sah auf ihn hinunter. 
„Du kannst Coleman sagen, dass ich meine privaten Angelegenheiten geregelt habe. Er braucht sich also um das Image seines Unternehmens keine Sorgen mehr zu machen.“
„Soll das heißen, dass du deine Freundin abserviert hast?“
„Sozusagen. Sie wird kein Stein des Anstoßes mehr sein.“
Ohne jede weitere Erklärung drehte Max sich um und verließ den Raum.

Anstatt in sein eigenes Büro zu gehen, verließ Max wieder die Kanzlei. Er musste jetzt einfach alleine sein, wollte niemanden sehen und schon gar nicht mit jemanden sprechen.
In dem kleinen Café an der nächsten Straßenecke ließ sich Max an einem kleinen Tisch in einer der Fensternischen nieder. Deprimiert dachte er über das unangenehme Intermezzo des gestrigen Tages mit Rainer nach, das äußerst bedauerliche Auswirkungen für ihn hatte.
Nicht nur der Anpfiff seines Freundes bewegte ihn, sondern auch die bedauerliche Auseinandersetzung mit Isa, die ihn gänzlich aus dem Gleichgewicht geworfen hatte. Um seine Nerven ein wenig zu beruhigen, bestellte er schwarzen Tee mit einer doppelten Portion Rum. Den Rum kippte Max aber gleich im Vorhinein in einem Zug hinunter. Das scharfe Brennen auf nüchternem Magen beutelte ihn sekundenlang durch und der Alkohol stieg ihm zu Kopf. Bald darauf setzte die betäubende Wirkung ein und Max kam langsam wieder zur Ruhe. Das Chaos in seinen Gedanken begann sich sukzessive zu ordnen, sodass er langsam wieder eine Linie fand.
Gierig inhalierte Max den Rauch seiner Zigarette, ehe er ihn zügig durch seinen halb geöffneten Mund entweichen ließ. Etwas entspannter lehnte er sich auf dem durchgesessenen Plüschsofa zurück und schloss die Augen. Obwohl Max es sich anfänglich nicht eingestehen wollte, war ihm die Liaison mit Ekaterina in den letzten Wochen immer wichtiger geworden. Sie bedeutete ihm wesentlich mehr, als er sich wahrhaben wollte. Gestern hatte er zum ersten Mal das Gefühl gehabt, nicht mehr absolut Herr der Lage zu sein. Max fühlte, wie ihm langsam die Fäden zu entgleiten begannen, die er doch bis vor Kurzem so sicher und souverän in den Händen zu halten geglaubt hatte. 
Wie angeordnet hatte Ekaterina in der kleinen Wohnung auf ihn gewartet. Max hatte sich absichtlich etwas Zeit gelassen. Dieses Mal war er zu Fuß von der Inneren Stadt in den 8. Bezirk gegangen. Während dieser halben Stunde Marsch hatte er genug Zeit, sich zu sammeln und sich zu überlegen, wie er seiner Gespielin so behutsam wie möglich begreiflich machen konnte, dass ihre Affäre enden musste. Den halben Weg hatte Max aber hin- und herüberlegt, ob es nicht doch noch eine Möglichkeit gab, seine kleine Lustsklavin behalten zu können. Doch wie es Max auch versuchte zu drehen und zu wenden, auf Dauer würde er das Verhältnis mit seiner Geliebten nicht verheimlichen können. Seine feurige und temperamentvolle kleine Russin zählte sicherlich nicht zu dem Typ Frau, der sich diskret und verlässlich im Hintergrund hielt und auf alle seine Wünsche und Anordnungen einging. 
Es wäre absolut nicht Ekaterinas Ding, in der kleinen Wohnung auf ihren Lover zu warten und jederzeit abrufbereit zu sein. Gerade deshalb war sie ja nach Wien gekommen, um nicht mehr eingesperrt zu sein. Ekaterina wollte endlich die Freiheit und den Luxus eines sorgenlosen Lebens in vollen Zügen genießen.
Als Max sie schließlich vor die vollendeten Tatsachen gestellt hatte, reagierte sie unerwartet gelassen. Wortlos stand sie von der Couch auf und ging zu dem kleinen integrierten Bar des schon ein wenig aus der Mode gekommenen Wohnzimmerschrankes. Aus der halbvollen Wodkaflasche goss sie sich einen ordentlichen Schuss Schnaps in ein hohes Glas und trank es in einem Zug leer.
Max musste immer wieder darüber staunen, welche Unmengen Wodka diese kleine Frau vertragen konnte. Erneut hatte sie ihr Glas gefüllt und setzte sich damit wieder Max gegenüber, der auf der anderen Ledercouch saß. Mit ihren kalten Augen und mit absolut nüchterner Berechnung blickte sie Max einen langen Moment abschätzend an. Doch dann lächelte sie plötzlich durchtrieben. 
„O.k., dann werden sich wohl unsere Wege trennen müssen. Selbstverständlich werde ich die nächsten zwei, drei Monate weiter hier wohnen müssen, bis ich einen anderen finanziell potenten Lover gefunden habe.“
Max glaubte, sich zu verhören.
„Wie bitte?“ 
„Du hast mich schon richtig verstanden. Wenn du mich jetzt fallen lässt wie eine heiße Kartoffel, muss ich mich wohl oder übel nach einem anderen Mann umsehen. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich so einfach meine Siebensachen packe und wieder in das stinkende und primitive Kaff in Rußland zurückkehre, nur weil du keine Verwendung mehr für mich hast!“
Max fühlte sich so, als hätte man ihm mit einem Brett vor die Stirn geschlagen. Er hatte zwar nicht genau gewusst, was ihn erwartete, doch mit einer derart gefühlskalten, emotionslosen und berechnenden Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er hätte eher eine in Tränen aufgelöste Frau erwartet, die sich ihm an den Hals werfen und darum betteln würde, sie nicht zu verlassen. Stattdessen saß sie mit aufreizend übereinander geschlagenen Beinen da und blickte ihn mit kalter Herausforderung an.
„Warum schaust du mich jetzt so betroffen an? Du hast doch nicht ernsthaft angenommen, dass ich mit hängendem Kopf wieder nach Hause trotte, wo es absolut keine Zukunft für mich gibt, nur weil es dir jetzt so in den Kram passt. In jedem Fall werde ich hier in Wien meine Ausbildung zur Hilfskrankenschwester beenden. Dann habe ich nämlich wirklich gute Chancen, in einem der vielen Krankenhäuser einen sicheren und gut bezahlten Job zu bekommen. Nur weil ich in deinem Leben plötzlich keinen Platz mehr habe, werde ich sicherlich nicht auf meine Möglichkeiten verzichten. Schau mich doch an, ich bin jung und schön und weiß, was einem Mann gefällt. Meine Vorzüge wird bald ein anderer genießen und auch entsprechend zu würdigen wissen. Frauen meines Kalibers gibt es eher selten am Markt, wie du ja nur zu gut weißt. Wer so etwas Besonderes wie mich einfach wegwirft, der ist ein absoluter Volltrottel.“
Max wusste genau, dass sie mit jedem ihrer Worte Recht hatte. Ihren bohrenden Blick konnte er schließlich nicht mehr länger ertragen und wandte er sich von ihr ab. Verwirrt starrte Max aus dem Fenster auf die regennasse Straße hinunter, wo die Menschen nun mit aufgespannten Regenschirmen über die Gehsteige eilten, um so rasch wie möglich ins Trockene zu gelangen. 
„Ich dachte, ich sei ein wenig mehr für dich als nur Wirt und Freier“, erwiderte Max zerknirscht, ohne seinen Blick von der belebten Straße abzuwenden.
Mit einem triumphierenden Lächeln war Ekaterina aufgestanden und schlang ihre weichen Arme um seine Körpermitte. Ihr Kopf war an seinen Rücken gelehnt und zärtlich drückte sie seinen Körper an ihren. 
„Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe. Habe ich dir nicht jeden Tag bewiesen, was du mir bedeutest? War ich nicht immer für dich da, um deine besonderen Wünsche so zu erfüllen, wie du es dir immer erträumt hast? Trage ich nicht als Zeichen meiner tiefen Zuneigung und Hingabe unzählige Narben auf meinem Körper, die du mir zugefügt hast, um deine Lust an meinen Schmerzen zu stillen?“, fragte sie ihn mit weicher, aber leicht vorwurfsvoller Stimme.
Max erwiderte nichts. Zu sehr konzentrierte er sich mit geschlossenen Augen auf die erregende Berührung ihrer Hand, die unter sein Hemd geglitten war und seine nackte Brust zu streicheln begonnen hatte. Mit geübtem Griff öffnete Ekaterina mit der anderen Hand seinen Hosenbund. Suchend ließ sie ihre Finger in seine Boxershorts gleiten, bis sie ihn schließlich gefunden hatten. Zärtlich begann sie, seinen Penis zu stimulieren, sodass sein Schwanz von einer Sekunde auf die andere an Volumen zunahm. Entspannt warf Max seinen Kopf zurück und stöhnte wollüstig wie ein rauschiger Bulle. Rasch trat Ekaterina vor ihn und kniete sich zwischen seine Beine. Lasziv begann sie, seinen erigierten Penis mit ihren Lippen und ihrem Mund zu verwöhnen. Völlig hingerissen von ihrer Zungenfertigkeit öffnete Max seine Augen und betrachtete seine hinreißende Lustsklavin. Er liebte es so unsäglich, sich ihren überaus vielfältigen Verwöhnkünsten hinzugeben…

Durch diese äußerst anregende Erinnerung begann sich Max‘ kleiner Freund sofort wieder zu regen. Zum ersten Mal hatte Ekaterina die Initiative im Bett übernommen und Max hatte sie ungehemmt gewähren lassen. Im Normalfall völlig auf seine Rolle als Dom fixiert, hatte er nie auf ihr Können und ihre fantasievollen Spiele Rücksicht genommen. In den letzten Wochen hatte sich Ekaterina mit ihrer erotischen Erfahrung völlig auf Max eingestimmt. Sie hatte daher genau gewusst, wie sie ihn berühren musste, um seine Wollust anzustacheln und ihn wie einen brunftigen Hirsch bis zum Äußersten zu treiben. Noch nie in seinem Leben war Max dermaßen geil und hemmungslos gewesen. Kaum, dass er sich in ihr entladen hatte, begann sie ihn aufs Neue zu reizen, zu fordern und zu treiben. 
Mitternacht war längst vorüber, als Max völlig erschöpft wieder zu sich gekommen war. Er war fix und fertig gewesen. Nach diesem unglaublich lustvollen Liebesspiel hatte sich Ekaterina zu ihm hingedreht und seinen erschöpften Körper gestreichelt. Mit einem siegessicheren Lächeln blickte sie fragend in seine müden Augen.
„Auf all diese herrlichen und geilen Liebesspiele willst du wirklich verzichten?“, gurrte sie mit sinnlicher Stimme.
Max versuchte, ihren schönen und noch festen Körper zu betrachten. Der Schweiß brannte ihm dabei in den Augen und er brauchte einige Sekunden, um wieder einigermaßen scharf sehen zu können. Für einen langen Augenblick spürte er ihren erwartungsvollen und stumm bittenden Blick direkt auf sich gerichtet. Dem Schicksal ergeben seufzte Max schließlich laut auf und gab sich lächelnd geschlagen.
„Nein, du hast recht, ich kann und will ohne dich nicht sein. Du bereitest mir Freuden, die ich niemals erwartet und auch nicht gekannt habe. Ich will ganz einfach nicht auf dich verzichten. Du bist die ultimative Erotik für mich, mein absolutes Liebeselixier, das mich wieder jung werden lässt.“

Das waren genau die Worte, die Ekaterina hören wollte. Beruhigt schmiegte sie sich wieder in seine Arme. Doch so ganz zufrieden war Ekaterina noch nicht.
„Und wie soll es nun mit uns weitergehen?“, fragte sie vorsichtig. Ekaterina war sich nur zu gut bewusst, dass sie jetzt keinen Druck ausüben durfte. Ihr Wirt wäre dann sicherlich schneller verduftet als ein Furz im Wind. Geduldig wartete sie daher auf seine Antwort.
Max hatte jetzt aber absolut keinen Kopf, darüber nachzudenken. Doch dass er eine Lösung finden musste, wie er seine Beziehung zu Ekaterina, seine Geschäfte und seine Familie unter einen Hut bringen konnte, war ihm durchaus bewusst. Auf lange Sicht war es natürlich unmöglich, seine Affäre zu verheimlichen. Es gab nun einmal zu viele Neider und klatschsüchtige Weiber in seinem Umfeld, die dankbar jede Abweichung vom korrekten Weg zum Anlass nehmen würden, um sich über ihn das Maul zu zerreißen. Doch die Zeit sprach für ihn. Wenn die „Mine-Dedecting“ erst einmal in Wien etabliert sein würde und er als einer der Geschäftsführer eine gewichtige Führungsposition einnähme, dann hätte Max bereits so viel Hausmacht hinter sich, dass man ihn wegen einer läppischen Liebschaft nicht so einfach vor die Türe setzen konnte. Isabell war sicherlich das kleinere Problem. Sie würde sich eben damit abfinden müssen, dass ihr Mann eine Affäre hatte. So viele Freunde und Bekannte befanden sich in einer ähnlichen Situation. Man musste sich eben arrangieren. Mit ein wenig Einsicht und Nachsicht würde es sicherlich für alle Beteiligten eine akzeptable Lösung geben. Und wer weiß schon, was in einem Jahr sein würde Vielleicht würde er ja dieses geilen Luders schon vorher überdrüssig. Dann wäre das Problem ohnehin vom Tisch, ohne dass Staub aufgewirbelt werden würde.
„Du brauchst keine Angst haben. Ich werde einen Weg finden, damit wir, nein, damit du nicht zu kurz kommst“, beruhigte er sie und drückte ihren sinnlichen Körper zärtlich an seine Lenden…

In Isabells Schlafzimmer hatte noch Licht gebrannt, als er spät abends nach Hause kam. Max hatte inständig gehofft, dass sie bereits eingeschlafen wäre und nur vergessen hätte, die Nachttischlampe auszuschalten. Um sie nicht zu wecken, wollte er so leise wie möglich an ihrem Schlafzimmer vorbei schleichen. Max wünschte sich jetzt nur noch in sein Bett, wo er seine Gedanken und Erinnerungen an die leidenschaftlich schönen Stunden mit Ekaterina ins Reich seiner Träume mitnehmen wollte.
Als er schon fast sein Zimmer erreicht hatte, rief Isabell mit ungewohnter Schärfe nach ihm. Mit bedauerndem Seufzen wandte er sich um und blieb im Türrahmen ihres Schlafzimmers stehen.
„Hallo Isabell! Sorry, dass es heute wieder etwas später geworden ist. Doch du weißt ja, diese Minengeschichte lässt einen einfach nicht zur Ruhe kommen.“ 
„Hör endlich auf mich anzulügen! Hältst du mich wirklich für so dumm, dass ich nicht schon alleine an deinem aufgedunsenen Gesicht und deinen blutunterlaufenen Augen erkennen kann, dass du ganz sicher von keiner geschäftlichen Sitzung kommst?“, warf sie ihm wütend vor.
„Was soll das? Unterstellst du mir etwa, dass ich bei einer anderen Frau war?“ 
Aufgrund seines schlechten Gewissens reagierte Max viel zu hitzig, was ihn nur noch mehr entlarvte. 
Isabell ließ sich von seinen harschen Worten jedoch nicht einschüchtern und erwiderte schroff:
„Ja, genau das tue ich. Schau dich doch an, wie du aussiehst! Du bist total durchgevögelt und stinkst penetrant nach billigem Parfüm wie eine Fünfzigeuronutte von der Straße. Wenn du wirklich glaubst, nicht ohne deine russische Hure auskommen zu können, dann verschwinde endlich. Ich werde jedenfalls nicht mehr länger dulden, dass du mich mit deinem unmöglichen Verhalten verletzt, brüskierst und ansteckst.“
„Und wenn dem so wäre, was könntest du schon dagegen tun? Das Haus gehört mir und du bist finanziell völlig von mir abhängig. Du wirst doch nicht so naiv sein zu glauben, dass du mit deinem Bettel von Gehalt als kleine Lehrerin mit Lisi über die Runden kommen wirst.“
Isabell wusste nur zu gut, wie recht er hatte. Unmöglich würde sie dann die teure Privatschule für Lisi bezahlen, geschweige denn sich eine halbwegs menschenwürdige Wohnung leisten können. Isabell hatte es verabsäumt, im Laufe der Jahre Geld zur Seite zu legen, um für solche Eventualitäten gewappnet zu sein. Ein Scheidungsprozess würde sicherlich viele Monate dauern, die sie ohne Alimente und Unterhalt überstehen müsste. Isabell war überzeugt, dass sich Max nicht freiwillig scheiden lassen würde. Zu wichtig war ihm seine Tochter und sein Image als liebevoller Familienvater und integres Mitglied der Gesellschaft. Außerdem würde seine erzkatholische Familie niemals zulassen, dass er dort mit seinem Flittchen antanzte. 
Max’s nüchterne Feststellung verdeutlichte ihre aussichtslose Situation aber noch viel mehr. Voller Zorn sprang Isabell aus dem Bett und ging auf ihren erschöpften Mann zu. 
„Du bist ein richtiger Scheißkerl. Wie konnte ich nur so blöd sein und mich in so einen abscheulichen Kretin verlieben? Mir ekelt so sehr vor dir, dass mich deine Nähe fast kotzen lässt.“ erwiderte sie voller Abscheu spuckte ihm ins Gesicht. 
Zuerst war Max völlig verblüfft. Noch nie hatte sich Isabell so tief herabgelassen. Doch nachdem er sich halbwegs gefangen hatte, stieg ohnmächtiger Zorn in ihm hoch. Unerwartet brutal packte er Isabell an ihren nackten Oberarmen. Vor Schmerz schrie sie laut auf. Mit aller Kraft drückte Max sie an seinen noch nach Ekaterina riechenden Körper, sodass ihre Leiber ganz eng aneinander gepresst waren.
„So ist das also, dir ekelt vor mir. Aber vor dem Geld, das ich nach Hause bringe und mit dem du ein Leben in Saus und Braus führst, ekelt dir sichtlich nicht“, fauchte er in ihr schmerzverzerrtes Gesicht.
Max verstärkte seinen Griff noch und hob Isabell an ihren Armen fast hoch, während er sie zum Bett schleifte und wütend hineinstieß. Noch nie war sie von Max dermaßen grob und lieblos behandelt worden. Ängstlich beobachtete sie, wie er sein Sakko auszog und seine Hose runterließ. Noch ehe sie aus dem Bett hatte flüchten können, warf er sich auch schon auf sie und zerrte ihr das kurze Nachthemd hoch. Verzweifelt versuchte Isabell, sich von der schweren last seines Körpers zu befreien und bettelte ihn an, von ihr zu lassen. Doch Max ignorierte ihre Bitten und hielt ihren schmächtigen Körper mit eisernem Griff fest. Mit aller Kraft drückte er sein Knie zwischen ihre fest zusammengepressten Beine. Während er sie so gefügig machen wollte, keuchte er ihr triumphierend ins Ohr: 
„Das gefällt dir wohl, wenn man dich einmal härter anfasst, du dummes Dreckstück? Ich hätte dir schon viel früher zeigen sollen, wo dein Platz ist, dann würdest du jetzt nicht so aufmüpfig sein.“
So gut es ging versuchte Isabell, seiner nassen und vom Alkohol aufgedunsenen Zunge auszuweichen. Am liebsten hätte sie laut um Hilfe geschrien, aber sie wollte Lisi nicht wecken, die dann sicherlich mitbekommen hätte, wie ihr Vater gerade ihre Mutter vergewaltigt. 
Doch zu einer Vergewaltigung fehlte Max schließlich die Kraft. Immer wieder versuchte er, in sie einzudringen. Doch die nötige Erektion war ausgeblieben. Nachdem Max völlig frustriert erkennen musste, dass sein Vorhaben unmöglich war, schlug er Isabell so heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf zur Seite schnellte. Dann stand er auf und blickte auf seine wimmernde Frau hinunter, die von der Lippe blutete.
„Du bist ja nicht einmal mehr fähig dazu, einen Mann zu erregen“, schnauzte er sie abfällig an. 
„Wenn man so frigide Frauen im Haus hat, ist es wirklich kein Wunder, wenn sich Männer bei anderen, willigeren Weibern ihr Vergnügen suchen.“
Wutschnaubend stürmte Max aus dem Schlafzimmer. Schnell raffte sich Isabell hoch und sprang aus dem Bett. Mit aller Kraft schlug sie die Tür zu und versperrte sie. An die Tür gelehnt ließ sich Isabell langsam zu Boden sinken. Die momentane Erleichterung, sicher zu sein, wich aber rasch einer tiefgreifenden Verzweiflung. Die Härte seiner Ohrfeige hatte in Isabells Kopf nicht nur ein heftiges Brummen ausgelöst, sondern ihr auch gezeigt, dass Max’ Sadismus langsam auf sie überzugreifen begann. In all den Jahren ihrer Ehe hatte Max sie kein einziges Mal geschlagen oder gar versucht, sie mit Gewalt zu nehmen. Doch heute hatte er sie zum ersten Mal wie ein Stück Dreck behandelt. Langsam begann Isabell zu erahnen, wie es ist, wenn man der unberechenbaren Willkür eines Mannes ausgeliefert war, der keine Grenzen mehr kannte und seinen niedrigsten Instinkten freien Lauf ließ.
Traumatisiert und völlig verunsichert zog Isabell ihr zerrissenes Nachthemd aus und wischte sich damit das Blut von der Lippe. Dann ging sie sich unter die Dusche und versuchte seinen widerlichen Geruch von ihrem Körper waschen. Doch obwohl sie schon eine halbe Ewigkeit den heißen Wasserstrahl auf sich herunterprasseln ließ und sich immer wieder eingeseift hatte, den auf ihrer Seele eingebrannten Schmutz hatte sie nicht wegschrubben können.

Kapitel 23

Keine zwei Wochen später wurde die „Mine-Dedecting“ als Aktiengesellschaft ins Handelsregister Wien eingetragen. Jake Coleman gab als CEO den Ton an, Rainer Barkhoff war der CFO und Max Henning fungierte als dritter Kollege im Vorstand. Um zwecks Handels unter den bereits vorhandenen Investoren zu einem Kursverhältnis zu kommen, wurde das Unternehmen in der Folge an der Wiener Börse im ungeregelten Freiverkehr gelistet. Noch krebste der Kurs im unteren Bereich herum, doch mit ein wenig Glück und viel Fleiß würde sich das in den kommenden Monaten sicherlich rasch ändern.
Der nächste Schritt war nun, so schnell wie möglich weitere Investoren zu finden, um die volle Finanzierung sicherzustellen. Das Unternehmen benötigte 7 Millionen Euro Venture Capital, um sicher über die Anfangsphase zu kommen. Es galt, die Technologie zu adaptieren und die notwendige Software zu entwickeln. Die Drohnen mussten robotergesteuert über die konterminierten Flächen fliegen und dabei die Lage und die Art der Minen unter sich sicher und möglichst genau in eine elektronische GPS-Karte eintragen können. Das Programm musste absolut sicher arbeiten und auch von lokal ausgebildetem Personal leicht bedient und gewartet werden können.
Gleich nach der Fertigstellung würden sicherlich die ersten Aufträge ins Haus flattern, da dieses System einen echten Quantensprung für die weltweite Minensuche darstellte. Die „Mine-Dedecting“ würde dann rasch und aus eigenen Umsätzen heraus expandieren. In der Folge sollte Rainer die Firma dann in Wien an die Börse bringen. Das würde sicherlich der schönste und interessanteste Börsegang seines Lebens werden. Mit dem eingezahlten Kapital würden sie dann auf Einkaufstour gehen und selektiv bestehende Minensuchfirmen aufkaufen. Man hatte vor, den bisherigen Eigentümern immer so viele Anteile zu überlassen, dass diese mit Hilfe ihrer neuen Technologie eine gute Chance haben würden, auch noch als Minderheitseigentümer und geschäftsführende Gesellschafter deutlich mehr zu verdienen als vorher. Ihre Innovation würde die Branche revolutionieren wie seinerzeit Bill Gates die Computerbranche. Diese schnelle Wachstumsstrategie war völlig sicher und risikolos, da sie auf das vorhandene Know-how der Partner aufbaute anstatt dieses zu verlieren. Die überproportionale Entwicklung von Gewinn und EBIT würde die Aktienkurse in ungeahnte Höhen ziehen, wobei Coleman natürlich das Ziel hatte, seine Aktienmajorität zu behalten.
Sowohl Rainer, aber auch Max und Coleman hatten jetzt alle Hände voll zu tun. Coleman widmete sich ausschließlich dem Aufbau des Unternehmens und der Beschaffung der geeigneten Hubschrauberdrohnen. Max machte sich auf die Suche nach potenziellen Geldgebern und Rainer knüpfte möglichst hochrangige Kontakte mit Institutionen und Ländern, die an einer Minenräumung interessiert waren. 
Doch mitten in dieser Vorbereitungsphase begann ihnen der Wind der aufziehenden Finanzkrise immer heftiger ins Gesicht zu wehen. Trotzdem liefen die Planung und die Disposition halbwegs gut an, obwohl die Weltwirtschaftskrise nun immer mehr zu spüren war.
Colemans Vorbehalte gegen Max hatten sich rasch zerstreut, nachdem er festgestellt hatte, wie sehr sich Henning ins Zeug legte, um das nötige Kapital aufzutreiben. Die Akquisition der notwendigen Mittel war in diesen schwierigen Zeiten nicht einfach.
Natürlich nützten Max auch die weitläufigen Beziehungen seiner Eltern. Seine Überredungskünste und sein guter Name trugen dazu bei, dass es ihm bald gelang, Zusagen für eine Million nach der anderen an Land zu ziehen. 
Die strikte organisatorische Trennung der Vorstandsagenden hatte sich sehr positiv auf das Arbeitsklima der drei Männer ausgewirkt. Da jeder seinen eigenen Kernbereich hatte, kam man sich kompetenzmäßig nicht in die Quere, sodass das absolut reibungslose Arbeiten schnell Früchte trug.
Der Arbeitsaufwand, um diese Firma zu etablieren, war jedoch so enorm, dass keine Zeit mehr für das Consulting im Auftrag Dritter übrigblieb. Weder Rainer noch Max konnten neue Aufträge in ihrer Funktion als Unternehmensberater annehmen, da ihre ungeteilte Aufmerksamkeit von der „Mine-Dedekting“ in Anspruch genommen wurde. Der Arbeitstag lag jetzt selten unter 15 Stunden, sodass kaum noch Zeit blieb, an andere Dinge zu denken. 
Rainer war eigentlich recht froh über dieses enorme Arbeitspensum. Zumindest hielt ihn die permanente geistige Beschäftigung mit der „Mine-Dedecting“ davon ab, zu oft und zu intensiv an Isabell zu denken. Außerdem sprach viel dafür, dass Max nun ein solides Privatleben führte. Weder die Russin noch andere Frauen schienen in Max’ Leben mehr Bedeutung zu haben. Stets war er im Büro, zu Hause oder bei einem Investor zu erreichen. Max hatte sogar wieder begonnen, sich den sonntäglichen Joggingtouren Rainers anzuschließen, sodass sein „Schwimmreifen“ langsam wieder zu schrumpfen begann.
Seit dem Abendessen vor acht Wochen mit den Colemans hatte Rainer Isabell kein einziges Mal mehr gesehen. Ab und zu telefonierte er mit ihr, wenn sie im Büro anrief und nach Max suchte. Doch selbst diese kurzen Gespräche hatten an Charme und Nähe verloren. Isabell schien nun wesentlich distanzierter als früher. Der lockere Plauderton in ihrer Stimme war völlig verschwunden. Rainer hatte fast den Eindruck, als ob es ihr unangenehm wäre, ihn am Telefon zu haben. Nach diesen kurzen und nüchternen Gesprächen spürte Rainer eine stille Wehmut in sich hochsteigen. Waren die ihm gewidmeten Gefühle etwa nur einer gewissen Einsamkeit und Vernachlässigung entsprungen? Gott sei Dank war Rainer so beschäftigt, dass er sich nur kurzfristig mit diesen zermürbenden Gedanken herumquälen konnte. Und abends war er oft so todmüde und ausgepowert, dass er fast schon schlief, während er noch ins Bett kroch.

Kapitel 24

Mit Max’ beruflicher Veränderung ging auch eine private Wandlung einher. Seit dieser schicksalsträchtigen Nacht war nichts mehr so wie es einmal war. Seit diesem äußerst unerfreulichen Vorfall war Isabell eine andere Frau geworden. Von ihrer liebevollen, aufmerksamen und von Hingabe geprägten Wesensart war nichts mehr übrig geblieben. In Max erweckte sie den Anschein, als ob sie innerlich völlig erkaltet war und nur noch wie eine Maschine funktionierte. Für die Außenwelt schien ihre glückliche Beziehung aber nach wie vor in Ordnung zu sein. Ihre aufgesetzte Maske passte perfekt und täuschte jeden. Nach wie vor schien sie die liebevolle und aufmerksame Ehefrau zu sein, die sie noch vor wenigen Monaten gewesen ist. Doch kaum war die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss gefallen, legte sie auch schon ihre Maske wieder ab und ignorierte ihn völlig.
Max bedauerte diesen „Ausrutscher“ zutiefst. Reuevoll versuchte er, sich für diese ungeheure Entgleisung zu entschuldigen, doch Isabell wehrte seine Annährungsversuche vehement ab und zog sich immer tiefer in ihr imaginäres Schneckenhaus zurück. 
Da Max ohnehin nicht viel zu Hause war, bemerkte Lisi von der tiefgreifenden Zerrüttung der Ehe ihrer Eltern nicht sonderlich viel. Lisi führte den distanzierten Kontakt zwischen den beiden auf den enormen Arbeitsstress ihres Vaters zurück. Außerdem war sie ohnehin mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, sodass sie ihren Eltern diesbezüglich keine besondere Aufmerksamkeit schenkte. In den wenigen Stunden von Max‘ Anwesenheit spielte Isabell auch ihrer Tochter diese ehemals heile Welt vor. Besonders in diesen Augenblicken fühlte Max sich noch wesentlich elender als sonst. Isabell spielte ihre Rolle so perfekt, nur um ihre Tochter nicht unglücklich zu machen.
Doch gerade jetzt in dieser äußerst schwierigen Aufbauphase des Unternehmens, wo ihm buchstäblich das Letzte abverlangt wurde, brauchte er ihren Zuspruch, ihren Trost und ihre Aufmerksamkeit fast dringender als die Luft zum Atmen. Doch Isabell blieb unnahbar. Diese zermürbende Distanz war auch der Grund, wieso Ekaterina immer mehr in den Mittelpunkt seines Lebens zu rücken begann.
Jederzeit war sie für ihn da, hörte ihm zu und spendete ihm jene Zuversicht, Aufmerksamkeit und Wärme, die ihm zu Hause komplett vorenthalten wurde. 
Obwohl es Max aufgrund größtmöglicher Vorsicht und Diskretion gelungen war, in der Öffentlichkeit sein Image als integrer Mann wieder herzustellen, zog er es nun aber immer öfter vor, die Nächte bei Ekaterina zu verbringen. Zwar kam Max jeden Tag nach Hause, um seine Kleidung zu wechseln und wenn möglich mit Lisi noch ein wenig Zeit zu verbringen, doch wenn die Kleine im Bett war und Isabell ihren mentalen Panzer aktiviert hatte, hielt es Max zu Hause oft nicht mehr aus und flüchtete in den 8. Bezirk zu seiner Geliebten. Zumindest freute die sich, ihn zu sehen. 
Seit Max um Ekaterinas besondere Talente im Bett wusste, fokussierte sich seine Lust nicht mehr ausschließlich auf seine ausgeprägten SM-Spielchen. Gerade in den Phasen, wo er sehr müde und abgespannt war, genoss er in vollen Zügen, sich von Ekaterina verwöhnen zu lassen und sich entspannt ihren wissenden Händen, Lippen und Zunge hinzugeben. Es war ungemein angenehm abzuschalten und sich bei ihr fallen zu lassen zu können. Doch wenn er auch durch Ekaterinas Aufmerksamkeiten bestens betreut wurde und sein körperliches Wohlergehen absolut nicht zur kurz kam, fehlte ihm doch die Intelligenz seiner Frau, dieser wunderbar inspirierende geistige Austausch mit ihr und der stilvolle Umgang miteinander unsäglich.
Max war daher bemüht, dieses Manko bei Ekaterina ein wenig auszugleichen und ihre geistige Wendigkeit zu wecken. Doch alle Versuche, seiner Geliebten mehr Stil und Eleganz zu vermitteln, sie zu mehr Bildung und feineren Umgangsformen zu motivieren, scheiterten bereits in den Ansätzen. Obwohl Ekaterina bemüht war, seinen Wünschen Folge zu leisten, musste Max jedoch bald erkennen, dass sein Engagement, seiner kleinen Russin mehr Niveau zu vermitteln, eine vergebene Liebesmüh war. Wie konnte er auch erwarten, dass ein einfaches Mädchen aus dem tiefsten Outback Russlands plötzlich fähig sein könnte, von einem derben Ackergaul in eine elegante und wendige Araberstute zu mutieren. In der Maslowschen Bedürfnispyramide war Ekaterina sicherlich in den unteren Stufen der Grundbedürfnisse einzugliedern. In diesen Ebenen war sie sattelfest und fühlte sich wohl.
Max’ Aufmerksamkeit war es aber auch nicht entgangen, dass Ekaterina immer mehr in die Richtung tendierte, in absehbarer Zeit als seine neue Lebenspartnerin aufzutreten. Außerdem war sie sehr an der geschäftlichen Entwicklung der „Mine-Dedecting“ interessiert, die über kurz oder lang einen ordentlichen Batzen Geld abwerfen würde. Nach und nach begann die Russin, mit diesem Geld zu rechnen, das Max durch seine Tätigkeit als Vorstand eines bald weltweiten Unternehmens verdienen würde. Ekaterina begann von einer gediegenen Dachwohnung hoch über den Dächern der Innenstadt zu träumen, in deren Tiefgarage ein toller Edelschlitten auf sie warten würde. Unzählige Kataloge von Luxusreisen begannen sich auf dem Wohnzimmertisch zu häufen, in denen sie nur zu gern blätterte und Max damit in den Ohren lag. Aber auch die diversen Einkaufskanäle im Fernsehen entwickelten sich immer mehr zu ihren Lieblingssendern. Immer öfter musste Max seinen heftigen Unmut hinunterschlucken, wenn Ekaterina in ihrem Kaufwahn zu weit übers Ziel hinausschoss. Doch seine Geliebte war nicht dumm und kannte ihren Wert ziemlich genau. Nur zu gut war sie sich des Umstandes bewusst, dass Max im Augenblick mental zu angeschlagen war, um noch weitere Turbulenzen in seinem Privatleben verkraften zu können. Er musste sich fügen und beglich zähneknirschend ihre hohen Rechnungen über extravagante High Heels, Handtaschen oder Dessous. In ihren Kästen begannen sich Designerklamotten von Armani bis Victoria’s Secret zu stapeln. 
Solange die Umsätze noch nicht ins Rollen gekommen waren und das Unternehmen weder Gewinne noch Dividenden abwarf, konnte Max Ekaterina finanziell noch einigermaßen in Zaum halten. Sollte sich aber der erwartete Geldfluss einstellen, dann würde er ihren Forderungen und Ansprüchen kaum mehr einen Riegel vorschieben zu können. 
Doch Max hoffte, dass er bis dahin seine Ehekrise wieder in den Griff bekommen hatte. Er wollte alles daransetzen, um mit Isabell so rasch wie möglich neu durchzustarten. Immer deutlicher begann Max seinen fatalen Fehler zu erkennen: Er hatte nicht geglaubt, dass ihn der Verlust von Isabell so schmerzen würde. Noch vor wenigen Monaten hatte ihm Isabell ihre aufrichtige, tiefe und bedingungslose Liebe entgegengebracht. Ekaterina hingegen war ein durchtriebenes, geldgieriges Flittchen, das das von ihm finanzierte, sorgenfreie Leben genoss.

Kapitel 25

Die letzten Tage waren für alle Vorstandsmitglieder extrem anstrengend gewesen. Ein Termin hatte den nächsten gejagt, sodass Rainer nicht einmal richtig zum Durchatmen gekommen war. Wie erwartet war das Interesse an Colemans Minensuchtechnologie in den betroffenen Ländern ziemlich groß. Besonders die ägyptische Regierung war sehr angetan von dieser völlig neuartigen, effizienten und sicheren Methode der Minenentsorgung. Die Halbinsel Sinai stellte eines der vorrangigsten Ziele in ihrer Planung dar, da diese Region während mehrerer mehrere Kriege hindurch besonders dicht vermint worden war. Zehntausende dieser immer noch scharfen Geschoße hatten den Boden völlig wertlos gemacht und verhinderten jede sinnvolle Erschließung. Das Tourismusministerium bot Hotel- und Industrieentwicklern und deren Geschäftspartnern sogar große Landflächen als Geschenk an. Im Gegenzug hätten sich diese Firmen verpflichten müssen, die gefährlichen Sprengkörper innerhalb einer Frist von drei Jahren zu räumen. Erst dann wäre der Staat bereit gewesen, die Genehmigung verschiedenster Bauprojekte zu erteilen.
Besonders auf der Sinaihalbinsel lagen die großen Hoffnungen für das wirtschaftlich ziemlich angeschlagene Land. Klima, Landschaft und Meer eigneten sich nahezu ideal für große Hotelressorts. Ägypten brauchte dringend neue Arbeitsplätze für seine rasch wachsende Bevölkerung. Im Durchschnitt wuchs dort die Einwohnerzahl alle 11 Monate um 1 Million Menschen. Diese rasant steigende Bevölkerung beanspruchte Wohnungen, Arbeit und Nahrung. Die Regierung wusste nur zu gut, auf welcher ideologischen Zeitbombe sie da saß. Sie musste den Zünder so rasch wie möglich entschärfen, bevor radikale Kräfte die Oberhand gewinnen und ihr Land in einen zweiten Iran verwandeln würden. Das labile Gleichgewicht im Nahen Osten drohte damit mittelfristig zu kippen. Viele internationale Kräfte von der UNO bis zu den USA, ja sogar der ehemalige Erzfeind Israel waren bereit, die Regierung Ägyptens im ureigenen Interesse zu unterstützen. 
Der Wille zur Minenräumung war groß, aber die angebotenen Kapazitäten reichten einfach nicht aus, um die enorme Nachfrage zu befriedigen. Die Manager der Baukonzerne konnten es daher kaum erwarten, die Minihubschrauber der „Mine-Dedecting“ endlich im realen Einsatz über ihrem Land fliegen zu sehen. Unter den riesigen konterminierten Flächen wurden von Experten die reichsten Erdölvorkommen der Welt vermutet. Eine seismische Erschließung oder Probebohrungen waren aber bisher aufgrund der tödlichen Gefahr einfach nicht möglich. Die von den geräumten Flächen induzierten Steuerleistungen würden die Regierung in die Lage versetzen, der schwer geschüttelten Wirtschaft die dringend benötigten Finanzimpulse zu verschaffen. Die boomende Tourismusindustrie schrie förmlich nach neuen Ressorts auf sicheren Stränden, da der Sharm El-Sheikh mit seinen Billigangeboten schon bald aus allen Nähten platzen würde. Die friedliche Zukunft Ägyptens hing also weitgehend auch davon ab, die Sinaihalbinsel und die verminten Flächen im Landesinneren endlich gefahrenfrei nutzen zu können.

Seine aufwühlenden Träume hatte Rainer in dieser hektischen Zeit schon fast vergessen. In den letzten Wochen schlief er traumlos und so tief wie ein Murmeltier. 
Manchmal, wenn sein Blick im Spiegel auf sein Muttermal fiel, dachte er noch an diese haarsträubenden Fantasievorstellungen. Nach so vielen Nächten ungestörten Schlafs kam Rainer sein wirklichkeitsfremdes Empfinden nun fast schon wieder lächerlich vor. 
Er war über sich selbst erstaunt, wie sehr diese verrückten Träume sein seelisches Gleichgewicht durcheinandergebracht hatten.
Auch die damalige seelische Verbundenheit mit Angelina empfand er nun deutlich überbewertet. Höchstwahrscheinlich war Angelina doch keine mystische Persönlichkeit, sondern nichts weiter als eine gewöhnliche Bettlerin. Sie war ganz einfach zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen, um abzucashen. Rainer war mittlerweile überzeugt davon, dass sie ihm nur dieser läppischen paar Euros wegen überhaupt zugehört hatte. Mit ihrem mystisch-spiritualistischen Gefasel hatte sie es fertig gebracht, ihm eine Laus in den Pelz zu setzen. 
Rainer hatte Angelina auch schon lange nicht mehr gesehen. In all den Wochen, in denen er durch den Resselpark gegangen war, war ihre Bank von ihr verwaist geblieben. Schließlich hatte ja auch der Winter nun endgültig Einzug gehalten. Es war jetzt viel zu kalt, um in Lumpen gekleidet auf einer nun zeitweise schon schneebedeckten Parkbank herumzulungern. Und doch, irgendwie fehlte sie ihm, wenn er durch den Park an ihrer Bank vorüber ging. Ohne dass er sich dessen so richtig bewusst wurde, hatte Angelina ein leises Gefühl von sanfter Wehmut in ihm hinterlassen.
Doch gerade als Rainer der festen Überzeugung war, wieder völlig Herr seiner Gedanken und Träume zu sein fanden diese Träume eine unerwartet intensive und im wahrsten Sinne des Wortes „erhebende“ Fortsetzung.

Noch nie in seinem Leben hatte Rainer ein so wunderbares Glücksgefühl verspürt. Nicht nur, dass er auf Wolken zu schweben glaubte, nein, er tat es wirklich. Er war ein Fliegeroffizier und saß im Cockpit einer zweimotorigen Maschine. Rainer fühlte das Vibrieren der Motoren, wenn er mit seiner rechten Handfläche den Gashebel umfasste.
Es war ein so wunderbares Gefühl, schwerelos über den Wolken zu schweben und die Welt plötzlich aus der Vogelperspektive zu betrachten. Rainer fühlte sich leicht und unbeschwert wie ein riesiger Albatros, der mit seinen langen und schmalen Flügeln ohne jede Anstrengung durch die Luft segelte und nur sich selbst verpflichtet war. Dort oben, zwischen Himmel und Erde, fühlte sich Rainer in einer unbeschreiblich erhabenen und äußerst inspirierenden Welt, die nur für ihn und diesen besonderen Augenblick geschaffen zu sein schien. Mühelos zog Rainer seine Maschine in jede Richtung, in die er nur wollte, während sich das leichte Zittern der Motoren um ihn herum anfühlte wie das Schnurren einer zufriedenen Katze.
Tief unter ihm glitten gleißend weiße Wolken über dem dunkelblauen Meer dahin, auf dessen unsichtbaren Wellen Milliarden von kleinen, weißen Schaumkronen tanzten. Aus dieser Perspektive war die Welt so winzig und trotzdem unendlich weit. Rainer fühlte in seiner Seele eine wunderbare Mischung aus Demut, Dankbarkeit und Glück. Seine Maschine war zu seiner Welt geworden. Er fühlte fast die Verschmelzung dieses technischen Wunderwerkes mit seinem menschlichen Körper, wo beide bedingungslos aufeinander angewiesen waren... 

Plötzlich hörte Rainer ein unangenehmes, sich ständig wiederholendes Geräusch, das immer lauter wurde und so absolut nicht in die weite Stille dieses wunderbaren Traumes passte. Nur sehr widerwillig löste er sich aus diesem Schweben in Glückseligkeit und Wohlgefallen. Für einen Moment hatte er keine Ahnung, wo er war. Verwirrt hob er seinen Kopf und blickte orientierungslos in seinem hell erleuchteten Büro herum. Deprimiert fand er wieder in die Wirklichkeit zurück. 
Vor Müdigkeit und Erschöpfung war Rainer über einer Kalkulation eingeschlafen. Sein verspannter Nacken schmerzte höllisch von der unbequemen Lage seines Kopfes auf dem Aktenberg. Selbst nach einigen Dehnübungen ließ die Verkrampfung nur langsam nach. Noch immer läutete das Telefon schrill und unbeirrt weiter. Genervt über die Ausdauer des Anrufers wollte Rainer schon den Hörer auf die Gabel knallen, damit mit diesem Höllenlärm endlich Schluss sein würde. Doch vielleicht war es doch etwas Wichtiges. Widerwillig bellte er „Barkhoff“ in den Hörer. Doch sein verdrießlicher Gemütszustand begann sich sofort zu legen, als er Grace Colemans weiche Stimme mit diesem sympathischen Akzent am anderen Ende der Leitung flöten hörte.
„Guten Abend, Herr Barkhoff, ich hoffe, ich störe nicht“, gurrte sie mit gespieltem Schuldbewusstsein in sein Ohr.
„Verehrte Frau Coleman, Sie dürften mich sogar mitten in der Nacht anrufen. Es würde mich immer freuen, Sie hören zu dürfen“, erwiderte Rainer galant und rieb sich mit seiner freien Hand den Schlaf aus den Augen. 
„Ich weiß, es ist schon weit nach 21 Uhr und man sollte um diese Zeit nicht mehr anrufen. Doch ich wollte nur sichergehen, dass mein Mann es nicht verabsäumt hat, Sie für den kommenden Donnerstag zu einem Adventpunsch in unser neues Zuhause einzuladen.“
„Nein, anscheinend hat er das im Trubel und der Hektik völlig vergessen. Es wäre mir aber eine große Ehre, Ihrer Einladung Folge leisten zu dürfen“, erwiderte Rainer erfreut und gähnte verhalten.
„Ich bestehe sogar darauf. Unser kleines Fest würde ohne Sie sicherlich nur halb so amüsant und erfreulich sein.“ 
Grace verstand es wie kaum eine andere zu flirten, ohne dabei auch nur annähernd den Verdacht aufkommen zu lassen, dass mehr als nur freundschaftliche Kommunikation im Spiel war.

Max und Luise waren bestimmt schon vor Stunden gegangen. Müde und erschöpft, aber doch mit einem besonderen Hochgefühl in sich brach er schließlich auf. Während seines Nachhauseweges spürte er noch immer diese besondere Hochstimmung seines Traums in sich nachklingen. Als er an Angelinas verwaister Parkbank vorüberging, wünschte sich Rainer für einen Moment nichts mehr, als sie an seinem kurzen, aber doch so wunderbaren Traum teilhaben zu lassen.

Kapitel 26

Grace Coleman hatte sich rasch mit Isabell angefreundet. Isabell war den Colemans auch bei der Suche nach einem passenden Haus behilflich gewesen. Es hatte auch nicht lange gedauert, bis sie in Mödling fündig wurden. Die kleine, ein wenig heruntergekommene Villa aus der Gründerzeit war über und über mit Efeu bewachsen und erinnerte fast an ein verwunschenes Dornröschenschloss. Doch wenn das Haus äußerlich auch ein wenig düster und vernachlässigt wirkte, war in seinem Inneren das genaue Gegenteil der Fall. Grace hatte hier ein kleines Wunder vollbracht. Mit viel Liebe, Geschmack und Sinn fürs Detail hatte sie mit den aus Amerika mitgebrachten Möbeln und einigen Neuanschaffungen eine äußerst angenehme und behagliche Wohnatmosphäre geschaffen. Ein wunderbarer Duft von Zimt, Orangen und Rum zog sich durch die hell erleuchteten Räume, in denen sich bereits viele Gäste mit einem Punschglas in der Hand unterhielten. 
Rainer war schon ziemlich spät dran. Doch er hatte unbedingt noch auf das Mail des sudanesischen Verteidigungsministeriums warten wollen. Es ging um einen Letter of Intend für eine großflächige Minenräumung im Süden des Landes. Die sudanesische Regierung bestand allerdings vor einer definitiven Auftragserteilung auf einer informativen Demonstration des Gesamtsystems. Schließlich wollte man nicht die Katze im Sack kaufen. 
Rainer hatte bereits damit gerechnet, dass man diesem Spektakel nicht aus dem Weg gehen konnte. Eine solche Darbietung würde der „Mine-Dedecting“ sicherlich einen enormen Arbeitsaufwand, viel Zeit, doch vor allem eine schöne Stange Geld kosten. Die meisten Zielkunden wollten sich persönlich von der Effizienz der Drohnen überzeugen, bevor sie bereit waren, ihre Unterschrift unter die Verträge zu setzen. Hier ging es schließlich um sehr viel Geld, das man aber nur dann gewillt war auszugeben, wenn das Preis-Leistungsverhältnis auch in Ordnung war. Wenn die Demonstration ein Erfolg sein würde, dann hätte man sicherlich auch gute Chancen, jene Zögerer zu überzeugen, die dieser neuen Technologie eher skeptisch gegenüberstanden. 
Oberste Priorität genoss jetzt aber die Suche nach einem attraktiven Testgelände, das mit freiem Auge überschaubar sein würde. In diesem abgegrenzten Gebiet würden dann die verschiedensten Minendummys vergraben werden, um die Technologie auch bis ins kleinste Detail demonstrieren zu können. Tribünen, Zelte und Catering waren für die Infrastruktur notwendig, um die Entscheidungsträger bei Laune zu halten. Auch für die elektrischen Anlagen musste Vorsorge getroffen werden. Riesige Generatoren würden notwendig sein, damit Klima- und Kühlgeräte und ein überdimensionaler Bildschirm versorgt werden konnten. 
Zum Schutz der vielen honorigen Gäste musste das Testgelände aber großräumig abgesperrt und gesichert werden. Dazu war eine Koordination mit Militär, Polizei und lokalen Behörden notwendig.
Doch diese Organisation konnte man erst dann ins Auge fassen, wenn ein Grundstück dieser Größenordnung gefunden war, das nahe genug an einem internationalen Flughafen lag, gut zu erreichen war und Terroristen kaum Möglichkeiten für einen Angriff bieten würde. 
Diese erste Demonstration des neuen Systems sollte zu einem großen Event für viele hochrangige Politiker und Entscheidungsträger aus mehreren Ländern werden. Die sudanesische Regierung unterstützte diese geplanten Aktivitäten, denn sie erwartete sich davon auch eine positive internationale Imageverbesserung für das eigene Land. 
Die Zusammenstellung der Einladungsliste stellte einen wichtigen Erfolgsfaktor dar. Niemand durfte vergessen werden. Außerdem musste man die Rangordnung und die internationalen Besonderheiten genau beachten. Die nächsten Schritte wären dann, Presseaussendungen zu verfassen und wichtige Journalisten und Meinungsträger persönlich einzuladen.
Mit dieser Präsentation würde eine Menge zusätzlicher Arbeit auf das Management des Unternehmens zukommen. Doch der Aufwand würde den Preis sicherlich wert sein. Die Regierungen waren bereit, sehr viel Geld für die Minenräumung in ihren Ländern bei der „Mine-Dedecting“ zu disponieren. Endlich war es soweit und die langwierigen und mühevollen Vorarbeiten der letzten Monate begannen, ein erstes positives Feedback zu zeigen.
Immer noch mit diesen weitreichenden Gedanken der Planung im Kopf begann sich Rainer langsam durch die Menge der Gäste vorzuarbeiten, unter denen er viele bekannte Gesichter erkennen konnte. Coleman hatte es nicht verabsäumt, wichtige Regierungsmitglieder, aber auch Beauftragte von UNO, UNICEF und Ethikfonds, ja sogar hochrangige Vertreter der verschiedensten Glaubensrichtungen einzuladen. Der ägyptische Botschafter begrüßte ihn überschwänglich und wollte ihn gleich in ein Gespräch mit dem Gesandten aus dem Kongo verwickeln. Doch Rainer entschuldigte sich mit dem Vorwand, zuerst die Dame des Hauses begrüßen zu müssen. In seinem Unterbewusstsein hielten seine Augen aber nicht nach Grace, sondern nach Isabell Ausschau. 
Die Colemans fand Rainer in Gesellschaft eines libyschen Diplomaten plaudernd, dem man sehr gute Kontakte zum ältesten Sohn Gaddafis nachsagte.
Grace sah Rainer auf sich zukommen und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
„Guten Abend, Rainer. Ich dachte schon, Sie hätten auf uns vergessen“, begrüßte sie ihn mit gespieltem Tadel.
„Von wegen. Wie könnte ich die Einladung einer so schönen und charmanten Dame ausschlagen. Doch Ihr Mann deckt mich so mit Arbeit ein, dass ich fast daran ersticke.“ 
Rainer begrüßte nun die beiden Männer, die ihr Gespräch sofort unterbrachen, als sie Rainers Stimme hörten. Im Nu begann ein Fachsimpeln über die Möglichkeit der wirtschaftlichen Nutzung der entminten Gebiete, angefangen von künstlicher Bewässerung über neu erschlossene Erdölfelder bis hin zu weitläufigen Hafenanlagen, Hotelressorts und neuen, modernen Wohnsiedlungen. Coleman und der libysche Diplomat verstrickten Rainer dermaßen ins Gespräch, dass ihm völlig entgangen war, wie aufmerksam ihn Isabell beobachtete. Doch plötzlich spürte er ihre Anwesenheit. Instinktiv wandte sich Rainer zum angrenzenden Wintergarten, wo sie neben dem riesigen Punschtopf stand, aus dem kleine Dampfwolken emporstiegen und im Raum ein vorweihnachtlich duftendes Aroma hinterließen. 
Mit zaghaftem Lächeln blickte sie ihn liebevoll an. Unwillkürlich erinnerte ihn dieses besondere Lächeln an einen Aphorismus Saint-Exupérys: „Das Wesentliche hat meistens kein Gewicht. Hier war das Wesentliche nur ein Lächeln. Ein Lächeln ist oft das Wesentliche. Man wird mit einem Lächeln belohnt. Man wird durch ein Lächeln belebt. Und die Art des Lächelns kann Schuld daran…“
„Rainer, sind Sie noch hier?“, fragte Coleman und rüttelte sanft an seiner Schulter.
Tief in seine Gedanken versunken fuhr Rainer hoch und erwiderte fahrig:
„Sorry, für einen Moment war ich wohl ein wenig weggetreten. Ich weiß nicht wieso“, log er“, aber plötzlich musste ich an einen besonders schönen Gedankensplitter Saint-Exupérys denken.“
Erstaunt blickte Coleman seinem Geschäftsführer in die Augen.
„Ich hatte ja gar keine Ahnung, dass auch so kühl denkende und äußerst realitätsbezogene Manager wie Sie einer sind von der Muse geküsst werden. Aber auch ich bin ein Bewunderer dieses Genies. Vielleicht sollten wir ja Exupéry für unsere Hubschrauber zum Schutzpatron küren. Schließlich war er ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein begeisterter Flieger.“
„Das ist eine gute Idee und kann unserer Sache bestimmt noch einen weiteren positiven Aspekt bringen“, pflichtete Rainer seinem Chef bei.
Mit gespieltem Protest mischte sich nun auch Grace wieder ins Gespräch ein:
„Meine Herren, unser armer Rainer Barkhoff konnte noch nicht einmal richtig durchatmen, geschweige denn ein Glas Punsch genießen. Kaum, dass er angekommen ist, wird er sogleich schwerst in Beschlag genommen.“ 
Lächelnd wandte sich Grace ihm zu und forderte ihn freundlich auf:
„Warum holen Sie sich nicht einfach einen Becher Punsch und ein Stück Kuchen oder eines der Lachsbrötchen. Dieser Abend ist eigentlich als kleine Adventfeier gedacht gewesen. Es sollte doch auch einmal möglich sein, sich über andere Themen als nur über die Minensuche und die zukünftige Nutzung der entminten Gebiete zu unterhalten.“
Dankbar lächelte Rainer seiner Gastgeberin zu. Sie verschuf ihm die Möglichkeit, endlich aus der Gesprächsrunde entwischen zu können. Fast zögernd ging er zu Isabell in den Wintergarten. Ihre grünen Augen leuchteten wie funkelnde Sterne über den Rand ihres Bechers hinweg und trafen direkt in seine Seele. Plötzlich fühlte Rainer den inneren Aufruhr in sich, der ihm die Gänsehaut über den Rücken laufen ließ.
„Hallo Isabell. Schon lange nicht mehr gesehen“, begrüßte er Isabell in der Hoffnung, dass seine Erregung unbemerkt bleiben würde.
„Ja, viel zu lange.“
Rainer wusste nicht, ob er beglückt oder deprimiert sein sollte. Dieses Gefühl von damals hatte sich mit einem Schlag wieder eingestellt, nur noch ein wenig intensiver. Obwohl er ihr ins Gesicht schreien wollte, wie sehr sie ihm fehlte und wie sehr er sie gerade jetzt brauchen würde, fragte er so emotionslos wie möglich:
„Wo ist denn Max?“
„Der schwirrt hier irgendwo in der Gegend herum und versucht, Geld für diese verdammte Firma aufzutreiben.“
„Oh, das klingt ja nicht besonders begeistert.“
„Bin ich auch nicht. Seit Monaten gibt es kein anderes Thema mehr als eure verdammten Minensuchgeräte“, beklagte sich Isabell.
„Armes Mädchen! Du solltest sein Engagement aber verstehen, denn in diesem Geschäft liegt unsere Zukunft. Wenn wir jetzt auch nur einen einzigen Fehler machen und nicht am Ball bleiben, dann sind wir draußen. Doch wenn es uns gelingt, dieses Ding durchzuziehen, dann können wir sehr viel Gutes tun, hunderte, wenn nicht sogar tausende Unfälle verhindern, der Wirtschaft neue Impulse verschaffen und ganze Regionen befrieden. Doch vor allem schaffen wir dadurch wieder mehr Freude und Lebensqualität für die Betroffenen.“
„Komisch, diese Aspekte hat Max noch nie zur Sprache gebracht. Sein Sinnen und Trachten ist nur dahingehend ausgerichtet, wie viele Dollar jeder einzelne Einsatz bringen wird und wieviel er davon abkassieren würde.“
„Nun ja, sicherlich spielt das Geld auch eine wesentliche Rolle. Schließlich arbeiten wir nicht nur um Gotteslohn. Wir wollen ja auch leben. Vordergründig ist für mich aber jener Umstand, dass wir Leben retten und versuchen können, das Leid vieler Menschen zumindest ein klein wenig zu verringern. Minen sind eine der hinterhältigsten Errungenschaften des militärischen Terrors. Sie wirken wahllos und machen keinerlei Unterschied in der Auswahl ihrer Opfer. Ich will jedenfalls meinen Beitrag leisten, um diese Dinger ein für alle Mal von unserem Planeten zu verbannen.“
Isabells tiefgründiger Blick ließ Rainer verstummen.
„Komisch, ich kenn dich jetzt schon so viele Jahre. Doch erst jetzt beginne ich zu begreifen, dass du nicht nur gut zu mir bist, sondern zu allen Menschen. Du bist ein sehr anständiger und selbstloser Mann Rainer. Menschen deiner Spezies haben Seltenheitswert.“
„Komm, lass gut sein und schließ die Komplimentenkiste. Ich bin weder selbstlos noch ein Samariter. Ich hab schon meine Macken und meinen ureigensten Egoismus. Wenn ich wirklich könnte wie ich wollte, dann würde ich dich jetzt an mich reißen und hemmungslos küssen.“
Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Es war raus. Rainer konnte es selbst nicht ganz glauben, was er da eben gesagt hatte. Nach so vielen Jahren war er endlich mit seinen Empfindungen für sie herausgerückt und hatte ihr gestanden, wie sehr er sie begehrte. 
Plötzlich spürte Rainer einen deftigen Schlag auf seine Schulter, der ihn aus seinen Gedanken riss.
„Hallo Alter, ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr“, begrüßte ihn Max mit leicht lallender Stimme. Gott sei Dank war Max schon ziemlich angetrunken, sodass ihm in seinem Dusel nicht aufgefallen war, welch elektrisierende Spannung sich zwischen Rainer und Isabell aufgebaut hatte. Wie es aussah, beschäftigten ihn die anwesenden Gäste wesentlich mehr als diese besondere Intimität zwischen seiner Frau und seinem besten Freund.
Ohne Rainers Antwort abzuwarten, fuhr er wankend fort:
„Hast du schon gesehen, welch schwere Typen Coleman antanzen hat lassen? Der Ami hat es faustdick hinter seinen Ohren. Der weiß ganz genau, was er tut. Diese Punschparty ist ein super Vorwand, um viele Interessenten zusammenzubringen, damit die Typen in lockerer Atmosphäre ohne Druck und Stress über unsere Geschäftsidee fachsimpeln können.“
„Die Idee hatte aber Grace und nicht Coleman“, berichtigte ihn Isabell kühl, während sie ihrem Mann einen missbilligenden Blick zuwarf.
„Das ist ja noch viel besser. Hinter jedem erfolgreichen Mann steckt eine nicht minder erfolgreiche Frau, sagt man doch, oder? Und Coleman dürfte mit dieser alten Schnepfe den Joker gezogen haben. Schließlich kann das nicht jeder von seiner Alten behaupten, nicht wahr, Isa?“ 
Dieser gut gezielte Seitenhieb ließ Isabell verlegen zu Boden blicken. Max hatte dem Punsch schon zu ausgiebig zugesprochen. In diesem schon leicht fortgeschrittenen Stadium der Trunkenheit neigte er immer schon zur Aggressivität, wenn ein passendes Opfer zur Hand war. Doch nochmals zuvor war Isabell in der Öffentlichkeit seinen feindseligen Attacken ausgesetzt gewesen.
Schnell wandte sich Rainer seinem Freund zu, sodass sich ihre Gesichter fast berührten.
„Hör sofort auf zu trinken. Du kannst es dir nicht leisten, hier aus der Rolle zu fallen“, mahnte er Max mit eindringlich leiser Stimme, während Rainer ihm die Schöpfkelle aus der Hand riss. 
„Ein Schlückchen in Ehren kann mir niemand verwehren“, erwiderte Max jovial und wollte wieder nach der silbernen Kelle greifen, die Rainer in den Topf sinken hat lassen.
„Wenn du jetzt noch einmal deinen Becher füllst, reiß ich dir den Arsch auf, du Vollidiot“, drohte ihm Rainer und hielt ihm an seinem Handgelenk fest. 
„Für ein ausuferndes Saufen ist hier weder der passende Ort noch die richtige Zeit. Es sind genug Moslems anwesend, für die jeder betrunkene Christ ein rotes Tuch ist. Fahr nach Hause und schlaf deinen Rausch aus, bevor du uns blamierst und unser aller Integrität in Frage stellst.“
Rasch wandte sich Rainer an Isabell.
„Bitte nimm ihn und bring ihn nach Hause, bevor er mit seinem hirnlosen Geschwafel einen nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichtet. Ich bin absolut nicht daran interessiert, dass unsere geleistete Arbeit durch sein unbedachtes Benehmen den Bach runtergeht.“
Isabell nickte schweigend. Bevor sie mit Max im Schlepptau die Party verließ, bat sie Rainer:
„Sei so gut und verabschiede uns bei Grace. Sag ihr, dass ich sie morgen anrufen werde.“
Mit trauriger Sehnsucht in ihren Augen lächelte sie Rainer noch einmal zu, ehe sie sich abwandte und mit Max das Haus verließ.
Rainer blickte den beiden enttäuscht nach, ehe er einen sauberen Becher nahm und ihn zur Hälfte befüllte.
„Würden Sie mir bitte auch ein wenig nachschenken?“ fragte Grace, die plötzlich neben ihm stand und ihren leeren Becher auf den Tisch stellte.
„Gerne“, erwiderte Rainer lächelnd und nahm den Becher in seine Hand.
„Isabell bat mich, Ihnen zu sagen, dass sie mit Max bereits aufgebrochen ist. Sie wird Sie morgen anrufen und Ihnen den Grund ihres abrupten Aufbruchs erklären.“
„Nun, der Grund ist offensichtlich. Ich habe ja Augen im Kopf.“
„Dann wissen Sie ja ohnehin, was Fakt war.“
„In der Tat. Es ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass Isabells Mann schon etwas zu tief ins Glas geschaut hat.“
Mit bedauerndem Lächeln reichte Rainer Grace den heißen Becher.
„Ja, manchmal weiß er einfach nicht, wann es genug ist.“
„Mir ist aber nicht nur aufgefallen, dass Max schon ein wenig Schlagseite hatte, sondern auch, dass es zwischen Ihnen und Isabell heftig knistert“, wechselte Grace nichts ahnend das Thema und blickte ihn dabei interessiert an.
Im ersten Moment wollte Rainer seine Gefühle sofort abstreiten. Doch plötzlich konnte und wollte auch er seine Empfindungen nicht mehr verleugnen. Zumindest nicht vor Grace. Seufzend trank er aus seinem dampfenden Becher und sagte dann betrübt:
„Ist es denn so offensichtlich, was sie mir bedeutet?“
Grace lächelte ihn verständnisvoll an und nahm ebenfalls einen kleinen Schluck.
„Nun ja, schon bei unserem ersten Zusammentreffen ist mir aufgefallen, dass Sie mit Isabell mehr als nur reine Freundschaft verbindet.“
Versonnen blickte er Grace an und gestand ihr schließlich:
„Ich liebe Isabell von der ersten Sekunde an, in der ich sie gesehen habe. Sie war das absolut schönste und begehrenswerteste Mädchen, dem ich jemals begegnet bin. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.“
„Und wieso haben Sie sich das Mädchen dann nicht geschnappt?“
„Ganz einfach, weil Max leider viel schneller und erfolgreicher war als ich Idiot. Er war damals der Mädchenschwarm schlechthin. So verwegene und draufgängerische Latinoburschen waren seinerzeit schon sehr gefragt. Viel mehr als so ein blasser, unscheinbarer Nordländertyp wie ich es damals war.“
„Über Geschmäcker lässt sich bekanntlich streiten. Ich habe ja keine Ahnung, wie sie damals ausgesehen haben. Doch wenn ich jetzt die Wahl hätte, dann würde ich mir sicherlich Sie aussuchen und nicht Max.“
„Oh Grace, Sie schmeicheln meinem Ego. Wenn Sie nicht mit diesem tollen Mann dort verheiratet wären, würde ich mir jetzt glatt überlegen, mich zur Abwechslung in Sie zu verlieben.“ 
Grace lächelte ihn kokett an.
„Diese Seite an Ihnen kenn ich ja gar nicht. Sie können Süßholz raspeln, dass mir angst und bange wird“, scherzte Grace lachend. Doch dann wurde sie wieder ernst.
„Isabell verliert nie ein Wort über ihre Gefühle. Doch ich glaube zu wissen, wie sehr sie sich zu Ihnen hingezogen fühlt.“
„Ja, lange hat es gedauert, bis sie in mir mehr als nur den Freund der Familie gesehen hat.“
„Und wie soll es zwischen Ihnen beiden nun weitergehen?“, fragte Grace voller Interesse.
Erneut seufzte Rainer laut auf.
„Wie es aussieht, gar nicht. Max ist schließlich mein bester Freund. Und die Frauen der besten Freunde sind für Männer mit Charakter bekanntlich tabu.“
Mitfühlend griff Grace nach seiner Hand und drückte sie sanft.
„Gottes Wege sind oft unergründlich. Man weiß nie, womit das Schicksal an der nächsten Straßenecke aufwartet. Ich bin mir sicher, dass sich auch für Sie das Blatt bald wenden wird.“
Es tat gut, endlich einmal auch über seine verborgenen Gefühle sprechen zu können. In Grace hatte er eine mitfühlende Freundin gefunden, die ihn trotz aller gesellschaftlichen Barrieren verstand.

Es war schon weit nach Mitternacht, als Rainer das Haus der Colemans verließ. Als er in sein Auto steigen wollte, sah er unter dem Scheibenwischer einen Zettel eingeklemmt. Sofort stieg Ärger in ihm hoch. Schon das dritte Mal in dieser Woche kassierte er ein Strafmandat wegen unrechtmäßigen Parkens. Doch als er das gefaltete Papier unter dem Wischerblatt hervorzog, fiel ihm nicht der verhasste Vordruck seiner natürlichen Feinde ins Auge. Im diffusen Licht der Straßenlaterne erkannte Rainer eine ihm wohlbekannte Frauenhandschrift. Schnell setzte er sich in seinen Wagen und knipste das Licht an, ehe er zu lesen begann:

Wir lieben uns still.
Doch das Pochen des Blutes bleibt fremd unseren Herzen.
Und niemals dringt der Schrei zu uns,
ein Schrei, wie Blitzeschlag den Tag erhellt 
und der Tage müdes Maß ertötet…

Dieses Gedicht haftet seit meiner frühesten Kindheit in meinem Gedächtnis. Ich fühlte damals schon, dass es für mich irgendwann einmal Bedeutung haben würde. Wer auch immer sein Verfasser war, er hat es sicherlich für uns geschrieben, nicht wahr?
Isabell

Rainer musste die Zeilen wieder und wieder lesen. Er konnte es nicht glauben, Isabell liebte ihn.

Kapitel 27

Rainer war viel zu aufgewühlt, um an Schlaf zu denken. Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, hatte er das dringende Bedürfnis, endlich aus seinen verschwitzten Anzug auszuziehen und ein entspannendes Bad zu nehmen. Während er das heiße Wasser in die Wanne laufen ließ, kramte er die alten Adventkerzen vom Vorjahr heraus und stellte sie auf das Podest neben dem Whirlpool. Ein heftiger Sturm hatte sich während der Nacht aufgemacht und pfiff um das Dach des alten Hauses. Durch die großen, schlecht isolierten Fenster drang ein feiner Luftzug, der nicht nur die Gardinen wellenförmig bewegte, sondern auch die Flammen der Kerzen immer wieder heftig aufflackern ließ. 
Bevor sich Rainer in das angenehmheiße Badewasser gleiten ließ, hatte er ein gut eingeschenktes Glas Cognac neben eine der unruhig flackernden Stumpenkerzen abgestellt. Langsam fühlte er, wie der Stress des Tages aus seinem Kopf und die Spannung aus seinem Körper zu weichen begannen. Mit geschlossenen Augen lehnte er seinen Kopf auf das kleine Nackenkissen, während er den nach aromatischem Badesalz duftenden Dunst einatmete. Durch die Düsen im Pool schoss das mit weicher Luft durchmischte Wasser und massierte angenehm sanft seinen Körper.
Zufrieden schlürfte Rainer seinen geliebten Cognac aus dem dickbauchigen Glas, während er diesen äußerst facettenreichen Abend nochmals an sich vorüberziehen ließ. Immer wieder musste er an Isabell denken und wie sie ihn mit ihren wunderschönen, meergrünen Augen sehnsuchtsvoll anblickte. Rainer verspürte bei dieser Erinnerung ein angenehm wohliges Kribbeln im Bauch. Mit geschlossenen Augen begann er in seinem nun leichten Alkoholnebel davon zu träumen, dass Isabell in den Pool steigen und mit ihm zusammen in eine Woge aus Glück und Wollust eintauchen würde.
Rainer genoss diesen wundervollen Gedanken und die süße Spannung in seinem Körper. Angenehm erschöpft sank er ein wenig tiefer in das noch immer heiße Wasser und döste schließlich ein. 
Der Sturm hatte an Intensität zugelegt, sodass Rainer durch sein lautes Heulen aus dem Schlummer gerissen wurde. Die Flammen der Kerzen warfen nun geisterhafte Schattengebilde auf die schräge Plafondwand des Badezimmers. Jedesmal, wenn sein Geist versuchte, aus diesen Schattenfetzen Bilder zu formen, lösten sich diese unsteten dunklen Flecken plötzlich wieder auf, um sofort an anderer Stelle ihren unruhigen Tanz fortzusetzen. Waren das wirklich nur Schattenbilder, die dem brennenden Docht der Kerzen zuzuschreiben waren, oder steckte hinter diesen Hirngespinsten doch mehr? 
Bei kurzem Nachlassen des Windes beruhigte sich auch die schnelle Abfolge dieser Licht- und Schattenspiele wieder. Rainer wusste nicht, ob ihn das langsam erkaltende Wasser oder diese bizarren Reflexionen frösteln ließen, da sich diese nun langsam zu Gestalten formen schienen. Fasziniert beobachtete er, wie über ihm zwei Schatten zusammenwuchsen. In dem schemenhaften Gebilde glaubte Rainer nun einen großen und hageren Mann zu erkennen, der in seiner rechten Hand ein riesiges Beil hielt. Wie bei einem Angriff ließ er es kampfesfreudig über seinem Haupt kreisen, als ob er auf seinen Gegner wartete.

Doch dann frischte der Wind erneut auf und verwischte diese Gestalt. Der Schatten verharrte kurz und unscharf in einer Ecke, um sich dann abermals in einen mächtigen Mann in einem langen Mantel zu verwandeln, der eine Fliegermütze trug. Doch auch andere Gestalten traten jetzt aus der Wand heraus. Er konnte sie zwar nicht erkennen, trotzdem waren sie ihm seltsam vertraut, wie sie so direkt auf ihn zukamen. 
Rainer war nun wirklich kalt geworden und er unterdrückte ein Zittern. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch nahm im gleichen Ausmaß wie, wie sich sein Nackenhaar aufzustellen begann. In einem leichten Anfall von Panik sprang Rainer aus der Wanne und tastete im Halbdunkel nach dem Lichtschalter. Das grell aufleuchtende Licht der Deckenspots bereitete dieser Schimäre ein plötzliches Ende. Absolut nichts deutete nun mehr auf dieses mystisch-beklemmende Treiben auf der schrägen Deckenwand hin.
Verwirrt schlüpfte Rainer in seinen Bademantel und ging zu Bett. Am nächsten Morgen bestätigte ihm sein erholsamer und traumloser Schlaf die Vermutung, dass der reichlich konsumierte Cognac seiner Fantasie ein ordentliches Schnippchen geschlagen hatte. 
Ernüchtert und froh, dass er nicht an Halluzinationen litt, machte er sich auf den Weg ins Büro. Er musste dringend mit Coleman telefonieren um festzustellen, ob Max’ Ausrutscher nicht vielleicht doch irgendwelche Unannehmlichkeiten verursacht hatte. Außerdem wollte er wissen, ob seine vorsichtigen Anbahnungsgespräche mit dem Konsul von Jordanien und dem libyschen Militärattaché schon erste Früchte getragen hatten. Doch vor allem wollte sich Rainer bei Grace bedanken, die aufgrund ihres ausgeprägten Einfühlungsvermögens erkannt hatte, wie sehr er Isabell liebte und im Trost zusprach. Bei dieser Gelegenheit wollte er sie noch einmal bitten, dieses Geheimnis unter allen Umständen für sich zu behalten.
Max war freitags selten im Büro anzutreffen. Heute rechnete Rainer schon gar nicht mit ihm, da er sicherlich bis in den Mittag hinein im Saufkoma liegen würde. Rainer war es ohnehin ganz recht, dass er ihn heute nicht zu Gesicht bekam. Sein Zorn über so viel Instinkt- und Distanzlosigkeit hatte sich noch nicht wirklich gelegt. Wäre er hier gewesen, dann wäre es sicherlich zu einer ziemlich heftigen Auseinandersetzung gekommen.
Rainer wollte schon zum Telefon greifen und Isabell anrufen. Doch dann legte er den Hörer nachdenklich auf die Gabel zurück. Vielleicht war er ja auch zu euphorisch und täuschte sich doch in seiner Vermutung, dass Isabell plötzlich mehr für ihn empfand. Wenn, dann musste sie den nächsten Schritt setzen und ihm zeigen, dass er sich nicht irrte.

Kapitel 28

Rainer wollte nicht wach werden. Immer wieder versuchte er, in diesen Traum zurückzutauchen, um darin so lange wie möglich zu verweilen. Doch sein Bewusstsein drängte immer mehr in die Realität zurück, sodass er sich schweren Herzens aus diesen wunderbaren Gefühlen lösten musste und endlich wach wurde. Wenn er seine Augen schloss, schwang in ihm noch sanft dieses Gefühl nach, wie er in seinem Flugzeug hoch über den Wolken flog.

Unter ihm lag Frankreich, seine Heimat. Er war ein französischer Aufklärungsflieger im Zweiten Weltkrieg. Seine Aufgabe war es, mit seiner Lockheed P-38 Lightning deutsche Stellungen zu überfliegen und diese zu fotografieren. Für diese wichtige Aufgabe war er bestens geeignet. Niemals hatte er das Bedürfnis gehabt, Bomben abzuwerfen, die nur Tod und Elend mit sich brachten. Er war ein absoluter Pazifist und wollte nicht töten. Doch das Fliegen war seine Leidenschaft, er wollte die Schönheit dieser Welt immer wieder mit seinen eigenen Augen einfangen. Gerade weil er diesen besonderen Blick fürs Detail hatte, war er ein ausgezeichneter Aufklärungspilot geworden. 
Er flog jetzt ziemlich hoch mit seiner Maschine, die ihn sicher und schnell mit sich trug. Seine Aufgabe machte ihm Spaß, so dass er diese auch gut und präzise zu erledigen versuchte.
Nur zu gut wusste er, wie viel von der Qualität und dem Inhalt der Fotografien abhing, die er und seine Kollegen mit ihren Spezialkameras fast täglich schossen. Aber der Preis für derartige waghalsigen Flüge war oft sehr hoch. Während die Kameras arbeiteten, konnten die Piloten nur einen geraden Kurs fliegen und durften weder zacken noch ausweichen. Auch die Flughöhe musste möglichst exakt eingehalten werden. In diesen wenigen Sekunden, die jedem Aufklärungspiloten wie eine Ewigkeit vorkamen, waren sie schutzlos wie fette Gänse der feindlichen Flak oder den Jagdbombern ausgeliefert. Zwar gab es einen Befehl, solche Flüge abzubrechen, wenn das gegnerische Feuer zu dicht wurde, aber die Piloten wussten nur zu gut, was dann für ihre Kameraden unten am Boden am Spiel stand. Deshalb flogen sie immer wieder genau in das Zentrum aus Metallsplittern und Explosionsblitzen hinein, aus dem aber viele nicht mehr zurückkamen. In ihrem Pflichtbewusstsein opferten sie ihr Leben für das Leben vieler Kameraden.
Aber es gab auch noch ein Leben neben Krieg, Gefahr und Tod. Manchmal gab es sogar Freundschaften über Fronten, Ideologien, die sich über die Grenzen hinweg setzten. Eine solch besondere Verbindung hatte auch für ihn große Bedeutung. Immer wieder suchte er Funkkontakt mit einem deutschen Piloten namens Egon von Walde. Zufällig hatten sich die beiden vor einigen Monaten auf der gleichen Frequenz gefunden. Egon flog eine der ganz modernen deutschen Maschinen, die damals schon mit einer Fu G 16 ZY-Bordfunkanlage ausgerüstet waren. Er war ohnehin immer auf Hörbereitschaft gewesen. Für ihn war kurzweiliges Geplauder immer eine willkommene Abwechslung auf seinen langen und manchmal auch sehr einsamen Flügen. Irgendwie hatte es zwischen den beiden sofort gefunkt, obwohl sie eigentlich Gegner sein sollten. Gemeinsam träumten die beiden Piloten von einem friedlichen und vereinten Europa ohne Krieg und ohne Hass, von einem Kontinent, in dem Wissenschaft und die schönen Künste wichtig waren und kein Rassismus und Fremdenhass mehr herrschte. Außerdem verband die Männer ein besonderer Hang zur Poesie und Literatur und sie zitierten Gedichte ihrer Lieblingspoeten. Die beiden hatten eine spezielle Frequenz gefunden, auf der die Wahrscheinlichkeit, abgehört zu werden, eher gering war. Um ganz sicher zu gehen, sprachen sie sich zusätzlich noch mit Decknamen an. Damit war eine erfolgreiche Suche nach ihnen kaum noch möglich. 
Im Lauf der Monate entwickelte sich eine besondere Nähe zwischen den beiden. In den langen Stunden in der Luft teilten sie einander ihre Probleme, Sehnsüchte, Träume, aber auch Ängste und Sorgen mit. Raoul, so wie er von dem Deutschen genannt wurde, erzählte seinem Freund von seinen Geschichten, die er übers Fliegen zu Papier gebracht hatte. Überrascht stellte Egon fest, dass er einige dieser Geschichten sogar kannte und diese in ihm tiefe Eindrücke hinterlassen hatten. Es war schon eine unwahrscheinlich groteske Situation, dass sich zwei völlig fremde Menschen in der Luft begegneten und sich über Philosophie, Kunst und Poesie unterhielten, während um sie herum die Welt in Trümmer ging. Raoul war auch über sich selbst völlig verwundert, dass er für einen Mann, einen Feind, den er noch niemals zuvor gesehen hatte, so tiefe Verbundenheit und Freundschaft empfand.

Der Traum vom Fliegen und dieser einzigartigen Männerfreundschaft hatte Rainer völlig verzaubert. Lächelnd ließ er das soeben Erlebte noch einmal nachklingen, bevor er dann doch aus dem Bett kletterte und gedankenverloren aus dem Fenster blickte. 
Einer dieser düster-morbiden Spätherbsttage hatte die Stadt mit seinem nasskalten Hochnebel fest im Griff. Normalerweise deprimierte ihn dieses abscheuliche Wetter immer ein wenig. Wenn er nicht ins Büro musste, hing er bei dieser Witterung gerne in seiner Wohnung herum, las oder sah fern und bestellte sich chinesisches Essen oder eine Pizza, die er dann oft auch im Bett verdrückte.
Doch heute konnte ihm selbst dieser unwirtliche Tag nichts anhaben. Er fühlte sich beschwingt, voller Tatendrang, ja beinahe glücklich. Heute war nicht der Tag, um sich in der Wohnung zu verkriechen. Viel mehr stand ihm der Sinn nach Shoppen, Zeitung lesen, im Kaffeehaus sitzen, Freunde anrufen, sich zum Mittagessen verabreden oder am späteren Nachmittag am Punschstand am Graben Freunde zu treffen. Außerdem brauchte er in seiner Wohnung dringend etwas Grünes. Rainer lebte nun schon einige Jahre hier, doch es gab nirgendwo eine Pflanze. Bis jetzt war ihm das gar nicht aufgefallen. Doch die Zeit war reif für Veränderungen. Deshalb beschloss Rainer, Grünzeug ins Haus zu holen, damit seine Wohnung ein wenig freundlicher und einladender wirkte. 
Außerdem war ihm danach, Isabell einen Strauß gelber Rosen zu schicken. Oh Gott, Isabell, Isabell, Isabell. Seine gestrigen Zweifel hatten sich gelegt. Rainer war nun ziemlich sicher, dass Isabell dieses wunderschöne Gedicht nicht aus einer Laune heraus an seine Windschutzscheibe gesteckt hatte. Endlich begann sie für ihn nun so zu fühlen, wie er es sich immer gewünscht hatte.
Rainer öffnete die Terrassentür und trat nackt auf den kalten und nassen Boden hinaus. Es nieselte, sodass sich sofort ein feiner und kalter Wasserfilm auf seiner Haut bildete. Doch anstatt sich gleich wieder ins warme Wohnzimmer zurückzuziehen, trat er an die Balustrade, streckte die Arme weit von sich und rief aus Leibeskräften Isabells Namen in den frühen Morgen hinaus. 
Zwei Tauben schreckten durch sein lautes Rufen auf und flogen irritiert in den nebelverhangenen Himmel hinein. Verwundert blickte Rainer den Vögeln nach. In Wien waren zumeist graue, schwarze oder gefleckte Tauben heimisch. Aber diese beiden Tiere waren schneeweiß. Plötzlich schoss ein Turmfalke aus einer Mauernische heraus und stürzte sich im Beuteflug auf die beiden Tiere. Zu spät erkannten die ahnungslosen Vögel die drohende Gefahr durch den sich rasch und lautlos nähernden Raubvogel. Blitzschnell krallte sich der Falke eine der beiden Tauben, die noch durch heftigen Flügelschlag versuchte, den tödlichen Krallen zu entkommen. Der leise Todesschrei der weißen Taube verhallte in dem stillen Morgen, als ihr Flügelschlag erlahmte und der Falke den leblosen kleinen Körper zu Boden fallen ließ, um ihn an Ort und Stelle zu verspeisen. 
Schnell schloss Rainer die Balkontür. Dieses ernüchternde Schauspiel hatte seine Euphorie gedämpft. Unangenehm berührt fragte er sich, ob dieses Szenario ein Wink des Schicksals war und etwas zu bedeuten hatte.

Kapitel 29

Anstatt zu Hause zu frühstücken machte sich Rainer lieber ins Café Tirolerhof auf. Dort konnte er in aller Ruhe die Zeitungen durchblättern, bevor er dann noch auf einen Sprung im Büro vorbeischauen würde, um seine E-Mails und die Faxe zu lesen. Mit aufgestelltem Kragen seines Mantels verließ Rainer fröstelnd das Haus. Bei diesem unwirtlichen Wetter kroch die kalte Nässe in jede Pore der Haut.
Immer wieder musste Rainer an Isabell denken. Ihr warmes Lächeln, ihr zärtlicher Blick und ihr sanfter Kuss auf seine Wange ließen ihn jedes Mal aufs Neue vor Freude und Sehnsucht zittern. Und dann noch dieser wunderbare Traum, der seinem Höhenflug noch ein kleines Häubchen aufsetzte. 
Wie gerne hätte Rainer mit jemandem über seine Gefühle und Empfindungen gesprochen. Aber er hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte, außer…
„Angelina, bist du es wirklich?“, rief Rainer freudig überrascht der alten Frau zu, die mit zwei prall gefüllten Plastiktaschen an der einen und dem Blindenstock an der anderen Hand durch den Park humpelte. Erschrocken zuckte die Stromerin in ihrem von Motten zerfressenen Lodenmäntelchen zusammen und drehte sich um. Ihre blinden Augen starrten ins Leere, doch ihr hoffnungsvolles Lächeln sagte Rainer sofort, dass sie ihn erkannt hatte.
„Junge, wo bist du?“, rief Angelina erfreut und versuchte ihn zu orten.
Rainer kam rasch auf sie zu. In einem neuerlichen Freudenanfall schloss er sie in die Arme.
„Nicht so stürmisch, sonst brichst du mir noch meine alten Knochen“, tadelte sie ihn liebevoll. 
„Wo warst du denn die ganze Zeit. Du hast mir gefehlt, Angelina.“
Verwundert fühlte Rainer, dass seine Worte mehr als nur schnell dahergesagte Höflichkeitsfloskeln waren. Tief in sich spürte er, dass sie ihm wirklich gefehlt hatte. 
„Ich war auf einen Kurzbesuch bei meiner Schwester in Italien.“
„Was denn, dein Kurzbesuch hat fast zwei Monate gedauert?“, fragte Rainer ungläubig.
„Junge, du verkennst die Situation. Wenn man die nötige Kohle hat, steigt man ins Flugzeug und ist innerhalb weniger Stunden in Sizilien. Doch ohne Geld als alte, blinde Bettlerin zu reisen, bringt schon einige Probleme mit sich. Man braucht immer wieder fremde Hilfe, um auf die richtigen Güterwaggons zu kommen. Zwischendurch musste ich auch immer wieder Stopps fürs Betteln einlegen, um irgendwie über die Runden zu kommen.“
„Wieso bist du dann nicht gleich den Winter über in Sizilien geblieben? Das wäre deinen alten Knochen sicherlich besser bekommen als der kalte Winter hier.“
„Nein, auf Dauer sind diese Typen dort unten nichts für mich. Die leben ja noch fast im tiefsten Mittelalter. Nein, Junge, hier bin ich zu Hause, hier gehöre ich her und hier werde ich gebraucht.“
Mittlerweile war Rainer mit Angelina am Arm bei ihrer Parkbank angekommen, wo sie sich vorsichtig niederließ. Der auffrischende kalte Wind fuhr durch den dünnen, löchrigen Stoff ihres Mantels. Instinktiv versuchte Angelina, die allzu luftdurchlässigen Stellen abzudichten, um ihren fröstelnden Körper ein wenig besser vor dem kalten Wind zu schützen.
Voller Mitleid betrachtete Rainer die vor ihm sitzende alte Frau, deren milchige Pupillen ins Leere blickten.
„Du solltest bei diesem Wetter nicht hier draußen sein. Ich möchte, dass du zu mir kommst und die nächsten Tage in meiner Wohnung bleibst, bis ich ein warmes Nest für dich gefunden habe.“
„Du bist echt ein guter Junge. Doch der einzige Ort, wo ich jetzt sein möchte, ist hier. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin zäh wie altes Leder. Wind und Wetter können mir nicht allzu viel anhaben. Lass mich lieber an den wirklich wichtigen Dingen deines Lebens teilhaben, wie zum Beispiel an deinen neuen Träumen.“
„Wieso weißt du, dass ich wieder geträumt habe?“, fragte Rainer überrascht.
„Hast du wirklich? Na, da haben wir doch einen tollen Zufall mit unserem Treffen“, erwiderte Angelina in freudiger Überraschung.
„Ja, Angelina, ich hatte wirklich wieder Träume, die aber so völlig anders waren als jene, die ich bis jetzt hatte.“
„Dann spann mich nicht noch länger auf die Folter. Du weißt doch, wie scharf ich darauf bin“, munterte sie ihn auf zu erzählen.
Plötzlich hob sie ihren Kopf und versuchte mit ihrer Nase, einen bestimmten Duft zu orten, den sie bald wohlwollend identifizierte.
„Doch bevor du dich zu mir setzt, hol uns beiden doch bitte einen Becher Glühwein. Hier muss es irgendwo einen Stand geben, wo dieses verdammt gute Gesöff angeboten wird.“ 
„Angelina, es ist neun Uhr morgens. Du kannst doch nicht schon in aller Früh Glühwein trinken!“, erwiderte Rainer.
Empört wandte sie ihm ihr runzeliges Gesicht zu, in das der kalte Wind immer wieder einzelne Strähnen ihres dünnen, weißen Haares wehte.
„Du möchtest mir doch nicht unterstellen, dass ich trinke? Diese Brühe ist ohnehin so verdünnt, dass mehr Wasser als sonst was drinnen ist. Es ist verdammt kalt hier draußen und etwas Heißes würde uns beiden guttun.“
Angelina verblüffte Rainer mit ihren handfesten und einleuchtenden Argumenten immer wieder aufs Neue. Lächelnd wandte er sich ab, um Glühwein für sie und einen Kinderpunsch für sich selbst zu organisieren.
Obwohl Rainer wusste, dass er vom Sitzen auf der Parkbank einen feuchten Hintern bekommen würde, nahm er dies gerne in Kauf, um Angelina seinen neuen Traum zu erzählen. Gierig griff die Bettlerin nach dem dampfenden Styroporbecher und umfasste ihn mit ihren klammen, knochigen Fingern. Dann nahm sie einen herzhaften Schluck und meinte zwinkernd:
„So Junge, jetzt bin ich absolut zufrieden und Wind und Wetter prallen an mir ab wie der Regen an der Fensterscheibe. Nun erzähl, ich bin ganz Ohr.“
Rainer wusste nicht so recht, wie er dieses neu erlebte Gefühl beschreiben sollte.
„Angelina, diese Träume waren so unbeschreiblich schön, dass ich sie kaum in Worte fassen kann. Noch nie fühlte ich mich so glücklich und zufrieden. Ich war ein französischer Aufklärungsflieger im Zweiten Weltkrieg. Du kannst dir nicht vorstellen, wie toll es ist, schwerelos wie ein Vogel durch die Luft zu gleiten, nur noch viel höher und schneller. Du befindest dich in einer Welt, die absolut himmlisch ist und das im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist wirklich kein Wunder, dass die Götter immer am obersten Zipfel der Welt thronen. In meinem Traum war das Fliegen eine Passion, eine heilige Handlung, ein unvergleichlicher Endorphinstoß, der nach immer mehr verlangte…“
„Schön. War das schon alles?“, unterbrach sie seine euphorischen Ausführungen gelangweilt.
„Nun, da gab es noch diesen deutschen Kampfpiloten, den ich Egon von Walde nannte.“
„Was, du bist in ein Luftgefecht verwickelt worden?“, fragte Angelina nun wieder interessierter.
Beschwichtigend drückte er ihre freie Hand.
„Nein, du wirst es nicht glauben, aber das Gegenteil war der Fall. Durch einen puren Zufall lernte ich ihn auf einer der vielen Funkfrequenzen kennen. Obwohl sein Französisch sehr holprig geklungen hat, führten wir doch wunderbare Gespräche. Der Typ muss ein sehr sensibler und schöngeistig veranlagter Mann gewesen sein. Eigentlich wollte Egon so wie ich auch nur Aufklärungsflüge fliegen, doch diese Kurve hat er leider nicht ganz erwischt. Er musste in den sauren Apfel beißen und einen dieser modernen deutschen Jäger fliegen. Egon hasste es, von den Nazis als Kampfmaschine missbraucht zu werden. Oft war er ziemlich deprimiert, weil er die Sinnlosigkeit dieses Krieges längst erkannt hatte und seine Geisteshaltung absolut gegen das Morden von unschuldigen Menschen eingestellt war.“
Nachdem Rainer eine Zeitlang geschwiegen hatte, fragte Angelina neugierig:
„Und wie ging es dann weiter?“, forderte sie ihn auf weiterzusprechen und trank dabei den lauwarmen Rest ihres absolut nicht verwässerten Glühweins. 
„Keine Ahnung, ich hab zwar versucht, noch weiter in dieser Geschichte zu bleiben, doch Traumland hatte Sendeschluss und hat mich knallhart vor die Tür gesetzt“, scherzte Rainer bedauernd.
„Hmm, find ich nicht so o.k. von denen. Eine kleine Zugabe hätten sie dir schon noch geben können“, stieg Angelina ein wenig enttäuscht auf seinen Scherz ein. „Nun ja, gut Ding braucht eben ein bisschen Weile.“
„Ich weiß nicht, ob dieser Traum noch einmal wiederkehrt“, murmelte Rainer und fühlte, wie eine wehmütige Sehnsucht in seiner Brust zu wachsen begann.
„Junge, vertrau mir. Ich spüre in der einzigen Zahnwurzel, die ich noch habe, dass da noch sehr viel mehr kommen muss.“ Voller Überzeugung tippte sie mit ihrem dünnen Zeigefinger auf die schwarze Zahnruine in ihrem Unterkiefer. Überrascht und schaudernd zugleich blickte Rainer in ihr altes, faltiges Gesicht, aus dessen offenem Mund der kaputte Zahnstummel hervorlugte.
„Dieser kleine Hurensohn hat mich noch nie im Stich gelassen. Gerade jetzt hat er wieder höllisch zu schmerzen begonnen, was ein gutes Zeichen ist.“
„Glaubst du nicht eher, dass die Schmerzen auf den hohen Zuckergehalt in deinem Glühwein zurückzuführen sind?“, fragte Rainer zweifelnd.
„Nie und nimmer. Schon als ich dir das erste Mal begegnet bin, hat sich dieser kleine Teufel ziemlich schmerzhaft in Szene gesetzt.“
„Vielleicht solltest du dich von ihm trennen und ihn ziehen lassen.“
„Bist du verrückt? Wenn mir der Zahnarzt den rauszieht, dann landet er im Mistkübel und vorbei ist es mit meinen besonderen Fähigkeiten.“
Nachdem sich Angelina wieder halbwegs beruhigt hatte, fuhr sie nachdenklich fort:
„Junge, wenn dieser Traum für dich wirklich Bedeutung hat, dann wartet er sicherlich auf dich. Versuche ihn wieder zu finden und lass dich dann einfach von ihm weitertragen.“
„Meinst du denn wirklich, dass dieser Traum wiederkommt?“
„Da bin ich mir genau so sicher wie du mir jetzt noch einen Nachschlag von dieser wässrigen Brühe bringst, die eher die Bezeichnung Abwaschwasser als Glühwein verdient.“ Verschmitzt lächelnd hielt sie ihm ihren leeren Becher hin.
Ihre Unverfrorenheit ließ ihn nachsichtig grinsen. Schweigend stand er auf, nahm ihren leeren Becher und ging damit ein zweites Mal zum Punschstand.
„Du bist ein guter Junge“, sagte Angelina zufrieden und tätschelte seine kalte Wange, während sie nach dem vollen, dampfenden Becher lechzte, den ihr Rainer vorsichtig in die Hand gedrückt hatte. Dann saßen beide noch einige Minuten schweigend nebeneinander, bevor Rainer seufzend aufstand und aus seiner Hosentasche eine 20 Euro-Note herauszog.
„Hier nimm, Angelina. Damit musst du nicht mehr in dieser Kälte ausharren und kannst nach Hause gehen, wo es hoffentlich wärmer ist als hier. Ich hab noch einiges zu erledigen und muss leider aufbrechen.“
„Nur Bares ist Wahres“, erwiderte sie dankbar und ließ den Geldschein schnell in ihrer ausgebeulten Manteltasche verschwinden.
„Nur zu Junge, mach dass du weiterkommst. War schön dich wiederzusehen.“
„Ja, das finde ich auch, Angelina. Pass auf dich auf.“
Liebevoll drückte Rainer ihre freie, nicht mehr ganz so kalte Hand und wollte Richtung Stadt verschwinden. Doch dann blieb er stehen und drehte sich nochmals zu der alten Frau um.
„Lässt du mich heute ganz ohne Tipp oder Ratschlag gehen, Angelina?“
Sie setzte den Becher von ihren Lippen ab und lächelte tiefgründig in seine Richtung.
„Du kennst mich schon ziemlich gut, Junge. Natürlich hätte ich dich nicht ohne Wink ziehen lassen, du bist mir nur zuvorgekommen.“
Schweigend starrte die alte Frau mit ihren blinden Augen in die Ferne und ihr suchender Blick verklärte sich. Plötzlich schien es Rainer, als ob von ihrem Gesicht ein ganz besonderes Licht ausginge. Unversehens wirkte Angelina wesentlich jünger. Nun konnte auch Rainer erkennen, dass seine Freundin vor langer Zeit eine sehr schöne Frau gewesen sein musste. Doch so schnell ihm dieser Gedanke gekommen war, so schnell war er auch schon wieder vorüber, denn Angelina war schon aus ihren Visionen zurückgekehrt. Langsam wandte sie sich Rainer zu, der ihren vielsagenden Blick nicht deuten konnte. Schließlich sagte sie mit ernster Stimme:
„Hüte dich vor dem Flug des Falken.“
„Wieso vor einem Falken?“, fragte Rainer überrascht, da ihm sofort das Erlebnis am frühen Morgen auf seiner Terrasse in den Sinn kam. 
„Ich weiß es nicht. Das musst du selbst herausfinden, Junge.“ 
Schweigend nickte Rainer. Er ahnte, dass Angelina weit mehr wusste als sie ihm sagen wollte. 
„Wann sehe ich dich wieder?“, fragte er die alte Frau und ein leichter Anflug von Traurigkeit erfasste ihn.
„Keine Angst, ich werde da sein, wenn du mich brauchst, Junge.“ 
Rainer war nun fast überzeugt, dass Angelina keine zufällige Begegnung war, sondern dass dieses alte, verkommene Weiblein eine ganz besondere Bedeutung in seinem Leben hatte.

Kapitel 30

Schwer bepackt kam Rainer nach einer langen Einkaufbummel durch die Stadt wieder nach Hause. Die Einkaufstaschen und den riesigen Fikus Benjamin stellte er vorsichtig vor der Türschwelle ab, um die Wohnungstür aufsperren zu können. Doch Rainer spürte sofort, dass er nicht alleine war. Beunruhigt gleich einen Einbrecher zu ertappen, ließ er die Tür so leise wie möglich ins Schloss fallen. Den Blumentopf hielt er wie einen Schild vor sich und schlich vorsichtig zur offenen Wohnzimmertür, in dem er den ungebetenen Gast vermutete. 
Doch seine Befürchtung wandelte sich plötzlich in helle Freude, als er Isabell vor dem Kamin knien sah, die gerade einige Holzscheite auf die niedergebrannte Glut schichtete.
Nun fühlte auch Isabell, dass sie jetzt nicht mehr alleine war und wandte sich der Tür zu, in der Rainer stand und sie erstaunt beobachtete. Isabell war weder nervös noch schuldbewusst, weil sie ungebeten in seine Wohnung eingedrungen war. Völlig ruhig sah sie ihn einen langen Augenblick an. All die Liebe, die sie für ihn empfand, spiegelte sich nun klar in ihren schönen Augen wider. Langsam stand sie schließlich auf und kam auf ihn zu. Rainer wusste nicht, ob er wachte oder träumte. Jedenfalls war er mit dieser völlig unerwarteten Situation ein ziemlich überfordert. Mit dem riesigen Blattgewächs im Arm stand er verlegen in der Flügeltür seines Wohnzimmers und wusste nicht so recht, was er nun tun sollte. Lächelnd nahm Isabell ihm die Pflanze ab und stellte sie neben die Terrassentüre.
„Ich glaube, hier wird er sich am wohlsten fühlen. Er braucht es hell und ein wenig kühl. Du wirst sehen, er wird es dir mit einem grünen Blättermeer danken.“
„Ja, dort wollte ich ihn auch hinstellen“, log Rainer, der sich noch absolut keine Gedanken darüber gemacht hatte, wo sein Platz sein sollte.
Dann sah er den gelben Rosenstrauß auf der Kommode stehen, den er ihr heute Morgen geschickt hatte. Enttäuscht blickte er Isabell an. 
„Haben sie dir nicht gefallen?“ 
„Doch, sehr sogar. Doch ich wollte mich an ihrer Schönheit nicht alleine freuen. Deshalb hab ich sie mitgenommen.“
Rainer ahnte, dass der Strauß bei Max bestimmt Fragen aufgeworfen hätte. Um unnötige Diskussionen zu vermeiden, hat sie die Rosen wahrscheinlich mitgenommen.
Die knisternde Spannung im Raum stieg. Wie oft hatte sich Rainer diese Situation in seinen schönsten und kühnsten Träumen vorgestellt. In diesen war er immer der verwegene Draufgänger ohne Schranken und Hemmungen gewesen. Oh Gott, und nun schaffte er es nicht einmal, ihr einen ganz normalen Begrüßungskuss zu geben, ohne feuchte Hände zu bekommen. 
„Du solltest deinen Mantel ausziehen. Ich glaube, es ist jetzt warm genug“, forderte sie ihn mit verschmitztem Lächeln auf.
„Ja, natürlich,“ erwiderte Rainer fahrig warf den Mantel auf die Lehne eines Stuhls. Nervös ging zum Kamin, um sich die Hände am Feuer zu wärmen, obwohl sein Körper von permanenten Hitzeschocks heimgesucht wurde. 
Als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre, trat Isabell hinter ihn, schlang zärtlich ihre Arme um seinen Brustkorb und lehnte ganz sachte ihren Kopf an seinen breiten Rücken. Eine Welle unsäglichen Glücksempfindens erfasste seinen Körper und beflügelte seine Seele. Langsam begann sich sein Stress zu legen und sein Atem wurde ruhiger. Dann nahm Rainer eine von Isabells Händen auf seiner Brust und küsste sie inbrünstig. Schlagartig löste sich seine letzte innere Blockade und all die Sehnsucht nach ihrer Liebe, ihrer Zuneigung, ihrem Körper und ihrer Nähe ließ ihn über seinen Schatten springen. Erwartungsvoll wandte er sich ihr zu. Wie viele Jahre bitteren Verlangens hatte er auf diesen Augenblick gewartet und sich danach gesehnt, sie nicht als Freund, sondern als Geliebter in seine Arme schließen zu können. Wie klein, zart und verletzlich sie doch war. Für einen langen Moment verweilten sie in dieser zärtlichen Umarmung. Rainer roch ihr Parfüm, spürte ihre Wärme und fühlte ihr seidiges Haar, in das er sein Kinn gebettet hatte. Schließlich blickte sie verlangend zu ihm auf, um von ihm geküsst zu werden. Sanft berührten sich ihre Lippen, um langsam zu einem zärtlichen und immer intensiveren Kuss zu verschmelzen. Die so lange aufgestaute Sehnsucht forderte nun ihren Tribut. Übergangslos wandelte sich diese liebevolle Zärtlichkeit in ein verzehrendes Feuer der Wollust. Gierig bog er ihren Kopf zurück und küsste sie fordernd und immer inniger, wobei ihre Zungen zu einem leidenschaftlichen Tanz verschmolzen.
Noch während er sie küsste, hob er sie wie eine Feder hoch und trug sie in sein Schlafzimmer. Innerhalb weniger Sekunden waren beide entkleidet und ihre Körper erspürten einander voller Lust und Begierde. Die Freude und das Glück, sich einander zu schenken, beflügelten die beiden Liebenden immer wieder aufs Neue, sich diesem elysischen Himmelsritt hinzugeben. Erst weit nach Mitternacht verebbte der süße Schmerz ihrer leidenschaftlichen Hingabe, sodass sie schließlich erschöpft in den Armen des geliebten Menschen einschliefen. 

Als Rainer am nächsten Morgen realisierte, dass er alleine im Bett lag, dachte er im ersten Moment, wie so oft einen seiner zu wirklichkeitsnahen Träume gehabt zu haben. Doch dann roch er den schweren Duft von Leidenschaft und Liebe, der noch immer im Raum hing, und spürte diese befriedigende Müdigkeit, die durch unendliche Freude und Glück in ihm verursacht wurde. Als er dann auch noch den Strauß gelber Rosen im Wohnzimmer auf dem Tisch stehen sah, wusste er, dass er dieses Mal sein Traum Wirklichkeit geworden war. Ein wenig wehmütig nahm er das Polster, auf dem sie gelegen war und drückte es auf seine Nase. Ihr lieblicher Duft haftete noch daran, sodass Rainer plötzlich das dringende Bedürfnis verspürte, sie erneut an sich zu ziehen und ihren Körper mit zärtlichen Küssen zu übersäen. 

Den Tag über schwebte Rainer wie auf Wolken. Unfähig, irgendetwas Produktives zu tun, kreisten seine Gedanken ständig um Isabell. In den zärtlichen Stunden ihrer Zweisamkeit war kein einziges Wort über Max und die Probleme gefallen, die mit ihrem Schritt ausgelöst worden sind. Zu wertvoll war diese Zeit, um etwas anderem als ihrer Liebe Raum zu geben. Rainer wusste aber nur zu gut, dass die Realität früh genug an ihre Türen klopfen würde. Aber jetzt wollte er nur an ihr Lächeln, den Duft ihrer Haut, ihre Hingabe, ihre Weichheit und ihre gemeinsame Lust denken.

Kapitel 31

Mit seinen Gedanken an Isabell ging er spätabends ins Bett. Endlich war diese trennende Mauer zerstört. Nach so vielen Jahren hatte er Isabell endlich zeigen können, wie sehr er sie liebte und verehrte. Aber auch Isabell hatte es nicht verabsäumt zu zeigen, was sie für ihn empfand.
In dieser Nacht wollte Rainer mit Isabell zusammen noch einmal ins Reich seiner Träume eintauchen, um diese wunderbare Nacht mit ihr noch einmal in allen Facetten erleben zu können. Doch auf diesen heiß ersehnten Traum wartete er vergeblich. Dafür stellte sich der andere Traum wieder ein, der in fast genauso in Verzückung versetzte.

Rainer sah seine linke Hand in einem Handschuh aus feinstem Leder. Lässig und in ruhigen Bewegungen hielt er seine Maschine beim Anlauf auf der Piste, während seine rechte Hand beide Gashebel in der vordersten Position fixierte. Seine Füße korrigierten über Seitenruder und Bugfahrwerk den Windeinfluss. Sie leiteten das gleichmäßige Vibrieren der in der Startposition hochdrehenden Motoren seiner Lightning in seinen Körper weiter. Raoul spürte nun wieder diese besondere Aufregung in sich, endlich wieder vom Boden abheben zu dürfen.
Er wollte sich schwerelos und frei wie ein Vogel hoch in den Himmel erheben, um einige Zeit dem tristen und tödlichen Alltag dieses schrecklichen Krieges zu entfliehen. 
Er hatte seine Flughöhe kaum erreicht, begann es auch schon im Funkgerät zu knistern und zu pfeifen. Raoul wusste, dass Egon nach ihm suchte. Für heute hatten sich die beiden zu einer netten Plauderei hoch in den Lüften verabredet. Rasch hatte Raoul die Wellenlänge und Senderstärke gefunden. Mit tiefer Stimme und in seinem schlechten Französisch begrüßte ihn Egon. Raoul wurde sofort hellhörig, da bei Egon ein Unterton mitschwang, der sehr bedrückt klang. 
„Musstest du wieder einen Bombeneinsatz fliegen?“, fragte Raoul mitfühlend.
„Nein, Gott sei Dank blieb mir das gestern erspart. Das schlechte Wetter hatte den Einsatz unmöglich gemacht“, erwiderte Egon erleichtert.
„Ich hab ein ganz anderes Problem, bei dem ich dich um Hilfe bitten muss“, fuhr Egon bedrückt fort.
Überrascht und neugierig zugleich forderte Raoul seinen Freund auf weiterzusprechen. Egon ließ sich nicht lange bitten und erzählte ihm von der heiklen Angelegenheit.
„Nachdem Hitler an die Macht gekommen war und mit seinen Säuberungsaktionen begonnen hatte, konnten mein Freund Albert und ich im letzten Moment der Tochter unserer gemeinsamen Klavierlehrerin zur Flucht nach Südfrankreich verhelfen. Sie war Jüdin und musste das Land so schnell wie möglich verlassen, um nicht wie ihre Mutter in irgendeines der Lager deportiert zu werden. Bis jetzt ist sie dort auch relativ sicher gewesen, denn der südliche Teil Frankreichs untersteht ja dem Vichy-Regime, während der nördliche Teil durch uns Deutsche kontrolliert wird. Wie du sicherlich auch weißt, hatte man im deutschen Teil sofort mit der Judenverfolgung begonnen, während der Süden noch halbwegs sicher war. Doch nun beginnen sie auch dort unten nach geflüchteten oder ansässigen Juden zu suchen. Das Mädchen ist nun auch in Toulon nicht mehr sicher.“ 
„Wieso liegt dir so viel an dieser Frau? Ist sie deine Freundin?“, fragte Raoul neugierig. „Nein, nicht meine, aber die von Albert. Ich kenne das Mädel aber schon seit meiner frühesten Kindheit. Sie ist sozusagen wie eine kleine Schwester für mich. Albert ist mit Irene verlobt. Nach dem Krieg wollen die beiden endlich heiraten. Doch niemand darf wissen, dass ein deutscher Fliegeroffizier mit einer Jüdin verbandelt ist. Wenn das bekannt werden würde, dann hätte Albert ein ziemlich großes Problem. Deshalb können wir nicht wirklich aktiv werden. Ich möchte nicht, dass Irene verhaftet wird. Und wie es aussieht, bist du der Einzige, der uns helfen kann.“
Aus gemeinsamen Gesprächen wusste Egon, dass Raoul aus Südfrankreich stammte und die gebirgige Gegend dort wie seine Westentasche kannte.
„Was stellst du dir vor?“, fragte Raoul, obwohl er bereits ahnte, was Egon im Sinn hatte. 
„Ich möchte dich bitten, uns zu helfen, das Mädel aus Toulon herauszubringen.“ 
Raoul überlegte angestrengt, wie er das anstellen konnte. Nachdem Raoul nichts sagte, fuhr Egon unsicher fort. 
„Ich weiß, die Kleine dort herauszuholen gleicht fast einem Himmelfahrtskommando. Ich komm ja nicht einmal an sie ran. Wir wissen nur, dass sie in Toulon oder im Umkreis der Stadt untergetaucht ist. Dir wäre es aber vielleicht möglich, über die Resistance herauszubekommen, wo sie steckt. Du wärst unser Mittelsmann. Wir könnten sie dann rausholen und zu dir in Sicherheit bringen. Ich erwähne ihren Namen aus Sicherheitsgründen jetzt nur ein einziges Mal. Bitte pass genau auf. Sie heißt Irene Roth und stammt aus Essen/Bredenei.“
Raoul ließ sich Egons Informationen noch einmal durch den Kopf gehen. Es dauerte auch nicht lange und Raoul hatte einen Plan, wie er an das Mädchen herankommen konnte.
„Lass mir zwei oder drei Tage Zeit, bis ich weiß, wo sie ist. Dann können wir überlegen, wie wir sie herausbekommen.“

Nachdem Raoul gelandet war, setzte er sich sofort mit seinem Cousin in Verbindung, der mit der Resistance in engem Kontakt stand. Unerwartet schnell kam die Antwort. Ein sicherer Kontakt zu Irene war machbar, weil sie in dieser Organisation mitarbeitete, soweit ihr das möglich war. Raoul erfuhr aber auch, dass man schon seit geraumer Zeit mit großangelegten Säuberungsaktionen begonnen hatte. Überall waren Durchsuchungen im Gange oder geplant, um untergetauchten Deserteuren, Widerstandskämpfern, Juden und Zigeunern habhaft zu werden. Die Zeit wurde knapp und jede Minute konnte entscheidend sein. Raoul blieb keine Zeit mehr, sich mit Egon in Verbindung zu setzen, um einen Fluchtplan auszuhecken. Außerdem würde ihr unverschlüsselter Funkverkehr zusätzlich ein unnötiges Risiko für die Aktion bedeuten.
Kurz entschlossen bat er seinen Cousin, der Deutschen auszurichten, dass sie sich auf der großen Wiese ca. 5 km außerhalb der Stadt bereit halten sollte. 
Um die Angelegenheit für die Resistance interessant zu machen, bot Raoul an, mit Irene auch gleich geheime Unterlagen auszufliegen, falls das gewünscht werden sollte. Als Termin für die Operation legte er die kommende Vollmondnacht fest. Raoul hoffte, damit auch noch zeitig am Morgen genug Restlicht für einen einigermaßen sicheren Anflug zu haben. Die flache, langgestreckte Wiese war für eine Außenlandung recht gut geeignet. An die eine Seite der Wiese grenzte ein dichter Pinienwald, der die nötige Deckung und auch einen guten Windschutz bot, während auf der anderen Seite ein steiler Abhang zum Meer jede Möglichkeit ausschloss, von deutschen Soldaten angegriffen zu werden. Außerdem war der Boden fest genug, um nicht stecken zu bleiben. Raoul war in der Nähe Toulons aufgewachsen. Das Ziel lag nicht zu weit von der Stadt weg und war durch einen Wasserlauf leicht zu erkennen. 
Auf die positive Rückmeldung der Resistance musste er nicht lange warten. Sein Angebot, Dokumente mitzunehmen, war einfach zu verlockend.
Ohne lange zu überlegen, „borgte“ sich Raoul in der kommenden Nacht von seinem Luftwaffenstützpunkt in Korsika einen erbeuteten „Fiesler Storch“. Der kleine Flieger war extrem wendig. Außerdem reichte ihm schon eine sehr kurze Start- und Anflugsfläche. Das Flugzeug konnte nicht nur auf Kies und Gras landen, sondern war auch noch ein typisch deutsches Flugzeug. Das einzige Problem war die begrenzte Reichweite des Fliegers. Aber bei leichtem Wind sollte dieser Radius für die zwei Mal knapp 200 Meilen eigentlich ausreichen. Nur langes Suchen über dem Zielgebiet würde er sich nicht leisten können.
Raoul wusste natürlich, dass sich in der Nähe der Stadt ein Marinestützpunkt befand. Es war daher ziemlich gefährlich, gerade dort zu landen. Doch leider blieb ihm keine andere Wahl. Zum gegebenen Zeitpunkt konnte sich Irene nicht allzu weit aus der Stadt hinausbewegen. Die Gefahr war zu groß, den deutschen Häschern in die Hände zu fallen. Systematisch durchstöberten SS, SA und Wehrmacht immer wieder das Umfeld der Stadt, um jede Sabotage im Keim zu ersticken.
Der Flug zum Festland war nicht gerade ein erholsamer Morgenspaziergang. Über dem Wasser musste sich Raoul im Tiefflug unter den Funkmessungen bewegen, um unerkannt zu bleiben. Ab der Küstenlinie flog er dann in unmittelbarer Nähe der Felsen, Bodenerhebungen oder Bäume entlang, um nicht geortet oder gesehen zu werden. Raoul kam sich vor wie ein Grashüpfer, der von einem Hügel zum nächsten sprang. Trotz des Vollmondes kam dieser Flug einem Himmelfahrtskommando gleich.
Es war Sommeranfang und die Nächte waren kurz. Knapp nach vier Uhr morgens landete Raoul die Maschine auf der vereinbarten Wiese. Ziemlich beunruhigt, weil die junge Frau noch nicht da war, hielt Raoul im diffusen Licht des nahenden Morgens nervös nach ihr Ausschau. Unmöglich konnte er hier wie auf einem Präsentierteller auf sie warten. Raoul musste weg von hier, sonst hätte er sicherlich bald ein riesiges Problem.
Als Irene nach fünf ewig lang dauernden Minuten immer noch nicht aufgetaucht war, wollte Raoul gerade den Gasknopf wieder langsam nach vorne schieben, um zu starten. Im letzten Moment sah Raoul, wie eine junge Frau aus dem Wald gelaufen kam. Schnell erkannte er den Grund ihrer Verspätung. Irene wurde von zwei Männern verfolgt, die keine dreihundert Meter hinter ihr waren und mehrmals auf sie schossen. 
Rasch öffnete Raoul die rechte Türe, setzte die Klappen und bereitete alles für den Abflug vor. Noch während sie in die Maschine sprang, gab er schon Vollgas und beschleunigte das Flugzeug. Nach kurzer Anlaufstrecke hob der Storch ab. Beim Hochziehen sah Raoul im Rückspiegel das Mündungsfeuer der deutschen Karabiner im noch nachttrüben Morgenlicht aufblitzen. Doch die Verfolger waren schon zu weit entfernt, als dass ihre Waffen noch gröberen Schaden hätten anrichten können.
Nach den ersten Bäumen drückte Raoul den Flieger sofort wieder nach unten, um aus dem Blickfeld der Verfolger zu geraten. 
Laut keuchend und völlig erschöpft versuchte die junge Frau langsam wieder zu Atem zu kommen. Raoul hatte jetzt aber keine Zeit, sich um seinen Passagier zu kümmern. Er hatte alle Hände voll damit zu tun, sich im Tiefflug möglichst unauffällig aus dem Staub zu machen. Permanent musste er darauf achten, rechtzeitig hochzuziehen und auszuweichen, um nicht in eines der unzähligen Hindernisse um ihn herum zu knallen. Gott sei Dank war es nun schon hell genug geworden. Raoul konnte die Entfernungen nun wesentlich besser als beim nächtlichen Hinflug abschätzen. Dafür war der Flieger jetzt aber auch schwerer und auch etwas träger zu steuern. 
Die Besatzer unter ihm glaubten zuerst, ein eigenes Flugzeug über sich zu haben. Wenn überhaupt, erkannten sie die wahre Identität der Hoheitszeichen erst, wenn der Fiesler Storch schon direkt über ihnen war. Raouls Plan ging auf. Frechheit und Überraschungseffekt halfen ihm, rechtzeitig zu entkommen. 
Bald hatten sie das offene Meer erreicht. Raoul flog jetzt so tief, dass die Räder fast die Wellenkämme berührten. Es blieb ihm aber auch keine andere Wahl. Weder wollte er von den Deutschen noch von seinen eigenen Landsleuten abgeknallt werden. Erst als er den korsischen Stützpunkt erreicht hatte, atmete Raoul erleichtert durch. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass sein unrechtmäßiges „Ausborgen“ des Fliegers ohne gröbere disziplinäre Folgen für ihn bleiben würde. Bis auf ein paar Einschüsse war die Maschine unbeschädigt geblieben, dafür hatte Irene aber einen kleinen Koffer mit wichtigen Unterlagen mitgebracht, die seine Vorgesetzten sicherlich interessieren würden.
Die Landung in Borgo hatte den Luftwaffenstützpunkt natürlich alarmiert. Von allen Seiten rannten Soldaten auf das Flugzeug zu. Die beiden wurden sofort in einen Jeep verfrachtet und zur Kommandantur gebracht. Erst jetzt hatte Raoul die Gelegenheit die junge Frau genauer betrachten. Vor Überraschung blieb ihm für einen Moment fast die Luft weg. Nun verstand er, wieso Egon und sein Freund alle Mittel und Hebel in Bewegung gesetzt hatten, um diese Frau aus der Höhle des Löwen herauszubekommen. Irene war eine absolute Schönheit. 
Das rotblonde Haar hielt sie unter einem dunklen Kopftuch versteckt. Doch die grünen Augen in ihrem blassen Gesicht strahlten wie die karibische See. 
Sie war so zart und zerbrechlich, dass sie Raoul unwillkürlich an die Limoges Porzellanpüppchen seiner Mutter erinnerte. Neben dieser zierlichen Elfe wirkte Raoul mit seinem hohen Wuchs und der kräftigen Statur wie ein grobschlächtiger Holzfäller aus dem entlegensten Winkel der Pyrenäen.
Doch als sie ihn dann das erste Mal dankbar anlächelte, glaubte er auf die Größe eines Däumlings zu schrumpfen. Plötzlich schien die Sonne heller, der noch kalte Meereswind glich einem lauen Sommerlüftchen und in der Luft lag nicht mehr der Gestank nach Kerosin, sondern der Duft von Hyazinthen und Flieder… 
Sein Geschwaderkommandant war ungeheuer aufgebracht über sein eigenmächtiges Handeln. Bevor sein Vorgesetzter jedoch zu einer gewaltigen Standpauke ansetzen konnte, legte Raoul einen kleinen, schwarzen Koffer auf den Schreibtisch des Offiziera.
„Kommandant, pardon, dass ich Sie unterbreche Doch ich glaube, diese Unterlagen sind für den Generalstab von größter Wichtigkeit und Dringlichkeit und rechtfertigen mein eiliges Handeln. Die Resistance hat uns diesen Koffer mit äußerst wichtigen Dokumenten anvertraut. Mademoiselle Roth war für den sicheren Transport der Unterlagen verantwortlich. Aus der notwendigen Dringlichkeit heraus war es mir jedoch nicht möglich, Sie von dieser Nacht- und Nebelaktion in Kenntnis zu setzen. Die Operation musste so schnell wie möglich vonstatten gehen, da deutsche Truppen systematisch begonnen hatten, Toulon zu durchsuchen. Die Gefahr wäre zu groß gewesen, dass diese wichtigen Informationen den Deutschen in die Hände gefallen wären.“
Raouls Statement ließ den Zorn des Kommandanten ein wenig verebben. Schweigend öffnete er den Koffer und warf einen raschen Blick auf eine Unzahl von Schriftstücken, Skizzen und Karten. Raouls Vorgesetzter quittierte Raouls Mut und seine Verwegenheit mit einem anerkennenden Lächeln. Doch Wagemut für eine gute Sache war die eine Seite, während Pflichtvergessenheit die andere war. Der Kommandant setzte Raoul daher auch in Kenntnis, dass dieses eigenmächtige Handeln ziemlich sicher ein Nachspiel haben würde. 
Doch an diese Konsequenzen wollte Raoul jetzt nicht denken. Mehr als zum Rapport würde man ihn bestimmt nicht zitieren. Zum einen hatte er mit diesem Husarenstück der französischen Armee wichtige Informationen zukommen lassen. Andererseits war Raoul eine viel zu schillernde Persönlichkeit, sozusagen ein Aushängeschild Frankreichs, als dass man ihn wirklich belangen konnte.

Mit diesem besonderen Duft in der Nase wurde Rainer wach. Doch er roch nicht Hyazinthen und Flieder, sondern den intensiven Duft der gelben Rosen, die in der Wärme des Zimmers nun zu ihrer vollen Schönheit erblüht waren. Seufzend ließ Rainer seinen Kopf wieder in das Polster zurückgleiten und schloss seine Augen. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er von Irene oder von Isabell weiterträumen wollte.
Doch dann dachte er dankbar an Angelina, deren kleiner „Hurensohn“ Recht behalten hatte.

Kapitel 32

Jake Colemans Stimme hatte beunruhigt geklungen, als er Rainer zu einer Unterredung zu sich nach Hause bat. Rainer hatte eigentlich vorgehabt, sich den Rest des Tages freizunehmen. Er brauchte ganz einfach ein wenig Abstand, um mit seinen eigenen Problemen und Bedürfnissen klar zu kommen. Doch Jakes Unruhe ließ Rainer hellhörig werden, sodass er seine Ansprüche zurückstellte.
Als er in die Straße der Colemans bog, parkte bereits Max’ Auto vor der Villa. Als Rainer den Wagen sah, begannen sich seine Nackenhaare zu sträuben. Ein ungewohnt unbehagliches Gefühl von Verrat und Betrug bemächtigte sich seiner. Zum ersten Mal würde er seinem Freund als Verführer und Nebenbuhler seiner Fau gegenüberstehen. Niemals zuvor war er seinen hehren Grundsätzen untreu geworden. Nun musste Rainer den Preis dafür zahlen. Und doch, das Leben war eine ständige Veränderung. Im Laufe der Jahre hatten sich seine Prioritäten zu wandeln begonnen. Rainer wusste, wenn er noch einmal vor die Wahl gestellt werden sollte, würde er keinen Augenblick zögern und Isabell wieder die Türe in sein Herz öffnen. Diese wunderbare Frau war ihm zu wichtig, als dass er auf sie noch einmal kampflos verzichten würde.
Noch hatte Rainer keine Ahnung, wie es zwischen Isabell und ihm weitergehen sollte. Er musste auf jeden Fall abwarten, wie sich die Situation entwickeln würde. Auf keinen Fall durfte er sich zu große Hoffnungen machen, was aber nicht so einfach war. Schließlich liebte er Isabell und sehnte sich nach ihrer Nähe und Aufmerksamkeit. Doch die unbekannte Größe war ihre Tochter, denn Lisi konnte das Zünglein an der Waage sein. Isabell liebte sie so sehr, dass sie sicherlich ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse hinter jene ihrer Tochter anstellen würde. Rainer setzte erst einmal auf die Zeit. Sie würde ihm bald zeigen, was das Schicksal noch für sie bereithalten würde.

Mit erfreutem Lächeln begrüßte Grace Rainer an der Tür. Sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo Jake und Max bereits auf ihn warteten. Mit ernster Miene blickten ihn die beiden Männer an. Instinktiv fragte sich Rainer, ob die beiden bereits von der Liebesnacht mit Isabell Bescheid wussten und Max ihn deshalb vor Jake zur Rede stellen wollte. Doch schnell erkannte Rainer, wie unbegründet sein Verdacht war und atmete erleichtert durch. 
„Meine Herren, ich habe Sie zu mir gebeten, um Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass mich gestern zwei Vertreter eines Rüstungskonsortiums besucht und mir erneut ein Angebot für unsere Patente und die Firma gemacht haben. Mir wurden 30 Millionen Dollar angeboten. So viel wäre diesen Leuten meine Technologie wert. Falls ich das Angebot annehme, muss ich mich aber auch verpflichten, keine weiteren Patente für Minensuchgeräte anzumelden und keine Firma mit diesem Geschäftszweck mehr zu gründen oder zu betreiben.“
„Und wie haben Sie sich entschieden?“, fragte Max geradeheraus.
„Ich habe mich noch nicht entschieden. Schließlich sind Sie meine Geschäftsführer und haben ein Recht zu erfahren, was Fakt ist. Ich habe Sie nicht nur hergebeten, um Sie über den Stand der Dinge zu informieren, sondern ich will auch mit Ihnen besprechen, wie es weitergehen soll.“
„Nun, 30 Millionen sind ein ziemlicher Batzen Geld“, fuhr Max sichtlich beeindruckt fort.
„Ja, mittlerweile sind es um 10 Millionen mehr als noch vor einem Jahr.“ 
Verblüfft sahen die beiden Männer Coleman an. 
„Nun ja, wenn das so weitergeht, sollten Sie vielleicht noch drei bis vier Jahre warten, denn dann würden Ihnen diese Brüder vielleicht sogar 100 Millionen zahlen und der Großteil Afrikas und der Nahe Osten wären dann ohnehin schon entmint“, versuchte Rainer der Problematik ein wenig an Schärfe zu nehmen.
„Wenn das so leicht ginge, würde ich nicht lange überlegen. Doch ich glaube kaum, dass das Konsortium so lange warten wird. Die Typen haben doch längst schon Wind davon bekommen, wie begehrt unsere kleinen Hubschrauberdrohnen sind.
Wie Sie ja bereits wissen, verschenkt das ägyptische Tourismusministerium große Gebiete auf der Sinaihalbinsel an Entwicklungsfirmen. Diese müssen sich aber verpflichten, innerhalb von drei Jahren ab Übergabe das Gebiet von Minen zu räumen, um mit dem Bau eines Ressorts beginnen zu können. Ein Konsortium aus amerikanischen Grundstücksspekulanten ist drauf und dran, sich möglichst große Flächen auf der Halbinsel unter den Nagel zu reißen. Die liegen mir bereits jetzt bezüglich der schnellen Räumung in den Ohren. Mit unserer Technologie würde gerade Ägypten einen wesentlichen wirtschaftlichen Aufschwung genießen und viel Geld käme dadurch ins Land. Denn wenn es der dortigen Regierung gelingt, der Bevölkerung einen gewissen Wohlstand zu ermöglichen, werden Fundamentalisten und religiöse Eiferer keine Chance haben, Ägypten zu destabilisieren. Unzufriedenheit und Armut sind der Nährboden für Terroristen. Nach der Erfüllung der wesentlichsten Grundbedürfnisse können die Einnahmen aus dem Tourismus auch noch die Bildung und das Wissen der Bevölkerung fördern. Nur ungebildete und naive Menschen sind leicht zu manipulieren und zu fanatisieren. Wer nichts mehr zu verlieren hat außer seinem Leben, der lässt sich leicht vor den Karren solcher kranken Geister spannen. Wenn unser Projekt Furore macht, werden viele andere Länder mit ähnlichen Problemen gleichziehen und es den Ägyptern nachmachen wollen. Die Menschen sehnen sich doch alle nach Frieden, Kontinuität und ein wenig Wohlstand. Und das ist wiederum unsere Chance, meine Firma zu etablieren und auszuweiten.“
Coleman trank seinen Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Hastig inhalierte er den ersten Zug. Rainer wusste inzwischen, dass diese Reaktion ein Zeichen hochgradiger Nervosität und Unsicherheit war. 
„Jake, Ihnen liegt doch etwas am Herzen. Wieso sagen Sie uns nicht ganz einfach, was Sie bedrückt“, forderte Rainer ihn auf. 
„Wie gut Sie mich doch schon kennen, Rainer“, stellte Coleman verwundert fest.
„Nun ja, schließlich gehört es auch zu meinem Job, die Gemütsregungen meiner Kunden zu erkennen, daraus Schlüsse zu ziehen und Rücksicht zu nehmen“, erwiderte Rainer lächelnd.
„Wie wahr! Ja, mein Freund, es gibt da etwas, was mir sehr am Herzen liegt. Deshalb bat ich Sie auch zu kommen.“
Coleman stand auf, ging zum Fenster und blickte unruhig in den noch verwilderten Garten hinaus. Im nächsten Frühjahr würde er einen Gartenarchitekten damit beauftragen, ihn in neuer Schönheit erstrahlen zu lassen.
„Ich kenne diese Typen. Sie werden in einigen Wochen wiederkommen und den Betrag dann ziemlich sicher noch einmal erhöhen. Wenn ich dann immer noch ablehne, könnte das unter Umständen schwerwiegende Folgen für mich haben. Einer der beiden Vertreter hat schon leicht anklingen lassen, dass ihre Auftraggeber nicht daran denken, noch viel länger auf meine Einwilligung zu warten.“
„Wollen Sie damit etwa sagen, dass man Sie etwa bedrohte, wenn Sie nicht verkaufen?“, hakte Max nach, dem plötzlich die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben stand.
„Mehr oder weniger ja. Wenn ich abserviert bin, würde man Grace so lange traktieren, bis sie denen endlich die Patente überlässt. Doch ich bin weder gewillt, schon zu sterben noch mein Lebenswerk in irgendeiner Schreibtischlade verkommen zu lassen. Sicherlich hätte ich mit dem vielen Geld für den Rest meines Lebens ausgesorgt. Doch ich glaube kaum, dass ich damit glücklich sein könnte.“
Coleman kam zurück und setzte sich wieder in seinen Stuhl. Er dämpfte die Zigarette aus und sah die beiden Männer mit einer gewissen Erwartungshaltung an.
„Es gibt eine elegante Möglichkeit, wie wir es diesen Profithaien deutlich schwerer machen können. Wenn ich die Firmenanteile zu je einem Drittel an Sie beide abgebe und wir Einstimmigkeit bei allen Eigentümerentscheidungen vereinbaren, besitze ich nicht mehr die Majorität, sondern nur noch ein Drittel. Das heißt, mit meiner Entscheidung alleine könnte das Konsortium nichts mehr anfangen, denn sie bräuchten auch noch Ihre Zustimmung. Gleich drei Eigentümer zu bedrohen oder gar aus dem Weg zu räumen, würde doch zuviel Staub aufwirbeln. Ich biete Ihnen daher an, als meine gleichberechtigten Partner und mit mir gemeinsam die Firma weiterzuführen. Sie können Ihr Drittel jeweils um einen Euro erwerben. Denn unterm Strich ist es mir lieber, nur ein Drittel von etwas wirklich Gutem und Sinnvollem zu besitzen, als 30 Millionen Dollar Blutgeld in der Hand zu haben. Außerdem bringen auch 33,3 Prozent an diesem Businesskonzept noch eine gewaltige Stange Geld, wenn die Sache funktioniert.“
Für einen Moment waren sowohl Rainer als auch Max sprachlos. Doch je länger die beiden Männer überlegten, umso mehr machte diese geniale Umstrukturierung wirklich Sinn. Waren die wesentlichen Eigentümerentscheidungen einmal einstimmig festgesetzt, würde jeder Versuch eines erzwungenen Verkaufs wesentlich schwieriger und damit viel unwahrscheinlicher werden. Mit ihrer selbst festgelegten Organisationsstruktur hatten sie ihre jeweiligen Kompetenzen im Management ohnehin schon von Beginn an ziemlich genau aufgeteilt und als geschäftsführende Gesellschafter würden sie alle wichtigen Entscheidungen eben gleichberechtigt analysieren, diskutieren und danach handeln, was für das Unternehmen nur von Vorteil sein konnte. 
Rainer brauchte nicht lange, um zu überlegen. Er war vom Sinn seiner Arbeit und vom Businesskonzept der „Mine-Dedecting“ längst überzeugt. Dieser Job füllte ihn hundertprozentig aus und gab seinem Leben einen neuen Sinn. Auch ohne Partnerschaft wäre er mit seinem Herzen voll und ganz bei der Sache gewesen. Aber natürlich nahm Rainer gerne dieses großzügige Angebot an. Die Furcht vor Drohungen ließ ihn relativ kalt, da er eine neue Kraft in sich spürte, die ihm ein Gefühl von Sicherheit und Stärke gab.
Es dauerte nur einen kurzen Moment länger, bis auch Max nachzog und sich für die angebotene Partnerschaft entschied. 
Lächelnd stellte Rainer fest, dass Coleman fix mit ihrer Zusage gerechnet und deshalb auch gleich einen Termin beim Notar vereinbart hatte, um die neue Eigentümerstruktur so rasch wie möglich ins Firmenregister eintragen zu lassen. Coleman wollte sich endlich wieder halbwegs sicher fühlen, denn schon bald würde es sich herumgesprochen haben, dass die „Mine-Dedecting“ nun aus drei gleichberechtigten Eigentümern bestand.

Kapitel 33

Zur Feier des Tages der Vertragsunterzeichnung luden die Colemans Max, Rainer und auch Isabell zu einem erlesenen Abendessen ins malerische Schloss Cobenzl ein. Oben am Kahlenberg lag schon der erste Schnee. Das vorweihnachtliche Ambiente des Schlossrestaurants bot genau den passenden Rahmen, um ihre neue Partnerschaft würdig aus der Taufe zu heben.
Am nächsten Tag gingen Rainer und Max nach der Vertragsunterzeichnung noch auf einen Drink, bevor sie wieder ins Büro zurück mussten. Rainers Erleichterung war groß, als er im Verhalten seines Freundes keine negative Veränderung bemerkte. Von dieser wunderbaren Liebesnacht mit Isabell hatte Max also keine Ahnung. Rainer konnte nur hoffen, dass er auch in nächster Zukunft ahnungslos bleiben würde.
„Was sagst du zu diesem cleveren Schachzug unseres alten Fuchses?“, fragte Max anerkennend.
„Ich würde sagen, das war fast schon grenzgenial. Er wird mit dieser unerwarteten Machtaufteilung die Auftraggeber dieser zwielichtigen Gestalten ganz schön vor den Kopf stoßen“, erwiderte Rainer mit boshaftem Grinsen. Doch dann fuhr er wieder ernster und mit leicht mulmigem Gefühl im Bauch fort.
„Obwohl ich dir schon gestehen muss, dass ich mich in dieser neuen Konstellation selbst erst zurechtfinden muss. Dieser Deal war doch recht überraschend.“ 
„Mir geht’s nicht anders“, bestätigte auch Max.
„Als Coleman mich so offiziell und förmlich bat zu kommen, war mein erster Gedanke, dass er mit dem Unternehmen doch noch ins Ausland abwandern will. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass er uns eine gleichberechtigte Partnerschaft anbieten wird“, fuhr Max noch immer ein wenig überrascht fort.
„Damit habe ich auch nicht gerechnet. Coleman ist ein weitblickender, umsichtiger Mann, der überhaupt nicht geldgierig ist. Er weiß, dass uns die „Mine-Dedecting“ in absehbarer Zeit ein Vermögen einbringen wird, da fällt für jeden mehr als genug ab. Sein taktisches Feingefühl und diese unerwartete Konstellation wird diese Waffenmafia ganz schön ratlos machen.“
„Doch 30 Millionen Dollar sind auch nicht von der Hand zu weisen. Um dieses Geld wirklich zu verdienen, werden wir einige Jahre hart arbeiten müssen.“
„Na und? Wo blieben dann die Herausforderung und unsere Bestätigung? Mit 30 Millionen ist man nur reich, ohne dafür auch wirklich gearbeitet zu haben. Wer sich so eine Chance, die Welt zu verbessern, abkaufen lässt, ist doch ein totaler Idiot oder ein faules Schwein. Doch wenn ich den Dollarblick in deinen Augen sehe, gehe ich doch lieber vorsichtig in Deckung“, spottete Rainer.
„Nun ja, so ganz deiner Meinung bin ich nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese netten Millliönchen zurückweisen würde. Stell dir doch nur vor, wie viele schöne und verführerische Frauen sich dann um uns reißen und uns von hinten nach vorn verwöhnen würden“, seufzte Max verträumt lächelnd und griff nach seinem Bierglas.
„Max, du bist ein undankbarer und sexbesessener Arsch. Du weißt nicht im Mindesten zu schätzen, welch wunderbare Frau du hast, um die dich viele andere Männer beneiden“, wies Rainer ihn zurecht.
„Doch, das weiß ich. Isa ist eine ausgezeichnete Hausfrau und Mutter. Ich würde nie und nimmer auf sie verzichten wollen. Isa ist schließlich auch meine sichere Versorgung, wenn ich schon ein alter Tattergreis bin.“ 
Max’ rechtschaffener und dankbarer Gesichtsausdruck verwandelte sich jedoch schnell in einen ziemlich lüsternen, als er eine attraktive Blondine am Tisch vorbeigehen sah. Plötzlich wechselte Max das Thema und fragte Rainer:
„Wäre es ein Problem für dich, wenn du Isa auf dem Weg zum Cobenzl hinauf mitnehmen könntest? Ich muss noch dringend einige Besorgungen machen. Weihnachten steht schließlich vor der Tür. Vielleicht bin ich ohnehin rechtzeitig zu Hause und wir können dann gemeinsam weiterfahren. Du weißt ja, wie es Isa verabscheut, wenn man sich verspätet.“
Max hatte wieder diesen anrüchigen Ausdruck im Gesicht, der Rainer zweifeln ließ, dass sein Freund wirklich Spielzeug für Lisi besorgen würde. Nach seinem Blick zu schließen, wollte Max lieber mit seinen eigenen, ganz speziellen Spielsachen spielen. Dazu war sicherlich ein passendes Pendant notwendig. Leise Zweifel, dass Max seiner kleinen Russin tatsächlich den Laufpass gegeben hatte, begannen sich in Rainer zu melden. Vielleicht war Max seit ihrer heftigen Auseinandersetzung ja nur sehr vorsichtig gewesen, sodass niemand etwas von seiner Affäre bemerkt hatte.
„Natürlich! Bitte ruf sie an und sag ihr, dass ich komme“, erwiderte Rainer und wusste nicht, ob er Max dafür dankbar sein sollte, dass er ihm damit völlig unbewusst einige ungestörte Augenblicke mit Isabell verschafft hatte, oder ob er ihn für sein unakzeptables Verhalten in die Hölle verdammen sollte. Doch sofort meldete sich in ihm das schlechte Gewissen. Hatte er jetzt eigentlich noch das Recht, über Max den Stab zu brechen? Worin sollte er besser sein als dieser Hurenbock? Im Gegenteil, war nicht eigentlich er der Niederträchtigere von beiden? Schließlich hatte er mit der Frau seines besten Freundes geschlafen, die dieser ihm auch jetzt wieder anvertraut hatte.

Kurz nach 14 Uhr erhielt Rainer eine SMS von Isabell: „Komm früher, Lisi schläft bei einer Schulfreundin. Ich freu mich auf dich. Isabell.“
Sofort begann Rainers Herz schneller zu schlagen und sein schlechtes Gewissen Max gegenüber war wie weggewischt. Seit Isabell klammheimlich aus seinem Bett verschwunden war, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Rainer fürchtete schon fast, dass dieses Intermezzo für Isabell nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen sein könnte. Doch nun hatte er den Beweis, dass er kein Lückenbüßer oder die Laune eines Augenblicks war.
Rainer hoffte, dass er Angelina auf seinem Heimweg im Park vorfinden würde. Doch sie war nicht da. Enttäuscht ging er an der verwaisten Bank vorüber. Wie gern hätte er ihr von seinem letzten Traum erzählt, aber auch von den vielen überaus positiven Veränderungen. Verwundert musste Rainer feststellen, dass es ihm ein immer größeres Bedürfnis wurde, mit dieser alten, herumstreunenden Frau über seine ganz persönlichen Probleme zu sprechen. Angelina wurde ihm immer vertrauter. Seine gegen sie gehegten Ressentiments gab es schon lange nicht mehr. Eigentlich hatte es sie nie wirklich gegeben. Ihre Klugheit und Lebenserfahrung, ihr ausgeprägt esoterischer Sinn und ihre mystische Ausstrahlung ließen sie für Rainer in einem ganz besonderen Licht erscheinen. Wären da nicht Angelinas rein irdischen Gelüste gewesen, wie ihre Vorliebe für Hochprozentiges und für Bares, hätte man fast meinen können, dass sie eine gute Fee war.


Kapitel 34

Kurz nach 16 Uhr Uhr parkte Rainer sein Auto vor dem Haus der Hennings. Die Vorfreude, Isabell zu sehen und sie wieder in seine Arme schließen zu dürfen, löste in ihm immer wieder heftige Wellen des Glücks und der Freude aus. 
Isabell hatte Rainer bereits erwartet. Noch ehe er die Glocke drücken konnte, öffnete sie ihm schon die Eingangstür. Das verliebt strahlende Lächeln in ihrem Gesicht versetzte Rainer abermals einen heftigen Adrenalinstoß. Kaum hatte Isabell die Tür geschlossen, schlang sie auch schon ihre Arme um seinen Hals und holte seinen Kopf zu sich herunter. Ihr Kuss waren heiß, fordernd und geil, sodass sich Rainers kleiner Freund sofort zu regen begann. Dieser Zustand intensivierte sich noch, als er ihren Bademantel abstreifte und feststellte, dass sie darunter völlig nackt war. Fast widerwillig löste er sich von ihren Lippen und betrachtete genommen ihren wunderschönen weiblichen Körper, der vor Erregung bereits vibrierte.
„O Gott, wie schön du bist.“ Seine kehlige Stimme und gieriger Blick ließen keine Zweifel offen, wie sehr er sie begehrte.
Wie die Venus im Bade stand sie vor ihm und wartete darauf, endlich berührt zu werden. Zärtlich strichen Rainers Fingerspitzen über ihre blassrosa Brustwarzen, die prall und hart abstanden.
„Nur für dich bin ich schön, Liebster. Nimm mich und lass uns die Welt um uns herum vergessen“, flüsterte sie in erwartungsvoller Erregung.
Isabell griff nach seiner Hand und drückte sie auf ihre linke Brust. 
„Fühlst du mein Herz, wie es rast?“ Das kehlige Timbre ihrer Stimme und ihre warme, weiche Brust turnten ihn noch mehr an. Dann zog sie ihn in das kleine Gästezimmer neben der Eingangstür. Schnell war Rainer entkleidet und innerhalb weniger Augenblicke verschmolzen ihre Körper erneut ineinander. Zeit und Raum schienen nicht mehr zu existieren. Nichts war mehr von Bedeutung, nur diese unsägliche Lust, dem anderen sein Innerstes zu offenbaren, ihm zu zeigen, wie wichtig er war.
Die Dunkelheit war schon lange hereingebrochen, als die beiden erschöpft voneinander abließen. Eng aneinander geschmiegt ließen sie ihre Wollust abklingen, während ihre Gedanken langsam wieder klar wurden.
Schließlich hob Isabell ihren Kopf von seiner Brust und lächelte ihn verschmitzt an:
„Wenn ich geahnt hätte, wie gut du im Bett bist, hätte ich deine Dienste schon wesentlich früher in Anspruch genommen.“
„Wenn ich gewusst hätte, welch scharfe Henne du bist, hätte ich es gar nicht soweit kommen lassen, dass Max dich mir wegschnappten konnte“, konterte Rainer leichthin.
Doch als sein Name fiel, wurde nicht nur er, sondern auch Isabell wieder in die Wirklichkeit zurückkatapultiert. Der Zauber war mit einem Schlag dahin. Isabell stieg aus dem schmalen Bett, warf sich ihren Bademantel über und verließ schweigend das Zimmer. Ziemlich ernüchtert nach einem so berauschenden Fest der Sinne zog auch Rainer wieder seine Kleider an und folgte ihr in die Küche.
„Hab ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Rainer vorsichtig und beobachtete Isabell, wie sie in tiefen Zügen aus einer Mineralwasserflasche trank.
„Nein, natürlich nicht. Max ist schließlich in unser beider Leben sehr präsent. Man kann ihn ganz einfach nicht ausschließen. Ich hatte ihn vorhin nur für einige Augenblicke vergessen. Dieser Feeling war wunderschön. Wie gern würde ich ihn für immer vergessen.“
Unglücklich wandte sich Isabell ab und ging ins Bad. Ihre letzte Aussage traf Rainer wie eine Kanonenkugel. Was war passiert, dass Isabell sich derart negativ über Max äußerte? 
Kurze Zeit später kam Isabell zurück. Bewundernd glitten seine Blicke über ihr elegantes, dunkelgrünes Etuikleid, das ihren schönen Körper bestens zu Geltung brachte. Ihre Wandlungsfähigkeit berauschte Rainer immer wieder aufs Neue. Vor nicht einmal einer halben Stunde war sie noch das lustgeile Luder, das es nur zu gut verstand, alle Register der Erotik zu ziehen. Doch jetzt glich sie einem unnahbaren, kühlen Engel, einer Lady, die ihre vorangegangene Lüsternheit fast Lügen strafte. 
„Hat dir Max gesagt, ob er direkt ins Restaurant fährt oder mich vorher hier abholt?“,
wollte Isabell wissen und strich ein goldenes Armband über ihre rechte Hand, so dass es leicht am Handgelenk baumelte.
„Nicht wirklich. Er wusste nicht, wie lange er mit seinen Weihnachtseinkäufen brauchen würde.“
„So, so. Sind wieder einmal die Weihnachtseinkäufe der Entschuldigungsgrund. Diese Besorgungen gehen nun schon seit September. Mittlerer Weile müssen ja schon fast alle Geschäfte Wiens leer gekauft sein“, ätzte Isabell deprimiert.
„Was ist eigentlich mit euch beiden los?“ wollte Rainer nun endlich wissen.
Unglücklich blickte sie ihm in die Augen und sagte niedergeschlagen:
„Was soll schon los sein? Er hat noch immer sein russisches Flittchen, mit dem er jeden freien Augenblick verbringt.“
„Dann hatte ich also doch recht mit meiner Vermutung, dass er sein Spielzeug noch nicht weggeworfen hat.“ 
„Von wegen! Hast du wirklich geglaubt, dass Max sich seine kleine Spielpuppe so einfach nehmen lässt? Er zeigt sich mit ihr zwar nicht mehr in der Öffentlichkeit und ist ziemlich vorsichtig geworden, damit Coleman keinen Verdacht schöpft, doch nichtsdestotrotz verbringt er fast jede Nacht und den Großteil seiner ohnehin sehr begrenzten Freizeit mit seiner Geliebten.“
„Aber was ist mit dir und Lisi?“
„Nun, wir sind nach wie vor die offizielle Herzeigefamilie. Vordergründig ist ja alles sehr, sehr anständig und geordnet bei uns. Nur darf man nicht am Lack kratzen, denn dann kommt sofort der Rost durch.“
Isabell setzte sich zu Rainer auf das Sofa.
„Lisi und ich verbringen die Wochenenden meist alleine. Für das Kind ist es nicht so ein großes Problem, dass ihr Vater fast nie da ist. Schließlich hat sie ihn früher auch nicht allzu oft gesehen.“
„Und wie geht es dir dabei?“
„Nun, seine ständig wechselnden Liebschaften sind ja nichts Neues für mich. Schon seit Jahren weiß ich, dass er mich immer wieder betrügt. Doch keine dieser Affären hielt länger als zwei Monate. Diese Russin gibt es jetzt aber schon seit einem halben Jahr und Max gerät immer mehr in ihre Fänge.“
„Hast du ihn schon einmal darauf angesprochen?“
„Ja, er bestreitet natürlich alles. Ich habe bald herausgefunden, dass das Mädchen in seiner ehemaligen Studentenbude im achten Bezirk wohnt. Max führt dort mit seiner Ekaterina ein sehr harmonisches Zweitleben.“
„Was, du hast dich etwa mit ihr getroffen?“
„Nein, soweit bin ich nun doch nicht gegangen. Es genügt mir zu wissen, wer sie ist und wo Max seine Nächte verbringt.“
Isabell lehnte sich in seinem Arm zurück und seufzte ernüchtert.
„Weißt du, die Ironie des Schicksals ist, dass ich eigentlich dankbar dafür sein muss, dass es dieses Mädel gibt. Schon seit einigen Jahren war mir aufgefallen, dass Max sich sexuell in eine andere Richtung entwickelt hat. Solange es nur bei Rollen- und Fesselspielchen geblieben ist, habe ich ja noch mitgemacht. Doch als er erkannt hat, dass ich für mehr nicht zu haben war, hat er Ersatz gesucht. Er steht auf ziemlich harten SM und extremer Schmerzgeilheit. Deshalb duldete ich auch seine Affären, damit er mich mit seinen Perversionen in Ruhe ließ.“
„Hat er dir Gewalt angetan?“, unterbrach Rainer sie bestürzt.
„Nein, nicht wirklich. Einmal vor einigen Wochen hat er versucht, mich zu vergewaltigen. Spät in der Nacht kam er von seiner Geliebten nach Hause und ich stellte ihn ziemlich schroff zur Rede. Es kam zu einem heftigen, sehr entwürdigenden Wortwechsel, worauf er mir seine Überlegenheit in Form einer sexuellen Nötigung demonstrieren wollte. Doch die Russin hatte ihn anscheinend dermaßen hergenommen, dass letztendlich der Wunsch der Vater des Gedankens blieb.“
Vor Zorn tobend sprang Rainer auf und ballte seine Fäuste.
„Dieses widerliche Schwein! Isabell, ich verspreche dir, dass dich dieser geile Bock nie mehr berühren wird. Ich will, dass du ihn sofort verlässt und mit Lisi zu mir ziehst.“ Rainer war dermaßen aufgebracht, dass er in seiner ersten Reaktion dem Drang seines Herzens freien Lauf ließ, anstatt seinen Verstand einzusetzen.
Überrascht lächelte ihn Isabell an. Diese ungestüme und leidenschaftliche Seite kannte sie an ihm doch gar nicht. Rainer war mit seinen Gefühlen immer sehr zurückhaltend gewesen und hatte es immer vermieden, sie so offensichtlich zu zeigen. Dass er sich nun aber in einem derartigen Ausmaß outete, ließ Isabell erkennen, wie viel sie ihm bedeutete. 
„Wenn du wüsstest, wie oft ich in den vergangenen Wochen schon mit dem Gedanken gespielt habe, Max zu verlassen. Doch derzeit ist dafür der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Lisi geht in die vierte Klasse und steht vor einem Schulwechsel. Sie braucht ordentliche Noten im Halbjahreszeugnis, damit sie in das gleiche Gymnasium aufgenommen wird, in das auch alle ihre Freundinnen gehen möchten. Aus Erfahrung weiß ich, dass sich private Probleme nur zu leicht auf schulische Leistungen auswirken können. Ihr diese Chance zu nehmen, will ich keinesfalls riskieren. Außerdem möchte ich sie behutsam darauf vorbereiten, dass ich Max verlassen werde. Obwohl man es ja wirklich nicht für möglich halten sollte, aber die Kleine hängt doch sehr an ihrem Vater.“ 
„Es tut mir so leid, dass du diese Schmach und diese Verletzungen über dich ergehen lassen musst“, bedauerte Rainer zutiefst und blickte mitfühlend auf seine Geliebte hinab.
Isabell stand nun auch auf und strich ihm in einer Geste liebevoller Dankbarkeit durchs Haar.
„Liebster, es braucht dir nichts leid zu tun. Wenn ich könnte wie ich wollte, wäre ich schon längst weg. Doch nicht nur Lisi hält mich von diesem schwerwiegenden Schritt zurück. Ich will jetzt auch ganz einfach keine zusätzliche Unruhe in die ohnehin schwierige Etablierung der „Mine-Dedecting“ bringen. Die Colemans sind mir sehr ans Herz gewachsen. Wenn ich jetzt gehe, kann es ohne Weiteres der Fall sein, dass Max in seinem unendlichen Selbstmitleid Scheiße baut, die Jake und du dann ausbaden müsstet. Du hast ja bei der Adventfeier der Colemans selbst gesehen, wie unüberlegt und unbeherrscht er sein kann.“
„Ja, du hast völlig recht. Augenblicklich ist wirklich kein sehr guter Zeitpunkt für Veränderungen“, pflichtete ihr Rainer bei, obwohl sein Herz eine ganz andere Sprache sprach.
Dankbar umarmte die kleine Frau den großen Mann. Mit beinahe schüchterner Stimme fuhr sie fort:
„Außerdem möchte ich in unserer zart keimenden Beziehung nichts überstürzen. Ich will mich dir behutsam nähern und jede Einzelheit von dir ganz bewusst in mich aufnehmen, bis dieses neue Gesamtbild fertig ist und ich bereit für dich bin.“
Zärtlich küsste Rainer ihre Stirn und drückte sie noch fester an sich.
„Mein Engel, du hast alle Zeit der Welt.“ 
Doch eine Frage lag Rainer noch am Herzen. Es fiel ihm schwer, sie zu stellen: 
„Isabell, ist dieses russische Mädchen der Grund, wieso du dich mir zugewandt hast?“
Abrupt schob Isabell Rainer von sich und blickte in sein zweifelndes Gesicht.
„Bist du verrückt? Du bist sicherlich kein Lückenbüßer. Ich weiß schon seit vielen Jahren, ja eigentlich schon seit dem Zeitpunkt, als wir uns kennen gelernt haben, was du für mich empfindest. Damals war ich aber zu jung, um zu erkennen, dass du der wesentlich wertvollere Mensch bist. Doch als ich mir dieses Umstands bewusst wurde, war es schon zu spät. Ich hatte ein Kind und Verpflichtungen und unterdrückte meine keimende Zuneigung zu dir. Doch nun hat sich die Situation so völlig verändert, dass ich meine Gefühle für dich nicht mehr leugnen kann und will. Ich spürte deine sehnsüchtigen Blicke und erkannte deine versteckten Liebesbeweise. Du hast nie ein Wort gesagt und doch wusste ich, was ich dir bedeutet habe. Doch gerade jetzt, in der denkbar schwierigsten und unpassendsten Situation, wo es fast unmöglich ist, unserer Liebe Nahrung zu geben, beginnt unser Tanz. Manchmal werde ich in der Nacht wach und habe Angst, dich zu verlieren. Mir wird angst und bange bei dem Gedanken, dass die Durststrecke für dich zu lang sein und du dich von mir abwenden könntest.“
Rainer sah die Angst in ihren leuchtenden Augen und bekam ganz weiche Knie. Es war unfassbar. War ihm wirklich dieses Glück beschieden, dass auch sie ihn so liebte wie er sie? Ungestüm zog er Isabell erneut an sich, umarmte sie heftig und flüsterte ihr ins Ohr:
„Meine wundervolle, süße Isabell, ich habe so viele Jahre auf dich gewartet. Glaubst du denn wirklich, dass ein paar Monate auf oder ab noch eine Rolle spielen? Ich habe in meinem Leben nie eine andere Frau als dich geliebt. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass du die einzige Frau bist, die imstande ist, meinem Leben wirklichen Sinn und echte Freude zu schenken. 
Zärtlich löste sich Isabell aus seiner Umarmung und lächelte ihn an. All die Liebe, die sie für ihn empfand, spiegelte sich in ihren glitzernden Augen wider.

Kapitel 35

Das Abendessen verlief in einer lockeren und entspannten Atmosphäre. Coleman ließ sich nicht lumpen und hatte alle Köstlichkeiten des Hauses auffahren lassen. Max kam natürlich verspätet, da er sozusagen „im Verkehr steckengeblieben“ ist. Doch niemand stieß sich daran. Mit wissendem Lächeln hob Grace ihr Glas und prostete Rainer zu: 
„Auf eine gedeihliche Verbindung, die nie an Kraft, Intensität und Verbundenheit verlieren soll.“ 
Rainer erkannte sofort den tieferen Sinn ihrer Worte und erwiderte schweigend ihr vielsagendes Lächeln. 
Max hob nun auch sein Glas und sagte: 
„Welch schöner Trinkspruch, Grace. Diesem kann ich mich nur anschließen.“

Kurz vor Mitternacht verließ die kleine Gesellschaft das Lokal. Nachdem Rainer Isabell einen zärtlichen Abschiedskuss auf die Wange gehaucht hatte, stieg auch er in seinen Wagen und fuhr in die Stadt zurück. Die Colemans fuhren ein Stück desselben Weges, so dass Rainer dem dunkelblauen Jaguar folgte. Die Temperatur lag hier oben schon einige Grade unter Null und die Pflastersteine der Hochstraße waren bereits ziemlich vereist. Der Streudienst hatte sich hier auch noch nicht blicken lassen, sodass die abfallende Serpentinenstraße nur sehr vorsichtig zu befahren war. 
Rainers Wagen rollte langsam hinter dem der Colemans her. Immer wieder blieben seine träumerischen Gedanken an diesem äußerst erfreulichen Nachmittag mit Isabell hängen. Sein Herz begann weit zu werden, wenn er an ihre so unbegründete Angst dachte, dass sie ihn verlieren könnte.
Plötzlich wurde Rainer im Rückspiegel durch das grelle und blendende Scheinwerferlicht eines sich rasch nähernden Wagens aus seinen reizvollen Träumen gerissen. Vorsichtig lenkte Rainer sein Auto ein wenig zur Seite, damit dieser Verrückte in seinem Höllentempo möglichst rasch an ihm vorbeischießen konnte. Doch wider Erwarten überholte der Geländewagen nur ihn und nicht auch noch den Jaguar, der ebenfalls an den rechten Fahrbahnrand ausgewichen war. Der Fahrer des Range Rovers bremste sich zwischen den beiden Autos ein, sodass Rainer eine Notbremsung hinlegen musste, um diesem Idioten nicht aufzufahren. Auf der spiegelglatten Fahrbahn geriet sein Volvo durch die harte Bremsung ins Schleudern und Rainer verlor die Kontrolle über seinen Wagen. Gott sei Dank schlingerte sein Auto auf die bergaufführende Straßenseite, sodass es ohne weitere Schäden neben der Fahrbahn in der gepflasterten Abflussrinne zu stehen kam.
Erschrocken, aber doch geistesgegenwärtig genug speicherte Rainer die Autonummer in seinem Kopf, um gegen diesen Scheißkerl Anzeige erstatten zu können. Noch während sich Rainer die Nummer einprägte, wurde ihm plötzlich klar, dass es der Verrückte auf Colemans Wagen abgesehen hatte. Vorsichtig lenkte Rainer seinen Wagen wieder aus dem flachen Graben und folgte dann so rasch wie möglich den beiden Autos. In hilfloser Bestürzung musste Rainer mitansehen, wie der Range Rover dem Jaguar mehrmals mit aller Kraft auffuhr. Coleman war sichtlich bemüht, sein Auto irgendwie auf der glatten Fahrbahn zu halten. In einer engen Kurve drängte der Geländewagen Colemans Auto schließlich von der Straße ab, sodass der Jaguar die steile Böschung hinabstürzte. Fast wäre ihm der Range Rover gefolgt, doch im letzten Moment konnte der Fahrer den Wagen noch abfangen und flüchtete dann die Höhenstraße hinab.
Entsetzt sprang Rainer aus seinem Wagen und rannte zu der Stelle, wo Colemans Jaguar eine Schneise in die Büsche gerissen hatte. Der Wagen hatte sich überschlagen und war dann knapp 30 Meter weiter unten gegen eine Eiche geprallt. Es war nun gespenstisch ruhig. Nur die grellen Schweinwerfer des Wracks warfen zwei gespenstige Lichtkegel in den abfallenden Wald. Diese absolute Stille verhieß nichts Gutes und versetzte Rainer in helle Panik. So rasch er konnte, rutschte er auf seinem Hosenboden die vereiste Böschung hinunter. 
Unsägliche Angst erfasste ihn, als er Colemans blutüberströmtes Gesicht über dem Lenkrad hängen sah. Auch Grace hatte der Sturz nach vorne geworfen. Ihr lebloser, und seltsam zusammengekrümmter Körper wurde durch den Sicherheitsgurt festgehalten. Rainer konnte das Gesicht von Grace nicht sehen. Ihr Kopf war nach vorne gefallen und ihr volles, halblanges Haar verdeckte ihr Antlitz.
Wie verrückt rüttelte Rainer an der Fahrertür. Doch der Rahmen des Autos war durch den Aufprall an dem Baum dermaßen verzogen, dass die Tür festgeklemmt war. Hektisch rannte er um den Wagen herum und versuchte, die Beifahrertür zu öffnen. Auch diese klemmte. Unter Aufbietung all seiner Kräfte gelang es Rainer schließlich, die Beifahrertür aufzureißen. Ängstlich berührte er Grace’ Kopf, der auf ihre Brust gesunken war. Rainer unterdrückte seinen Wunsch, ihn vorsichtig anzuheben. Mit aller Behutsamkeit strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. Rainer wusste nicht, ob er glücklich oder erschüttert sein sollte, als er in ihr schmerzverzerrtes Gesicht blickte. 
„Grace, hören Sie mich?“, schrie Rainer sie mit bebender Stimme an. Langsam kam sie zu sich und flüsterte: „Ja, ich kann Sie verstehen.“
Jetzt versuchte Rainer, den Sicherheitsgurt zu öffnen, doch Grace schob seine Hand weg. 
„Nein, nicht öffnen. Überlassen Sie das dem Notarzt. Haben Sie schon nach der Rettung gerufen?“
Rainer verfluchte sich ob seiner Gedankenlosigkeit. Wie konnte er nur auf so etwas eminent Wichtiges vergessen. Während er hektisch sein Handy aus der Tasche zog und Rettung, Feuerwehr und Polizei verständigte, versuchte Grace mit ihren Fingern an Jakes Halsschlagader den Puls zu fühlen. Zutiefst beunruhigt beobachtete Rainer, wie sie einige Zeit völlig reglos dasaß und sich auf ihre Hand konzentrierte. Grace war Ärztin und wusste, was sie tat. Erleichtert blickte sie schließlich Rainer an:
„Er lebt noch.“
Rainer kamen die nächsten Minuten schier endlos vor. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er die Sirenen der Einsatzfahrzeuge hören konnte. Auf allen Vieren kletterte er den vereisten Steilhang wieder hinauf und machte winkend auf die Unfallstelle aufmerksam.

Kapitel 36

Der Frühverkehr hatte bereits voll eingesetzt, als Rainer die Parkgarage des Krankenhauses verließ. Erledigt und noch völlig verstört kam er zu Hause an. 
Nachdem die Colemans mit dem Krankenwagen abtransportiert worden waren, hatte die Kriminalpolizei vor Ort mit ihren Ermittlungen begonnen. In einer kurzen, aber klaren und informativen Schilderung hatte Rainer dem Inspektor den Tathergang beschrieben. Sogar die genaue Wagentype und das Kennzeichen konnte er den Kriminalbeamten noch nennen. Wie sich recht bald herausstellte, war bei diesem Anschlag ein Profi am Werk gewesen. Viel hatte man auch vor Ort nicht gefunden, nur ein paar Lacksplitter, Beschädigungen an der Stoßstange des Jaguars und Profilabdrücke der Reifen des Range Rovers im Schnee. 
Max und Isabell hatten noch keine Ahnung, dass es zu diesem schrecklichen Unfall gekommen war. Sowohl sein Handy als auch jenes von Isabell waren ausgeschaltet. Die beiden waren etwas vor den Colemans abgefahren und hatten daher von dieser Tragödie nichts mitbekommen. Erschöpft ließ sich Rainer in seinen Ohrenfauteuil fallen und streckte seine müden Beine von sich. Zum hundertsten Mal versuchte er nun schon, Max oder Isabell zu erreichen. Erleichtert atmete Rainer durch, als er Max’ ausgeschlafene Stimme hörte, die nun voller Tatendrang klang. Sofort wollte er Rainer von seinen Überlegungen berichten, die er sich bezüglich der Anschaffung und Finanzierung weiterer Hubschrauber gemacht hatte. Doch Rainer schnitt ihm genervt das Wort ab und fuhr ihn beinahe aggressiv an:
„Halt die Klappe, Max, und hör mir endlich zu. Gestern Abend auf dem Nachhauseweg vom Restaurant ist auf die Colemans ein Anschlag verübt worden.“
„Was heißt Anschlag? Wovon sprichst du eigentlich?“, fragte Max nun völlig verwirrt.
„Colemans Wagen wurde auf der Höhenstraße absichtlich von einem Geländewagen aus einer Kurve gedrängt. Der Jaguar stürzte einen Steilhang hinunter, überschlug sich und prallte dann gegen einen Baum.“
„Um Gottes Willen! Ist den beiden was passiert?“ 
„Nun ja, Grace ist mit Schnittwunden, einer leichten Wirbelsäulenverletzung und dem Schrecken davongekommen. Doch für Jake schaut es nicht so gut aus. Die Computertomografie hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma ergeben, dessen wirkliches Ausmaß erst nach dem Aufwachen festgestellt werden kann. Außerdem sind einige seiner oberen Nackenwirbel verletzt worden. Man hat Coleman in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt, um ihn vorerst einmal vollständig durchchecken zu können.“
„Wird er mit dem Leben davonkommen?“, fragte Max geschockt.
„ Ja, Jake befindet sich außer Lebensgefahr. Soweit man nach der ersten Untersuchung feststellen konnte, sind bei dem Absturz keine inneren Organe verletzt worden. Die Ärzte können aber das Ausmaß seiner Verletzungen noch nicht wirklich erfassen“, erwiderte Rainer erschöpft.
„Und wie soll es jetzt weitergehen?“
„Keine Ahnung. Ich brauche jetzt unbedingt ein paar Stunden Schlaf. Bitte sag die heutigen Termine mit dem ägyptischen Botschafter und diesem russischen Fondsmanager ab. Versuch sie auf die nächste oder übernächste Woche zu verschieben. Dann wissen wir bestimmt schon mehr. Sag den Typen aber auf keinen Fall, dass es sich bei dem Unfall um einen Anschlag gehandelt hat.“

Kapitel 37

Todmüde ließ Rainer sich in sein Bett fallen. Er wollte nur noch schlafen und vergessen. Vielleicht würde sich ja alles nur als ein böser Traum erweisen, wenn er wieder erwachte. Sofort war Rainer eingeschlafen und fand rasch wieder in jenen Traum zurück, der ihn vor einigen Tagen so beglückt hatte. 

Wie immer, wenn Raoul in seinem engen Cockpit saß und hoch am Himmel seinen Kurs flog, fühlte er sich losgelöst vom Druck und der Hässlichkeit dieses unbarmherzigen Krieges. Doch nicht nur das Fliegen vermittelte ihm jetzt solche Glücksgefühle, sondern auch der Umstand, dass ihm Irene über den Weg gelaufen war. War es Schicksal? War es Vorsehung, dass er diesem wunderbaren Geschöpf begegnen durfte? Nach langem Suchen hatte er endlich jene Frau gefunden, die seinem Leben Sinn und Freude geben konnte. Raoul war überzeugt, dass Irene die perfekte Ergänzung in seinem Leben war.
In einer einsamen Bucht hatte Raoul für Irene eine kleine, einfache Fischerhütte gemietet, in der sie sich absolut sicher fühlen konnte. Anfänglich verhielt sich die verängstigte Frau Raoul gegenüber sehr distanziert. Doch diese Befangenheit begann sich bald zu legen, denn Raoul brachte ihr Sympathie und Freundschaft entgegen. Es dauerte nicht lange und seine aufrichtige Zuneigung wandelte sich in Liebe, die schließlich von Irene erwidert wurde. Das Liebespaar schmiss alle Vorbehalte über Bord, denn Raoul war bereits verheiratet und Irene verlobt. Wie es so oft in diesen Kriegswirren der Fall war, fragten die Liebenden nicht nach dem Morgen, sondern lebten nur im Heute. Irene hatte Raoul ein Foto von ihrem Verlobten Albert Raabe gezeigt. Der Pilot auf dem Bild war der Prototyp eines Ariers. Seine Uniform passte perfekt und seine Körperhaltung wirkte stark, selbstsicher und überzeugend. Raoul konnte sich dem Blick dieses Mannes kaum entziehen, obwohl er nur ein Foto von ihm in der Hand hielt. Diese Augen hatten etwas Besonderes an sich. Obwohl das Bildnis nur in Sepiafarben gehalten war, ging ihm dieser klare und vor allem kühle Blick durch und durch. Irene bestätigte Raoul auch, dass Alberts tiefblaue Augen das Auffälligste an ihm waren. Sie waren auch der Grund gewesen, dass sie sich in ihn verliebt hatte.
Doch bald war Albert wieder vergessen und die beiden genossen das Hier und Jetzt und dachten nicht an die Zukunft.
Die Tage und Wochen vergingen wie im Fluge. Längst hatte der Frühling dem Sommer Platz gemacht und langsam begann sich abzuzeichnen, dass die Deutschen denKrieg verlieren würden. Obwohl Raoul mit Irene zwischen seinen Einsätzen glücklich in ihrer neuen kleinen Welt lebte, wussten die beiden Liebenden doch, dass die zukünftige Entwicklung des Krieges auch für sie nicht ohne Folge bleiben würde. Raoul und Irene waren sich in diesen wenigen Wochen so nahe gekommen, dass keiner mehr ohne den anderen sein wollte. 
Das angekündigte Verfahren vor dem Kriegsgericht war zurückgezogen worden, da sich die von Raouls Nacht- und Nebelaktion mitgebrachten Unterlagen der Resistance als überaus wertvoll erwiesen hatten. Sie enthielten nicht nur die genauen Positionen einiger Sperrbunker an der französischen Kanalküste, sondern gaben auch noch über die darin befindlichen Geschütze und ihre Kaliber Auskunft. 
Trotzdem konnte das Oberkommando Raouls eigenwilliges Handeln nicht ohne Konsequenzen durchgehen lassen. Da half selbst sein großer Bekanntheitsgrad als Schriftsteller nichts. Es wurde ihm daher nahegelegt, seinen Abschied einzureichen. Raoul war ohnehin bereits der älteste Flieger der Staffel. Mit seinen 44 Jahren war er bereits ein Methusalem unter den Piloten. Außerdem entsprach Raoul auch aufgrund seines hohen Wuchses und seiner mittlerweile doch ziemlich angewachsenen Körperfülle schon seit Längerem nicht mehr den Standards eines Kampfpiloten. Seine Demission schmerzte. Der Abschied von allem, was Raoul hier lieb und vertraut geworden war, fiel schwer. Besonders das Fliegen, aber auch die Kameraden am Stützpunkt würden ihm fehlen.
Doch das neue Leben mit Irene würde ihm wiederum völlig neue Dimensionen eröffnen. Aufgrund dieser positiven Zukunftsperspektive fiel es Raoul nicht mehr ganz so schwer, das Fliegerkorps zu verlassen, das so lange sein Leben ausgemacht hat.
Zusammen mit Irene hatte er beschlossen, das nahende Kriegsende in der spanischen Kolonie Westsahara abzuwarten. Raoul kannte in der Nähe des Versorgungsflughafens Cabo Juby bei Tarfaya ein hübsches Plätzchen, wo er sich mit Irene erst einmal niederlassen und abwarten würde. Seinen alten Job an diesem Flughafen konnte er sofort wieder antreten. Außerdem würde er sich dann wieder mehr seiner Schriftstellerei widmen können.
Nachdem alle Vorkehrungen für ihren gemeinsamen Ortswechsel getroffen worden waren, wollte Raoul aber nicht einfach sang- und klanglos verschwinden, ohne sich vorher von seinem Freund Egon zu verabschieden. 
Egon war Raoul für seinen selbstlosen und verwegenen Einsatz, mit dem dieser Irene aus Südfrankreich herausgeholt hatte, zutiefst dankbar. Auch Egons Freund und Flügelmann Albert war unsäglich erleichtert gewesen, seine Braut in Sicherheit zu wissen. Doch wie würden die beiden reagieren, wenn sie erfuhren, dass Irene nicht mehr die Braut von Albert, sondern inzwischen seine Lebensgefährtin war?
Andeutungsweise hatte Raoul Egon bereits zu verstehen gegeben, dass sich zwischen ihm und Irene zarte Bande zu weben begonnen hatten. Doch jetzt musste er endlich Farbe bekennen und seinem Freund gestehen, dass sich daraus eine tiefe Liebe entwickelt hatte und Irene nicht mehr zu Albert zurück wollte. 
Durch seine Beziehung zu den höchsten Militärkreisen war es Raoul gelungen, einen letzten Aufklärungsflug fliegen zu dürfen. Diesen wollte er nicht nur nutzen, um sich von seiner treuen Lightning zu verabschieden, sondern Egon endlich die volle Wahrheit zu sagen und ihn über seine tatsächlichen Absichten mit Irene in Kenntnis zu setzen. Egon sollte dann seinem Waffengefährten Albert mitteilen, dass Irene nach dem Krieg nicht mehr zu ihm zurückkehren würde. 
Für die Abreise war bereits alles gepackt und auch alle Formalitäten waren erledigt. Ein Kamerad würde ihn und Irene in die Westsahara fliegen, wo sie in aller Ruhe ihre weiteren Zukunftspläne schmieden würden. 
Ein letztes Mail liebten sich die beiden in ihrer kleinen Fischerhütte. Weder Raoul noch Irene konnten ihre Wehmut verbergen, von diesem besonderen Ort Abschied nehmen zu müssen, wo sie so viel Glück und Freude erfahren hatten. Sie wussten, dieser Abschied würde ein Abschied für immer sein.

Es war ein wunderschöner wolkenloser Sommermorgen, als Raoul die beiden Gashebel nach vorne schob, um seine Lightning zu beschleunigen und sich zum letzten Mal mit ihr in die Luft zu erheben. Wehmütig sah er, wie unter ihm die Welt immer kleiner und kleiner wurde, bis er schließlich nur noch das Meer vom Festland und den Inseln unterscheiden konnte.
Es dauerte nicht lange, bis er von Egon in seinem holprigen Französisch begrüßt wurde. Sofort fiel dem Deutschen die bedrückte Stimmung seines Freundes auf. Nachdem Raoul ihm wehmütig mitgeteilt hatte, dass dieser Flug sein letzter war, wurde auch Egon kleinlaut. Doch als Raoul sich dann endlich dazu durchgerungen hatte und seinen Freund über seine Zukunftspläne mit Irene in Kenntnis setzte, verstummte Egon total. Raoul hatte fast den Eindruck, dass sie die Frequenz verloren hatten. Doch plötzlich war Egons Stimme wieder da. In panischer Aufregung hörte Raoul seinen Freund aufgeregt ins Mikrofon brüllen. Doch aus diesem furchtbaren Kauderwelsch aus Deutsch und schlechtem Französisch konnte er absolut nichts verstehen. Egon riss sich schnell zusammen. Mit bebender Stimme wiederholte er nun etwas langsamer:
„Dreh sofort ab und mach dich so rasch wie möglich aus dem Staub. Albert ist bei dem heutigen Erkundungsflug mein Flügelmann. Er hat die Frequenz gefunden, auf der wir uns unterhalten. Albert hat alles mitangehört und weiß nun über dich und Irene Bescheid. Er fühlt sich zutiefst gedemütigt und hintergangen. Sein Hass auf dich ist jetzt so gewaltig, dass er der Flugleitstelle deine ungefähre Position gemeldet hat. Gerade haben sich in der Nähe befindliche Jäger aufgemacht, dich zu suchen und abzuschießen.“
„Aber das kann doch nicht möglich sein. Man kann doch über alles…“
„Halt jetzt keine Volksreden, sondern hau endlich ab, sonst wirst du abgeknallt wie ein Karnickel auf der Treibjagd“, unterbrach ihn Egon energisch.
„Egon, danke für...“
Doch der Deutsche hatte bereits die Frequenz unterbrochen, sodass nur noch lautes Rauschen zu hören war.
Verdammt! So hatte er sich seinen letzten Flug nicht vorgestellt. Seine Lightning war ein unbewaffneter Aufklärer und schutzlos den Maschinenkanonen der Jagdbomber ausgeliefert. Seine einzige Möglichkeit, einem Abschuss zu entgehen, war, so schnell wie möglich zu flüchten. Raoul kam sich nun wirklich vor wie ein Hase im gemähten Kornfeld. Jetzt konnte er nur auf die hohe Geschwindigkeit und die großen Flughöhe seiner Lightning setzen. Doch die deutschen ME 109 waren auch nicht gerade langsam. Sollte sich wirklich einer dieser Jagdflieger in seiner Nähe aufhalten, dann würde er ein Mordsproblem haben. Konzentriert hielt Raoul nach feindlichen Maschinen Ausschau, während er in einem Höllentempo Kurs auf Korsika nahm. Die nackte Todesangst begann in ihm hochzusteigen, als er aus dem wolkenlosen, blauen Himmel zwei kleine dunkle Punkte auftauchen und zügig näherkommen sah. Rasch drehte Raoul ab, schob die Gashebel noch ein kleines Stück nach vorne und brachte seine Lightning in einen leichten Sinkflug, um die maximale Geschwindigkeit aus der Maschine herauszuholen. Vor und etwas unter ihm befand sich eine dichte Wolkendecke. Erleichtert atmete Raoul durch. Wenn er es schaffte, sich in den Wolken zu verstecken, dann hätten die beiden Jäger kaum eine Chance, ihn dort zu orten und abzuschießen.
Schnell wanderten die Drehzahlmesser der Motoren nach rechts in den roten Bereich und Raoul regelte mit der Propellerverstellung nach. Er versuchte, so schnell wie möglich in diese Wolkenbank zu gelangen. Nur zu gut wusste er, dass die beiden Jagdflieger um einiges schneller waren als er selbst. 
Raoul versuchte, aus seiner Lightning den letzten Rest an Geschwindigkeit herauszupressen. Doch gegen die schnellen und wendigen Maschinen des deutschen Geschwaders war er chancenlos. Die beiden Flieger rückten immer mehr auf, sodass Raoul die gegnerischen ME 109 hinter sich nicht mehr sehen konnte. Als erfahrener Pilot kannte er diese Vorgangsweise. Raoul wusste, dass sie da waren und die Jagd auf ihn bereits eröffnet war. Nur noch ein Wunder würde ihn jetzt noch retten können. Instinktiv zog er seine Maschine in einer Steilkurve nach unten, um die Position der beiden Jäger feststellen zu können. Gerade noch zur rechten Zeit, denn über ihm zogen die ersten Leuchtspurgeschosse ihre tödliche Bahn. Nochmals versuchte Raoul in einer waghalsigen Kunstflugfigur abzudrehen, um den tödlichen Waffen der Deutschen doch noch zu entgehen. Er zog seine Maschine steil nach oben und kippte sie scharf über den linken Flügel ab. Die Lightning war als zweimotoriger Bomber für solche Flugmanöver absolut nicht geeignet. Doch Raoul hoffte, mit diesem unerwarteten Manöver seine Gegner zu täuschen, um lebenswichtige Sekunden zu gewinnen, damit er endlich in der Wolkenbank untertauchen konnte. Die Maschine lag jetzt auf dem Rücken und flog in einem flachen Winkel direkt auf die Oberfläche der Wolken zu. Das Variometer zeigte voll in den roten und verbotenen Bereich. Beide Drehzahlmesser stießen fast an ihre rechten Anschläge. Wenn Raoul nicht im nächsten Moment reagierte, dann müsste die Maschine gleich auseinanderbrechen. Raoul zog beide Gashebel zu sich und leitete gleichzeitig mit einer festen seitlichen Bewegung des Steuerknüppels eine Rolle ein, um die Maschine wieder in die aufrechte Fluglage zu bringen. Es grenzte fast an ein Wunder, dass seine Maschine diesen ungeheuren Belastungen standgehalten hatte. Raoul drückte sein Flugzeug leicht nach unten. Er fühlte dieses leichte und unwillige Zittern, als sie dem High Speed Stall bedenklich nahe kam. Die Struktur der Zelle war jetzt extrem belastet. Er musste jetzt sofort reagieren, um nicht in tausend Stücke gerissen zu werden. Raoul zog den Steuerknüppel zu sich und hob dadurch die Nase des Flugzeuges wieder etwas von der rettenden Wolkendecke weg nach oben. Sofort ging das Variometer zurück in den gelben Bereich. Auch die Drehzahlmesser der beiden Motoren zeigten einen leichten Rückgang an. Doch seine Gegner waren ausgebildete und erfahrene Jagdflieger. Außerdem hatten sie noch dazu den Vorteil, in kleineren und viel wendigeren Maschinen zu sitzen.
Der unerwartete Jägerabschwung hatte die beiden deutschen Piloten doch ziemlich überrascht. Sie wunderten sich, dass diese Riesenkiste nicht schon längst auseinandergebrochen war. Aber rasch rückten die Jäger wieder näher an den schwerfälligen Aufklärer heran. Bevor Raoul weiter in Richtung der Wolken unter ihm sinken konnte, waren die beiden Bomber schon wieder dicht auf seinen Fersen. Die Umrisse der Lightning wanderten durch das Visier der beiden Jäger. Anhand der Leuchtspur konnten die Piloten ganz genau erkennen, wie gut ihr Objekt im Ziel lag. 

Noch bevor sich die Wirkung der Geschosse auf seine Maschine und seinen Körper auswirken konnte, wusste Raoul bereits, dass er getroffen war. Mit letzter Kraft versuchte er noch, den Steuerknüppel anzuziehen. Doch dafür war er bereits viel zu schwach. Seine Hände, sein Körper gehorchten ihm nicht mehr. Brennend stürzte die getroffene Lightning in die Tiefe. Während die tiefblaue See immer näher kam, glaubte Raoul plötzlich, in die eiskalten, blauen Augen Alberts zu sehen. Die darin zu lesende Genugtuung spiegelte all den Hass wider, den er für Raoul empfand. 
Doch sein letzter Gedanke galt seiner geliebten Irene. Vor seinem inneren Auge liefen noch einmal in Sekundenschnelle die wundervollen Wochen mit ihr ab. Von Wärme und Liebe erfüllt, fühlte er noch einmal ihre zarte Haut, roch ihren besonderen Duft und blickte ein letztes Mal in ihre wunderschönen smaragdgrünen Augen, während ihn dieses bereits vertraute und sanft blauschimmernde Licht umgab. Während seine Seele friedlich und leicht aus dem zerstörten Cockpit glitt, versank sein zerfetzter Körper mit den Trümmern seiner Lightning in den dunklen Tiefen des Meeres.

Kapitel 38

Laut keuchend und zutiefst aufgewühlt fuhr Rainer aus diesem entsetzlichen Albtraum hoch. Obwohl ihm dieses Gefühl der Todesangst nicht mehr fremd war, hatte er nun das Sterben wesentlich intensiver erlebt. Dieses schreckliche Erlebnis berührte ihn jetzt viel tiefer als der Exitus des Steinzeitmenschen.
Mit zittrigen Knien erhob sich Rainer aus seinem Bett und ging ins Wohnzimmer. Anstatt eines starken Espressos schüttete er ein halbes Glas Cognac in einem Zug durch seine Kehle. Das heftige Brennen im Hals ließ ihn für einen kurzen Moment die Nachwirkung seines Albtraums vergessen. Rainer schenkte den Schwenker noch einmal nach und stellte das Glas auf den Kaminsims. Das Feuer war schon seit Stunden heruntergebrannt. Rasch entfachte er die Glut aufs Neue und legte einige Scheite darauf. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Flammen sich am trockenen Holz entlangfraßen und kleine Feuerzungen emporzuflackern begannen. 
Gedankenverloren starrte Rainer in den unruhigen Tanz der Flammen und versuchte, dieses schreckliche Erlebnis zu deuten. Rainer konnte sich nicht erinnern, dass er jemals etwas mit Flugzeugen zu tun hatte. Er interessierte sich nicht einmal fürs Fliegen. Und doch wusste er genau, wie das Cockpit einer Lockheed P-38 Lightning aussah, sodass er sich in diesem Augenblick der festen Überzeugung war, diesen Bomber auch fliegen zu können. 

Beunruhigt wandte er sich ab und fuhr seinen Laptop hoch. Rainer suchte nach Gewissheit und nach Antworten auf seine vielen Fragen. Bald fand er in einer der Suchmaschinen Fotos und Baukonstruktionen einer Lockheed P-38 Lightning. Sofort schien ihm dieser Jagdbomber vertraut, dass ihm fast unheimlich wurde. Langsam begann Rainer die Wirkung des Alkohols zu spüren und wurde ruhiger und überlegter. Doch sein Interesse, mehr über diesen Traum und deren Protagonisten zu erfahren, war nun stärker denn je geweckt. Konnte es denn wirklich sein, dass diese Geschehnisse nicht fiktiv, sondern real waren? 
Fast zaghaft begann er nach Egon von Walde und Albert Raabe zu suchen. Rainer wusste nicht, ob er erfreut oder enttäuscht sein sollte, weil er nichts von den beiden Kampfpiloten fand. Doch seine Suche wurde immer akribischer. Rainer musste unbedingt etwas finden. Er brauchte dringend Anhaltspunkte, um nicht verrückt zu werden. 
Erst am frühen Abend fand Rainer endlich einen kleinen Vermerk über Albert Raabe. Erleichtert atmete er durch. Diesen Mann hatte es also wirklich gegeben. Albert hatte den Krieg überlebt. Nach der englischen Kriegsgefangenschaft hatte er die jüdische Pianistin Irene Roth geheiratet, die ihm eine Tochter geschenkt hatte. Rainer konnte kaum glauben, was er in diesem Zeitungsausschnitt lesen musste. Irene hatte Albert also doch noch geheiratet, obwohl sie Raoul ewige Liebe geschworen hatte… 
Zutiefst betroffen und unsäglich enttäuscht von Irene suchte er nach noch mehr Informationen. Doch dieser Hinweis war der einzige. Deprimiert wollte Rainer schon die Suchmaschine schließen, als er plötzlich unter den Todesanzeigen der Kriegsveteranen auf den Namen Egon von Walde stieß. Die Erregung ließ Rainers Hände zittern, als er die Pate scrollte. Egon war am 29. Juli 2008 im 88. Lebensjahr an Altersschwäche gestorben. Rainer brauchte einige Augenblicke, bis er diese Information verarbeitet hatte. Doch dann erfüllte ihn unsägliche Erleichterung und tiefe Dankbarkeit. Tränen der Freude, aber auch der Schwermut um den Verlust dieser wunderbaren Freundschaft ließen seine Augen feucht werden. Auf dem kleinen Bild, das seine Angehörigen ins Internet gestellt hatten, war er bereits ein alter Mann. Obwohl Rainer Egon niemals zu Gesicht bekommen hatte, sagte ihm sein sechster Sinn, dass dieser Mann hier sein Freund gewesen war. Eine traurige Heiterkeit erfasste ihn nun. Egon starb genauso wie Raoul am 29. Juli, nur 65 Jahre später. Traurig, weil Rainer seinen Freund nur um wenige Monate zu spät gefunden hatte, schaltete er nachdenklich seinen Laptop ab. 
Rainers Blick wanderte zur Terrassentür hinaus. Dicke Schneeflocken rieselten sachte vom bereits dunklen Himmel und bildeten eine weiße Decke auf den kalten Steinfliesen der Terrasse und den umliegenden Dächern. Wenn jetzt irgendwo noch „Leise rieselt der Schnee“ erklingen würde, dann wäre das kitschige Weihnachtsambiente perfekt gewesen. 
Normalerweise stimmte Rainer diese vorweihnachtliche Stimmung immer ein wenig fröhlicher und besinnlicher. Mit diesem besonderen Erleben der Vorfreude fühlte er sich dann wieder ein ganz klein wenig in seine Kindheit zurückversetzt. Doch diesmal war sein Herz viel zu schwer von all den tiefgreifenden Erlebnissen erfüllt. Der Verlust von Freundschaft, tiefer Verbundenheit und grenzenloser Liebe, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte, aber auch diese erschreckend endgültige Unwiederbringlichkeit von schönen Momenten und Empfindungen und zu guter Letzt auch die Befürchtung, dass Coleman durch seine Verletzungen irreparable Schäden davongetragen haben könnte, ließen diese erwartungsvolle Freude auf die kommende Weihnacht nicht aufkommen. 

Plötzlich wurde es Rainer in der Wohnung zu eng. Die Luft wurde drückend schwer und er konnte kaum noch atmen. Rainer musste unbedingt raus und sich des engen Panzers um seine Brust entledigen, um wieder durchatmen zu können.
Rainer schlüpfte rasch in seinen Parka und langte nach dem großen schwarzen Regenschirm im Ständer. Innerhalb weniger Sekunden war er auf der Straße. Sofort fühlte er sich sofort besser, als er die kalte, nach Schnee riechende Abendluft in seinem Gesicht spürte. Die dünne Schneedecke dämpfte seine Schritte, während er durch den Park ging. Als Rainer bei Angelinas Parkbank angekommen war, seufzte er bedauernd auf. Schade, dass sie nicht da war. Es hätte ihm so gut getan, sich bei der alten Frau seine Probleme von der Seele zu reden und ihre guten Ratschläge zu hören. Doch bei diesem Wetter hatte sich seine Freundin sicherlich in ihr hoffentlich warmes Nest verkrochen. Rainer schob die feine Schneeschicht von den Brettern der Bank und setzte sich nieder. Mit aufgespanntem Schirm und weit von sich gestreckten Beinen starrte er zwischen den sanft herabsinkenden Schneeflocken ins Leere. Noch nie hatte sich Rainer so orientierungslos und verwirrt gefühlt. Wie ein Damoklesschwert schwebte über ihm ein ungewisses Gefühl von Zweifel, böser Vorahnung und auch Angst.
Für viele Menschen begann jetzt der Feierabend. Sie beeilten sich, endlich nach Hause zu kommen oder noch auf einen schnellen Drink in einem der vielen Lokale der Innenstadt einen Zwischenstopp einzulegen. Tief in seine Gedanken versunken registrierte Rainer kaum die Person, die leise am anderen Ende seiner Bank Platz genommen hatte. Erst ihre vertraute Stimme riss ihn aus seinen trübsinnigen Gedanken. 
„Hallo Junge! Lust auf ein wenig Gesellschaft?“
Freudig überrascht hob Rainer den Schirm.
„Angelina, das ist doch nicht möglich. Was treibt dich denn bei diesem Wetter hier her?“ 
Froh sie zu sehen, rückte er näher an sie heran.
„Nun, was schon. Deine trüben Gedanken natürlich“, erwiderte sie fast mürrisch und drückte ihre Plastiktragetaschen an sich, um besser vor der Kälte geschützt zu sein.
Rainer drückte Angelina sanft an sich, damit auch sie unter seinem großen Schirm Schutz vor dem fallenden Schnee fand. Sofort roch Rainer wieder ihren besonderen und unvergleichlichen Duft, der den würzigen Geruch des Schnees fade schmecken ließ.
„Wo drückt dich der Schuh?“, fragte sie nun ein wenig verbindlicher. Doch ihre leicht besorgt klingende Stimme zeigte ihm, dass die alte Frau bei Weitem nicht so cool war, wie sie sich geben wollte. Dankbar blickte Rainer auf seine Freundin hinunter und fühlte nun stärker denn je diese besondere Verbundenheit mit ihr.
„Ach Angelina, augenblicklich fühle ich mich wie in einer Kneipp-Kur. Die seelischen Kalt-Warm-Duschen innerhalb kürzester Zeit schlagen mir schwer aufs Gemüt“, klagte Rainer der alten Frau sein Leid und erzählte ihr von dem hinterhältigen Anschlag auf seinen Geschäftspartner.
„Das ist ja schrecklich. Weiß man, wer der Täter war?“
„Nein, die Polizei tappt noch im Dunkeln. Doch ich hege den großen Verdacht, dass eine kriminelle Organisation dahintersteckt. Vor zwei Tagen hatte Coleman nämlich Besuch von zwei Männern, die ein amerikanisches Rüstungskonsortium vertreten. Sie hatten Coleman ein sehr großzügiges Angebot gemacht, damit er sein Patent an die Organisation verkauft. Doch Coleman schlug das aus, obwohl die Typen unterschwellig bereits anklingen ließen, dass diese Ablehnung unangenehme Folgen haben könnte. Coleman hatte dann den genialen Einfall, Max und mich zu gleichberechtigten Partnern zu machen, sodass dieses Konsortium keinen direkten Zugriff mehr auf Colemans Patent haben würde. Erst gestern wurde die Partnerschaft notariell beglaubigt. Doch anscheinend war die Änderung in der Geschäftsführung der „Mine-Dedecting“ noch nicht bis zu den Ohren dieser Waffenlobby gedrungen, sodass Coleman trotz aller Vorkehrungen in ihrem Visier stand.“
„Und wie soll es nun weitergehen?“, fragte Angelina beunruhigt.
Rainer schüttelte deprimiert seinen müden Kopf.
„Keine Ahnung. Irgendwie fehlt mir augenblicklich der Plan. Ich will gar nicht daran denken, was sein wird, wenn Coleman ausfallen sollte. Unsere Firma befindet sich noch in der Start-Up-Phase und die Finanzierung ist längst noch nicht abgeschlossen. Zudem haben wir ein extrem schlechtes Timing, da sich die Weltwirtschaftslage zunehmend verschlechtert.“
Angelina legte ihren Arm um seine Schulter und drückte den großen Mann aufmunternd an sich.
„Junge, mach dir keinen zu großen Kopf. Irgendwie geht es immer weiter. Fast alle großen Dinge, die Menschen jemals vollbracht haben, sind mit Herzblut geschrieben worden. Wenn es dir auch nicht hilft, so soll es zumindest ein kleiner Trost sein, dass man aus den eigenen Rückschlägen und Niederlagen immer lernt und reift. Wenn du wirklich etwas willst, dann stehst du trotz aller Tiefschläge immer wieder auf und gehst unbeirrbar deinen Weg. Sicherlich hast du dann einige Schrammen und Narben mehr, aber du bist auch reicher an Erfahrungen und Erkenntnissen, die dich lehren, das Richtige zu tun.“
Skeptisch sah Rainer in ihre blinden Augen, die starr an ihm vorbeiblickten. Doch dann lächelte er und spürte eine Welle von tiefer Verbundenheit und Dankbarkeit für dieses verrunzelte Weiblein in sich aufsteigen: 
„Wieso habe ich immer ein gutes Gefühl, wenn du in meiner Nähe bist? Über welche magischen Kräfte verfügst du, die meinen Optimismus wieder Oberhand gewinnen und mich hoffen lassen?“
„Ganz einfach, weil ich deine gute Fee bin“, erwiderte Angelina und zwinkerte versonnen.
„Ach Angelina, wenn du wirklich meine gute Fee bist, dann lass mich bitte wieder so uneingeschränkt glücklich sein wie ich es zum Wochenende war. Isabell ist letzten Samstag zu mir gekommen. Du wirst es nicht für möglich halten, doch ich habe mit diesem bezauberndsten Wesen der Welt die wunderbarste Nacht meines Lebens verbracht. In der darauffolgenden Nacht habe ich dann auch noch in die beglückende Fortsetzung meines Traums zurückgefunden. Ich glaubte fast, auf Wolken zu schweben. Doch gerade als ich mich an dieses unsagbar schöne und erhebende Gefühl zu gewöhnen begann, schlug das Schicksal mit voller Kraft zu und brachte mich rasch wieder auf den Boden der Realität zurück. Nicht nur, dass gestern die Colemans schwer verunglückt sind, auch mein wunderschöner Traum nahm eine völlig andere Wendung als ich vermutet hatte.“
Angelina war hellhörig geworden und forderte ihn auf, von seinem Traum zu berichten. Rainer ließ sich nicht lange bitten und erzählte seiner Freundin, wie er als Raoul Irene aus dem besetzten Frankreich herausgeholt und sich dann Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt schwang in seiner Stimme ein glücklicher und verträumter Unterton mit. Doch als er von dem aussichtslosen Luftkampf zu erzählen begann, wich jeder weiche Ton aus seiner Stimme. Stockend erzählte er Angelina, wie er von dem verschmähten Bräutigam verraten und dann von deutschen Jagdfliegern vom Himmel geschossen wurde.
„Du bist also wieder gestorben, so wie in deinem ersten Traum?“ 
Ihre Frage glich eher einer Feststellung, die sie ziemlich aufzuwühlen schien.
„Ja, daran hatte ich auch gedacht. Nur war das Sterben dieses Mal ganz anders. Ich empfand meinen Abgang wesentlich intensiver und auch schrecklicher“, erwiderte Rainer noch immer ein wenig mitgenommen von diesem schrecklichen Erlebnis. Doch dann dachte er an seine Recherchen im Web und fuhr mit heiterer Traurigkeit fort:
„Stell dir vor, vor einigen Jahren hat man im Mittelmeer vor Marseilles eine Lightning gefunden, wie ich eine geflogen habe. Sie ist genau an jener Stelle abgeschossen worden, wo auch ich mit meiner Maschine ins Meer gestürzt bin. Außerdem habe ich im Internet nach Irene, Egon von Walde und Albert Raabe gesucht. Du wirst es nicht für möglich halten, doch ich bin wirklich fündig geworden. Egon ist im Alter von 88 Jahren in Deutschland verstorben und Irene hat Albert nach Kriegsende geheiratet und ihm eine Tochter geschenkt.“ 
Bei dem Gedanken an seine Irene, die ihn so rasch vergessen hatte, fühlte er wieder diese unsägliche Enttäuschung in sich aufsteigen. 
„Das heißt also, dass du noch eine Seelenwanderung hinter dir hast.“
„Angelina, ich weiß nicht, ich kann mich mit so einem esoterischen Hokuspokus nicht anfreunden. Obwohl viel dafür spricht, dass ich anscheinend schon öfter gelebt habe, habe ich ein echtes Problem, an Wiedergeburt und Seelenwanderung zu glauben. Irgendwie gibt es doch für alles im Leben eine Erklärung. Vielleicht treffen ja auch in meinen Träumen viele Zufälle und Begebenheiten zusammen, die ich im Unterbewusstsein gespeichert habe. Aufgrund meiner vielleicht allzu lebhaften Fantasie ergeben diese Eindrücke dann ein abgerundetes Bild. Das Schreckliche an diesen Träumen ist aber, dass meine Psyche dadurch ziemlich beeinträchtigt wird. Dieser Umstand ist extrem störend und hemmt mein klares und unabhängiges Denken.“
Einen langen Moment dachte Angelina über seine Worte nach, ehe sie fast zögernd antwortete:
„Du bist ein sehr nüchtern denkender Mann, der mit beiden Beinen voll im Leben steht. Dein Beruf erfordert es, sich nicht nur sich selbst völlig im Griff zu haben, sondern auch andere Menschen unter deine Kontrolle zu bringen. Für Dich ist es daher ein ziemliches Problem zu akzeptieren, dass es auch andere Gesetzmäßigkeiten gibt, die außerhalb des logischen Denkens liegen und sich deinem realen Einschätzungsvermögen entziehen. Es gibt eben Dinge im Leben, wo du keinen Rechenschieber ansetzen kannst, wo man auf keine geltenden Gesetze und Normen zurückgreifen kann. In diesem abstrakten Bereich kannst du nur mit deiner Seele und deinem Herzen erkennen und akzeptieren. Du musst lernen, eine innere Größe aufzubauen, die über dein eindimensionales Denken hinaus reicht. Wenn du dazu fähig bist, dieses grenzüberschreitende Empfinden zuzulassen, wirst du erkennen, dass es unendlich viel mehr gibt als dein jetziges kleinkariertes Denken zu fassen vermag. Erst wenn du dieses Fühlen und Wissen in dir trägst, dann wirst du ruhig und frei von Angst sein.“
Rainer ließ sich Angelinas Philosophie noch einmal durch den Kopf gehen. War er denn wirklich zu verbohrt und zu realitätsbezogen, um zu akzeptieren, dass es mehr gab als nur dieses Leben und diese Welt? 
Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien und Rainer konnte seinen Schirm wieder abspannen. Angelinas Worte bewegten ihn sehr. Obwohl er ihre Gedanken nicht ganz erfassen konnte, lösten sie in ihm doch ein angenehmes Gefühl von erwartungsvoller Neugier aus.
Rainer blickte auf die riesige Standuhr vor dem Abgang zur U-Bahn.
„Angelina, es ist Zeit für mich aufbrechen. Ich muss noch ins Krankenhaus, um nach den Colemans zu sehen.
„Ist schon gut, Junge. Ich muss mich auch bald auf den Weg machen, denn sonst ist mein schönes Schlafplätzchen belegt. Bei diesen Witterungsverhältnissen muss man am Ball bleiben, sonst gibt’s nur mehr die Logenplätze unter der Brücke.“
Mitleidig lächelnd blickte Rainer auf die alte Frau hinab. Wie gerne hätte er ihr geholfen und für sie einen warmen Unterstand organisiert. Doch in gewissen Dingen war Angelina stur wie ein alter Esel. 
Zärtlich streichelte er mit seinem Zeigefinger über ihre eingefallene, kalte Wange. Eigenartig, wie ungewöhnlich zart sich ihre Pergamenthaut dabei anfühlte.
„Es war schön, dich zu treffen und mit dir zu plaudern. Irgendwie fühle ich mich jetzt nicht mehr ganz so unsicher und verloren.“
„Dann hat es ja echt Sinn gehabt, dass ich meine alten Knochen hierher geschleppt habe.“
„Auf jeden Fall, meine Liebe. Danke, dass du gekommen bist und mir zugehört hast.“ 
Als Rainer schon in Richtung seiner Parkgarage ging, rief sie ihm nach:
„Junge, es sind zwar nur Träume, doch manchmal sind sie auch etwas mehr. Deine scheinen aber viel mehr zu sein, denn sie können dir deinen Weg weisen. Auch wenn es vielleicht nicht gleich den Anschein hat, doch sie spiegeln deine Seele wider. Du kannst nur einen kleinen Teil dieses Seins bewusst wahrnehmen. Der Großteil schlummert immer noch ungeweckt in dir. Sei daher nicht so vermessen zu glauben, dass du weißt, wer und was du bist. Nur dein Schicksal lehrt dich dein Leben und lässt dich erkennen. Alles hat im Leben seine Bewandtnis. Deshalb achte auf die kleinsten Anhaltspunkte, auch wenn sie dir noch so unwichtig erscheinen mögen.“
Rainer ahnte, dass hinter Angelinas kryptischer Aussage wesentlich mehr steckte, als sie ihm sagen wollte. Obwohl sich sein logischer und nüchterner Verstand dagegen wehrte, seine Träume als schicksalsträchtig zu werten, wollte er doch Angelinas Tipp nicht ganz von der Hand weisen.

Kapitel 39

Die nächsten Tage verliefen so turbulent und hektisch, dass Rainer kaum wusste, wo ihm der Kopf stand. Die Geheimhaltung des Anschlages blieb naives Wunschdenken. Die Zeitungsfritzen hatten sofort Wind von dem Attentat bekommen und schlachteten den Anschlag auf der Höhenstraße in allen Facetten aus. Schließlich wurde ja nicht jeden Tag ein angesehener amerikanischer Staatsbürger in Begleitung seiner Ehegattin in seinem Auto von der Straße gedrängt und einen Steilhang hinabgestürzt. Es war auch bald die Rede von mafiösen Strukturen, von denen auch Österreich nicht verschont war. 
Natürlich verbreiteten sich diese Nachrichten auch unter den Investoren wie ein Lauffeuer. Viele Anleger hatten plötzlich große Bedenken, ihr Geld in falsche Hände zu legen und wollten ihr Commitment rückgängig machen. Noch dazu war die Lage an den internationalen Finanzmärkten von Tag zu Tag problematischer geworden. Viele Investoren wollten jetzt nicht auch noch in eine Geschäftsidee investieren, die gleich von Anfang an durch Gewalt und Attentate gezeichnet und bedroht wurde. 
Rainer und Max mussten mit aller Überzeugungskraft ins Feld ziehen, um den anstehenden Zweifeln so konsequent wie nur möglich Paroli zu bieten.
Der Anwalt der „Mine-Dedecting“ zwang die betreffenden Zeitungen zu Klarstellungen, da jeder Zusammenhang mit kriminellen Organisationen auf reinen Spekulationen beruhte und damit jeder Grundlage entbehrte. Die beiden Männer beriefen eine Pressekonferenz ein, auf der sie nochmals mit allem Nachdruck darauf hinwiesen, dass dieser Zwischenfall leider ein sehr bedauerlicher, aber ganz normaler Unfall gewesen war. Jake Coleman sei ein achtbares Mitglied der amerikanischen und auch der hiesigen Gesellschaft und ohne irgendwelche Feinde. Man gehe daher davon aus, dass leider ein verrückter Straßenrowdy sein Unwesen am Kahlenberg getrieben und diesen Sturm im Wasserglas erzeugt hatte. 
Zur allgemeinen Überraschung hatte diese Pressekonferenz ein dermaßen hohes Interesse gefunden, dass sich plötzlich neue potenzielle Sponsoren für das Unternehmen zu interessieren begannen. Bei diesem öffentlichen Auftritt hatte es Rainer nicht verabsäumt, die „Mine-Dedecting“ souverän zu präsentieren und den besonderen sozialen und gesellschaftlichen Wert des Unternehmens in den Vordergrund zu stellen. Mit allem Nachdruck hatte er darauf hingewiesen, wie viel Menschlichkeit und Nächstenliebe Jake Coleman mit seiner Pionierarbeit in Gang gesetzt hat.
Für die kommenden Tage konnten einige Termine mit neuen Interessenten vereinbart werden. Rainer war zuversichtlich, dass er die ins Stocken geratenen Finanzierungsgespräche wieder ins Laufen und zu einem positiven Abschluss bringen würde.
Doch der großen Freude an dem Interesse der zusätzlichen Investoren wurde ein Dämpfer versetzt, als Coleman aus seinem künstlichen Tiefschlaf geholt wurde. 
Mit Bangen hatten Grace, Isabell und Rainer auf die Diagnose des behandelnden Arztes gewartet. Gott sei Dank war Grace bald soweit wiederhergestellt gewesen, dass sie bereits am nächsten Tag aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Obwohl sie die ersten Tage noch mit heftigen Kopf- und Kreuzschmerzen zu kämpfen hatte, verging kaum eine freie Minute, in der sie nicht bei ihrem bewusstlosen Mann am Krankenbett wachte.
Dankbar hatte Grace das Angebot Isabells angenommen, vorübergehend bei ihr in ihrem Haus in Sievering zu wohnen. Grace war nur zu gern auf Isabells Vorschlag eingegangen, da die Angst vor einem neuerlichen Anschlag einfach zu groß war. 

Der ernste Gesichtsausdruck des Internisten ließ keine euphorischen Hoffnungen aufkommen. Mit professioneller Sachlichkeit teilte er den Angehörigen mit, dass durch den Aufprall Colemans zentrales Nervensystem am achten Halswirbel dermaßen beschädigt worden war, dass sich daraus eine Paraplegie ergeben hatte, was eine völlige und irreparable Lähmung der Beine bedeutet. Außerdem wurde aufgrund seines Schädel-Hirn-Traumas eine retrograde Amnesie festgestellt. Der Arzt war jedoch in dieser Hinsicht optimistischer und meinte, dass sich die damit verbundenen Erinnerungslücken in den nächsten Tagen mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder schließen würden. 
Da Grace weit schlimmere Hiobsbotschaften erwartet hatte, nahm sie die Diagnose relativ gefasst auf. Als Ärztin wusste sie aus eigener Erfahrung, dass querschnittgelähmte Menschen durchaus ein sinnvolles und interessantes Leben führen können, wenn sie ihre Behinderung erst einmal akzeptiert haben. 
Die neue Situation würde Veränderungen erfordern. Doch Grace war nur zu gerne bereit, ihren Beitrag zu leisten, solange ihr Mann nur lebte, keinen geistigen Schaden davongetragen hatte oder gar zum Koma-Patienten geworden war.
Grace durfte nun als Einzige zu ihrem Mann. Rainer und Isabell blieben alleine im Wartezimmer zurück, um auf ihre Rückkehr zu warten. Inzwischen waren seit dem Anschlag fast zwei Wochen vergangen. Die Tage nach dem Unfall waren hektisch und aufreibend gewesen. Rainer hatte beim besten Willen weder Zeit noch Muße für Isabell aufbringen können. Seit diesem schicksalsträchtigen Abend hatte er sie nicht mehr gesehen. Wenn Rainer Isabell anrief, dann erkundigte er sich meist nur nach Max oder fragte sie, ob sie neue Informationen über Colemans Gesundheitszustand hatte. Rainer wusste nur zu gut, dass er Isabell sträflich vernachlässigt hatte. Dieses Manko an Aufmerksamkeit und Nähe ließ sie ihn jetzt auch spüren. Sofort fühlte er diese imaginäre, kalte Wand, die Isabell nun zwischen ihnen aufgebaut hatte. 

Als Grace aus dem Warteraum gegangen war, wandte sie sich von ihm ab und blickte demonstrativ aus dem Fenster.
Rainer fühlte nun tiefes Bedauern in sich. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er sie mit seiner ungewollten und gedankenlosen Ignoranz verletzt hatte. Schweigend ging er einige Schritte auf sie zu und wollte zärtlich ihr Haar berühren. Doch im letzten Moment zog er die bereits ausgestreckte Hand zurück. Rainer fühlte die negative Spannung im Raum und wusste nicht, wie er dieser Situation die Schärfe nehmen sollte. Mit hängenden Schultern stand er hinter Isabell und sah reumütig auf sie hinunter. 
„Es tut mir leid, Isabell“, flüsterte er kleinlaut.
So als ob sie nur darauf gewartet hatte, dass Rainer ein Wort sagte, wandte sie sich ihm energisch zu und funkelte ihn mit ihren grünen Augen zornig an.
„Das braucht es nicht. Schließlich bist du mir nichts schuldig. Am besten, wir vergessen, was zwischen uns war und konzentrieren uns wieder auf die wesentlichen Dinge des Lebens, was du ja ohnehin schon getan hast.“ 
Rainer konnte den Schmerz in ihren tränennassen Augen sehen, die absolut nicht zu ihrer aggressiven Stimme passten. Ihr offensichtlicher Kummer traf ihn tief in sein Herz. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt.
„Isabell, ich verstehe nur zu gut, dass du böse auf mich bist. Ich kann mir ja selbst kaum verzeihen, dass ich dich so links liegen lassen musste“, erwiderte er reuevoll.
Sofort wandelte sich die Aggression in ihrer Stimme. Unglücklich und zutiefst verletzt schluchzte sie:
„Ein liebes Wort am Telefon oder eine kurze SMS hätten doch schon genügt, um mir zu zeigen, dass ich dir wichtig bin. Ich bin mir vorgekommen wie eine weitere Jagdtrophäe in der Sammlung eines Großwildjägers.“
„Oh Gott, was hab ich nur getan“, murmelte Rainer schuldbewusst, während er sie in seine Arme schloss und fest an sich drückte. Es war ihm völlig egal, ob er durch die Glasfenster der Türe beobachtet werden konnte oder nicht. 
„Es tut mir so leid, dass ich dich verletzt habe. Diese ganze Situation war einfach zu viel für mich. Ich blöder Arsch habe deshalb das Wertvollste in meinem Leben hintangestellt.“
Rainer schob sie von sich und nahm ihr zartes Gesicht in seine großen Hände, dass es fast darin verschwand. Voller Liebe und Mitleid blickte er in ihre Augen.
„Ich verspreche dir, dass ich dich niemals mehr im Zweifel lassen werde, wie sehr ich dich liebe. Du bist für mich mein Anfang und mein Ende. Du bist der Quell meiner Freude, mein erster und letzter Gedanke. Du bist ganz einfach der wichtigste Sinn in meinem Leben.“
Die Worte sprudelten Rainer nur so von seiner Seele. Wie schön dieses Gefühl doch war, ihr endlich uneingeschränkt sagen zu können, wie wichtig sie ihm war. Ihre grünen Augen begannen glücklich zu leuchten, als er sich ihr so rückhaltlos offenbarte. Verwundert schüttelte sie den Kopf. 
„Wie konnte ich nur all die Jahre so blind sein und nicht sehen, was ich dir bedeute. Musste ich wirklich so alt werden, um zu erkennen, wie wichtig du für mich bist?“ 
Sanft zog sie seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn zärtlich auf den Mund, während Rainer ihren Körper dicht an seinen drückte, um noch mehr von ihr zu spüren.
Blind und taub für die Außenwelt verschmolzen die beiden Liebenden in einer zärtlichen Umarmung. Zu einer Salzsäule erstarrt, beobachtete Max durch die geschlossene Glastür, mit welcher Innigkeit und Vertrautheit sich seine Frau und sein bester Freund küssten. Er wusste nicht, ob er dankbar sein sollte, dass er im Straßenverkehr hängengeblieben war und er so Zeuge dieses Szenarios wurde. Zutiefst betroffen und völlig verwirrt wandte sich Max ab, um mit dem Aufzug wieder in die Garage hinunterzufahren.

Kapitel 40

Der mit dem Anschlag betraute Kriminalinspektor rief Rainer an und teilte ihm mit, dass der als gestohlen gemeldete Range Rover völlig ausgebrannt in einer Kiesgrube gefunden worden war. Man fand daher weder Fingerabdrücke noch sonstige Indizien, die auf die Spur des Attentäters führen könnten. Außerdem war der Airbag im Lenkrad von Colemans Auto manipuliert worden, sodass er beim Aufprall an den Baum nicht aufgegangen war. Die Polizei war jetzt absolut sicher, dass dieser Anschlag von einem Profi ausgeführt worden war. 
Rainers Hinweis, dass eventuell ein Waffenkonzern das Attentat auf Coleman in Auftrag gegeben haben könnte, war der Polizei aufgrund fehlender Beweise dann aber doch zu vage. So verliefen die Ermittlungen aus Mangel an neuen Fakten immer schleppender, bis sie schließlich eingestellt wurden.

Wie vom Arzt vorausgesagt, schlossen sich nach und nach Colemans Erinnerungslücken. Doch gleichzeitig nahmen seine Depressionen zu. Die beträchtliche Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit durch seine lahmen Beine setzte ihm enorm zu. Coleman war ein agiler und sehr sportlicher Mann gewesen. Nun war er mit seiner Behinderung für den Rest seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt und auf die Hilfe seiner Frau angewiesen.
Rainer war verzweifelt. Colemans Lethargie bremste die Entwicklung der „Mine-Dedecting“ gewaltig. Er brauchte dringend Unterschriften für wichtige Briefe, Überweisungen, Commitments oder das Research and Development. Außerdem saß ihm ein kanadischer Unternehmer im Nacken, der mit Coleman unbedingt einen Räumungsvertrag für Sri Lanka abschließen wollte. Coleman hatte in Aussicht gestellt, bereits Ende Februar, Anfang März mit der Räumung des Gebietes beginnen zu können. Doch bis dato gab es außer den drei Prototypen noch keinen einzigen einsatzklaren Hubschrauber. Auch die Software war noch nicht vollständig und sicher genug überprüft. Die Mitarbeiter im Planungsbüro und in der Herstellung taten ihr Möglichstes, aber der gute Geist Colemans fehlte einfach an allen Ecken und Enden. Außerdem war das Geschäftskonto bereits ziemlich abgeschöpft. Rainer musste in seine eigene Tasche greifen, um einige wichtige Rechnungen bezahlen zu können. Jedesmal, wenn Rainer zu Coleman ins Krankenhaus kam, lag die Unterschriftenmappe mit den dazugehörenden Unterlagen noch genau so dort, wie er sie am Vortag auf den Tisch gelegt hatte. Nur wurde der Aktenberg von Tag zu Tag höher. Coleman fand jedesmal eine andere Ausrede, warum er nicht gearbeitet hatte.
Auch Grace verzagte immer mehr. Es war ihr nicht möglich, ihren Mann dazu zu bewegen, sich der Realität und den anstehenden Problemen zu stellen. Stattdessen zog sich Coleman immer mehr in sich selbst zurück. Auch die Ärzte konnten ihm in dieser Situation nicht wirklich helfen. Er hatte ein psychisches Trauma, das sich in furchtbaren Angstzuständen manifestierte. Eine zielführende Therapie würde monatelang, wenn nicht Jahre dauern. Doch diese Zeit hatten sie nicht. Wenn nicht bald eine Veränderung eintreten würde, sah es für die Firma schlecht aus. 
Rainer fühlte sich als Einzelkämpfer an allen Fronten. Nicht nur, dass Coleman nicht mehr einsatzfähig war, auch Max’ Interesse am Erfolg des Unternehmens hatte schlagartig nachgelassen. Außerdem spürte Rainer eine deutliche Entfremdung in ihrer Freundschaft. Er wusste aber nicht, ob diese Distanz auf ihn selbst oder auf die Gesamtsituation zurückzuführen war. Seit Beginn der Affäre mit Isabell hatte er sich bestimmt verändert. Einer der Gründe war sicherlich, dass er sich Max gegenüber schuldig fühlte. Dass Max von seinem Naheverhältnis zu seiner Frau erfahren haben könnte, schloss Rainer aber aus. Sowohl Isabell als auch er waren sehr vorsichtig. Sie trafen sich eher selten und verstohlen bei ihm zu Hause, um in der ohnehin sehr schwierigen Situation nicht noch mehr Probleme hervorzurufen. Außerdem wohnte Grace noch immer bei den Hennings. Grace war verzweifelt und nahm Isabells völlige Aufmerksamkeit in Anspruch. Für traute Zweisamkeit war daher wenig Zeit, obwohl sich Rainer nach Isabells immer mehr zu sehnen begann. 
Rainer wusste nur zu gut, dass er erst einmal dieses fürchterliche Chaos in Ordnung bringen und einen Weg aus der prekären Situation finden musste, ehe er mit Isabell an eine gemeinsame Zukunft denken konnte. 
Max‘ Engagement gehörte der Vergangenheit an. Seinen überschwänglichen Enthusiasmus hätte man mit einem Strohfeuer vergleichen können, von dem nichts mehr als eine bald verlöschende Glut übrig geblieben war.

Kapitel 41

Rainer wollte sich gerade auf dem Weg ins Krankenhaus machen. Er hoffte inständig, dieses Mal endlich die so dringend benötigten Unterschriften zu bekommen. Gerade als er sein Büro verlassen wollte, stand Max in der Türe.
„Ich muss mit dir sprechen.“ 
„Können wir das bitte auf später verlegen? Ich muss jetzt ins Krankenhaus zu Coleman. Hoffentlich hat er dieses Mal zumindest die dringendsten Schriftstücke unterschrieben. Wenn ich wieder zurück bin, melde ich mich bei dir“, erwiderte Rainer hektisch, während er schon seinen Mantel anziehen wollte.
„Später bin ich nicht mehr da. Es wäre daher schön, wenn du jetzt einige Minuten für mich erübrigen könntest.“
Diese mit ungewöhnlichem Nachdruck gesprochenen Worte ließen Rainer aufhorchen. Normalerweise fiel Max in echter Landsknechtsmanier mit seinen Problemen sofort mit der Tür ins Haus. Rainer ließ seinen Mantel wieder auf den Sessel fallen und nahm Platz. 
„Setz dich! Was gibt es denn so Dringendes, dass es nicht warten kann?“
Max setzte sich Rainer gegenüber auf den Stuhl. Ohne lange um den heißen Brei herumzureden, kam er gleich zur Sache. 
„Nachdem Luise gestern gegangen war, tauchten hier zwei Männer jener Organisation auf, die auch schon bei Coleman vorstellig geworden waren. Die Typen haben natürlich bereits in Erfahrung gebracht, dass Coleman nicht mehr der alleinige Chef von „Mine-Dedecting“ ist, sondern dass wir drei gleichberechtigte Partner sind.“
„Das kann jeder im öffentlichen Firmenregister nachlesen. Wo liegt also das Problem?“
„Die Männer haben mir ein Angebot von 10 Millionen Dollar für jeden von uns gemacht, wenn wir aus der „Mine-Dedecting“ aussteigen und unsere Anteile an das Kartell verkaufen. Du könntest also 10 Millionen cashen, wenn wir das Handtuch werfen würden. Das Konsortium weiß, dass Coleman schwer angeschlagen ist. Sicherlich wird er keine Probleme mehr machen, dieser Waffenlobby all seine Patente und Lizenzen zu übertragen.“
„Diese Verbrecher wollen dich also kaufen und mich in Bausch und Bogen gleich mit dazu!“
„So könnte man es auch nennen.“ 
„Und wie hast du dich entschieden?“, fragte Rainer, obwohl er Max’ Antwort bereits wusste.
Seufzend lehnte sich Max in seinen Sessel zurück und blickte Rainer direkt in die Augen:
„Ich habe noch nicht zugesagt, weil ich zuerst mit dir sprechen wollte. Doch ich glaube, wir sollten es tun. Schließlich sind 20 Millionen Dollar gerade in Zeiten einer Weltwirtschaftskrise ein schöner Batzen Geld. Wenn wir aber ablehnen, haben wir gute Chancen, wie Coleman einem Attentat zum Opfer zu fallen. Diese Typen sind stärker als wir, Rainer. Die zerquetschen uns wie Mücken an der Wand und darauf habe ich absolut keinen Bock.“
Rainers erster Impuls war aufzuspringen und Max seine Enttäuschung mit aller Schärfe an den Kopf zu knallen. Doch er zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben und betrachtete seinen Freund mit kühler Distanz. Max hatte keine Ahnung, wie sehr er Rainer vor den Kopf gestoßen hatte. Nur dessen bitteres Lächeln zeigte ansatzweise, wie aufgewühlt und frustriert er war. 
Aus Erfahrung wusste Rainer nur zu gut, dass Max es immer schon vorgezogen hatte, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Er kannte keine Prinzipien, wenn es um seinen persönlichen Vorteil ging. Dieser üble Charakterzug hatte Rainer schon seit vielen Jahren an ihm gestört. Doch die Freundschaft zu Max war immer stärker gewesen und hatte diese schlechten Eigenschaften geschluckt. Rainer hatte gelernt, über die kleinen und manchmal auch größeren Schwächen seines Freundes hinwegzusehen und sogar versucht, sie auszugleichen, falls das erforderlich war. 
Schon in der Schule hatte Max es zu drehen und wenden gewusst, dass seine Fehler von anderen ausgebadet werden mussten. Auch, dass Max nach dem Zerwürfnis mit seinem Bruder die Anwaltskanzlei gleich verlassen und sich den anstehenden Problemen nicht gestellt hatte, hatte damals Rainers Missfallen geweckt. Und nicht zuletzt war es auch Max gewesen, der ihm die Frau seines Lebens weggeschnappt hatte. Doch für Rainer hatte diese fast 30 Jahre währende Freundschaft zu Max oberste Priorität genossen, sodass er all diese mehr oder weniger schwerwiegenden Probleme unter den Teppich gekehrt hatte.
Aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo Rainer nicht mehr über seinen Schatten springen konnte und auch wollte. Sie waren an einem Wendepunkt angekommen, wo jeder für sich selbst Farbe bekennen musste. Aus Erfahrung hätte Rainer längst wissen müssen, dass Max den einfachen Weg wählen würde. Doch dieses Mal war dieser Weg für ihn absolut inakzeptabel.
Rainer besaß jenes Rückgrat, das Max fehlte. Im Laufe der Jahre gewann Rainers Charakterfestigkeit sukzessive an Substanz, sodass er gerade in den Jahren ihrer Zusammenarbeit immer mehr den Ton angegeben hat. Unbewusst war Rainer für Max zu einer Art Leuchtturm geworden, an dem er sich orientieren konnte.
Der schnöde Mammon interessierte Rainer nicht wirklich. Es hatte für ihn wenig Bedeutung, ob er einen Mercedes der S-Klasse fuhr oder nur mit einen billigeren, gebrauchten Japaner durch die Gegend kurvte. Geld war für Rainer nur ein reines Mittel zum Zweck und kein Statussymbol, das ihm die Möglichkeit bot, sich in Szene zu setzen. Wichtig war für ihn nur, seinem eigenen Ich treu zu bleiben. Rainers unerschütterlichen Charakter konnte niemand manipulieren, wenn er sich einer Sache absolut sicher war. Gerade diese Minengeschichte war weit mehr für ihn als nur ein lukratives Geschäft. Rainer wurde sich immer mehr bewusst, dass dieses Projekt seine Lebensaufgabe war, eine Verpflichtung, die er zu erfüllen hatte.
„Wenn du aus der „Mine-Dedecting“ aussteigen willst, geht das in Ordnung für mich. Ich verstehe, dass für dich die 10 Millionen weit mehr bedeuten als tausenden Menschen Leben oder Gesundheit zu retten und das Leid auf dieser Welt ein wenig zu verringern. Ich für meinen Teil werde aber nicht klein beigeben und dieses Projekt durchziehen, egal ob ich nun gefährdet bin oder nicht. Wenn du als Partner ausscheiden willst, bitte, aber laut Vertrag gehen in diesem Fall deine Stimmrechte automatisch an Coleman und mich über. Auch die Lizenzen und Patente sind an die Firma und nicht an deinen Anteil gebunden“, erwiderte Rainer fachkundig und versuchte dabei, so emotionslos und nüchtern wie möglich zu klingen.
Plötzlich fuhr Max mit hochrotem Kopf so energisch von seinem Stuhl hoch, dass dieser polternd rückwärts zu Boden fiel. Er stützte sich auf der Schreibtischplatte ab und funkelte Rainer mit seinen intensiv blauen Augen wütend an. 
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du baust dich hier als Konglomerat eines selbstgerechten Samariters, eines sich aufopfernden Märtyrers und einer schützenden und fürsorglichen Mutter Teresa auf. Was soll dieser Scheiß von Nächstenliebe? Glaubst du denn wirklich, dass sich die Welt um dich kümmert? Wir leben in einer Zeit, wo sich jeder selbst der Nächste ist, wo man versucht, sich selbst so gut wie möglich zu verkaufen und über die Runden zu bringen. Es wird Zeit, dass du aufwachst und zu erkennen beginnst, dass auch du kein selbstgefälliger Pseudojesus bist, der dieser Welt seinen humanitären Stempel aufdrücken kann.“
Ohnmächtiger Zorn ließ Max’ Stimme beben. Doch Rainer ließ sich durch diesen unerwartet heftigen Gefühlsausbruch nicht aus der Fassung bringen, obwohl auch er einen heftigen Anflug von Wut verspürte. Mit tiefer Verachtung schleuderte er ihm seinen Abscheu entgegen:
„Was immer ich auch sein mag, keinesfalls bin ich so wie du. Als du mir dieses Projekt vor knapp vier Monaten vorgestellt und mir mit allen Mitteln schmackhaft gemacht hast, warst du Feuer und Flamme, dieses Ding durchziehen zu wollen. Doch kaum wird die Sache schwierig und läuft nicht so, wie du es dir vorgestellt hast, ziehst du wie üblich den Schwanz ein und suchst den Weg des geringsten Widerstandes. Beweise einmal in deinem Leben, dass du ein Mann bist und zieh etwas durch, worauf du stolz sein kannst. Jetzt hast du die Möglichkeit dazu. Also tu es.“ 
Dann stand Rainer auf, griff rasch nach seinem Mantel und ging grußlos zur Tür. Max blickte ihm feindselig nach. Doch ehe Rainer das Zimmer verließ, versuchte er noch einen letzten Vorstoß:
„Kannst du mir sagen, was dir dein Rückgrat und Anstand dann helfen, wenn du mit einer Kugel im Kopf tot am Boden liegst?“
Rainer blieb in der Tür stehen und verharrte einen Augenblick. 
„Absolut nichts. Doch in diesem Fall sterbe ich mit der guten Überzeugung, dass ich zumindest versucht habe, gegen eine der vielen Geiseln der Menschheit aufzustehen und sie direkt an der Wurzel zu bekämpfen. Ich werde mit dir oder ohne dich, mit Coleman oder ohne ihn dieses Ding durchziehen. Ich habe es so satt unnötige Zeit zu verlieren, denn jeder ungenützte Tag bedeutet für viele Menschen brutalste Verstümmelung, Leid oder sogar einen besonders qualvollen und unmenschlichen Tod. Und wie so oft sind die Kinder die Ärmsten. Sieh dir doch die Bilder an, wie ihre kleinen Körper beim Spielen von Minen zerfetzt wurden. Zuerst hört man sie aus Angst und von irren Schmerzen gepeinigt schreien. Doch wenn sie durch den Blutverlust immer schwächer und schwächer werden, verklingt mit ihrem Wimmern auch das Leben. Und das Fürchterlichste ist, dass diesen armen Würmern niemand helfen kann, denn eine Mine kommt selten alleine und niemand will demselben Schicksal zum Opfer fallen. Ich bin absolut kein gläubiger Mann. Doch ich glaube an mich und an meine Kraft, mit der ich diese Welt vielleicht ein bisschen besser machen kann. Ich habe es mir zum Ziel gesetzt und keiner wird mich davon abbringen, der Minenindustrie das Genick zu brechen. Keiner wird mehr Minen brauchen, wenn unser Verfahren einmal als neuester Stand der Technik etabliert ist. Es wird dann nämlich keine Nachfrage mehr geben. Das ist mein Credo.“
Ohne sich zu verabschieden warf Rainer die Tür ins Schloss und ließ seinen Freund alleine zurück. Max lehnte sich an die Schreibtischkante und holte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Sakkotasche. Tief inhalierte er den würzigen Tabakrauch. Rainers unerwartet heftige Reaktion gab ihm zu denken. Befremdet stellte Max fest, wie sehr sich Rainer verändert hatte. Er hatte keine Ahnung, ob dieser Umstand nur auf dieses neue Projekt zurückzuführen war oder aber auch darauf, dass Rainer mit seiner Frau in letzter Zeit wesentlich mehr verband als nur noch reine Freundschaft.
Max begann langsam zu erkennen, dass seine geordnete und heile Welt langsam aus den Fugen zu geraten drohte. Nichts hatte sich so entwickelt, wie er es sich vorgestellt hatte. Beruflich war er in eine Sackgasse geraten und auf privater Ebene war er drauf und dran, seine Familie zu verlieren. Sein bester Freund hatte mit seiner Frau eine Affäre und für seine Geliebte war er nichts mehr als ein Financier. Doch als ob das noch nicht genug gewesen wäre, hatte sich auch noch diese kriminelle Organisation aus dem Rüstungsbereich an seine Fersen geheftet. Groteskerweise fanden diese unerfreulichen Ereignisse wenige Tage vor Weihnachten, dem Fest der Liebe und Versöhnung, einen Höhepunkt.
Zutiefst deprimiert verließ Max Rainers Büro. Er hatte Ekaterina versprochen, sie zum Flughafen zu bringen. Die Weihnachtsfeiertage wollte sie mit ihrer Familie in Sanchursk verbringen. Max war es gar nicht unangenehm, dass seine Geliebte die nächsten zwei Wochen nicht in Wien sein würde. Diese Zeit wollte er nutzen, um endlich Abstand zu gewinnen. Doch diesen Nachmittag wollte er sich noch einmal von Ekaterina ausgiebig verwöhnen lassen. Auch nach etwas extremeren Schmerzspielchen stand ihm wieder einmal der Sinn. Der Gedanke, sie so zu peitschen, dass eine Strieme neben der anderen ihren Rücken und Po zieren würde, brachte ihn ordentlich in Stimmung. Bei der Vorfreude auf ihre Schmerzensschreie begann sein Blutdruck sofort aufs Angenehmste zu steigen. Als Entschädigung für diese Qualen hatte er bereits ein goldenes, mit Rubinen besetztes Collier mit den dazu passenden Ohrringen in der Tasche, das er recht günstig im Dorotheum erstanden hatte. 

Max hatte dieses Jahr absolut keine Lust die Weihnachtsfeiertage zusammen mit seinen hinterwäldlerischen Schwiegereltern und seinem Schwager auf deren stinkendem Bauernhof in der tiefsten Einöde Oberösterreichs zu verbringen. Doch wenn er schon in den sauren Apfel beißen musste, so wollte er die Stille und Abgeschiedenheit zum Anlass nehmen, um gründlich nachzudenken. Er wusste, dass er an einem Wendepunkt in seinem Leben angekommen war und seine Prioritäten neu ordnen musste. 
Lisi freute sich aber immer sehr, wenn sie aufs Land fahren durfte. Den ganzen Tag über war sie dann nicht mehr zu sehen, außer wenn sich der Hunger meldete. Zusammen mit ihren beiden Cousins trieb sie sich im Kuhstall oder im Schafspferch herum oder sie war mit den beiden Jungs rodeln. Max hielt sich daher mit seinen Unmutsäußerungen zurück. Er wollte der Kleinen keinesfalls den Spaß verderben.
Wenigstens seine Tochter entsprach voll und ganz seinen Vorstellungen, aber das war schon so ziemlich das Einzige in seinem Leben, womit er vollauf zufrieden war.

Kapitel 42

Während der Fahrt ins Krankenhaus konnte Rainer an nichts Anderes denken als an die Auseinandersetzung mit Max. Aufgewühlt blieb er in der Tiefgarage des Krankenhauses in seinem Auto sitzen und versuchte, den gerade erlebten Disput zu analysieren. Zweifel begannen an ihm zu nagen, ob er wirklich so recht mit seiner Meinung hatte. Rainer hatte ja auch absolut keine Ahnung, wie das Gespräch zwischen Max und den Beauftragten dieses kriminellen Syndikates im Detail verlaufen war. Er nahm aber an, dass Max sein Geld nur bekommen würde, wenn er auch ihn dazu überreden konnte, ebenfalls seine Anteile zu verkaufen. 
Dass er Max so offensichtlich seine Rückgratlosigkeit vorgeworfen hatte, tat ihm nun schon wieder leid. Würde er in so einer problematischen Situation nicht auch so handeln, wenn er eine Frau und ein Kind hätte, die bei einem weiteren Attentat Schaden nehmen könnten? Schließlich war auch Grace dem Anschlag auf ihren Mann zum Opfer gefallen. Sie hatte dabei noch Glück im Unglück gehabt und war noch ziemlich glimpflich davongekommen. Die Verantwortung für Isabell und Lisi und ihre Sicherheit bedeuteten Max selbstverständlich mehr als sonst irgendetwas. Aus diesen Überlegungen heraus war Max sicherlich im Recht.
Doch dann kamen Rainer wieder jene furchtbaren Bilder der vielen Minenopfer in den Sinn. Auch Lisi könnte so ein armes Kind sein, das mitten im Minenfeld darum flehen würde, nicht hilflos sterben zu müssen.
Ein kalter Schauer lief Rainer bei diesem Gedanken über den Rücken. All seine Zweifel waren wie weggewischt. Rainer wusste, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Um Großes zu vollbringen, musste man Wagnisse in Kauf nehmen. Doch Rainer musste auch versuchen, diese Risiken so gering wie möglich zu halten und Gefahren von jenen Menschen fernzuhalten, die auch ihm wert und teuer waren. Was auch die Zukunft bringen würde, Rainer wollte mit all seiner Kraft versuchen, Colemans Visionen zu realisieren. Friede und Menschlichkeit waren sehr zerbrechliche Güter. Wie schnell konnte sich das Blatt wenden, wie ja der Balkankonflikt nur zu gut gezeigt hatte…

Kapitel 43

Wie befürchtet lagen die Unterschriftenmappen noch immer genau so auf dem kleinen Tisch in Colemans Krankenzimmer, wie Rainer sie am Vortag hingelegt hatte. Jake saß in seinem Rollstuhl vor dem Fenster und starrte ins Leere. Rainer war heute ohnehin nicht in bester Verfassung. So konnte es ganz einfach nicht mehr weitergehen. Sein Ärger über Colemans Ignoranz ließ sich kaum noch zügeln. Gott sei Dank war Grace gerade nicht da, sodass Rainer seinem Unmut endlich Luft machen konnte. Mit eisiger Beherrschung schloss er die Tür des Zimmers und ging zu Coleman ans Fenster. 
„Guten Tag, Jake, wie geht es Ihnen?“, begrüßte er seinen Partner mit ziemlich frostiger Stimme. Erschrocken blickte Coleman auf. Er war dermaßen in seine Gedanken versunken gewesen, dass er Rainers Kommen gar nicht bemerkt hatte.
„Hallo Rainer. Danke, es geht mir schon besser.“ 
Schon seit Wochen hörte er immer wieder denselben Satz. 
„Wenn es Ihnen schon besser geht, wieso haben Sie dann die Unterschriftenmappe nicht durchgesehen? Sie wissen, dass wir unter hohem Zeitdruck stehen und ich unsere Investoren und Geschäftspartner nicht mehr lange hinhalten kann.“ 
Überrascht ob des schroffen Tons blickte Coleman zu ihm hoch. 
„Nun, ich habe einfach noch nicht die Zeit gefunden, mir die Mappen durchzusehen.“ 
Rainer konnte seine Wut kaum mehr bändigen. Am liebsten hätte er Jake bei seinen hängenden Schultern gepackt und ordentlich durchgeschüttelt, um ihn endlich wieder zur Vernunft zu bringen. Rainer atmete tief durch und hielt sich dann doch noch zurück. Rasch zog er einen Stuhl heran und setzte sich so, dass Coleman seinem Blick nicht ausweichen konnte. Seine gepresste Stimme verriet, wie erregt er war. 
„Jake, wenn Sie nicht bald Ihren Kopf aus dem Sand ziehen und beginnen, sich Ihrer Verantwortung zu stellen, dann ist unsere „Mine-Dedecting“ insolvent. Weder dem kriminellen Syndikat noch unseren Investoren ist entgangen, dass Sie derzeit massive psychische Probleme haben. Ihre Glaubwürdigkeit wird von verschiedensten Seiten bereits ernsthaft in Frage gestellt. Einige Anleger murren bereits und wollen ihre Zusagen wegen Zeitverzug zurückziehen. Reißen Sie sich endlich zusammen und hören Sie auf, in Ihrem Selbstmitleid zu baden. Hier geht es um weit mehr als nur um Ihre Behinderung. Da draußen gibt es Menschen, die um einiges schlimmer dran sind als Sie. Doch die haben ihren Lebenswillen nicht aufgegeben. Sie haben den Menschen wieder Hoffnung gegeben und die zählen jetzt auf Sie.“ 
Coleman blickte ihn bestürzt an. Noch nie hatte Rainer in diesem harschen und vorwurfsvollen Ton mit ihm gesprochen. Doch Coleman wusste, dass Rainer recht hatte. Schuldbewusst blickte er wieder durchs Fenster und sagte unglücklich:
„Sie haben ja recht. Ich hätte längst wieder auf dem Damm sein müssen. Doch ich schaffe es im Augenblick nicht. Ich fühle mich, als ob ich in einem kleinen Wartezimmer sitze, wo sich alle Türen um mich herum geschlossen haben. Ich habe aber nicht den Mut, auch nur eine einzige dieser Türen zu öffnen, weil mir eine furchtbare Angst in den Knochen steckt. Ich bin mir durchaus der anstehenden Problematik für die „Mine-Dedecting“ bewusst. Doch ich kann einfach nicht anders.“
Jakes gequälter Blick wandte sich nun wieder Rainer zu, der ihm aufmerksam zugehört hatte. Erschüttert stellte Rainer fest, dass Coleman absolut unfähig war, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Rainers Mund war so trocken, dass er kaum sprechen konnte:
„Und wie soll es nun weitergehen?“
Coleman schüttelte deprimiert seinen Kopf.
„Ich habe keine Ahnung, wann und ob ich mich jemals erholen werde. Doch ich möchte, dass Sie vorläufig meine Agenden übernehmen und diese in meinem Sinn weiterführen, bis ich wieder einsatzfähig bin. Ich bin mir sicher, dass Sie die richtigen Entscheidungen für das Unternehmen treffen werden. Was ich jedoch nicht will, ist, dass Henning gleichberechtigte Entscheidungsgewalt hat. Sie übernehmen ab sofort auch meinen Verantwortungsbereich und meine Stimmrechte, sodass das Verhältnis 2:1 steht und Henning für alle wichtigen Entscheidungen ihre Zustimmung braucht.“
„Jake, Sie können mich doch nicht völlig alleine werken lassen. Mir fehlen Ihr Know-how, Ihr technisches Wissen und auch Ihre Erfahrung. Ich habe nicht Ihr Format, um dieses Ding so ganz alleine durchzuziehen.“
„Rainer, Sie unterschätzen sich. Sie werden mit dieser Aufgabe wachsen und lernen Ihr Potenzial immer besser ausschöpfen. Außerdem haben Sie den großen Vorteil, zu der seltenen Spezies der Getriebenen zu zählen. Sie werden weder rasten noch ruhen, bis Sie Ihr Ziel, unser aller Ziel erreicht und diese Mission zu einem sinnvollen Ende gebracht haben. Ich werde natürlich immer für Sie da sein und Ihnen soweit wie möglich mit Rat und Hilfe zur Seite stehen. Doch vorerst muss ich dieses Projekt für unbestimmte Zeit an Sie übergeben. Es gibt absolut niemanden, dem ich meine „Mine-Dedecting“ lieber in die Hände legen würde als Ihnen.“
Coleman wurde am nächsten Tag aus dem Krankenhaus entlassen. Bevor ihn Rainer zu Hause ablieferte, legten die beiden einen Zwischenstopp beim Notar ein, um die neue Kompetenzaufteilung für das Handelsregister zu beglaubigen.

Kapitel 44

Als Rainer die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, wusste er sofort, dass sie da war. Obwohl nichts auf ihre Anwesenheit hindeutete, spürte er ihre Aura. Wie durch eine fremde Hand gelenkt ging er ins Schlafzimmer, wo sie im Bett lag und eingeschlafen war. 
Ein unsägliches Glücksempfinden erfüllte ihn, als er sie so in seine Bettdecke vergraben friedlich und entspannt vor sich hinschlummern sah. Plötzlich war der Druck dieser immensen Last, die Coleman ihm aufgebürdet hatte, nicht mehr so groß. Für einige Augenblicke wollte er jetzt dieser bösen, kalten Welt entrinnen und zusammen mit Isabell nur glücklich sein. Er wollte genießen und sich an ihrer Anwesenheit erfreuen. Diese leider viel zu seltenen Momente waren ihm zur friedlichen und labenden Oase in der ausgetrockneten Steppe seines derzeitigen Lebens geworden.
Leise zog sich Rainer aus und schlüpfte vorsichtig zu Isabell unter die Bettdecke. Welch unbeschreibliche Freude und Zufriedenheit erfasste seinen Geist und seine Seele, als sie ihren nackten, warmen Körper an ihn drückte. Rainer vergrub seine Nase in ihr duftendes Haar und konnte nicht genug davon bekommen. Zärtlich strich er mit seiner Hand vorsichtig die Konturen ihres weichen Körpers entlang, bis er fühlte, dass sie immer mehr aus dem Reich ihrer Träume zurückkehrte. Müde aufseufzend presste Isabell ihren Po noch fester in seinen Schoß und öffnete einladend ihre Beine…
Erschöpft lag sie in seinen Armen und beide ließen die Wellen ihrer Wollust langsam ausklingen. Zärtlich küsste Rainer ihre feuchte Stirn und presste ihren noch transpirierenden Körper ein wenig mehr an sich. Ganz bewusst wollte er so viele Eindrücke wie möglich von Isabell in sich aufnehmen, damit er in den kommenden Nächten von diesen Erinnerungen zehren konnte.
Den gleichen Gedanken verhaftet sagte Isabell schließlich:
„Die Erinnerung an diesen wunderschönen Nachmittag werde ich in die Weihnachtsferien mitnehmen. Bevor ich einschlafen werde, wird es mir ein kleiner Trost sein, an deine Zärtlichkeiten, deine Hingabe und deine Liebe zu denken.“
Dabei stützte sie sich auf ihren Ellbogen und blickte ihm zärtlich in die Augen.
„Es ist so unbeschreiblich schön, mit dir zusammen zu sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich jemals so geborgen und sicher bei einem Mann gefühlt habe wie bei dir.“
Liebevoll küsste sie seine Lippen und strich durch sein wirres Haar. Rainer war so unsäglich glücklich, dass er kaum die richtigen Worte fand, seine Gefühle auszudrücken. 
„Ich liebe dich, Isabell.“
Eigentlich wollte er ihr so viel mehr sagen, doch er wusste, dass jedes weitere Wort den Zauber seiner Offenbarung nur entweiht hätte. 
Traurig lächelte Isabell auf ihn herab.
„Ja, ich liebe dich auch. Doch leider sind wir Liebende, die in dem engen Korsett ihrer selbst gewählten Moral gefangen sind. Wie gerne würde ich diese Fesseln abwerfen, um immer bei dir sein zu können.“
Rainer war zutiefst aufgewühlt. Er setzte sich auf, nahm Isabell in seine Arme und drückte ihren zarten Körper liebevoll an sich. 
„Wenn Liebe einmal gekeimt hat, treibt sie Wurzeln, die niemals zu wachsen aufhören. Irgendwann werden diese Wurzeln so stark sein, dass sie dieses Korsett sprengen.“
Verblüfft sah ihm Isabell in die Augen. 
„Ich hatte ja keine Ahnung, dass in dir auch ein Poet steckt!“
„Nun ja, diese Worte sind nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern auf jenem von Saint-Exupéry. Der Typ kommt mir in letzter Zeit immer wieder in den Sinn, sodass ich wohl nicht umhin komme, ab und zu Anleihen bei ihm zu nehmen“, lächelte er sie verschmitzt an.

Am frühen Abend verabschiedete sich Isabell von Rainer. Noch einmal küsste sie ihn mit all ihrer Liebe und ließ dann die Eingangstür hinter sich ins Schloss fallen. Der kalte Luftzug, der durch die geöffnete Tür in die Wohnung drang, ließ Rainer frösteln. Dieses unangenehme Gefühl spürte er nicht nur auf seiner nackten Haut, sondern es verursachte auch eine innere Beklemmung in ihm. Instinktiv fühlte er einen kalten Schatten, der gerade seine Seele streifte.

Kapitel 45

Der 24. Dezember war auch diesmal kein tief verschneiter Wintertag, wie ihn Rainer aus seiner Kindheit kannte, sondern er glich eher einem sonnenklaren, milden Frühlingstag. Die Colemans hatten ihn gebeten, den Weihnachtsabend mit ihnen zu verbringen. Diese Einladung hatte er sehr gerne angenommen. Obwohl Rainer mit der Geburt Christi nichts am Hut hatte, übte der Heilige Abend doch einen ganz besonderen Zauber auf ihn aus. Nicht, weil an diesem Tag vor vielen Jahren irgendein „Heiland“ geboren worden war, sondern weil dieser Abend für ihn Familie, Zusammenhalt, Freundschaft und Verbundenheit bedeutete. Seit seine Mutter vor einigen Jahren gestorben war, nahm er gerne die Einladung von guten Freunden zu diesem besonderen Festtag an. Es freute ihn aber dieses Jahr ganz besonders, dass die Colemans ihn zu diesem Fest gebeten haben. Rainer wusste, dass dieser Einladung mehr zugrunde lag als nur dieselben Geschäftsinteressen. In den vergangenen Monaten war zwischen den beiden Männern eine Verbundenheit und Freundschaft gewachsen, die selbst über berufliche Zerwürfnisse hinaus Bestand haben würde.

Rainer öffnete die Balkontür und trat auf die Terrasse hinaus. Es war Sonntag und die Stadt schien wie ausgestorben. Nur ab und zu fuhr ein Auto über die verwaisten Straßen des Karlsplatzes. Dann wanderte sein Blick weiter zum Park, der direkt an sein Wohnhaus grenzte. Durch das nun nackte Geäst der kahlen Bäume konnte er einige der verschlungenen Spazierwege durch die Parkanlage erkennen. 
So als ob sie seine Einsamkeit gespürt hätte, saß Angelina in ihrem zerlumpten, grünen Lodenmantel auf ihrer Parkbank. Fröstelnd hielt sie ihre Arme ineinander verschränkt, um sich gegen den kalten Nordwind zu schützen. Ihr Gesicht hatte sie jedoch zu Rainers Terrasse emporgerichtet, als ob sie auf ihn schon zu warten schien.
Freudig erregt schloss Rainer die Balkontür, griff nach seinem Parka und wollte schon die Wohnung verlassen und das Stiegenhaus hinunterhasten. Doch plötzlich hielt er inne und überlegte einen Moment. Kurzerhand kehrte er um, öffnete die im Planfond eingelassene Dachbodentür und zog die Ausziehleiter herunter. Rasch stieg Rainer in den Dachboden hoch und suchte ihm Halbdunkel nach der alten Truhe, in der er die wenigen Habseligkeiten und ein paar alte Kleidungsstücke seiner Mutter aufbewahrte. Nach kurzem Wühlen fand er das Gesuchte. Seine Mutter hätte bestimmt nichts dagegen, wenn er ihren warmen, schwarzen Daunenmantel Angelina schenken würde. Rasch steckte Rainer den Mantel in einen großen Plastiktragesack und machte sich auf den Weg in den Park. 
Der kalte Wind schlug ihm entgegen und er fröstelte. Rainer war nun froh, den alten und nutzlos gewordenen Mantel seiner Mutter nicht schon längst entsorgt zu haben. Angelina würde er sicherlich noch gute Dienste leisten, wenn er an ihr von Motten zerfressenes Mäntelchen dachte.
„Hallo Angelina, wie schön dich wiederzusehen!“, begrüßte Rainer seine Freundin erfreut und blickte bedauernd auf die frierende, alte Frau auf ihrer Parkbank hinab. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie sehr er sie in den letzten Tagen vermisst hatte.
Sofort vergaß Angelina Frost und Kälte und blickte lächelnd in die Richtung, aus der sie gerade angesprochen wurde. 
„Junge, da bist du ja endlich. Ich habe mir vor lauter Warten auf dich fast den Arsch weggefroren“, erwiderte sie mit liebevollem Tadel.
Sofort ergriff Rainer ihre in löchrigen Halbfingerhandschuhen steckenden Hände, die sie ihm zur Begrüßung entgegenhielt. Ihre blau angelaufenen Finger fühlten sich eiskalt an. Rainer versuchte, ihre Hände zu wärmen und rieb sie liebevoll.
„Das tut mir wirklich leid. Wenn ich gewusst hätte, dass du auf mich wartest, wäre ich doch schon viel früher gekommen.
„Nun ja, wenn ich ganz ehrlich bin, so bin ich nicht nur deinetwegen gekommen. Du weißt ja, zu Weihnachten werden die Herzen der Menschen ein bisschen weicher und sie rücken dann auch leichter mit der Knete raus. Doch wie‘s aussieht, ist mein Timing heute ein ziemlich schlechtes, denn weit und breit ist keine Menschenseele mehr zu hören, die ich anbetteln könnte.“
Rainer musste über ihre ehrlichen, doch vor allem desillusionierenden Worte lachen.
„Du bist unverbesserlich. Dabei dachte ich schon, dass du alleine wegen mir gekommen wärst.“
„Nun ja, man sollte das Angenehme doch immer mit dem Nützlichen verbinden“, erwiderte sie verschmitzt lächelnd.
Rainer lachte über so viel positive Berechenbarkeit und zog schließlich den Daunenmantel aus dem Sack. 
„Was ist denn das?“, fragte Angelina überrascht und neugierig, als sie den wattierten Stoff zwischen ihren klammen Fingern fühlte.
„Mein Weihnachtsgeschenk für dich. Es ist ein warmer Mantel, der einst meiner bereits verstorbenen Mutter gehört hat. Es ist mir einfach wohler zu wissen, dass du nicht mehr ganz so heftig frieren musst, wenn du auf mich oder auf spendenwillige ‚Kundschaft’ wartest.“
„Der ist wirklich für mich?“, fragte sie staunend und drückte den Mantel an sich.
„Ja, natürlich, wenn du schon nicht auf dich achtest, muss ich es wohl tun“, erwiderte Rainer mit leicht vorwurfsvollem Unterton.
Rainer begann, die wenigen noch vorhandenen Knöpfe ihres schäbigen Mantels aufzuknöpfen. Rasch zog er Angelina dieses Prunkstück einer Vogelscheuchenbekleidung von den Schultern. Ihr Rock und der Pullover darunter sahen fast ebenso bemitleidenswert wie ihr alter Mantel aus. Doch darum wollte sich Rainer später kümmern. Jetzt war es wichtig, dass es seine Freundin halbwegs warm hatte. Vorsichtig half er der schon ein wenig gebrechlichen Frau in den Daunenmantel. Nach einem erlösten Aufseufzen huschte ein dankbares Lächeln über Angelinas Gesicht.
„Du bist wirklich ein guter Junge,“ sagte sie dankbar und tätschelte liebevoll seine Wange.
Rainer nahm ihre Hand und drückte sie zärtlich.
„Heute ist doch Weihnachten. Sollte da nicht jeder liebe Mensch ein Geschenk bekommen?“
„Stimmt. Ich dumme Nuss hatte jetzt fast vergessen, dass ich ja auch etwas für dich habe“, schalt sie sich selbst. In ungewohnter Hektik begann Angelina aufgeregt in den Säcken ihres alten Mantels zu kramen. Zufrieden lächelnd zog sie schließlich etwas hervor, das auf den ersten Blick aussah wie ein dunkler, flacher Stein. Beinahe ehrfürchtig drückte Angelina ihr kleines Präsent Rainer in die Hand:
„Es ist vielleicht nicht viel, nur eine alte Pfeilspitze. Doch mich begleitet sie schon fast mein ganzes Leben. Dieses Stück Stein ist immer so eine Art Talisman für mich gewesen.“
Staunend betrachtete er die ca. 4 cm breite und 5 cm lange Pfeilspitze aus Feuerstein, deren scharfe Ränder seine Handfläche ritzten. Nicht eine Sekunde bezweifelte er, dass diese Spitze echt war. Rainer fühlte förmlich deren Alter in seiner Hand. 
„Angelina, dieses Geschenk ist viel zu wertvoll. Ich kann es unmöglich annehmen. Wenn du sie verkaufst, bekommst du bestimmt viel Geld dafür. Du könntest dir dann kaufen, was du am notwendigsten brauchst.“ 
„Nun, was ich brauche, das habe ich ja jetzt“, erwiderte Angelina zufrieden und strich voll Besitzerstolz über ihren neuen Mantel. 
„Weißt du, es gibt gewisse Dinge im Leben, die sind ganz einfach unverkäuflich. Man kann sie aber verschenken und bekommt dafür weit mehr als nur Geld, wenn man es dem Richtigen schenkt.“ 
Rainer lächelte sie mit einem warmen Gefühl im Herzen an. Für einen Moment fühlte er sich neben dieser tollen Frau blass, klein und unbedeutend. Aber er spürte auch diese besondere Intimität, die ihn auf unerklärliche Weise mit Angelina verband.
„Du bist eine sehr weise und kluge Frau, Angelina. Schade, dass wir altersmäßig nicht im selben Boot sitzen, sonst würde ich mich bestimmt Hals über Kopf in dich verlieben.“
„Ach Junge, du solltest nicht so viel Unsinn reden, wenn das Herz vor Rührseligkeit trieft. Das passt gar nicht zur dir. Außerdem bist du doch schon unsterblich verliebt.“
„Ist das denn so offensichtlich?“, fragte Rainer verblüfft.
„Nun, ich bin blind, aber nicht blöd. Ich weiß nur zu gut, was in deinem Herzen vorgeht. Auf meinen kleinen Hurensohn kann ich mich in solchen Fällen immer verlassen. Der weiß genau, was Fakt ist“, erwiderte Angelina und zwinkerte Rainer schalkhaft an, während sie ihren Mund öffnete, damit ihr schwarzer Zahnstummel sichtbar wurde.
„Gibt es eigentlich irgendetwas, das du noch nicht von mir weißt?“
„Wenig, Junge, aber ich hoffe, den Rest erzählst du mir jetzt“, forderte sie Rainer interessiert auf.
Seufzend ließ sich Rainer neben Angelina auf der Bank nieder. Endlich konnte er sich all die Probleme von der Seele reden, die sich im Laufe der vergangenen Wochen aufgestaut hatten. 
Eher zaghaft begann er zu erzählen. Doch nachdem er in Fahrt gekommen war, berichtete Rainer immer offener und energischer von der Firmengründung der „Mine-Dedecting“ und dem damit verbundenen schwierigen und komplizierten Prozess, gerade in einer Weltwirtschaftskrise ein Unternehmen dieses Umfangs wirtschaftlich zu etablieren.
Weiters berichtete er Angelina von dem Mordanschlag auf Coleman und den daraus entstandenen physischen und psychischen Problemen, die schwerste Auswirkungen auf die Führung der „Mine-Dedecting“ hatten. Die völlige Tragweite dieser Problematik würde sich erst im Laufe der kommenden Wochen herausstellen. Rainer erzählte auch über Max, der seinen Sexualtrieb nicht unter Kontrolle bringen konnte, sodass er dadurch seine Familie ziemlich stark in Mitleidenschaft zog. Doch zum Schluss begann er über seine Liebesbeziehung mit Isabell zu reden, wobei seine Stimme einen weich-zärtlichen, aber auch traurigen Klang annahm.
„Ja, Angelina, wie es aussieht, dürfte mich mein Leitstern im Stich gelassen haben. Augenblicklich fühle ich mich total planlos und desorientiert. Ich hab absolut keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Coleman hat seine Verantwortung auf mich abgewälzt und Max sucht wieder wie üblich den Weg des geringsten Widerstandes. Er will mich dazu überreden, dass wir beide die Firmenanteile an das Waffenkonsortium verkaufen, um dafür je 10 Millionen Dollar einzustreifen. Außerdem werden einige Investoren schon langsam unruhig und wollen aussteigen, weil nichts weitergeht. In der Folge liegen mir die betroffenen Staaten immer drängender in den Ohren, endlich mit der Minenräumung zu beginnen, obwohl die Montage der Hubschrauberdrohnen nicht einmal noch begonnen hat. Ich habe keine Ahnung, mit welchen Geschützen ich auffahren und wohin ich überhaupt zielen soll. Und als ob das nicht schon genug wäre, ist die Frau meines besten Freundes nun meine Geliebte. Dieses Naheverhältnis verursacht in mir einerseits ein unsägliches Glücksgefühl, aber andererseits drücken mir die Gewissensbisse ziemlich auf den Magen.“
Ohne Rainer ein einziges Mal zu unterbrechen, hatte Angelina ihm aufmerksam zugehört. 
„Nun, ich würde sagen, du steckst mächtig in der Scheiße“, brachte sie es schließlich auf den Punkt.
„Du hast es erfasst. Ich bin schon drauf und dran, alles hinzuschmeißen“, erwiderte Rainer deprimiert.
„Junge, das Leben ist nicht immer ein Spaziergang durch eine weiche und duftende Frühlingswiese. Dein Weg ist immer schon ein bisschen hart und steinig gewesen. Doch soweit ich mich auf meinen sechsten Sinn verlassen kann, habe ich fast den Eindruck, dass dein ohnehin schon schwieriges Leben erst das Vorspiel war und deine gefährliche Gratwanderung gerade erst beginnt. Sicherlich wirst du oft straucheln und nicht nur einmal blutige Knie davontragen. Doch eine ungeheure Kraft treibt dich an, die dich immer wieder aufstehen lässt, um deinen vorgezeichneten Weg zu gehen. Je mehr Tiefschläge du erleiden wirst, umso stärker wirst du diese besondere Energie spüren, die dich immer mehr festigt, stärkt und unbeirrbar macht.“
„Du machst mir fast Angst mit deinen nicht gerade rosigen Zukunftsprognosen. Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich nicht doch den einfacheren Weg einschlagen und die 10 Millionen nehmen soll.“
„Junge, vergiss diese 10 Millionen. Sie würden dich nicht glücklich machen. Hier geht es doch um so viel mehr, dessen gesamtes Ausmaß du jetzt noch gar nicht erfassen kannst. Außerdem kannst du deinem Schicksal ohnehin nicht entrinnen. Es liegt aber in deinen Händen, deine Bestimmung mit Würde, Achtung und Respekt zur Kenntnis zu nehmen.“
„Ach Angelina, du sprichst immer in Rätseln, die mich noch mehr durcheinander bringen als ich es ohnehin schon bin.“
„Dir wurde eine Mission auferlegt, die nicht jeder fähig ist zu erfüllen. Du bist dazu berufen, Gutes zu tun. Je mehr du zu akzeptieren beginnst, wer und was du bist, umso schneller werden sich diese Rätsel von selbst auflösen.“
„Glaubst du das wirklich?“, zweifelte Rainer.
„Ich glaube es nicht, ich weiß es“, erwiderte sie und ihre ohnehin leise Stimme ging dabei in ein kaum mehr hörbares Flüstern über. Angelina wirkte plötzlich weit entrückt von Zeit und Raum. Ihre blinden Augen starrten wehmütig in die Ferne, so dass es Rainer für einen Moment schien, als ob sie ein Wesen aus einer anderen Welt sei. Aufgewühlt drückte er sachte ihre Hand, um sie wieder zurückzuholen. Als ob er damit in ihr einen inneren Schalter umgelegt hätte, war Angelina plötzlich wieder da und wechselte völlig unvermutet das Thema:
„Sag mal, hat es eigentlich eine Fortsetzung deines letzten Traumes gegeben?“
Rainer war jetzt ein wenig irritiert und wusste nicht sofort, was sie meinte.
„Du hast mir doch erzählt, dass du wie ein Vogel durch die Lüfte geschwebt bist“, half Angelina ihm auf die Sprünge.
„Ja, natürlich ging er weiter. So schön hatte dieser Traum begonnen und ging doch so traurig zu Ende“, seufzte Rainer traurig. Voller Wehmut erzählte er Angelina von diesem letzten Flug, bei dem Raoul von Albert verraten und von dessen Kameraden abgeschossen wurde.
„Du hast recht, deine Träume sind wirklich nicht gerade erbaulich“, stellte Angelina nüchtern fest.
„Was ist denn aus dieser Irene geworden?“, fragte sie neugierig weiter.
„Sie hat nach dem Krieg dann doch diesen Albert geheiratet“, erwiderte Rainer bedrückt.
„Hast du das auch geträumt?“
„Nein, das habe ich im Internet recherchiert.“
Rainer spürte nun wieder diese heftige innere Erregung, die immer dann in ihm aufstieg, wenn seine Träume zu sehr von ihm Besitz ergriffen. 
„Angelina, kann es denn sein, dass meine Träume gar keine Zufälle sind, sondern wirklich passiert sein könnten? Es gibt so viele Hinweise diese Geschichten selbst erlebt zu haben, dass mir manchmal angst und bang wird, wenn ich allzu intensiv daran denke. Ich fand die Namen der beiden deutschen Piloten und sogar Hinweise auf Irenes Existenz im Internet. Obwohl ich doch nie in einer Lightning gesessen bin, weiß ich aber ganz genau, wie das Cockpit aussieht und wie die Instrumente funktionieren. Ich bin überzeugt davon, den Bomber problemlos fliegen zu können, ohne je eine Flugstunde genommen zu haben. Aber auch Ruak aus meinem ersten Traum ist mir nahe und so seltsam vertraut, dass ich nicht nur den Schmerz fühlte, wo der Pfeil in seine Schulter eindrang, sondern ich habe seither genau an dieser Stelle ein elypsenförmiges Muttermal. Außerdem habe ich ein Wissen über die Steinzeit, das ich mir nie aus eigenen Beweggründen heraus angeeignet habe.“
Angelina überlegte einen kurzen Moment, ehe sie antwortete:
„Auch wenn es die Menschen nicht wahrhaben wollen, sind viele von uns doch Zeitenwanderer im Universum. Sie pendeln so lange zwischen Tod und Wiedergeburt, bis sie die von Gott zugewiesene Aufgabe erfüllt haben. Ob und wie oft jeder von uns schon gelebt hat, weiß wohl niemand so ganz genau. Den meisten bleibt diese Tatsache ein Leben lang verborgen. Doch diese Unwissenden belächeln dann genau jene Menschen, die sich dieses Umstandes bewusst sind.“
„Angelina, Gott gibt es nicht, zumindest nicht für mich. Also ist diese Schiene für mich keinesfalls nachvollziehbar und völlig uninteressant.“
„Es liegt mir fern, dich bekehren zu wollen. Doch wer war es dann, der mich zu dir schickte, um vielleicht ein wenig Klarheit in das Chaos deiner Gedanken zu bringen? Es hat für mich den Anschein, als ob gerade du dazu auserkoren worden bist, etwas wirklich Wichtiges und Gutes zu vollbringen.“
„Und was hat das mit meinen Träumen zu tun?“
„Junge, das Leben ist keine Einbahnstraße. Du solltest begreifen, dass sich dein Sein und Denken in verschiedenen Dimensionen abspielt. Traum, Wirklichkeit und Vorsehung sind oft nur durch einen leichten Windhauch voneinander getrennt. Lerne in dich hineinzuhorchen, verknüpfe deine Gedanken mit deinen Träumen und du wirst zu der Erkenntnis gelangen, wer du wirklich bist.“
Noch verwirrter als er ohnehin schon war, stand Rainer schließlich auf und blickte auf die alte Frau hinab. 
„Ich weiß nicht, Angelina, ob du recht hast. Ich weiß nur, dass mir der Arsch ordentlich auf Grundeis geht, wenn ich an all die Probleme denke, die auf mich warten.“
„Bevor du gehst, will ich dir noch einen guten Rat auf den Weg mitgeben: Setze immer einen Schritt vor den anderen und du wirst sehen, dass dieser augenblicklich schier unüberwindliche Berg doch zu bewältigen ist.“
Dankbar lächelte Rainer auf die alte Frau hinab und nahm zum Abschied ihre Hand.
„Und wirst du mich auf diese Reise begleiten, Angelina?“
„Du wirst mich finden, wann immer du mich brauchst.“

Kapitel 46

Leise knirschte der frisch gefallene Schnee unter seinen Schuhen. Seit mehr als zwei Stunden wanderte Max nun schon durch den verschneiten Winterwald, der einer kitschigen Postkartenlandschaft glich. Doch für dieses wundeschöne Bilderbuchszenario war Max nicht wirklich empfänglich. Zu sehr drückten die anstehenden Sorgen und wichtigen Entscheidungen auf sein Gemüt. Max hatte so gehofft, fernab der Hektik der Großstadt endlich zur Ruhe zu kommen, um in der Stille und Abgeschiedenheit der Berge zu sich selbst zu finden. Doch seine Gedanken bewegten sich immer nur im Kreis. Max kannte die einzig sinnvolle und richtige Entscheidung. Trotzdem versuchte er, sie so lange wie möglich hinauszuzögern, um vielleicht doch noch einen Ausweg zu finden, sein Spielzeug nicht aufgeben zu müssen.
Doch die Zeit verstrich, ohne dass er einen Schritt weitergekommen wäre. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sich Max langsam wieder dem riesigen Bauernhof seiner Schwiegereltern näherte, aus dessen kleinen Fenstern bereits warmes Licht drang. 
Am späten Vormittag war er mit seiner Familie hier angekommen. In all den Jahren, die er mit Isabell verheiratet war, hatte sich die kühle Distanz zu Isabells Eltern nie gelegt. Das Stadt-Land-Gefälle war einfach zu groß, als dass beide Seiten diese Hürde hätten überspringen können. Einmal im Jahr blieb ihm aber nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, damit das Weihnachtsfest zumindest an der Oberfläche einen harmonischen Gesamteindruck bot. Doch durch Isabells abweisende Haltung hatte das Spannungsfeld diesmal sogar noch um ein paar Volt mehr als in den vergangenen Jahren zugelegt.
Als Max durch das offene Gatter des Grundstückes trat, war es fast schon dunkel. Schweren Herzens hatte er sich zu einer Entscheidung durchgerungen. Max konnte es drehen und wenden wie er wollte. Ein Neubeginn mit Isabell war der einzig gangbare Weg, um seinem Leben wieder die nötige Festigkeit und Tiefe zu geben. Obwohl er Ekaterina versichert hatte, eine Lösung zugunsten ihrer Beziehung zu finden, konnte Max dieses Versprechen nicht halten. Unterm Strich stand für ihn viel zu viel auf dem Spiel, eigentlich alles, was ihm bisher wichtig und teuer gewesen war. Wenn er sich wieder mehr um Isabell bemühen und ihr zeigen würde, wie sehr er sie liebte und wie wichtig ihm seine Familie war, dann hätte er bestimmt gute Chancen, dass sie sich ihm wieder zuwenden und auf Rainer verzichten würde. Max war nun heilfroh, dass er seinem ersten Impuls nicht gefolgt war und Rainer und Isabell nach diesem unerwarteten Intermezzo im Krankenhaus nicht zur Rede gestellt hatte. 
Noch vor der Bescherung wollte er mit Isabell sprechen und sich für seine Fehltritte und sein unmögliches Verhalten entschuldigen. Wenn nötig würde er sie auch auf Knien anflehen, ihrer Ehe noch eine Chance zu geben. 
Das Wissen um ihre Affäre würde er für sich behalten und auch weiterhin den Unwissenden spielen. Keiner der beiden sollte jemals erfahren, dass er Zeuge ihrer zärtlichen Umarmung geworden war. 
Alles wäre dann fast wieder so wie früher. Nur auf seine geile Geliebte würde er wohl endgültig verzichten müssen und das absolute Vertrauen in seinen besten Freund hatte er auch verloren.
Auch seine Entscheidung über die „Mine-Dedecting“ war gefallen. Max wollte unbedingt aus diesem Geschäft aussteigen und dafür die 10 Millionen kassieren. Auf jeden Fall musste es ihm aber irgendwie gelingen, auch Rainer von der Richtigkeit dieses Schrittes zu überzeugen. Wenn er seine „Abfindung“ in der Tasche hätte, würde er mit seiner Familie Österreich verlassen. Mit so viel Geld konnte er im Ausland einen sicheren Neustart wagen. Wohin er auswandern würde, wusste er noch nicht. Wichtig war Max nur, dass dieser Ort so weit weg sein musste, dass Rainer keinen Kontakt mehr mit Isabell halten konnte. 
Seufzend schloss Max das offene Gatter. Im diffusen Licht der blauen Stunde konnte er durch die kleinen Fenster bereits die geschmückte Tanne erkennen. Um das Verlorene trauernd, aber doch zuversichtlich in die Zukunft blickend trat Max durch die Eingangstür. Isabell blickte fragend in sein vor Kälte gerötetes Gesicht.
„Können wir miteinander reden, Isabell?“, fragte er zaghaft. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er ihre Hände und drückte sie zärtlich auf seine kalten Lippen. Schweigend ließ Isabell diese zärtliche Geste zu und stieg mit ihm zusammen die Treppe hoch, die zu ihrem Zimmer führte.

Kapitel 47

Die Tiefschläge brachen auch im neuen Jahr nicht ab. Wie Rainer bereits befürchtet hatte, war von der Euphorie der potenziellen Investoren nicht mehr viel übrig geblieben. Der Anschlag auf Coleman schlug immer noch hohe Wellen und ließ fast alle neuen Anleger vor diesem Investment zurückschrecken. Die Tragik lag auch darin, dass es bis jetzt nur mündliche Absichtserklärungen, jedoch keine bindenden Verträge gab. Rainer war Coleman schon vor Monaten in den Ohren gelegen, mit den damals noch so willigen Anlegern sofort Nägel mit Köpfen zu machen. Doch Coleman hatte sich Zeit gelassen. Sein Ziel war es gewesen, den Akt der Vertragsunterzeichnung mit allen Investoren in einem festlichen Rahmen über die Bühne gehen zu lassen. Diese Form des Closings war ihm ein großes Anliegen gewesen. Die Anleger sollten ihr Engagement nicht nur als lukrative Investition sehen, sondern auch als ethische Tat für eine bessere Welt erkennen. 
Das Closing hätte bereits Ende des letzten Jahres stattfinden sollen. Durch den Anschlag auf Coleman und sein in der Folge entstandenes psychisches Trauma 
war dieser so wichtige Schritt in immer weitere Ferne gerückt. Die Folgen für die „Mine-Dedecting“ waren daher fatal. Von den sechs potenziellen Anlegern war im Laufe der vergangenen Wochen letztendlich nur noch eine russische Investorengruppe übrig geblieben, die mit zwei Millionen Dollar einsteigen wollte. Für die abgebrühten Russen waren bei einer Geschäftsanbahnung Schwierigkeiten dieser Art nichts Besonderes. Rainer wurde auch den Gedanken nicht los, dass es dieser Gruppe nicht nur um Performance und Rendite ging. Da war mit ziemlicher Sicherheit noch ein ganz anderes Kalkül im Spiel. Irgendwie hatte Rainer den Verdacht, dass es sich bei diesem Investment um Mafiagelder oder Schwarzgeld handelte, das man weiß waschen wollte. Egal, das Unternehmen brauchte das Geld dringend, sodass Rainer bereit war, mit dem Rudel zu heulen, solange es der „Mine-Dedecting“ einen Vorteil brachte. Hart gesottene ehemalige Parteigenossen ließen sich von so einem Anschlag nicht so leicht ins Bockshorn jagen, solange die Nachfolge im Management geregelt war. Doch die schweizerische Privatbank, ein Fonds für Entwicklungshilfe, zwei Ethikfonds und eine Privatstiftung hatten in der Zwischenzeit kalte Füße bekommen und ihre Schwänze eingezogen. Obwohl Rainer mit all seinen Überredungskünsten und sinnvollen Argumenten ins Feld gezogen war, war es ihm doch nicht gelungen, die jeweiligen Entscheidungsträger zu überzeugen und umzustimmen. Er musste also spätestens bis Ende März neue Investoren auftreiben, denn sonst würden die Russen wegen Unterfinanzierung auch noch abspringen. Ohne die volle Zeichnung des Venture Capitals war ein Closing einfach nicht möglich. Der letzte Hoffnungsschimmer wäre dann dahin und dieses Projekt würde zum Scheitern verurteilt sein.
Rainer hatte sich bereits zum x-ten Mal eine weitere Liste aller noch in Frage kommenden Investoren aus Österreich und dem angrenzenden Ausland zusammengestellt. Wie so oft in den letzten Tagen hing er stundenlang am Telefon, um die richtigen Kontaktpersonen zu finden und für das Projekt zu interessieren. Doch die Finanzkrise hatte jetzt voll eingesetzt und die Börsen befanden sich im freien Fall. Seine Zielpersonen hatten jetzt andere Präferenzen und mussten versuchen zu retten, was für sie noch zu retten war. Kaum einer hatte auch nur annähernd Zeit und Lust zu einem ausführlicheren Gespräch, geschweige denn zu einer seriösen Analyse der Dokumente und Planziffern.

Es war Dreikönigstag und Rainer wollte nicht auch noch den letzten Abend der Weihnachtsfeiertage im Büro verbringen. Kurzerhand hatte er alle wichtigen Unterlagen in seine Tasche gepackt und sie mit nach Hause genommen. Auf dem Küchentisch herrschte nun ein wüstes Papierchaos. Unzählige lose, bedruckte Blätter lagen auf der Tischplatte verteilt, während Rainer am Laptop recherchierte. Es war nun kein leichtes Spiel mehr herauszufinden, wer noch am ehesten Interesse haben könnte, in die „Mine-Dedecting“ zu investieren. Jetzt, in der größten Weltwirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, waren Investoren die absoluten Verlierer. Täglich wurden Milliarden an den Börsen vernichtet und die Bilanzen im Finanzsektor färbten sich blutrot. Einige renommierte Finanzinstitute und Banken standen bereits vor dem Kollaps und die ersten Insolvenzen verschärften die Panik weiter. Rainer war gerade im Begriff, eine Liste von Stiftungen zusammenzustellen, deren Vorstände er morgen kontaktieren wollte. Doch plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Isabell lehnte im Türrahmen und beobachtete ihn aufmerksam. Rainer war dermaßen in seine Arbeit vertieft gewesen, dass er sie nicht eintreten gehört hatte. Freudig überrascht über ihren unerwarteten Besuch sprang er vom Küchenstuhl auf und eilte lächelnd auf seine Geliebte zu. Doch Isabell erwiderte sein Lächeln nur wehmütig. Sie machte auch keine Anstalten, ihm entgegen zu kommen und sich liebevoll in seine Arme zu schmiegen. Rainers feine Sensoren spürten sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. 
„Welch unerwartete Freude dich zu sehen, Liebste“, begrüßte er Isabell und umarmte sie liebevoll. Doch als er sie küssen wollte, blieb ihr Mund geschlossen. Rainer spürte, wie sich Isabells Körper versteifte und seine Zärtlichkeiten an ihr abprallten. Sofort wich er betroffen zurück und blickte in ihre nun tränenfeuchten Augen.
„Rainer, ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass ich unsere Affäre beende.“
Dieser verbale Faustschlag ins Gesicht ließ ihn zurücktaumeln. Rainer hoffte, falsch verstanden zu haben und fragte verwirrt:
„Bin ich jetzt im falschen Film?“
Niedergeschlagen schüttelte Isabell den Kopf und erwiderte unglücklich:
„Nein, du hast richtig verstanden. Ich bin heute das letzte Mal hier. Ich wollte nur so anständig sein, dir meinen Entschluss persönlich mitzuteilen und nicht übers Telefon oder per SMS.“
Langsam begann sich Rainer zu fangen und die Tragweite ihrer Entscheidung wurde ihm nach und nach bewusst.
„Glaubst du wirklich, dass du für mich nur eine Affäre bist?“
Verzweifelt schlug Isabell die Hände vor ihr Gesicht und flüsterte schluchzend:
„Mach es bitte nicht noch schwerer als es für mich ohnehin schon ist.“
Rainer schwieg und wartete, bis Isabell ihre tränenerstickte Stimme wieder unter Kontrolle gebracht hatte. Sie stand vor ihm wie ein Häufchen Elend und ihr Körper krümmte sich vor innerem Schmerz.
„Max hat mich gebeten, ihm zu verzeihen und ihm noch eine Chance zu geben. Er hat der Russin den Laufpass gegeben und will mit mir ein neues Leben beginnen.“
Rainer spürte nicht nur heftigen Zorn in sich hochsteigen, sondern auch die maßlose Enttäuschung, wie wenig er ihr wert war. Wie konnte sie nur für diesen egoistischen und selbstgefälligen Weiberhelden diese wunderbare Liebe so einfach wegwerfen?
„Dieser elende Hurenbock braucht nur einmal mit den Finger zu schnippen und sofort kommst Du wie eine rollige Katze wieder angekrochen.“
Unglücklich wandte sich Isabell ab und ging schweigend in das angrenzende Wohnzimmer und betrachtete den getrockneten Strauß gelber Rosen in der Vase. Isabell berührte einen der nun harten Blütenkelche und blickte dabei traurig zu Rainer. 
„Weißt du, die Welt besteht nicht nur aus Schwarz-weiß-Tönen, aus Gut und Böse, aus Glückseligkeit und tiefster Trauer. Das Leben ist ein ständiger Kompromiss, bei dem das Verzichten nicht immer leicht fällt. Manchmal verlangt es einem viel mehr ab als man eigentlich zu bewältigen vermag. Wenn es nur rein um mich ginge, dann hätte ich mich schon längst von Max getrennt und würde mit dir zusammen sein. Doch da gibt es auch noch Lisi, die ihren Vater abgöttisch liebt. Sie würde es nicht verstehen, wenn ich ihn verlasse. Nur für sie mache ich das.“
„Aber Lisi wird bald erwachsen sein. Spätestens dann wird sie deine Beweggründe verstehen und begreifen, dass auch du auch ein Leben hast“, versuchte Rainer siel umzustimmen. Doch Isabell schüttelte nur deprimiert ihren Kopf.
„Bis Lisi so weit ist und mich versteht, läuft noch eine Menge Wasser die Donau hinunter. Sie würde sich von mir abwenden und mir die Schuld geben, dass ich ihre Familie zerstört habe.“
Rainer konnte ihren Schmerz und ihre Zerrissenheit fast fühlen. Zärtlich nahm er Isabell in seine Arme und wiegte sie sanft.
„Aber wir lieben uns doch, Isabell. Wir können doch unsere Gefühle nicht einfach ignorieren“, versuchte Rainer einen letzten Vorstoß.
„Ja, ich liebe dich auch, viel, viel mehr, als ich jemals für Max empfunden habe. Glaubst du denn, ich weiß nicht, dass unsere Liebe etwas Besonderes ist? Doch mein Pflichtbewusstsein meinem Kind gegenüber geht ganz einfach vor.“
Isabell löste sich ein wenig aus seiner Umarmung, um zu Rainer einen direkten Blickkontakt herzustellen:
„Es ist ja nicht nur Lisi, die mir am Herzen liegt. Ich habe auch Verantwortung für Max zu tragen. Wenn ich ihn verlasse, dann verliert er jeden Halt. Nicht nur mich braucht er, sondern auch dich. Rainer, ohne uns geht er unter. Könntest du mit dem Wissen leben, dass du mitschuldig an seinem Ende bist?“
Rainer schwieg. Was hätte er darauf noch antworten sollen? Er wusste, dass Isabell recht hatte. Max’ labiler Charakter brauchte Anleitung und Kontrolle. Die Aussichtslosigkeit für ein gemeinsames Miteinander begann nun immer mehr an Substanz zu gewinnen. Als ob Rainer das Unabwendbare von sich und Isabell fernhalten könnte, drückte er sich noch enger an sich.
„Das heißt also, dass unser wunderschöner Traum nun zu Ende geht.“
Isabell schluchzte leise an seiner Brust. Er spürte ihre heißen Tränen durch sein Hemd dringen. Wie sollte er sie nur trösten, wenn er doch selbst keinen Trost fand. Lange Zeit verharrten beide in dieser zärtlichen Umarmung. Doch irgendwann löste sich Isabell von ihm und sagte schließlich traurig:
„Das Leben ist nicht immer gerecht und schon gar nicht leicht zu verstehen. Obwohl wir wissen, dass wir vieles falsch machen, bleibt uns doch keine andere Wahl.“
Ein letztes Mal küsste sie ihn voller Zärtlichkeit und Liebe und verließ dann seine Wohnung.

Kapitel 48

Rainer war am Boden zerstört. Die Leere, die Isabell so plötzlich in ihm hinterlassen hatte, war einfach unerträglich. All seine schönen Hoffnungen und Träume waren innerhalb weniger Augenblicke wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Es war vorbei. Isabell würde nicht mehr zu ihm zurückkommen. Niemals mehr würde er ihren besonderen Duft riechen, ihren weichen Körper neben sich im Bett spüren und ihre wunderbare Leidenschaft genießen, die sie immer wieder aufs Neue zu entfachen verstand.
Empörung ergriff von ihm Besitz, die plötzlich in ungeheure Wut überging. Außer sich vor Zorn und Enttäuschung strich er mit einer einzigen Handbewegung all die losen Blätter samt dem Laptop vom Tisch. Auch sein Wasserglas fiel seiner Rage zum Opfer und zerschellte laut klirrend am Boden. Isabell hatte recht, das Leben war nicht gerecht. Brauchte man denn wirklich nur ein egoistisches Arschloch zu sein, damit einem das Glück in den Schoß fiel und man immer wieder auf der Butterseite des Lebens landete?
So plötzlich dieser Tobsuchtsanfall über ihn gekommen war, so rasch versiegte er auch wieder. Rainer bedauerte nun sehr, dass er sich von seinen Gefühlen so hatte hinreißen lassen. Die losen Blätter lagen nun wirr verstreut am Küchenboden. Einige waren durch den Inhalt des Wasserglases ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Beruhigt atmete er durch, als er den Laptop untersuchte. Gott sei Dank war dieser auf der Polsterauflage des Küchenstuhls gelandet und nicht auf dem harten Fliesenboden, so dass er nicht zu Bruch gegangen war. Erleichtert stellte Rainer fest, dass die in den letzten Tagen mühselig zusammengesuchten Daten mit einem Mouseklick wieder auf dem Bildschirm auftauchten.
Rainer starrte deprimiert auf das wüste Szenario auf dem Fußboden. In seiner Seele schaute es nicht viel anders aus. Oh Gott, was sollte er nun tun? Wie sollte es nun weitergehen? Verbitterung und tiefe Enttäuschung, aber auch das Wissen um diese hoffungslose Ausweglosigkeit ließen ihn laut aufschluchzen. Rainer wollte nur noch schlafen und dieses Desaster vergessen. Doch anstatt seinem Drang nachzugeben, bückte er sich und sammelte nun die Blätter vom Boden auf. Dabei entging ihm eine Glasscherbe, die tief in seinen Daumen schnitt. Sofort schoss hellrotes Blut aus der offenen Wunde. Mit leisem Fluch zog er sein Taschentuch aus der Hosentasche und drückte es auf die Wunde. Beim Herausziehen ging auch die Pfeilspitze mit, die ihm Angelina am Heiligen Abend geschenkt hatte. Laut klirrend blieb sie am nackten Steinboden liegen. Im Trubel und der Hektik hatte Rainer ihr Geschenk völlig vergessen. Verwundert, dass ihr Präsent gerade jetzt seine Aufmerksamkeit erregte, hob er es auf und nahm es mit ins Badezimmer.
Rainer wählte aus dem Erste-Hilfe-Kasten einen passenden Druckverband, um die Blutung zu stillen. Nachdem er seinen Daumen verbunden hatte, widmete er sich wieder der anthrazitfarbigen Pfeilspitze, die sich markant von dem weißen Porzellanwaschbecken abhob. Mit neu erwachtem Interesse betrachtete Rainer die Spitze im grellen Licht der Spots nun genauer. Der geschliffene Steinsplitter fühlte sich in seiner Hand weit schwerer an als es wirklich war. Doch es war nicht das Gewicht, das diese Schwere verursachte. Rainer schien es, als ob dieses unscheinbare Stück Stein plötzlich eine ungeheure Energie freisetzte, die seinen Körper zu durchströmen begann. Einer Eingebung folgend zog Rainer sein Hemd aus. Dann wandte er jene Stelle seines nackten Oberkörpers dem Spiegel zu, wo sich sein rätselhaftes Muttermal befand. Die scharfe Pfeilspitze brannte nun förmlich in seinen Fingern, als er die Breitseite der Spitze an sein Muttermal ansetzte.
Das Bild im Spiegel bestätigte Rainers Vorahnung. Der Querschnitt des Dreiecks entsprach genau dem Ausmaß seines Leberflecks.
Langsam ließ Rainer seine Hand wieder sinken und betrachtete fragend sein Spiegelbild. Wer war er wirklich und welch grausamer Posse des Schicksals war er zum Opfer gefallen? Hatten Angelinas Aussagen doch mehr Gewicht als er ihnen eigentlich beimessen wollte? Gab es im Leben wirklich keine Zufälle, sodass diesem schier planlosen Durcheinander von Zufällen und Abläufen eine perfekt getimte Dynamik zugrunde lag, die ihn auf unerklärliche Weise zu beeinflussen begann? Sollte denn Angelina wirklich recht haben, dass Traum, Wirklichkeit und Vorsehung oft nur durch einen leichten Windhauch voneinander getrennt liegen?
Mit seinem ersten Albtraum war auch Angelina in sein Leben getreten. Noch am selben Tag wurde er auf „Mine-Dedecting“ aufmerksam. Und zu guter Letzt begann Isabell nach so vielen Jahren endlich auf ihn aufmerksam zu werden und seine Gefühle für sie zu erwidern. 
Diese plötzlich gehäuften Veränderungen konnten keine Zufälle sein. Rainer begann zu fühlen, dass diese Ereignisse eng miteinander verbunden waren. Langsam schien sich der dichte Nebel etwas zu lichten. Konturen zeichneten sich zaghaft ab, die jedoch noch kein klares Bild ergaben. Irgendwie fehlte ihm noch der zusammenhängende Faktor, der gemeinsame Nenner, der ihn den Sinn des Ganzen erkennen ließ.
Das Einzige, worin sich Rainer nun absolut sicher war, war der Umstand, dass Angelina keine Bettlerin sein konnte. Je öfter er an sie dachte, umso mehr kam ihm das Bild von Mary Poppins in den Sinn. In seiner Kindheit hatte auf ihn dieser Disneyfilm über das perfekte Kindermädchen eine magische Anziehung ausgeübt. Aber Mary Poppins mit Angelina zu vergleichen, war schon hart am Limit. Doch beide Frauen verband etwas Geheimnisvolles und absolut Gutes. Denn so wie die gute Fee Mary Poppins das chaotische Leben der Familie Banks in die richtigen Bahnen lenkte, wurde auch ihm durch Angelina der Weg in die Zukunft gewiesen. Der einzige Unterschied war, dass Mary Poppins der Fantasie eines Zeichners entsprungen war, während Angelina ganz real und nicht fiktiv war.
Die Pfeilspitze in seiner fest geschlossenen Faust war nun so heiß, dass die Haut an der Handfläche unangenehm zu jucken begann. Rainer ging ins Wohnzimmer zurück und legte die Spitze in die kleine Konfektschale, die auf der alten Biedermeierkommode seiner Mutter stand. 
Irgendwie hatte Rainer den Eindruck, dass seine Verbitterung und Trostlosigkeit zu weichen begannen. Ein unbestimmtes Gefühl von Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft ließen seinen Schmerz immer mehr in den Hintergrund rücken. 
In seinem Inneren begann Rainer zu ahnen, dass er zu etwas Besonderem auserkoren war, das weit über sein reales Empfinden hinausgehen würde. Noch konnte er dieses abstrakte Gefühl weder orten noch bestimmen. Doch Rainer begann diese ungeheure Kraft immer intensiver in sich wahr zu nehmen, die seinen Tatendrang nun aufs Neue zu mobilisieren begann. 

Sein Blick wanderte zu dem getrockneten Rosenstrauß, der ebenfalls auf der Kommode stand. Vorsichtig tastete Rainer mit seinen Fingern über jenen Blütenkelch, den vorhin Isabell berührt hatte. Hoffnung und Vertrauen durchflutete erneut seinen Körper. Rainer war nun überzeugt, dass dieses unsichtbare Band der Liebe durch nichts und niemanden getrennt werden konnte, auch wenn es augenblicklich absolut nicht den Anschein hatte. Doch irgendwann würde diese besondere Liebe zu ihrer vollen Entfaltung finden. 

Kapitel 49

„Warum will es in deinen vernagelten, sturen Schädel nicht hinein, dass es keinen Sinn mehr hat, nach finanzkräftigen Investoren zu suchen. Absolut niemand ist mehr an der „Mine-Dedecting“ interessiert. Alle von dir angepeilten Organisationen und Finanzexperten haben dir freundlich, aber bestimmt eine Abfuhr erteilt.“ 
Aus seiner Unzufriedenheit machte Max nun kein Hehl mehr und seine Aggression nahm von Tag zu Tag mehr zu. Verdrossen beobachtete er Rainer, der mit ungebrochener Akribie die Börsenberichte studierte und nach jenen Fonds Ausschau hielt, deren Verluste sich noch in Grenzen hielten und deren Manager vielleicht doch Interesse an einer lukrativen und relativ krisensicheren Investition haben könnten.
Max’ Geduld war zu Ende. Kraftvoll schlug er mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte, sodass es laut knallte. Erschrocken fuhr Rainer zusammen.
„Bist du verrückt? Was soll der Scheiß?“, fuhr er Max verärgert an.
„Es wird langsam Zeit, dass wir über diese Firma Tacheles reden, um endlich zu einer Problemlösung zu kommen“, erwiderte Max ungehalten.
Rainer lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Max in seine stechend blauen Augen. In den vergangenen Wochen hatte sich das ohnehin schon abgekühlte Verhältnis zu seinem Freund noch mehr dem Nullpunkt genähert. Rainer hatte den Verdacht, dass Max nicht nur aufgrund ihrer völlig unterschiedlichen Ansichten über die Weiterentwicklung der Firma diese Distanz geschaffen hatte, sondern dass auch Isabell eine nicht unwesentliche Rolle spielte.
„Die Problemlösung besteht für dich ja ohnehin nur darin, dass wir den Laden dicht machen und die Patente an das Konsortium verkaufen“, erwiderte Rainer feindselig.
„Wenn du eine bessere Lösung anzubieten hast als stundenlang nur Börsenberichte zu studieren und dabei auf ein Wunder zu hoffen, bin ich gerne bereit, mir deine Vorschläge anzuhören.“ 
„Vielleicht wäre es ja auch von Vorteil, wenn du statt Löcher in die Luft zu starren zumindest versuchen würdest, das nötige Geld heranzuschaffen, damit wir endlich die technische Entwicklung vorantreiben können. Laut Kompetenzaufteilung ist es ja eigentlich dein Job, Investoren aufzutreiben und nicht meiner. Schließlich kommst du aus einem recht begüterten Haus und hast durch deine Eltern viele Verbindungen zur Oberschicht.“
Max sprang von seinem Stuhl auf und fuhr Rainer barsch an:
„Bist du denn schont total verblendet! Hier geht es nicht um Peanuts, sondern um mindestens 5 Millionen Dollar. Wer heute noch Geld hat, legt es in Gold und Realitäten an und nicht in irgendwelche Spielzeughubschrauber.“
Rainer ließ sich durch Max’ aggressive Reaktion nicht ins Bockshorn jagen und blieb völlig gelassen:
„Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du mit allen Mitteln versuchst, mich von diesem Projekt abzubringen, damit du die 10 Millionen Dollar bekommst? Du weißt doch ganz genau, dass du dir die Scheinchen und das damit verbundene Dolce Vita abschminken kannst, wenn ich nicht mitspiele.“ 
„Und was ist bitte so falsch daran, aus einem leider nicht mehr durchführbaren Unternehmen trotzdem noch Nutzen zu ziehen?“
Rainer sprang nun auch auf und stützte sich direkt vor Max am Schreibtisch ab, sodass ihre Augenpaare auf gleicher Höhe waren. Auch er konnte seinen Zorn jetzt nicht mehr unterdrücken:
„Du kleine, geldgierige Kröte! Deine 10 Millionen und auch meine wären doch gar nicht unser Geld. Wenn, dann würde die gesamte Kohle Coleman gehören, der diese Idee geboren und als Projekt auf Schiene gebracht hat. Du bist nichts anderes als ein zufälliger Nutznießer, der die Gelegenheit der Stunde ergreifen will. Im Grunde genommen hast du so gut wie gar nichts für die „Mine-Dedecting“ geleistet. Und jetzt, wo das Boot zwischen den Riffen segelt, öffnest du noch alle Luken, damit es schneller sinkt. Du hast absolut kein Rückgrat und gehst über Leichen, wenn du daraus auch nur den kleinsten Nutzen ziehen kannst“, spie Rainer ihm seinen Abscheu entgegen.
Max‘ Augen hatten sich zu kleinen bösen Sehschlitzen geformt und seine Kurzatmigkeit ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wie erregt er war. 
„Gerade du sprichst von Rückgrat? Wo ist deines geblieben, als du meine Frau gefickt hast?“ 
Rainer glaubte plötzlich, unter einer eiskalten Dusche aufzuwachen. Mit diesem unerwarteten Frontalangriff hatte er nicht gerechnet, sodass es ihm plötzlich die Sprache verschlug. Hämisch und voller Missbilligung nahm Max seine Bestürzung zur Kenntnis und fuhr zornig fort:
„Spiel dich also ja nicht als Saubermann und von Gott berufener Gutmensch auf. Du bist nichts weiter als ein stinkendes Stück Scheiße, der sein Leben lang nichts Bedeutendes geschafft hat. Mit deiner vordergründigen Scheinheiligkeit kannst du vielleicht noch den verwirrten alten Ami überzeugen, aber mir machst du nichts vor.“
Aus tiefster Erregung heraus fasste Max Rainers Krawatte und zog ihn mit einem heftigen Ruck zu sich heran. Beide Gesichter trennte nun nur noch eine Fingerbreite. Hätte der abgrundtiefe Hass in Max‘ Augen Blitze schleudern können, wäre Rainer auf der Stelle tot umgefallen. Leise zischte Max durch seine geschlossenen Zähne:
„Wenn ich dich noch einmal in der Nähe meiner Frau erwische, bring ich dich um, du Schwein.“
Dann stieß er Rainer mit voller Kraft zurück, sodass dieser schmerzhaft gegen die Wand polterte.
Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, verließ Max Rainers Büro und schlug so heftig die Tür in Schloss, dass das Mauerweiß von den Wänden rieselte.

Kapitel 50

Eigentlich wollte sich Max nicht hinreißen lassen und preisgeben, was er über die beiden wusste. Doch Rainer hatte ihn dermaßen provoziert, dass sein Temperament mit ihm völlig durchgegangen ist. Wutschnaubend stürmte er aus dem Haus und setzte sich in eines der wartenden Taxis am Taxistand. 
Nach und nach beruhigte sich Max wieder, als er im Auto den Ring entlang fuhr. Er war mit sich und der Welt total unzufrieden. Nichts lief so, wie er es sich vorgestellt hatte. Es war ihm unmöglich, diesen Schwachkopf zu überzeugen, die Firma zu verhökern, damit er endlich an sein Geld kam. Max wollte so rasch wie möglich weg von hier und seinen beruflichen und privaten Müll zurücklassen. Mit den Millionen wollte er in Thailand ein megageiles Hotelprojekt aufziehen und mit Isabell und Lisi fortan in saus und brauchs leben. Österreich mit seinen langen und kalten Wintern, der Spießbürgerlichkeit und all den Problemen konnte ihm wirklich gestohlen bleiben. Außerdem sollte es in Thailand ja auch äußerst willige Mädchen geben, die für relativ wenig Geld zu ganz beachtlichen Leistungen bereit waren…
Sofort zauberte ihm dieser Gedanke ein lüsternes Lächeln ins Gesicht und auch sein bester Freund begann sich zu lebhaft melden. 
Während Max aus dem Fenster des Taxis blickte und Oper, Hofburg und Parlament an ihm vorüberzogen, hing er seinen wollüstigen Fantasien nach, deren Abartigkeit eine besondere Verzückung in ihm auslöste. Als das Taxi schließlich in die Stadiongasse einbog, wurde er jäh aus seinen Tagträumen gerissen. Gleich würde er bei seiner Wohnung in der Strozzigasse ankommen, wo Ekaterina schon auf ihn wartete. 
Dem Schicksal ergeben seufzte er leise auf und lehnte sich in den Fonds des Taxis zurück. Das schlechte Gewissen drückte ihn immer noch ein wenig. Obwohl er Isabell hoch und heilig versprochen hatte, wieder ein solides und monogames Leben zu führen, hatte er den Reizen Ekaterinas einfach nicht widerstehen können. Alle guten Neujahrsvorsätze, mit Ekaterina reinen Tisch zu machen, waren vergessen, als er nach seinem Urlaub ins Schlafzimmer der Wohnung trat. Überrascht hatte er um sich geblickt. Das Zimmer war ganz in Rot-schwarz-Töne getaucht. Vor dem Bett hatte Ektaterina eine Liebesschaukel angebracht. Grell geschminkt und nur mit langen, schwarzen Lackstiefeln und einer Satinkorsage bekleidet, die ihre vollen Brüste aus dem Brusteinsatz überquellen ließ, empfing sie ihn mit weit gespreizten Beinen auf der Schaukel liegend. Aufreizend massierte sie ihre bereits nasse Klitoris. Sie war seine zu allem bereite Hure.
Mit einem Schlag waren alle Vorsätze vergessen. Sein Trieb dirigierte nun wieder sein Denken, als er ihren so willig dargebotenen Schoß sah. Erst jetzt war er bereit sich einzugestehen, wie sehr sie ihm wirklich gefehlt hatte. Der Sex mit Isabell war ganz nett, aber nie besonders aufregend gewesen. Er empfand ihn so, als ob er mit dem zweiten Gang, aber mit Vollgas auf der Autobahn fahren musste. Isabell fehlte es schlichtweg an der nötigen Leidenschaft und Hingabe. Für seine Frau stand an erster Stelle die geistige Beziehung. Sie war nicht fähig, sich so tief und animalisch in ihre Geilheil fallen zu lassen. Aber genau nach dieser ausgeprägten Triebsteuerung verlangte ihm, die in Ekaterina im Übermaß vorhanden war. Bei ihr konnte er sich so richtig gehen lassen und alle seine perversen Wünsche und Vorstellungen bis zur beiderseitigen Erschöpfung ausleben. 
Max hatte daher kein Wort über ihre bevorstehende Trennung verloren. Wieso sollte er sich die wenigen Stunden der Lust und Freude nehmen? In spätestens zwei Monaten würde er ohnehin längst in Thailand sein. Das Kapitel Ekaterina war dann ohnehin abgeschlossen.

Kapitel 51

Noch immer saß Rainer ziemlich verwirrt hinter seinem Schreibtisch. Diese Auseinandersetzung mit Max schlug ziemlich herb aufs Gemüt. Zweifel beschlichen ihn. War er denn wirklich genauso skrupellos und egoistisch wie Max?
Doch dann dachte er an seine ehrlich empfundene Liebe für Isabell, die sich in all den Jahren nie gelegt hatte. Er hatte immer nur sie geliebt und keine andere. Nein, es gab absolut keine Parallelen zwischen ihm und diesem schwanzgesteuerten Hurenbock.
Noch während er über Max und sich selbst nachdachte, öffnete sich vorsichtig die Tür und Isabell steckte ihren Kopf herein. Überrascht sprang sofort Rainer auf und eilte ihr entgegen. Es war nun schon knapp vier Wochen her, dass er Isabell zum letzten Mal gesehen hatte. 
„Hallo Isabell, komm doch rein“, forderte Rainer sie erfreut auf. 
Unschlüssig blieb Isabell in der Tür stehen und wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Verwirrt antwortete sie:
„Hallo Rainer. Weißt du vielleicht, wo Max steckt? Wir waren im Steffl verabredet. Doch er ist nicht gekommen und am Handy erreiche ich ihn auch nicht.“
Rainer konnte seine Augen nicht von ihr lassen. Es war schon so lange her, dass er ihre Nähe gespürt hatte. Wie gerne hätte er sie jetzt in die Arme genommen und zärtlich an sich gedrückt. Doch er widerstand diesem Impuls und begnügte sich damit, sie zu betrachten. Isabell war dünn geworden und sie wirkte ziemlich erschöpft und abgespannt. Ihre schönen Augen blickten müde und ein verbitterter Zug war um ihren sonst so weichen Mund zu erkennen. 
„Geht es dir nicht gut, Isabell?“, fragte Rainer besorgt und ignorierte ihre Frage.
Isabell lächelte ihn freudlos an.
„Danke der Nachfrage. Es geht so.“
Rainer griff nach ihrer Hand, zog sie ins Zimmer und schloss hinter ihr die Tür. 
„Was ist los mit dir? Bist du krank?“
Betroffen schüttelte sie den Kopf und erwiderte fahrig:
„Ich sagte dir ja schon, es geht mir gut. Ich wollte nur wissen, wo Max geblieben ist. Wir sind mit einem Immobilienmakler verabredet.“
„Immobilienmakler?“, wiederholte Rainer verwundert ihre Worte.
„Ja, hat dir Max nicht gesagt, dass er in Thailand ein Stück Land am Strand in der Nähe von Phuket kaufen und dort ein Hotel hinbauen will?“
Erstaunt schüttelte Rainer den Kopf.
„Nein, darüber hat er kein Wort verloren.“
„Max möchte weg aus Österreich. Er sagt, er hat die Schnauze voll von diesem bornierten und kleinkarierten Land. In Thailand sieht er die beste Möglichkeit zu investieren. Nach dieser furchtbaren Tsunami-Katastrophe hat sich die betroffene Region noch immer nicht erholt und man sucht nach finanzkräftigen Investoren, die den Fremdenverkehr wieder ankurbeln sollen. Die Regierung bietet Land zu Dumpingpreisen an, damit so schnell wie möglich neue Hotelanlagen entstehen und wieder mehr Touristen ins Land kommen. Schließlich zählt der Fremdenverkehr seit vielen Jahren zu den Haupteinnahmequellen dieses Landes.“
Jetzt begann Rainer schlagartig zu verstehen, wieso Max in den letzten Wochen so viel Druck auf ihn ausgeübt hatte, die Firma zu verkaufen. Für dieses Entwickungsprojekt brauchte er also so dringend das Geld. Selbst wenn sich die „Mine-Dedecting“ rasch zu einem florierenden Unternehmen entfalten würde, so könnte selbst die beste Entwicklung der Firma für Max nicht auf einen Schlag 10 Millionen Dollar bringen. Deshalb war es für ihn so wichtig, durch einen raschen Verkauf der Patente so schnell wie möglich an das benötigte Geld heranzukommen.
„Und wie denkst du darüber? Willst du auch weg von hier und alles vergessen, was dir lieb und teuer ist?“
Isabell verstand den tieferen Sinn seiner Frage und schüttelte bekümmert den Kopf.
„Nein, ich will nicht weg von hier und von den Menschen, die ich liebe. Doch Max sagt, es soll ja nicht für immer sein, sondern nur für zwei, drei Jahre. Wenn das Hotelprojekt erst einmal über die Anfangsschwierigkeiten hinweg ist und von alleine läuft, dann kann man daran denken, zeitweise wieder in Österreich zu leben.“
Rainer kannte Max zu gut, um nicht zu wissen, dass er sicherlich nie mehr zurückkommen würde. Max hatte immer schon von einem Leben geschwärmt, in dem die Arbeit einen eher untergeordneten Stellenwert einnahm und das Dolce Vita im Vordergrund stand. Natürlich bot Thailand hierfür sehr gute Möglichkeiten.
„Doch es hat auch etwas Positives, wenn ich Max begleite. Ich könnte in den nächsten Jahren wieder den nötigen Abstand zu dir finden. Das ist doch zumindest etwas, oder nicht?“, fuhr Isabell traurig fort, während sie ihm unglücklich in die Augen sah.
„Ja, wenn man es so sieht, hast du sicherlich recht.“ 
„Max hat herausgefunden, dass wir ein Verhältnis hatten. Er hat sogar einen Privatdetektiv auf uns angesetzt“, fuhr sie zerknirscht fort.
„Ich weiß. Vor nicht einmal einer halben Stunde hat er mir ziemlich klar zu verstehen gegeben, dass ich in Zukunft meine Finger von dir lassen soll“, erwiderte Rainer betroffen und dachte an Max‘ recht heftige Reaktion. Noch nie war er in all den vielen Jahren ihrer Freundschaft handgreiflich gegen ihn geworden.
„Und hat euer privater Neustart schon Früchte getragen?“, lenkte Rainer von diesem unerfreulichen Thema ab.
Niedergeschlagen zog Isabell ihre Schultern hoch und erwiderte resigniert:
„Du weißt, aufgewärmter Kaffee schmeckt immer ein wenig schal. Wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Max bemüht sich und versucht, seine ohnehin geringe Freizeit mit uns zu verbringen.“
Rainer musste innerlich fast lachen. In den letzten Wochen war Max nicht gerade von der großen Arbeitswut heimgesucht worden. Zumindest für die „Mine-Dedecting“ hatte er in den vergangenen zwei Monaten keinen Finger mehr krumm gemacht. Und da nach dem Börsencrash die allgemeine Wirtschaftslage äußerst prekär war, war Rainer überzeugt, dass Max‘ Terminkalender auch in punkto Unternehmensberatung genauso leer war wie sein eigener. 
„Und was ist aus seiner kleinen Russin geworden? Hat er sie wieder in den Sumpf zurückgeschickt, aus dem sie gekommen ist, oder ist sie noch in Wien?“
„Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen“, erwiderte Isabell ohne besonderes Interesse. 
„Er versicherte mir jedenfalls, dass er sie verlassen hat.“
„Und was ist, wenn er es nicht getan hat?“, fragte Rainer neugierig.
„Nun, dann ist es auch egal. In spätestens zwei bis drei Monaten sind wir von hier weg. Ich glaube kaum, dass diese Frau dann noch Thema sein wird.“ 
Nervös blickte Isabell auf ihre Armbanduhr und schickte sich an zu gehen.
„Nachdem du auch nicht weißt, wo er steckt, werde ich wohl alleine den Termin mit dem Makler wahrnehmen müssen.“
Als sie Rainer zum Abschied auf die Wange küssen wollte, konnte er nicht widerstehen und drückte sie leidenschaftlich an sich, während er ihr bittend ins Ohr flüsterte:
„Isabell, geh nicht weg von hier. Selbst wenn mir bewusst ist, dass wir kein Paar werden können, fühle ich mich doch besser, wenn ich dich in meiner Nähe weiß. Gib nicht alles auf für diesen Scheißkerl, der nicht einmal das Schwarze unter einem Fingernagel wert ist.“
Für einen Moment ließ Isabell sich von ihm drücken und schmiegte sich an seinen Körper. Doch plötzlich versteifte sie sich wieder und drückte ihn sachte von sich. In ihren meergrünen Augen schimmerte all die Liebe, die sie noch immer für ihn empfand. Zärtlich strich sie mit ihren Fingern über seine Augen, seine Nase und seinen Mund, als ob sie sich für die Zukunft genau einprägen wollte, wie er aussah. Ihre Stimme bebte, als sie sich flüsternd verabschiedete:
„Ich liebe dich, Rainer, wie ich noch nie einen Mann geliebt habe. Doch mein Entschluss steht fest. Ich werde mit meiner Familie nach Asien gehen.“
Mit tränenschweren Augen wandte sie sich von ihm ab und verließ schluchzend sein Büro.

Kapitel 52

Die aufwühlenden Erlebnisse dieses Tages drückten so sehr auf seine Psyche, dass Rainer sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren konnte und nach Hause ging. Eigentlich hätte er am frühen Abend noch Coleman zu Hause besuchen sollen. Doch er sagte ab und verlegte das Gespräch auf den kommenden Tag. Rainer wollte mit Jake besprechen, ob es vielleicht auch noch sinnvoll wäre, einige ausgewählte Finanzmakler gegen Provision zu beauftragen, bei möglichen Investoren aus ihrem jeweiligen Netzwerk vorzusprechen. Die dafür benötigte Erfolgsprämie würde sich zwar auf bis zu 10% des akquirierten Investments belaufen, aber das war zumindest eine weitere Möglichkeit, die Firma am Leben zu halten. Investoren sehen solche Provisionen natürlich gar nicht gerne, weil diese Typen nichts zur Unternehmensentwicklung beitragen. Aber Vorgangsweisen dieser Art waren durchaus branchenüblich. Die Zeit drängte. Wenn Rainer bis Ende März nicht das Geld beisammen hatte, konnte er das Projekt „Mine-Dedecting“ endgültig an den Nagel hängen. Bis dato standen ihm nur noch die Russen mit ihrer Beteiligung im Wort. Es war jetzt Anfang Februar und er hatte nur noch knappe acht Wochen Zeit. 
In den letzten Monaten waren auch die Reserven des Geschäftskontos wie Schnee in der Sonne geschmolzen. Rainer war dazu übergegangen, die wichtigsten anfallenden Rechnungen aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Mit Ende Jänner war ihm nichts anderes übrig geblieben als die Mitarbeiter zu entlassen, um damit den Lohn und die Lohnnebenkosten zu sparen. Das Mietverhältnis für die Montagehalle wollte er jedoch so lange wie möglich aufrecht halten. Sollte die Finanzierung doch noch gelingen, würde man dringend einen geeigneten Standort für die Montage der Drohnen brauchen. Diese Halle war mit all ihren Möglichkeiten einfach zu gut dafür geeignet, um sie vorzeitig aufzugeben.
Rainer hoffte nun, die äußerst christlich orientierte Bank „Schillermann“ als Co-Investor zu gewinnen. Der Einsatz der Minensuchhubschrauber könnte viele Unfälle vermeiden und unzählige Leben retten, was schon aus ethischen Gesichtspunkten sehr gut zur Ideologie der Nächstenliebe passte, die die katholische Kirche doch so vehement vertrat. Ein derart humaner Schritt würde daher der Geschäftsideologie dieser Bank durchaus gerecht werden. Die beiden Manager der Bank hatten sich Rainers Präsentation auch Interessiert angehört. Die erste vorsichtige Zustimmung dieser Vorstände ließ ihn hoffen, dass die Bank zumindest eine halbe Million aus einem ihrer Ethikfonds als Venture Capital zuschießen würde. Diese Zusage wäre auch ein sehr positives Signal für viele andere Interessenten.
Doch Rainer brauchte jetzt Ruhe und Zeit, um sich mit den neuen Gegebenheiten und Voraussetzungen seines Geschäftspartners vertraut zu machen. Plötzlich begann er das Verhalten seines Partners aus einer völlig anderen Perspektive zu sehen. Rainer hatte jetzt nicht nur den absoluten Durchblick, wieso sich Max in den letzten Wochen so passiv in seiner Funktion als Teilhaber verhalten hatte, sondern es bestand jetzt auch durchaus die Möglichkeit, dass er gegen die eigene Firma konspirierte. Unwillkürlich kam Rainer nun Angelinas Warnung in den Sinn: Hüte dich vor dem Flug des Falken.

Kapitel 53

Das E-Mail bestand nur aus einem Satz, doch dieser traf Rainer wie ein Faustschlag. Wieder einmal war einer der wenigen und wichtigen Hoffnungsschimmer dahin. 
„Aus Gründen der weltweit äußerst schwierigen Wirtschafts- und Finanzsituation ist es dem Bankhaus ‚Schillermann‘ leider nicht möglich, in Ihr Projekt zu investieren.“
Auch bei der katholischen Kirche zählte Rendite und Performance sichtlich weit mehr als Menschlichkeit und Nächstenliebe. Resignation begann sich in ihm auszubreiten. Wieder musste Rainer eine dieser vielversprechenden Chancen vergessen. Doch so viele gute Karten hatte er nicht mehr im Ärmel, die er noch ausspielen konnte.
Selbst das erhoffte Feedback von Jake war ihm verwehrt geblieben. Als er vor einigen Tagen das Haus der Colemans verlassen hatte, wusste Rainer, dass es zwecklos war, Coleman wieder für seine gute Sache zu motivieren. Die Angst vor einem neuerlichen Anschlag und das Wissen um die eigene Hilflosigkeit saßen bei Jake tief in den Knochen und paralysierten ihn völlig. Die Querschnittslähmung hatte starke Depressionen hervorgerufen. Max hatte leider recht. Coleman war ein psychisches und physisches Wrack. Nur noch sehr wenig erinnerte an den agilen und kämpferischen Mann, der er früher gewesen war. Nicht nur, dass er Rainer die mentale Unterstützung verweigerte, er zog nun sogar ernsthaft in Erwägung, seine Anteile zu verkaufen und dann wieder in die Staaten zurückzukehren. Indirekt hatte er Rainer sogar aufgefordert, auch auf das Angebot des Waffenkonsortiums 


einzugehen und sich das Projekt „Mine-Dedecting“ endgültig aus dem Kopf zu schlagen. 
Obwohl Coleman kein Wort über Henning verloren hat, so hatte Rainer das untrügliche Empfinden, dass Max den in den letzten Wochen rasch gealterten Mann beeinflusst hatte. Mit denselben Argumenten, ja fast mit dem gleichen Wortlaut wie Max hat jetzt auch Coleman versucht, ihm den Verkauf schmackhaft zu machen.
Einsam und verzweifelt saß Rainer nun vor dem E-Mail und wusste nicht, was er tun sollte. War sein Traum, die „Mine-Dedecting“ zu etablieren, bald endgültig ausgeträumt?
Deprimiert nahm Rainer seinen Mantel und verließ das Büro. Das Einzige, wonach ihm jetzt der Sinn stand, war, nach Hause zu gehen und sich sinnlos zu betrinken, um zumindest für einen Abend in seliges Vergessen einzutauchen. 

Kapitel 54

Rainer hatte den alten Mantel seiner Mutter sofort wiedererkannt. 
„Was machst du da?“, fragte er seine Freundin. Seltsam befremdet sah er Angelina zu, deren Oberkörper in einer riesigen, grünen Papiertonne steckte, sodass ihre in alten Herren-Moonboots steckenden dünnen Beine fast einen halben Meter über dem Boden baumelten. Die alte Frau hievte ihren altersschwachen Körper mühsam aus der Tonne. 
„Junge, gut, dass du da bist. Kannst du für mich bitte diesen Packen alter Zeitungen herausfischen? Er liegt ganz unten am Boden der Tonne und meine Arme sind einfach zu kurz.“ 
„Wozu braucht du die denn, diese alten Zeitungen?“, fragte er verwirrt. Angelina Lippen verbreiterten sich zu einem zahnlosen Lächeln.
„Na wozu wohl? Bestimmt nicht zum Lesen“, erwiderte Angelina keck.
„Ich muss meine Schlafstatt mit neuen Zeitungen auspolstern. Das alte Papier ist schon total zerfleddert und durchgelegen.“
„Aber Angelina, wieso sagst du denn nichts? Ich kauf dir eine schöne, bequeme Federkernmatratze. Dann ist dieses Problem doch vom Tisch.“
„Bist du verrückt? Auf dieser teuren Matratze schlafe ich höchstens eine Nacht, dann ist sie gestohlen. Ich kann mich dann unmöglich weiter als einen halben Meter von diesem guten Stück entfernen. Nein, Junge, spar dir dein Geld und hol mir lieber die Zeitungen heraus.“
„Aber die Zeitungen sind uralt.“
„Gerade deswegen will ich die ja haben. Das Zeitungspapier von heute ist keinen Pfifferling mehr wert. Es ist viel zu dünn und reißt leicht. Das heißt, ich muss in spätestens zwei Wochen wieder neues Papier besorgen.“
Beinahe zärtlich strich sie mit der Hand über einen bereits aus der Tonne beförderten Stoß alter Zeitungen.
„Das hier ist noch wahre Qualität, festes, dickes Papier, das dich auch in der kalten Jahreszeit einigermaßen warm hält. Wenn ich Glück habe, dann komm ich mit diesen zwei Packen den Winter durch.“
„Angelina, ich kann dir auch eine dicke Styroporplatte aus dem Baumarkt besorgen. Die hält wirklich warm und die wird dir sicherlich keiner stehlen“, versuchte Rainer, die alte Frau von ihrem Vorhaben abzubringen.
„Ich will aber keine Styroporplatte, sondern die Zeitungen, die da drinnen in der Tonne liegen. Also sei so gut und hol sie mir bitte heraus“, beharrte sie.
„Beeil dich aber, sonst werde ich wieder von den Polizisten erwischt, die das gar nicht gerne sehen, wenn ich die Tonnen durchstöbere.“ 
„Du bist ein störrisches, altes Weib“. Rainer war über Angelinas Sturkopf verärgert. Trotzdem beugte er sich widerwillig in die Tonne hinab. Mit sich und der Welt zufrieden betastete Angelina das alte, vergilbte Papier und roch daran,
„Ich dachte mir gleich, dass diese Zeitungen alt sein müssen. Ich hab’s gleich gerochen, als ich meine Nase in die Tonne steckte“, stellte sie zufrieden lächelnd fest. 
Rainer warf nun auch einen genaueren Blick auf die Journale. Zuoberst lag eine Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen“ aus dem Jahre 1950. Mit zunehmendem Interesse blätterte er nun auch die restlichen Zeitschriften durch, die durchwegs alle aus einer längst vergangenen und dunklen Epoche stammten. Dazwischen fanden sich immer wieder lose Blätter, wie zum Beispiel einige Seiten aus einem Programmheftchen der Oper „Don Giovanni“, die anlässlich der Salzburger Festspiele im Juli 1954 aufgeführt wurde und von Wilhelm Furtwängler dirigiert worden war. Ein loses, vergilbtes Blatt, wo in gestochen scharfer Kurrentschrift ein Rezept zur Zubereitung von Vanillekipferln niedergeschrieben worden war, nicht eingelöste Rationsmarken aus dem Jahr 1945 für Fleisch und Milch, eine unbeschriftete Weihnachtspostkarte in Sepia, auf der zwei singende Engel zu sehen waren, ein abgetrennter Teil eines Schnittmusters, der höchstwahrscheinlich der Ärmel einer Jacke oder Bluse war, oder aber auch ein zerfledderter Taufschein eines gewissen Johann Nepomuk Ferstl, der in der Pfarrkirche St. Gertrud in Währing am 27. Oktober 1898 ausgestellt worden war, kamen zum Vorschein. 
Mit immer größer werdendem Interesse sah Rainer nun auch den zweiten Stoß der alten Zeitungen durch. Verwundert begann er zu fühlen, dass ihm einige dieser Zeitdokumente nicht fremd, sondern beinahe vertraut waren. Unter einer uralten Ausgabe des „Neuen Wiener Tagblattes“ aus dem Jahre 1945 fand Rainer ein zerknittertes, schon ziemlich vergilbtes Blatt einer hektografierten Flugkarte. Ohne ihr weiter Beachtung zu schenken, wollte er sie schon auf den durchgesehenen Stapel legen. Plötzlich las er am unteren Rand der Karte die handschriftliche Notiz in französischer Sprache: „Aufklärungsflug Marseille 3. Juli 1944“.
Diese Schrift kam ihm seltsam vertraut vor und Rainer spürte einen kurzen, aber heftigen Stich in seinem Herzen. Sofort tauchte vor seinem inneren Auge jenes so intensiv geträumte Szenario wieder auf, wo er als Raoul die Lightning geflogen hatte und genau so eine Karte auf einem kleinen Brett an seinem rechten Oberschenkel festgeschnallt war. Als ob es erst gestern gewesen wäre, fühlte er wieder dieses unbeschreibliche Glück, als er in seinem silbernen Vogel durch die Lüfte glitt.
Er hatte sich bereits auf dem Rückweg seines Aufklärungsfluges befunden. Wie so oft war der Himmel fast wolkenlos gewesen und die Freude am Fliegen hatte ihn im wahrsten Sinne des Wortes wieder einmal schweben lassen. 
Zögernd und mit pochendem Herzen wendete Rainer schließlich die kleine Karte. Er wusste bereits, was sich ihm sogleich offenbaren würde. Mit klopfendem Herzen betrachtete er die Rückseite des Blattes. Die Bleistiftzeichnung war zwar schon etwas verblasst, doch ohne den geringsten Zweifel war das darauf abgebildete Porträt Irenes Gesicht. Rainer hatte besonders ihre wunderschönen, grünen Augen in Erinnerung. Nun sah er wieder ihr ganzes Gesicht, das ihm so seltsam vertraut war. Doch irgendwie erinnerte ihn dieses zarte, ovale Antlitz auch noch an jemand anderen. Doch so sehr sich Rainer auch den Kopf zerbrach, er konnte diese Person aber nicht zuordnen. 
Unvermittelt riss ihn Angelina aus seinen Gedanken.
„Junge, warum bist du so still?“
Langsam kehrte Rainer wieder in die Realität zurück.
„Angelina, du wirst es nicht glauben, ich habe gerade eine Flugkarte gefunden, die Raoul aus meinem Traum gehört haben muss“, erwiderte er zutiefst aufgewühlt. 
„Da irrst du dich bestimmt. Sie sieht wahrscheinlich nur sehr ähnlich aus“, versuchte Angelina ihn zu beruhigen.
„Nein, es muss seine gewesen sein. Auf einem seiner vielen einsamen Flüge hat er auf der Rückseite das Gesicht seiner Irene porträtiert. Jetzt erinnere ich mich auch wieder daran, wie sie wirklich aussah.“
„Das ist ja ein seltsamer Fund, Junge!“, erwiderte Angelina erstaunt. 
„Und wie sah sie aus?“ 
„Schön, wunderschön“, flüsterte Rainer und unsägliche Freude erfüllte ihn.
Doch dann wurde er nachdenklich. Grübelnd beobachtete er die alte, blinde Frau, die begonnen hatte, die alten Zeitungen in ihre abgenutzten Plastiksäcke zu stopfen. Er bückte sich zu ihr hinab und half ihr, den letzten Packen der Zeitungen zu verstauen.
„Angelina, willst du mir nicht endlich sagen, wer du wirklich bist? Jedes Mal, wenn ich dir begegne, fühle ich immer intensiver, dass wir irgendwie miteinander verbunden sind. Entweder tauchst du immer dann auf, wenn ein neuer Traum meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, oder dann, wenn ich diese Träume schon fast vergessen habe und du sie mit deinen kleinen Hinweisen erneut in den Mittelpunkt meines Denkens rückst. Wer bist du also wirklich?“, bat er die Bettlerin eindringlich, seine Frage zu beantworten.
Die alte Frau suchte mit ihrer Hand nach Rainers Gesicht. Liebevoll streichelte sie es.
„Ich bin dein guter Stern, Rainer. Solange ich da bin, wird dir nichts passieren. Frag nicht, wer oder was ich bin, sondern gib dich damit einfach zufrieden, dass ich für dich da bin“, erwiderte sie mit gefühlvoller Stimme.
„Aber…“, versuchte Rainer weiter in sie zu dringen.
Angelina legte ihm einen Finger auf seine Lippen und gebot ihm dadurch zu schweigen.
„Nichts aber, es ist wie es ist.“
Rainer wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, weiter zu bohren. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich mit dem Wenigen zufrieden zu geben, was Angelina freiwillig von sich selbst preisgab. Und doch spürte er, dass hinter diesem Wenigen weit mehr war, als er zu erahnen vermochte.
Nachdem alle Zeitungen in den Säcken verstaut waren, wandte sich Angelina an Rainer:
„Junge, ich steh heute ein bisschen unter Zeitdruck. Die Nacht wird kalt und wenn ich nicht rechtzeitig bei meinem Platz im U-Bahnschacht bin, ist er weg und ich muss samt meinen schönen Zeitungen im Freien übernachten.“
Rainer wusste, dass es sinnlos war, sie zu fragen, ob sie bei ihm übernachten wollte. Deshalb fragte er nur:
„Kann ich dich zu deiner Schlafstelle bringen, Angelina?“
„Nein Junge, ich fahr mit der U-Bahn. Damit bin ich schneller als du mit dem schnellsten Flitzer“, lehnte sie sein Angebot dankend ab. 
Rainer wusste natürlich, dass sie schwarz fuhr. Aus seiner Hosentasche beförderte er aber einen 10-Euro-Schein hervor und drückte ihn Angelina in die Hand.
„Da, nimm das Geld für die Fahrkarte, damit du keine Schwierigkeiten mit den Kontrolloren bekommst.“
„Als ob ich die jemals schon gehabt hätte“, erwiderte sie mit verwegenem Lächeln.
„Die Wiener Verkehrsbetriebe sind immer sehr großzügig zu mir und die „Schwarzkappler“ übersehen mich geflissentlich, wenn sie die Fahrausweise überprüfen. Wäre doch verdammt schade um das unnütz hinausgeworfene Geld.“
Verschmitzt steckte sie den Geldschein in ihre Manteltasche und griff nach ihren Plastiktaschen. 
„Wann seh ich dich wieder?“, fragte Rainer. Wie immer erfasste ihn so ein leichter Anflug von seltsamer Wehmut, wenn er sich von ihr verabschieden musste.
„Bald, Junge, bald.“ 
Liebevoll drückte Rainer den knochigen Körper der alten Frau an sich. Wieder einmal stellte er verwundert fest, wie gut sie doch roch. Üblicherweise hatten Clochards ein eher gespaltenes Verhältnis zu Wasser und Seife. Zumeist waren sie von einer scharfen Duftwolke eingehüllt, die man manches Mal schon zehn Meter gegen den Wind riechen konnte. Doch Angelina war anders. Sie roch immer wie eine Frühlingswiese nach Hyazinthen und Maiglöckchen. Sie war eben eine ganz besondere Obdachlose.
Zärtlich löste sich Angelina aus seiner Umarmung.
„Junge, irgendwann brichst du mir noch meine alten Knochen.“
„Verzeih mir, ich wollte dir nicht wehtun“, entschuldigte sich Rainer schuldbewusst.
„Ich weiß, das wolltest du nie“, flüsterte sie wehmütig, während sich ihr Gesichtsausdruck verklärte.
Doch bevor Rainer fragen konnte, wie sie das meinte, war Angelina bereits gegangen. Ziemlich durcheinander sah Rainer der alten Frau noch nach, die sich mit ihrer schweren Last langsam in Richtung U-Bahn-Unterführung vortastete. 
Doch plötzlich blieb sie stehen und wandte sich noch einmal ihm zu.
„Fast hätte ich es vergessen: Du solltest bei dieser komischen Bank nachfragen, wieso sie so plötzlich abgesagt haben.“
Rainer wusste augenblicklich nicht, wovon sie sprach und fragte verwirrt:
„Was meinst du, Angelina?“
„Nun, du weißt schon, diese Bank der Pfaffen. Schulmann, Schliemann oder so ähnlich heißt sie.“ 
„Meinst du etwa Schillermann?“, fragte er erstaunt. Rainer konnte sich nicht erinnern, in ihrer Gegenwart jemals den Namen der Bank erwähnt zu haben.
„Genau die meine ich“, erwiderte sie zufrieden. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, schlurfte sie langsam den Weg zur U-Bahnstation hinunter. 

Angelinas letzte Worte ließen Rainer keine Ruhe. Als er zu Hause angekommen war, rief er sofort bei „Schillermann“ an. Glücklicherweise erreichte er noch einen der beiden Manager und fragte ihn unverblümt, was der wahre Grund ihrer Absage gewesen sei. Der Mann versuchte zuerst, um den heißen Brei herumzureden. Doch Rainer trieb ihn dermaßen in die Enge, dass er schließlich mit der Wahrheit herausrückte. So erfuhr Rainer, dass die Bank ein Mail von einem unbekannten Absender erhalten hatte, in dem sie eindringlichst vor diesem Geschäft gewarnt worden war. Ein Investment konnte unvorhersehbare und ziemlich negative Folgen für das Bankhaus haben. 
Besonders in diesen schwierigen Zeiten einer weltweiten Wirtschaftskrise war das nicht gerade der richtige Ansporn, um vorsichtige Bankmanager zu motivieren. Rainer versuchte auch einige der anderen potenziellen Investoren zu erreichen, die anfänglich ebenfalls sehr interessiert waren und dann plötzlich abgesagt hatten. Zwei dieser ehemaligen Gesprächspartner bekam er ans Telefon. Auch diese Firmen hatten ähnliche Mails mit unbekanntem Absender erhalten. 
Immer mehr erhärtete sich Rainers Vermutung, dass er von jener kriminellen Organisation systematisch sabotiert wurde, die auch Coleman auf dem Gewissen hatte. Er war sich nun überzeugt, dass sich ein Hacker Zutritt zu seinem Firmen-Computer verschafft haben musste. Sicherlich wusste dieser über jede seiner Aktivitäten Bescheid, sodass er eventuelle Zusagen sofort vereiteln konnte.
Die Tragweite dieser neuen Erkenntnis ließ ihn schaudern. Vor nicht einmal drei Tagen hatte er die letzten noch in Frage kommenden Investoren per Mail angeschrieben und sie um eine Entscheidung gebeten. Wenn sich auch die einschüchtern ließen und ablehnten, ging sein Projekt wirklich den Bach hinunter. 
Rainer haderte mit seiner eigenen Unzulänglichkeit. Warum war er nicht schon wesentlich früher darauf aufmerksam geworden, dass man seine Bemühungen immer wieder mit Erfolg durchkreuzte. Die Einsicht war bitter, dass er viel zu blauäugig und unerfahren ans Werk gegangen war. Er hatte die gefährliche Macht und das damit verbundene Netzwerk seiner Gegner ganz einfach unterschätzt. Die Rechnung für seine Einfältigkeit bekam er ja auch prompt präsentiert. Es war fünf vor zwölf. Wenn Rainer nicht sofort mehr Vorsicht und Weitblick, aber vor allem mehr Gerissenheit an den Tag legte, würde er mit seinem Projekt bald wie eine Fliege zwischen zwei Fensterscheiben krepieren. 
Bis in den späten Abend hinein überlegte er, wie seine neue Strategie aussehen konnte. Zumindest wollte er einen minimalen Vorteil aus seiner unverzeihlichen Naivität herausschlagen. Vordergründig würde er diese miesen Typen in Sicherheit wiegen, indem er scheinbar genau so weitermachte wie bisher. Er würde auch weiterhin Firmen per Mail kontaktieren, bei denen er aber ohnehin schon im Vorhinein wusste, dass sie ablehnen würden. Doch dies war ihm nun egal. Wichtig war nur, dass offensichtlich alles beim Alten blieb und er keinerlei Verdacht erregte. Außerdem wollte er sich niemandem mehr anvertrauen. Obwohl Jake und Max nach wie vor seine Partner waren, würde er sie nun aus seinen bevorstehenden Aktivitäten ausschließen. Die beiden waren ihm ohnehin nur noch eine Last. Keiner seiner Geschäftspartner glaubte mehr an das Projekt, sodass ihr Engagement gleich null war. Die beiden warteten nur noch darauf, dass ihm die Luft ausging. 
Die zusätzliche Herausforderung lag nun darin, einen wirklich potenten Investor zu finden, von dem seine Widersacher nichts wussten und auch nichts erfahren durften. Doch alle dafür in Frage kommenden Partner hatte er bereits verloren und die Luft war schon ziemlich dünn geworden. Sollte er Erfolg haben, so würde dieser Geschäftskontakt weder in einem Mail noch in sonstiger schriftlicher Korrespondenz auftauchen. Nicht einmal auf seinem Terminkalender würde er ein Wort vermerken. Bis zur Vertragsunterzeichnung durfte er alle Informationen darüber ausschließlich in seinem Kopf speichern, denn nur so konnte er sicher sein, seine Gegner allesamt vor vollendete Tatsachen stellen zu können. 
Wenn Rainer diesen potenziellen Investor wirklich finden sollte, dann war das die letzte Chance, aus diesem Irrgarten aus Ablehnung und Intrige zu entkommen. 
Erschöpft öffnete Rainer die Terrassentür und trat ins Freie hinaus. Ein heftiger, kühler Wind schlug ihm entgegen. Doch die würzige Luft roch bereits nach Frühling, nach Aufbruch und nach Neubeginn. Er spürte plötzlich, wie diese in ihm ruhende Energie zu erwachen begann. Sie gab seinen zaghaften Hoffnungen mehr und mehr Nahrung. Rainer würde dieses verdammte Geld auftreiben, koste es, was es wolle. Der Zweck heiligt schließlich die Mittel. Gerade für diese Sache war ihm fast jedes Mittel recht, um an sein Ziel zu gelangen. Sieger sterben aufrecht. Und seine „Mine-Dedecting“ war es wert, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen.

Fröstelnd, aber mit einem besonderen Gefühl der Zuversicht ging Rainer wieder in sein behaglich warmes Wohnzimmer zurück. Sein Blick fiel auf die zerknitterte Flugkarte aus der Papiertonne. Als ob sie zerbrechlich wäre, hob Rainer das Blatt behutsam vom Couchtisch hoch und betrachtete es noch einmal. Sofort kamen die Erinnerungen an Irene zurück. Wehmütig zog seine Zeigefingerkuppe die Bleistiftkonturen ihres Gesichtes nach. Nachdem er ihr Antlitz sehr lange betrachtet hatte, legte Rainer die Karte schließlich neben die Konfektschale, in der er die Pfeilspitze aufbewahrte. 
Seufzend wandte er sich ab und schaltete seinen Laptop ein. Während Rainer wartete, bis der Rechner betriebsbereit war, dachte er an alle Frauen, die ihm in seinen Träumen und in seinem Leben etwas bedeuteten und bedeutet hatten. Da war die süße, kleine Elia, noch mehr Kind als Frau, die Ruak so bedingungslos liebte und die seinen letzten Tagen so unverhofft viel Freude, Zauber und Glück bescherte. Ob Maruk wohl nach seiner Rückkehr ins Dorf Anspruch auf sie erhoben und Elia zur Frau genommen hatte? Oder war sie mit Nelis, die hoffentlich ihre schwere Grippe überlebt hatte, zurück in ihr Dorf gegangen? Rainer drückte das schlechte Gewissen. Er hatte sein Versprechen nicht halten können, über seine beiden Augensterne zu wachen. 
Aber auch Irene, deren zierliche Weiblichkeit ihn als Raoul so ungemein erregt hatte und die ihm so wundervolle Wochen der tiefen Verbundenheit und des absoluten Verstehens beschert hatte, bewegte ihn sehr. Ein wenig enttäuscht erinnerte er sich an den Vermerk im Internet, wonach sie schon so kurz nach seinem Tod seinen Verräter heiratete und ihm ein Mädchen gebar, das eigentlich sein Kind hätte sein müssen. 
Doch unangefochten nahm Isabell die zentrale Rolle in seinem Herzen und in seinem Fühlen ein. Sie war nicht nur real, sondern sie verkörperte all das, wonach er sich immer gesehnt hatte. Ihre Schönheit und die weiche Sinnlichkeit eines hingebungsvollen Weibes, aus dessen Herzen ein schier unerschöpflicher Quell von Liebe und Zuneigung strömte, wäre die perfekte Ergänzung in seinem Leben gewesen. Doch anstatt mit ihm einen glücklichen und erfüllenden Lebensweg zu beschreiten, hatte sie zugunsten dieses gefühlsverrohten Triebschweines ihr gemeinsames Glück geopfert.
Und dann gab es auch noch Angelina. Sie war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln und absolut nicht greifbar. Sie war das Rätsel schlechthin. Und da sollte noch einmal jemand sagen, dass die Psyche der Frauen so leicht zu durchschauen sei. Man wurde ganz einfach nicht klug aus diesen unberechenbaren und doch zugleich so wunderbaren Wesen. Frauen denken einfach viel zu unbeständig und launenhaft. Wehe dem, der dieser unbewussten Willkür ausgesetzt ist. Der Arme ist verloren, so wie er selbst.

Kapitel 55

Es war Vollmond. Der wolkenlose Nachthimmel ließ die weißgelbe, irisierende Scheibe mit ihrem matt schimmernden Hof noch heller erscheinen. Sie tauchte die dunkle Seite des Tages in ein gräulich-diffuses, aber auch sehr weiches Licht. Wie so oft in diesen Vollmondnächten war Rainer unruhig. Sein Instinkt sagte ihm, dass er heute Nacht wieder träumen würde. Er überlegte kurz, ob er nicht ganz einfach wach bleiben und diese Fiktion vorüberziehen lassen sollte. Doch die unbestimmte Vorahnung, dass vielleicht gerade dieser Traum eine Schlüsselrolle in seiner Weiterentwicklung einnehmen könnte, ließ ihn schließlich doch zu Bett gehen. Zur Beruhigung hatte er vorher noch zwei doppelte Cognacs zur Brust genommen, die für die nötige Entspannung sorgten und ihm auch ein wenig von seinen Ängsten nahmen. 
Rainer hatte sich nicht geirrt. Mit seinen düsteren Vorahnungen hatte er voll ins Schwarze getroffen, denn bald fand er sich in einem Umfeld wieder, das absolut lebensbedrohend war. 

Kapitel 56

Dichte Rauchwolken hatten Ranolfos nackten und ausgemergelten Körper eingehüllt und entzogen seiner Lunge den lebensnotwendigen Sauerstoff. Unter seinen nackten Füßen wurde die Hitze immer unerträglicher. Flammen züngelten an seinen Beinen empor und er roch sein eigenes verbranntes Fleisch. Der Rauch brannte in seinen tränenden Augen, sodass er sie fest zusammenpressen musste. Instinktiv versuchte er durch heftiges Zerren seiner nackten Arme und Beine, dieser ungeheuren Qual zu entgehen. Doch die Ketten, mit denen er an einen dicken Baumstamm gefesselt war, hielten ihn erbarmungslos fest, sodass es kein Entrinnen gab.
Ranolfo wollte schreien, doch der Knebel in seinem Mund verhinderte jeden Laut. Wie von Sinnen riss er an seinen Fesseln, bis die harten Eisenglieder der Ketten seine Haut aufrissen und er sein Blut die Hände und Beine hinablaufen spürte. Unsäglicher Schmerz übermannte ihn, als sich das Feuer immer tiefer in seine Füße und Beine hineinfraß. Sein Brustkorb schien bersten zu wollen und schmerzte fürchterlich. Während er in panischer Angst versuchte, irgendwie diesem schrecklichen Tod zu entgehen, hörte er durch den immer dichter werdenden Rauch monotonen Trommelwirbel. Doch auch das primitive Grölen der Schaulustigen, die sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollten und sich an seinem Unglück weideten, war nicht zu überhören. 
Plötzlich spürte Ranolfo eine derbe Hand, die sich in sein langes, verfilztes Haar festkrallte und seinen Kopf brutal zurückriss. Für einen kurzen Moment fühlte er das kühle Metall eines Messers an seinem vor Schmerz brennenden Hals. Es war die Hand eines Profis, die diese Klinge führte. Mit einem sicheren Schnitt durchtrennte der Henker seinen Kehlkopf. Ranolfo zweifelte keinen Augenblick, wer hinter diesem Akt der Menschlichkeit steckte und den Henker für seinen raschen Tod bezahlt hatte. Zutiefst dankbar dachte er an sie und ein letztes Mal sah er sie vor sich. Traurig stand sie vor ihm und blickte ihn mit liebenden Augen an.Zum Abschied küsste sie den Geliebten ein letztes Mal mit unendlicher Zartheit auf seine aufgesprungenen Lippen, ehe sie für immer seinem Geist zu entschwinden begann.
Eine heftige Windböe erfasste die züngelnden Flammen des Scheiterhaufens und vertrieb für einen Moment die dichten Rauchschwaden vor seinen sterbenden Augen. In seinem Todeskampf blickte er noch einmal in die aufjohlende Menschenmenge und traf auf die triumphierenden, stahlblauen Augen seines Widersachers, der ihn mit einem kalten Lächeln anblickte. 
Ranolfos fest zu einer Faust verkrampfte Hand öffnete sich im Todeskampf und der kostbare Schatz, den er bis zum Schluss darin verborgen hatte, fiel hinab in die gierige Feuersbrunst. Plötzlich spürte er, wie sein Geist sanft und leicht aus seinem gemarterten Leib zu entschwinden begann, der nun für ihn keine Bedeutung mehr hatte. Zusammen mit seiner Seele hatte er sich aus ihm gelöst. Ranolfo fühlte diesen alles verzehrenden Schmerz nun nicht mehr. Langsam stieg sein Bewusstsein auf und schwebte friedlich über seinem brennenden und von dunklen Rauchschwaden eingehüllten Leichnam. Der Kopf war unnatürlich zur Seite gekippt. Der Rest von dem, was einmal sein Körper war, hing zusammengesunken und reglos in den glühend heißen Ketten, während das Feuer immer mehr von ihm Besitz ergriff. Ein heller, blauer Lichtkegel hüllte Ranolfos Seele ein, in dem er spiralenförmig und leicht wie eine Feder immer höher und höher schwebte, bis er sich schließlich im Nichts auflöste…

Kapitel 57

Rainer wollte laut schreien. Doch kein Laut kam über seine geöffneten Lippen. Panisch vor Angst riss er die Augen auf und griff an seinen verschlossenen Hals. Er konnte nicht atmen und seine Lungen schmerzten heftig, da die Sauerstoffzufuhr wie durch eine imaginäre Klappe blockiert war. Rainer transpirierte aus allen Poren und sein Angstschweiß bildete kleine Rinnsale über seine Schläfen in den Hals hinab. Für einen Moment dachte Rainer, dass sein Ende nun wirklich gekommen war. Doch im letzten Moment legte sich die Blockade und er konnte wieder tief durchatmen. Dieses wunderbar erlösende Gefühl von Erleichterung, noch nicht sterben zu müssen, dämpfte nun ein wenig seine Panik. 
Rainer verschluckte sich und wurde das Opfer eines heftigen Hustenanfalls. Durch die massive körperliche Erschütterung fiel er polternd aus dem Bett. Die harte Landung auf dem Boden riss Rainer nun gänzlich aus seinem Halbschlaf und ließ ihn rasch wieder zu sich kommen. Laut keuchend und total verstört rappelte er sich hoch und setzte sich zitternd auf den Rand seines verschwitzten und völlig zerwühlten Lagers. 
Rainer war nun überglücklich, diesem grauenvollen Tod auf dem brennenden Scheiterhaufen entkommen zu sein. Noch nie hatte er etwas so Furchtbares erlebt. Seine Empfindungen waren so echt und authentisch gewesen, dass ihn jeder Gedanke daran schaudern ließ. Selbst ein Spanferkel hatte es da noch besser, denn es spürt nichts mehr, wenn es durchgebraten wird. Rainer atmete erleichtert durch. 
Konnte es denn möglich sein, dass die Schmerzen in seinen malträtierten Extremitäten Nachwirkungen dieser Schreckensvision waren? Fieberhaft begann Rainer zu überlegen, ob diese Schmerzen nicht vielleicht doch nur auf eine ganz banale Überanstrengung in den letzten Tagen zurückzuführen waren. Er zermarterte sich den Kopf, um eine plausible Erklärung dafür zu finden. Doch seine einzige körperliche Anstrengung war das gestrige Herausholen der alten Zeitungen aus dem Papiercontainer. 
Rainer war völlig durchgeschwitzt. Langsam stand er auf, ging ins Bad und drehte den Wasserhahn in der Dusche auf. Während err wartete, bis das Wasser heiß wurde, betrachtete er sein erschöpftes Gesicht im Spiegel. Erschrocken blickte Rainer sein Spiegelbild genauer an, um jeden Irrtum auszuschließen. Sein Hals leuchtete ihm feuerrot entgegen. Das konnte doch nicht wahr sein. Seine normal eher blasse Haut hatte die Farbe von gekochtem Hummer angenommen. Besonders dieser dunkelrote, diagonale Strich in Höhe seines Kehlkopfes gab ihm zu denken. Aber auch seine Hand- und Fußgelenke waren mit unzähligen Hämatomen übersät.
Die Erkenntnis, dass er jetzt langsam, aber sicher verrückt wurde, wurde Rainer immer mehr zur Gewissheit. Konnte es sein, dass er unter einer angehenden Schizophrenie litt? Rainer überlegte, ob er nicht ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Doch schnell kam er von dieser Idee wieder ab. Diese Seelenklempner würden in ihm nichts anderes als ein interessantes Versuchskaninchen sehen und ihn nur mit Psychopharmaka vollstopfen. Rainer wollte keinesfalls in irgendeine Klapsmühle eingewiesen werden. Für die „Mine-Dedecting“ wäre dieser Umstand alles andere als ein gutes Renommee, zumal ja schon einer der Vorstände in psychiatrischer Behandlung war.
Nein, der einzige Mensch, der ihm in dieser furchtbaren Situation helfen konnte, war Angelina. Sie verstand ihn und wusste, dass er kein Spinner war. 
Nachdem er geduscht hatte, zog er seine ältesten Klamotten an und verließ das Haus.
Er musste Angelina unbedingt finden. Rainer brauchte sie jetzt beinahe dringender als die Luft zum Atmen. Sie musste ihm bestätigen, dass er nicht verrückt war.
Doch wo war sie zu finden? Er hatte absolut keine Ahnung, in welcher U-Bahn-Station sie ihr Lager aufgeschlagen hat. Der Ärger über sich selbst, nicht gefragt zu haben, wo sie schläft, brachte ihn fast zur Verzweiflung.
Doch dann konnte er sich dunkel an eine Dokumentation im Fernsehen erinnern, in der die Problematik der Obdachlosen Thema gewesen war. In der Doku wurden die beliebtesten Schlafstätten der Wiener Sandler gezeigt, die besonders in den Wintermonaten stark frequentiert wurden. Zu den Favoriten zählten die U-Bahnschächte beim Schottenring, am Karlsplatz und bei der Landstraße.
Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte Rainer, dass die ersten U-Bahnen bereits in Betrieb sein mussten. Ohne Schwierigkeiten würde er daher gleich den Stationsbereich mit den weit verzweigten U-Bahnschächten absuchen können. 
Schon nach kurzem Suchen fand er in einer stillen Ecke einige von Angelinas Leidensgenossen zusammengekauert liegen. Rainer versuchte, seinen Widerwillen zu ignorieren und ging auf die kleine, schlafende Gruppe zu. Im Kegel seiner eingeschalteten Taschenlampe sah er einige aufgeschreckte Ratten in einem wüsten Durcheinander von zerfledderten Zeitungen, vollgestopften Plastiksäcken, leeren Schnapsflaschen und plattgedrückten Tetrapackungen hin- und herflitzen. In diesem Chaos konnte Rainer etwa sieben bis acht in Lumpen gewickelte Menschen auf gestapelten Zeitungspacken schlafen sehen.
Das Licht der Taschenlampe fiel auf einen furchtbar hässlichen Hund, dem ein Auge und die Hälfte eines Ohres fehlten. Aber nichtsdestotrotz fixierte der Köter mit seinem funktionstüchtigen Auge den sich nähernden Fremden. Gefährlich knurrend machte er Rainer aufmerksam, dass es für ihn ratsam war, nicht weiterzugehen. Rainer blieb daher in sicherer Entfernung stehen. Der Hund bewachte seinen Herrn. Sicherlich würde das Tier sofort angreifen, sollte Rainer seinem Herrn zu nahe kommen.
Sein bedrohliches Bellen weckte schließlich einen bärtigen, völlig verdreckten und ziemlich streng riechenden Mann.
„Halt die Klappe, Whisky“, fuhr der etwa 50-Jährige das Tier schlaftrunken an. Er zog den Hund an dem dünnen, um den Hals gebundenen Strick zu sich heran. Erst jetzt hatte Whisky zu bellen aufgehört. Diese Gelegenheit ließ sich Rainer nicht entgehen und rief dem Mann aus sicherer Entfernung zu: 
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Meister!“
Blinzelnd blickte der Clochard mit seinen geschwollenen, noch im Alkohol badenden Augen in den Lichtkegel von Rainers Taschenlampe. 
„Bist du ein Kieberer?, fragte der Mann misstrauisch und versuchte, sich mit seiner Hand gegen das grelle Licht zu schützen.
„Nein, ich bin kein Polizist“, erwiderte Rainer ein wenig unsicher.
„Dann schleich dich, sonst reißt dir mein Hund deinen sauberen Arsch auf.“
„Hören Sie, ich will Sie ja nicht stören. Ich habe ja nur eine kurze Frage“, fuhr Rainer nun ein wenig beherzter fort.
„5 Euro“, schnitt ihm der Mann das Wort ab.
Rainer hatte keine Ahnung, was er meinte und blickte den Obdachlosen verdutzt an.
„Alter, jede Frage kostet 5 Euro, verstanden?“
„Aber das kann doch nicht Ihr Ernst sein“, erwiderte Rainer ungläubig.
„Whisky, fass dir das feine Arschloch“, forderte der Clochard seinen Hund auf, der bereits in Angriffsposition wartete, dass sein Herr den Strick losließ. 
„Ist o.k., Sie bekommen die 5 Euro.“ 
Rasch holte Rainer seine Geldspange hervor, zog die Geldnote heraus und streckte sie dem Mann entgegen.
„Los Whisky, hols“, befahl der Sandler seinem Hund, der umgehend aufsprang und nun friedlich auf Rainer zutrottete. Beinahe zärtlich nahm er mit seinem Maul Rainer die Geldnote aus der Hand und brachte sie seinem Herrn, der sie zufrieden einsteckte.
„Also, was hast du denn auf dem Herzen, Burschi?“, fragte der Obdachlose nun mit gönnerhaftem Entgegenkommen. 
„Ich suche eine Obdachlose, die Angelina heißt. Weißt du, ob sie hier irgendwo logiert?“ Der Mann dachte kurz nach. Doch dann schüttelte er verneinend seinen Kopf. Plötzlich trat er nicht gerade sanft seinem Nachbarn ins Gesäß, der erschrocken aus dem Schlaf fuhr.
„Wiggerl, kennst du eine Alte, die hier in diesem Grandhotel hier logieren soll?“
Rainers Aufmerksamkeit war nicht entgangen, dass sich der Hundebesitzer über seine Ausdrucksweise lustig machte. Doch sein Kamerad war noch viel zu benommen, um den Spott zu erkennen. 
„Angelina? Welche Angelina? Hier gibt es keine Angelina“, erwiderte der noch orientierungslose, schlaftrunkene Mann. 
Aufgeschreckt durch den Lärm setzte sich nun auch eine Frau auf, der ihre wirre Haarpracht zu Berge stand. Die fette Mittdreißigerin, der der Alkohol bereits eine blutunterlaufene Nase ins Gesicht gezeichnet hatte, mischte sich nun in das Gespräch ein. 
„Casanova, hier gibt es keine Angelina.“
Langsam hievte sich die Frau von ihrem Zeitungspapierlager und einer alten, von Motten zerfressenen Cashmeredecke hoch. Noch unter dem Einfluss von zuviel Alkohol schlurfte sie auf Rainer zu und betrachtete ihn interessiert: 
„Ich kenne hier alle Leidensgenossinnen. Doch eine Angelina ist mir fremd.“ Keck blickte sie zu dem großen Mann empor und lächelte verwegen.
„Aber ich heiße Esmeralda. Vielleicht hättest du ja für mich Verwendung, wenn du deine Angelina nicht finden solltest.“ 
Die Obdachlose griff unter ihre riesigen Hängebrüste und hob sie Rainer entgegen, während sie ihr breites Becken in einer sehr eindeutigen Pose vor und zurück bewegte. Fassungslos blickte Rainer auf dieses ordinäre Weib hinab, das laut lachend ihre schlechten Zähne zur Schau stellte. 
„Normalerweise verlange ich einen Zwanziger. Aber weil du so niedlich aussiehst und nicht so stinkst wie diese Hurenböcke dort, kannst du mich auch für einen Zehner haben“, setzte sie schließlich noch eines drauf.
Die beiden Männer grölten vor Lachen, als sie das eindeutige Angebot dieser distanzlosen Vettel hörten. Diese weit unter der Gürtellinie liegenden Aussagen entsprachen voll und ganz ihrer Kragenweite. Angewidert von so viel Schamlosigkeit wandte sich Rainer ab und ging frustriert in den belebten Teil des U-Bahnbereichs zurück.
Mit der U-2 fuhr er weiter zum Schottenring, wo ebenfalls ein beliebter Treffpunkt für Obdachlose war. Doch nun war Rainer bereits vorgewarnt und hielt schon den Fünfer einsatzbereit in der Hand. Das traurige Ambiente der eng aneinander gekuschelten Obdachlosen unterschied sich nicht im Geringsten von jenem am Karlsplatz. Vorsichtig stieß er mit seinem Fuß gegen einen der Schlafenden. Nach einigen Versuchen wurde dieser endlich wach und blickte Rainer verwirrt an. 
„Schläft hier bei euch eine Angelina?“, kam Rainer gleich auf den Punkt. Er hatte begriffen, dass Höflichkeit hier völlig fehl am Platz war.
Als der Obdachlose den Fünfer sah, wurde er plötzlich hellwach. Er dachte kurz nach und sagte: 
„Nein, eine Angelina gibt es hier nicht.“ 
Wegen des Geldes engagiert weckte er seine anderen Kumpels auf. Doch auch ihnen war Angelina unbekannt. Obwohl Rainer hier nichts mehr ausrichten konnte, drückte er dem Mann den Fünfer in die Hand. Rainer war überzeugt, dass sein Geld sofort beim nächsten Branntweiner in flüssige Nahrung umgesetzt werden würde, doch das war ihm egal.
Nun fuhr er weiter zur Landstraße und zuletzt führte ihn sein Weg noch in die „Gruft“, ein Obdachlosenheim im 7. Bezirk. Doch niemand kannte seine Freundin Angelina. 
Nach mehr als vier Stunden gab Rainer seine Suche auf. Deprimiert fuhr er mit der U-Bahn wieder zum Karlsplatz zurück und ging durch den Resselpark. 
Suchend hielt Rainer nach Angelina Ausschau. Sie hier zu finden, war seine letzte Hoffnung. Als er sie sah, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Fest in ihren warmen Mantel gewickelt saß sie mit verschränkten Armen und Beinen auf ihrer Bank und stierte ins Leere. Rainers Erleichterung war so groß, dass er auf sie zustürmte und ihr freudig erregt zurief: 
„Angelina, da bist du ja endlich! Ich hab dich schon überall gesucht.“ 
Der leichte Vorwurf in seiner Stimme war aber nicht zu überhören.
„Hallo Junge. Wieso suchst du mich? Du weißt doch, dass ich immer da bin, wenn du mich brauchst.“ 
„Aber du warst nicht da, als ich dich brauchte“, erwiderte er fast trotzig.
„Komm schon, werd jetzt nicht kleinlich. Eine alte Frau wie ich ist schließlich kein D-Zug. Du weißt doch, dass die U-Bahn erst um 5 Uhr in Betrieb geht. Und von Meidling bis hierher wäre es doch wirklich ein zu weiter Fußmarsch gewesen.“ 
„In Meidling warst du also. Ich hab dich in allen großen U-Bahnstationen gesucht. Doch niemand kennt dich dort.“ 
„Junge, anscheinend weißt du nicht, dass es zwischen Obdachlosen und Obdachlosen feine Unterschiede gibt. Ich zähle sozusagen zu den elitären Obdachlosen, die nicht unbedingt mit dem letzten Ruß auf eine Ebene zu stellen sind. Natürlich kennen mich die von der untersten Lade nicht, weil ich den Kontakt zu diesen Leuten eher meide. Ich hab da so meine eigenen Plätzchen, wo ich übernachte und relativ ungestört bin.“
Rainer betrachtete sie skeptisch von der Seite. Irgendwie glaubte er ihr nicht so ganz, was sie ihm auftischte. 
„Bist du dir ganz sicher, dass du mir keinen Bären aufbindest?“, erwiderte Rainer zweifelnd.
Entrüstet blickten ihn ihre blinden Augen an:
„Habe ich dich schon jemals angelogen, Junge?“
„Nein, angelogen hast du mich nicht, doch du bist auch nicht immer mit der ganzen Wahrheit herausgerückt“, erwiderte er mit vorwurfsvollem Unterton. 
„Das, was für dich wichtig war, habe ich dir nie vorenthalten. Alles andere braucht dich nicht zu kümmern“, erklärte sie schnippisch.
Rainer spürte, dass Angelina ein wenig eingeschnappt war. Um die Situation zu entspannen, fragte er sie: 
„Wollen wir nicht einen Kaffee trinken gehen? Der würde uns jetzt beiden gut tun.“ Sofort hellte sich Angelinas Miene wieder auf.
„Eine ausgezeichnete Idee, Junge. Ein großer Brauner mit einem Schuss Slibowitz wäre jetzt genau das Richtige für mich“, pflichtete sie ihm wohlwollend bei.
„O.k., dann gehen wir in das kleine Café neben meiner Wohnung. Die machen einen ziemlich guten Kaffee.“ Rainer wollte auf keinen Fall mehr in dieses schmierige und furchtbar verrauchte Lokal in der U-Bahnunterführung. Ohne auf ihre Reaktion zu warten, zog er sie hoch und führte sie in das nahe gelegene Lokal. 
Als die beiden das Lokal betraten, traf ihn sofort der angewiderte Blick der Besitzerin, als sie Angelina an seiner Seite sah. Doch Rainer knallte einen Zehner auf die Theke und verschwand mit Angelina ins hinterste Eck des Gastraumes. Nachdem die Kellnerin ihre Bestellung aufgenommen hatte, fragte Angelina nun wieder freundlicher: 
„Nun, was gibt es denn so Dringendes, dass du mich in jeder Ecke Wiens gesucht hast?“
Seufzend lehnte sich Rainer in die kleine Sitzbank zurück und überlegte, wo er am besten beginnen sollte:
„Angelina, der Tipp von dir war gut, sich mit Schillermann noch einmal in Verbindung zu setzen. Alle von mir angeschriebenen Investoren, die Interesse gezeigt hatten, wurden mit Droh-Mails attackiert, sodass sie sich wieder zurückgezogen haben. Obwohl ich jetzt ziemlich sicher weiß, woher der Wind weht, und ich mich nun danach richten könnte, sind mir die Investoren ausgegangen. Mein Problem ist, dass ich in den nächsten Wochen unbedingt einen wirklich potenten Investor auftreiben muss, sonst springen mir die Russen auch noch ab. Ich sitze momentan echt in der Scheiße und weiß nicht, was ich tun soll. Nicht nur diese verdammte Weltwirtschaftskrise lähmt die Fonds in ihren Investitionen, sondern auch die Drohgebärden dieser Waffenmafia lassen sie zurückschrecken.“
Angelina hörte ihm schweigend zu, während sie vier Löffel Zucker in ihrem Kaffee auflöste und anschließend auch noch ihren doppelten Slibowitz hineinleerte. Genussvoll nahm sie einen kräftigen Schluck und lehnte sich dann zufrieden zurück.
Angelina begann zu überlegen. Rainer wusste, dass sie in solchen Momenten ganz woanders war und ihm nicht mehr zuhörte. Plötzlich schienen ihre blinden Augen aufzuleuchten und lächelnd wandte sie sich ihm zu:
„Junge, mach dir keine zu großen Sorgen. Es gibt immer einen Ausweg. Ich weiß, du wirst noch rechtzeitig den richtigen Investor finden.“ 
Mitleidig lächelte Rainer seine Freundin an.
„Angelina, es freut mich, dass du so optimistisch bist und an mich glaubst. Doch mittlerweile befürchte ich, dass ich niemandem mehr begegnen werde, der mir rechtzeitig und aus freien Stücken seine Millionen anvertraut.“
„Du solltest nicht so pessimistisch sein und dich nicht unterschätzen. Denk gut nach, du kennst einen Menschen, der dir weiterhelfen könnte.“
„Und wer soll das sein? Ich bin doch in Gedanken schon hunderte Male meine Freunde und Geschäftspartner durchgegangen. Alle, die für mich interessant gewesen wären, haben mir längst abgesagt.“ 
„Junge, glaub mir, es gibt da noch jemanden, der sozusagen der Schlüssel für dich ist“, erwiderte Angelina mit allem Nachdruck. 
„Und hat dieser Typ auch das nötige Geld, um in die „Mine-Dedecting“ zu investieren?“, fragte Rainer zweifelnd. 
„Es ist nicht immer nur das Geld, das dir auf die richtige Schiene verhilft. Oft genügt schon ein kleiner Wink des Schicksals“, erwiderte die alte Frau geheimnisvoll.
„Kannst du mir denn nicht sagen, um wen es sich handelt?“
„Junge, ich hab absolut keine Ahnung, wer es ist. Ich weiß nur so viel, dass es diesen Menschen gibt und er dir zum richtigen Zeitpunkt begegnen wird. Du musst nur darauf achten, dass diese Chance nicht ungenutzt an dir vorübergeht.“
Rainer maß Angelinas wohlwollender Prophezeiung zwar nicht allzu viel Bedeutung bei, doch er wollte ihren Ratschlag beherzigen und nahm sich vor, genauer auf die Menschen zu achten, die ihm in nächster Zeit über den Weg laufen sollten.
Ein langer Moment des Schweigens trat ein. Rainer konnte förmlich spüren, wie sich Angelinas sechster Sinn sensibilisierte. Sie suchte nach seiner Hand und drückte sie zärtlich.
„Junge, da ist doch noch etwas, was dir am Herzen liegt, oder nicht?“
Rainer musste lächeln. Wie gut es doch tat, sie zu kennen. Angelina wusste immer, wie es um ihn stand. Liebevoll erwiderte er den Druck ihrer kalten Hand und seufzte laut auf. 
„Angelina, der eigentliche Grund, wieso ich dich gesucht habe, ist ein ganz anderer.“
„Ich dachte mir schon, dass die Information über deine neuen geschäftlichen Erkenntnisse nicht der wirkliche Anlass war, dass du so dringend mit mir sprechen wolltest.“
Bedrückt blickte Rainer in das weise Gesicht seiner alten Freundin.
„Heute Nacht hat mich wieder ein besonders furchtbarer Albtraum heimgesucht. Dieses Mal starb ich am Scheiterhaufen. Dieses grauenvolle Erlebnis war so intensiv und real, dass ich mich nach dem Erwachen kaum mehr fangen konnte. Dieser Traum hat mich dermaßen mitgenommen, dass ich langsam an meinem Verstand zu zweifeln beginne. Als ich endlich zu mir kam, brannte mein Hals wie die Hölle. Ich bekam keine Luft mehr und meine Arme und Beine schmerzten dermaßen, dass ich immer noch glaubte, mit schweren Ketten an diesem Pfahl festgebunden zu sein. Ich vermute fast, dass ich an einer Bewusstseinsspaltung leide.“
Ohne Rainer zu unterbrechen, hörte Angelina ihm aufmerksam zu. Voller Mitgefühl streichelte sie seine Wange und erwiderte zuversichtlich:
„Junge, du wirst weder verrückt noch bist du schizophren. Es ist eben dein Karma, das du erfassen und verstehen musst und dem du nicht ausweichen kannst. Jeder von uns hat in seinem Leben eine Aufgabe. Doch viele wissen das nicht einmal und leben nur orientierungslos und unwissend in den Tag hinein. Du bist ein Wissender. Das ist ein Geschenk, doch zugleich auch eine schwere Bürde, die dir von der Vorsehung auferlegt wurde. Du wurdest lange und intensiv auf deine Aufgabe vorbereitet. Dein Schicksal ist, dass du für etwas Großes bestimmt bist. Alle deine Träume und Sorgen bringen dich auf deinem steinigen Weg weiter. Sie erscheinen dir jetzt wie eine schwere, ja viel zu schwere Last, aber sie weisen dir doch deinen Weg. Nur mit diesem Wissen wirst du die richtigen Schritte setzen können.“
„Aber wieso gerade ich, Angelina? Wieso musste ausgerechnet mich dieses Los treffen?“, haderte Rainer mit seinem Schicksal. Liebevoll lächelte sie ihn wissend an.
„Weil es die Urmutter eben so will. Soviel kann ich dir versichern, du bist ein Auserwählter, ein Reisender zwischen den Zeiten und ein Mann mit besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten, der es wert ist, ein Liebling der Götter zu sein.“
Angelina nippte nachdenklich an ihrer Tasse. Der Alkohol hatte ihr ein zartes Rot auf die blassen Wangen gezaubert.
„Glaubst du das denn wirklich, Angelina?“ 
„Ich glaube es nicht nur, ich weiß es, Junge“, sagte sie mit einer Sicherheit, die Rainer ahnen ließ, wie wissend sie war.

Rainer begleitete Angelina noch bis zur U-Bahn, ehe er sich von ihr verabschiedete. Zum Abschied drückte er seine Freundin noch einmal liebevoll an sich und atmete ihren wundervollen Wiesenblumenduft ein. Die Menschen, die an ihnen vorübereilten, blickten das ungleiche Pärchen verwundert an. Doch Rainer stieß sich nicht daran. Er wusste, Angelina war etwas ganz Besonderes. Für ihn hatte es keine Bedeutung, dass sie blind war, keine Zähne mehr besaß und der Prototyp einer Obdachlosen zu sein schien.
Ehe sie ging, mahnte sie Rainer noch einmal: 
„Und du versprichst mir, dass du unter allen Umständen diesen Traum weiterträumen wirst, egal wie furchtbar das noch werden könnte?“
„Ja, meine Liebe, ich werde versuchen dranzubleiben und dir über jede Einzelheit genau berichten.“ 
Zufrieden nickte sie.
„O.k., dann bin ich ja beruhigt.“ 
Langsam wandte sie sich ab und tastete sich vorsichtig an der Wand weiter. Rainer sah ihr wie immer, wenn sie sich voneinander trennten, traurig nach. Fast hätte er vergessen, die Frage zu stellen, die ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf ging. 
„Angelina, was ist eigentlich dein Karma?“, rief er ihr neugierig nach.
Die alte Frau verharrte reglos. Dann drehte sie sich wieder um. Rainer schien es für einen kurzen Moment, als ob sie ihn ganz genau sehen konnte, obwohl sie mit ihrem Geist weit weg zu sein schien. 
„Mein Karma ist es, über dich zu wachen.“
Dann drehte sie sich wieder um und verschwand in der hektischen Menschenmenge.

Kapitel 58

Vor dem imposanten Ringstraßen-Kaffeehaus fand Max endlich einen Parkplatz. Normalerweise machte es ihm immer großen Spaß, in diesem gediegenen Lokal ein, zwei Moccas zu trinken und dabei die jungen und teilweise recht hübschen Studentinnen zu betrachten, die von der nahe gelegenen Universität hierher kamen, um eine Freistunde zu überbrücken oder sich mit anderen Mädels und Freunden zu treffen. In seiner Fantasie malte er sich dann oft die abwegigsten Szenarien aus, wie er diese taufrischen und unverbrauchten Frauen festbinden und mit seiner Peitsche Mores lehren oder sie zum Oralverkehr zwingen würde. 
Doch heute hatte sein Besuch hier absolut nichts mit seinen erotischen Wunschvorstellungen zu tun. Man hätte sein heutiges Erscheinen eher als Canossagang bezeichnen können. Max war gestern Abend gerade auf das Angenehmste damit beschäftigt gewesen, Ekaterina gefügig zu machen, als sein Geschäftshandy läutete. Unwillig hatte er nach dem Handy gegriffen und sich ziemlich barsch gemeldet. Doch als Max die Stimme von einem der beiden Agenten vernommen hatte, die für diese kriminelle Organisation arbeiteten, änderte sich seine genervte Stimme schlagartig und sein Ton wurde ziemlich kleinlaut, ja beinahe unterwürfig. Da derartige Typen prinzipiell nie am Telefon zur Sache kommen, wurde er für den nächsten Vormittag in dieses Café zitiert. 
Seine Freude, mit Ekaterina weiterzuspielen, war natürlich schlagartig dahin, sodass Max ziemlich frustriert nach Hause fuhr. 
Aber auch Isa hatte nicht gerade dazu beigetragen, seine schlechte Stimmung zu heben. Als er das Wohnzimmer betrat, sah er sie am Schreibtisch sitzen und einen Stoß Hefte korrigieren. Verwundert blickte sie hoch und ihre Freude hielt sich in Grenzen ihn zu sehen.
„Ist etwas passiert? Ich habe dich nicht vor Mitternacht erwartet.“ 
„Anscheinend hast du vergessen, dass ich auch noch hier wohne. Manchmal ist es mir eben ein Bedürfnis, schon ein bisschen früher nach Hause zu kommen und den Abend mit meiner Familie zu verbringen. Irgendwann hat man genug, ständig über einem Berg von Akten zu brüten“, log Max ohne mit der Wimper zu zucken. 
„Doch wie ich sehe, bin ich nicht besonders willkommen“, fuhr er eingeschnappt fort, nachdem Isabell nichts erwidert hatte.
Sie kannte Max viel zu gut, als dass sie nicht genau gewusst hätte, dass etwas vorgefallen sein musste, was ihm total gegen den Strich ging. In solchen Situationen war es besser zu schweigen, denn sonst würde er jede Gelegenheit zum Frustrationsabbau nutzen und einen Streit vom Zaun brechen.
„Wo ist denn Lisi?“ 
Erneut blickte Isabell von ihrem aufgeschlagenen Heft auf und erwiderte verblüfft:
„Es ist zehn Uhr abends und sie schläft schon seit zwei Stunden. Anscheinend hast du vergessen, dass morgen Schule ist.“
„Ja, stimmt. Ich bin schon total in Wochenendstimmung“, versuchte Rainer sich herauszureden. Sein Blick war auf die am Esstisch liegenden Unterlagen gefallen.
„Wie ich sehe, hast du dir schon die Offerte des Grundstücksmaklers angesehen.“ 
„Ja, ich hab sie mir kurz durchgeschaut.“
„Und, was sagst du dazu?“
„Nun, auf den ersten Blick gefällt mir das etwas kleinere Grundstück mit dem Palmenhain zum Strand hinunter am besten. Es liegt nicht so im Zentrum, sondern eher ein bisschen abseits. Dort wird es sicherlich etwas ruhiger sein als im Zentrum. Wenn wir dort ein kleineres, aber dafür sehr exquisites Hotel hinstellen, dann würden wir damit sicherlich elitärere Zielgruppen und nicht Touristen aus den untersten Schichten ansprechen.“ 
Das war nicht unbedingt das, was Max hören wollte. Ihm schwebte eher ein großes Grundstück mit einer weitläufigen Hotelanlage von ca. 250 Zimmern vor. Mit mindestens zwei großen Pools, einer Disco, Minigolf- und Tennisplatz, Cocktailbars und all den anderen kleinen Annehmlichkeiten, die von der breiten Masse gewünscht werden. Max wollte kein Pensionistenheim für betuchte Altersschwache. Sein Projekt war auf junge, energiegeladene Menschen ausgerichtet, die mitten im Leben standen. Außerdem träumte er von attraktiven Thaimädchen in äußerst knapp sitzender Dienstkleidung, die so manches Männerherz höher schlagen lassen würden.
„Nun, darüber, welches Grundstück für uns das Idealste wäre, können wir ja kommendes Wochenende noch in aller Ruhe sprechen.“ 
Max war zuversichtlich, dass es ihm gelingen würde, Isa für seine Vorstellungen zu erwärmen. 
Max bereute es nun, dass er sich durch dieses unerwartete Telefonat mit dem Rüstungstypen emotional dermaßen hatte beeinflussen lassen. Viel zu schnell war er danach von Ekaterina abgezogen. Schließlich hatte er ja nichts zu befürchten, um sich so einfach durch eine simple Gesprächseinladung ins Bockshorn jagen zu lassen. Erneut spürte Max seine unbefriedigte Geilheit wieder hochsteigen und er überlegte ernsthaft, noch einmal zu Ekaterina in die Stadt zurückzufahren. Doch es war bereits nach 22 Uhr. Bis er dann wieder nach Hause gekommen wäre, wäre sicherlich schon fast die ganze Nacht vorüber gewesen. Er wollte aber morgen zu diesem Termin unbedingt ausgeschlafen sein, um einen kühlen Kopf zu bewahren.
Wohlwollend betrachtete Max seine Frau, die sich wieder auf ihre Hefte konzentriert hatte. Im Notfall müsste er heute eben auch mit ihr vorliebnehmen. Obwohl der Sex mit Isa für ihn ziemlich langweilig war, würde er bei ihr jetzt zumindest den überschüssigen Druck ablassen können. Außerdem war es ohnehin wieder einmal höchste Zeit, sie wieder einmal ordentlich durchzuputzen. Es musste jetzt schon über vier Wochen her, dass er mit ihr geschlafen hatte. 
Mit verwegenem Lächeln war er hinter seine Frau getreten und begann, zärtlich ihre Schultern zu massieren. Da Isa jedoch nicht auf seine Gunstbeweise reagierte, glitten seine Hände unter ihre Achseln und umfassten ihre Brüste, die er gierig zu kneten begann.
Genervt legte sie den roten Filzschreiber zur Seite und schob vehement seine Hände von ihren Brüsten.
„Max, du siehst doch, dass ich arbeite! Ich muss diesen Stoß Hefte bis morgen verbessert haben. Stör mich also jetzt bitte nicht.“
Diese Abfuhr hatte gesessen. Unwirsch trat Max wieder vor den Schreibtisch und fuhr sie zornig an:
„Was sollen denn diese Kinkerlitzchen? Wir waren schon seit Wochen nicht mehr miteinander im Bett. Schließlich bin ich ein Mann, der nun einmal Sex braucht. Oder bist du schon so frigide, dass du darauf verzichten kannst?“
Isabell ließ sich durch seine schroffe Anklage nicht einschüchtern.
„Was willst du eigentlich von mir? Dein Anzug riecht wie üblich nach diesem

aufdringlichen Parfüm deiner kleinen Nutte, dass mir speiübel wird. Glaubst du denn allen Ernstes, ich mache dort weiter, wo sie gerade aufgehört hat?“
Für einen Moment verschlug es Max die Sprache. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Isa wusste, dass Ekaterina immer noch nicht abserviert war. Doch schnell hatte er sich wieder gefasst und erwiderte scharf:
„Was soll dieser Blödsinn? Möchtest du mir etwa schon wieder unterstellen, dass ich fremdgehe?“
„Ich unterstelle es dir nicht schon wieder, sondern noch immer.“
Rasch zog Isabell die Schublade ihres Schreibtisches heraus, griff hinein und knallte ein Dutzend Bilder auf den Tisch, die Max und Ekaterina in sehr eindeutigen Posen in einem italienischen Lokal zeigten. Erstaunt betrachtete Max die Aufnahmen, die vor knapp einer Woche entstanden sein mussten.
„Ich habe unserer Ehe wegen Lisi eine Chance gegeben und die Affäre mit Rainer beendet, nachdem du mich wie ein räudiger Straßenköter angebettelt hast, dir noch einmal zu verzeihen und von vorne zu beginnen. Doch du hast nach den Feiertagen mit deiner kleinen Russin sofort dort weitergemacht, wo du vor Weihnachten aufgehört hast. Du bist ein verlogenes und triebgesteuertes Arschloch, das mit den Gefühlen anderer Menschen nur spielt.“
Max geriet über Isabells Rede dermaßen in Rage, dass er die Hand hob und auf sie einschlagen wollte. Doch Isabell war dieses Mal besser gegen seinen Angriff gewappnet und hielt ihm drohend den spitzen Brieföffner entgegen.
„Ich warne dich. Wenn du mich nur noch ein einziges Mal zu schlagen versuchst, schlitze ich dich auf, du krankes Schwein“, zischte sie entschlossen durch ihre zusammengepressten Zähne.
Max ließ verblüfft seine Hand sinken. Ein wenig ratlos stand er vor ihr und wusste nicht, was er sagen sollte. Aber schließlich fragte der dann doch:
„Und wie soll es zwischen uns jetzt weitergehen?“
„Ganz einfach, dieses Hotel in Thailand kannst du meinetwegen bauen. Ich nehme die Karenz und Lisi und ich werden dich auch begleiten. Doch spätestens nach zwei Jahren werde ich mit meinen Kindern wieder nach Hause zurückkehren. Bis dahin wird unsere Tochter hoffentlich reif genug sein und selbst erkannt haben, was für ein widerlicher und verachtenswürdiger Kretin du bist. Schließlich sitzt du dann ja direkt an der Quelle, wo man für sehr billiges Geld blutjunge Mädchen bekommt, mit denen man fast alles anstellen kann. Und ich glaube kaum, dass du dieser Versuchung auf Dauer widerstehen können wirst.“
„Moment, hab ich da etwas falsch verstanden? Du sprichst von deinen Kindern?“, 
Isabell atmete noch einmal tief durch und setzte sich sehr aufrecht in ihren Stuhl. Es war offensichtlich, dass ihr etwas am Herzen lag, worüber zu sprechen ihr sehr schwer fiel. Doch dann schluckte sie ihre Hemmung hinunter und sagte:
„Ja, ich bin schwanger.“
Max‘ Augen wurden riesengroß und ein freudiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. Dieses erlosch jedoch schlagartig, als Isabell fortfuhr:
„Ich weiß aber nicht, ob das Kind von dir oder von Rainer ist.“
Für einen Moment fühlte sich Max so, als ob er von einer Dampfwalze überrollt worden wäre. Langsam wurde er sich aber der Tragweite ihrer Aussage bewusst.
„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst. Du bist schwanger und weißt nicht von wem? O Gott, und du nennst mich krank?“
Max war immer wütender geworden. Zutiefst in seinem Stolz verletzt schrie er sie an:
„Ich verlange von dir, dass du dieses Balg abtreiben lässt!“ 
„Und was ist, wenn es dein Balg ist? Schließlich wurde es um die Weihnachtszeit gezeugt, wo ich sowohl mit Rainer als auch mit dir Sex hatte.“
Unschlüssig blickte Max seine Frau an. Sein Kind wollte er eigentlich nicht opfern. Doch Max war auch nicht gewillt, einen Kuckuckskind großzuziehen. Schnell hatte er das Für und Wider abgewogen und erwiderte nüchtern:
„Lass es abtreiben. Noch ist es nicht mehr als ein winziger Zellhaufen.“
„Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde dieses Kind bekommen, ob es dir gefällt oder nicht“, stellte sich Isabell Max’ Wunsch vehement entgegen. 
„Du kannst unmöglich von mir verlangen, diesen Bastard großzuziehen.“
„Ich verlange überhaupt nichts von dir, außer dass du mich und das Kind in Ruhe lässt.“
Max begann unruhig auf und ab zu gehen. Dieses Kind machte alles noch schwieriger. Doch alles Negative barg auch ein bisschen Positives in sich. Dieses noch kaum vorhandene Wesen konnte er gut als Druckmittel verwenden.
„Gesetzt den Fall, ich erkenne dieses Kind als meines an. Würdest du dann bei mir bleiben?“
Isabell sah ihn unschlüssig an. Es war offensichtlich, dass zwei Seelen in ihrer Brust kämpften. Max konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, eine Entscheidung zu treffen. Es verging eine halbe Ewigkeit, ehe Isabell antwortete:
„Wenn du dieses Kind genauso akzeptierst wie Lisi, egal wessen Kind es ist, und du wirklich deine Sexsucht in den Griff bekommst, werde ich dich nicht verlassen. Ich werde mit dir dieses Projekt in Thailand durchziehen und dir zumindest die nächsten beiden Jahre beistehen, wo ich nur kann. Doch ich werde erst dann wieder mit dir schlafen, wenn ich mir absolut sicher bin, dass du dich geändert hast. Beim kleinsten Anzeichen eines Seitensprungs bin ich weg.“
Diese neue und wesentlich verschärfte Situation würde es ihm nun noch viel schwieriger machen, sich mit Ekaterina zu treffen. Er musste ab sofort extrem vorsichtig sein. Max hatte natürlich absolut nicht vor, seine letzten Wochen in Wien auf diese kleinen, wundervollen Annehmlichkeiten zu verzichten. Außerdem würde Ekaterina vorzeitig Verdacht schöpfen. Max hatte sie im Glauben gelassen, sie nach Thailand mitzunehmen und ihr dort ein Massagestudio einzurichten. Erst kurz vor seinem Umzug wollte er die Kleine aufklären, dass in Phuket kein Platz für sie war.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf trat er durch die Drehtür des Kaffeehauses. Max versuchte, sich jetzt wieder auf die Probleme mit der „Mine-Dedecting“ zu konzentrieren. Die beiden Männer, die sich ironischerweise auch noch Smith und Wesson nannten, warteten schon im hinteren Teil des Lokals auf ihn. Max hatte nun bereits zum zweiten Mal das zweifelhafte Vergnügen, diesen gesichtslosen Typen zu begegnen. Die erste Begegnung hatte kurz nach Colemans Unfall stattgefunden. Max war damals ziemlich schockiert gewesen. Diese Schwachstelle hatten die beiden Männer sofort erkannt und ihm dadurch auf sehr demonstrative und einleuchtende Weise zu verstehen gegeben, welch unvorhersehbare und gesundheitsschädigende Folgen es mit sich bringen würde, sich gegen eine so mächtige und einflussreiche Organisation zu stellen. Und da das Angebot sehr verlockend war, hatte sich Max nicht lange bitten lassen. Schließlich würde man ihm de facto 10 Millionen Dollar schenken, ohne dass er dafür Wesentliches geleistet hatte. Er hatte eben verdammtes Glück gehabt, dass Coleman noch knapp vor seinem Unfall Barkhoff und ihn zu gleichberechtigten Partnern gemacht hatte.
Seine innerliche Abneigung gegen diese aalglatten Typen hatte sich kein bisschen gelegt, als Max den Männern gegenüber Platz nahm. In ihren dunklen, nicht sehr modischen Anzügen wirkten die beiden durchschnittlich und nichtssagend, sodass man sie ohne weiteres übersehen hätte können. Doch Max hatte schnell festgestellt, dass diese Unauffälligkeit gewollt war. Denn hinter ihren farblosen Fassaden versteckten sich zwei kaltblütige Kriminelle, ja vielleicht sogar Mörder ohne jegliches Gewissen.
Nach einer kühlen Begrüßung und der darauffolgenden Bestellung kam Smith gleich zum Thema:
„Herr Henning, wir warten schon seit längerer Zeit auf ein Lebenszeichen von Ihnen. Wir hätten gerne gewusst, wie weit fortgeschritten unser Projekt ist.“
Max wurde ein wenig nervös. Der äußerst höfliche Ton konnte ihn nicht über die wirkliche Situation hinwegtäuschen. Mit diesen zwei Typen war nicht gut Kirschen essen. Ihr Auftreten entbehrte nicht einer gewissen Warnung. So überzeugend wie möglich beantwortete er ihre Frage:
„Nun, ich brauche noch etwas Zeit, bis ich Barkhoff so weit habe. Er gräbt immer wieder neue Investoren aus, die er für „Mine-Dedecting“ zu gewinnen versucht. Ich muss daher ständig nachrecherchieren und diesen eventuellen Interessenten ein Aufklärungs-Mail schicken, damit sie sich wieder zurückziehen. Doch ich kann Sie beruhigen, bald ist der Pot für Barkhoff wirklich komplett ausgeschöpft. So viele Möglichkeiten hat er einfach nicht mehr und seine Erfolgswahrscheinlichkeit wird immer geringer. Das Firmenkapital ist zum Großteil aufgebraucht und Barkhoff muss bereits auf sein Privatvermögen zurückgreifen, um die laufenden Ausgaben zu bezahlen. Geben Sie mir noch zwei, drei Wochen, dann habe ich ihn so weit, dass auch er verkaufen muss.“
„Und was ist mit diesem russischen Fonds, der immer noch in das Projekt investieren will?“, fragte nun Wesson, der seine Skepsis offen zeigte.
„Nun ja, die Russen haben Barkhoff eine Frist bis Ende März gesetzt. Sollte er bis dahin nicht die restlichen Millionen für ein Closing aufgetrieben haben, dann werden sich auch die Russen aus dem Geschäft zurückziehen. Also dauert dieses Intermezzo allerhöchstens noch sieben Wochen, wobei ich mir aber ziemlich sicher bin, dass ich Ihnen bereits in den nächsten drei bis vier Wochen eine positive Nachricht zukommen lassen kann.“
„O.k., dann wollen wir hoffen, dass Ihre Rechnung auch aufgeht. Schließlich geht es hier nicht nur um Ihre 10 Millionen Dollar, sondern auch um jene Colemans. Bleiben Sie in Ihrem eigenen Interesse dran und versuchen Sie, Ihren Kompagnon endlich zu überzeugen. Unsere Chefs sind bereit, Ihnen als kleinen Anreiz für jede Woche, die Sie die kompletten Eigentumsrechte früher an uns übergeben, einen Bonus von 10.000 Dollar zu zahlen. Wenn Sie aber bis spätestens Ende März keinen Erfolg erzielt haben, werden jede Woche 10.000 Dollar von Ihren und auch Colemans 10 Millionen abgezogen. Es liegt daher in Ihrem Interesse, ein wenig schneller und effizienter ans Werk zu gehen.“

Kapitel 59

Es verging nun kaum ein Tag, an dem sich Rainer nicht mit Max in den Haaren lag. Ihre unterschiedlichen Geschäftsinteressen, aber auch die Affäre zwischen Rainer und Isabell trugen nicht gerade dazu bei, die Situation zu entspannen. Obwohl beide mehrmals versuchten, wenigstens einen kleinen Schritt der Annäherung zu setzen, gerieten sie schon wegen geringster Kleinigkeiten aneinander. Rainer bezweifelte immer mehr, dass sich sein Verhältnis zu Max jemals wieder bessern würde. Ihre langjährige Freundschaft gehörte der Vergangenheit an. Zu viel Porzellan war zerbrochen, als dass man es hätte wieder kitten können. 
Doch nicht nur Max setzte Rainer zu, endlich seine Anteile zu verkaufen, auch Coleman übte immer mehr Druck auf Rainer aus. Er hatte endgültig genug von der „Mine-dedecting“ und auch von Europa. So schnell wie möglich wollte Coleman hier alles hinter sich lassen und mit den 10 Millionen Dollar in den USA ein neues Leben beginnen. Sowohl Coleman als auch Max hatten Angst, dass die Bosse der Organisation viel weniger Geld zahlen würden, wenn sie davon Wind bekämen, wie sehr das Projekt wirklich floppte… Selbst Rainers letzte Anfragen an noch einigermaßen seriöse und potenzielle Anleger brachten keinerlei positive Reaktion. Nun war auch sein letzter Hoffnungsschimmer erloschen und er hatte absolut keine Idee mehr, wie er doch noch zu Geld kommen konnte. Langsam aber sicher musste auch Rainer einsehen, dass sein Projekt zum Scheitern verurteilt war. Er hatte zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt versucht, das notwendige Venture Capital für die „Mine-Dedecting“ zu akquirieren. In dieser größten Weltwirtschaftskrise nach dem 2. Weltkrieg fand er weder die nötigen Investoren noch unterstützten ihn seine eigenen Partner. Er war persönlich fast pleite. Außerdem hatte Rainer in den letzten Monaten seinen Job als Unternehmensberater völlig vernachlässigt. Gerade in diesen finanziell so schlechten Zeiten hatte er es total verabsäumt, sich sein zweites Standbein halbwegs zu sichern. Isabell hatte sich wieder von ihm abgewandt und seine Freundschaft mit Max war an dieser Liaison zerbrochen. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, setzte Max dem allen noch ein kleines Wermutshäubchen auf und erzählte ihm freudestrahlend, dass er bald wieder Vater werden würde. Natürlich war Rainer nicht entgangen, dass ihm Max diese unverhoffte Neuigkeit mit einer unübersehbaren Genugtuung an den Kopf geworfen hatte. Unterschwellig hatte Max damit nur zu gut angedeutet, dass Rainer auch in Zukunft nichts weiter als eine kleine Null bleiben würde und sich niemals mit ihm auf eine Ebene stellen konnte. Hatte er sich denn so in Isabell getäuscht, dass sie auch noch mit einem weiteren Kind demonstrieren wollte, wie sehr sie an diesem Schweinehund hing?
Als Max freudestrahlend sein Büro verlassen hatte, lehnte sich Rainer traurig in seinem bequemen Sessel zurück und dachte über seine deprimierende und schier ausweglose Situation nach. Wieso musste gerade er immer wieder den Kürzeren ziehen? Weder beruflich noch privat hatte er jemals wirklich punkten können. Es war genauso wie in seinen Albträumen, wo er immer wieder der Verlierer war. Angelina hatte sich gewaltig geirrt. Er war kein Auserwählter und auch kein Liebling der Götter! Auf diesen Bonus konnte er liebend gern verzichten. Rainer hatte es gründlich satt, immer nur in die Scheiße zu greifen.
Plötzlich wurde ihm heiß und die Decke schien ihm auf den Kopf zu fallen. Wenn er jetzt auch noch unter einer Klaustrophobie zu leiden begann, war sein Chaos wirklich perfekt. Rainer überlegte nicht lange und nahm sich den Nachmittag frei. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, wollte er im Prater seine große Runde laufen. Keine halbe Stunde später hatte er sein Auto beim Lusthaus geparkt und bog in einen schmalen, ausgetretenen Laufpfad der Prater Hauptallee ein. Der regnerisch trübe Tag hielt viele vom Joggen ab. Nur wenige Hardliner waren auch heute unterwegs, um für den nahenden Marathon zu trainieren. Wind und Wetter hatten für diese Freaks keine Bedeutung. 
Schon nach den ersten fünfhundert Metern spürte Rainer, wie er sich zu entspannen begann. Obwohl er nach den obligaten 10 Kilometern fix und fertig war, hatte er seinen Kopf schon jetzt mit genügend Sauerstoff durchgeputzt, um wieder klarer denken zu können. Sein Weg führte ihn durch den Auwald an einem Seitenarm der Donau entlang. Dieser Abschnitt seiner Strecke gefiel ihm besonders gut. Die Äste der Weiden reichten im Sommer bis an die Wasseroberfläche hinab. Dieses kitschige Ambiente war fast zu schön um wahr zu sein.
Rainer war gerade im Begriff, den schmalen Weg einzuschlagen, der ihn wieder zurück zum Lusthaus führte, als er eine erregte Männerstimme furchtbar fluchen hörte. Neugierig geworden blieb er stehen und ging ein kurzes Stück zum Ufer zurück. Dort sah er einen eher kleinen, dafür ziemlich korpulenten Mann im kalten Wasser herumtaumeln. Offenbar schaffte er es nicht, sein Gleichgewicht zu halten, sodass er immer wieder in die kalte, durch den stinkenden Schlamm aufgewirbelte Brühe zurückfiel. Während er sich mit dem einen Arm hochzurappeln versuchte, um dann mit rudernden Bewegungen das Gleichgewicht zu halten, hielt er irgendetwas Undefinierbares in der anderen Hand, das er keinesfalls fallen lassen wollte. 
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, rief Rainer dem Mann in seinem Schlammloch zu.
Triefend vor Nässe hielt der Mann in seiner deftigen Schimpfkanonade inne und versuchte zu orten, aus welcher Richtung die Stimme kam. Seine Schirmkappe war ihm über die Augen gerutscht, sodass er jetzt auch nichts mehr sehen konnte. Rainer musste ein Lachen unterdrücken, denn der arme Kerl sah dermaßen komisch aus, dass er ihn unwillkürlich an Homer Simpson erinnerte.
Mit seiner schlammigen Hand rückte der kleine Mann seine Kappe zurecht und erwiderte:
„Das wäre echt toll. Vielleicht können Sie mir bitte den Vogel da abnehmen, damit ich endlich aus diesem ekeligen und dreckigen Sumpfloch hier rauskomme.“
Erst jetzt sah Rainer, dass der Mann einen leblosen Vogel in seiner Hand hielt. Für einen kurzen Moment schreckte er zurück. Doch dann fasste er sich ein Herz und nahm ihm das Tier vorsichtig aus der Hand. Überrascht blickte er auf einen Eisvogel, dessen rostroter Brustkorb sich energisch hob und senkte. Der Vogel war viel zu aufgeregt und erschöpft, um an Flucht zu denken. Der Schnabel war leicht geöffnet und zitterte, doch die Augen hielt er geschlossen. Das kobaltblaue Gefieder des kleinen Piepmatz‘ war völlig durchnässt und sein linker Flügel stand unnatürlich von seinem Körper ab. Bestimmt war er gebrochen. Dieses schöne Tier wäre sicherlich ertrunken, wenn es dieser Tierfreund nicht in letzter Minute gerettet hätte. Nun konnte Rainer auch nachvollziehen, warum der Mann bei diesen Temperaturen freiwillig ein Bad genommen hatte.
In der Zwischenzeit hatte sich auch der Retter aus dem Schlammloch befreit. Triefend nass kam er auf Rainer zu und nahm seine Schirmkappe ab, die einen ziemlich breiten Mittelscheitel sichtbar werden ließ. Dankbar lächelnd reichte der Mann Rainer seine nasse Hand.
„Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben. Wahrscheinlich wäre ich ohne Ihre Hilfe noch einige Zeit in dieser eiskalten Brühe herumgewatet und hätte mir dabei vielleicht sogar auch noch eine Lungenentzündung geholt. Diese blöden Viecher befinden sich momentan im Balzflug und sind total hormongesteuert. Sie achten nun viel weniger auf die Gefahren durch Greifvögel, sondern sind drauf und dran, ein Weibchen in ihr Nest zu ziehen. Leider hatte ich keinen Käscher zur Hand. Doch wenn ich nicht sofort reagiert hätte, wäre der Kleine sicherlich…“
„Entschuldigung, aber kann es sein, dass du Hermann Schwarz bist?“, unterbrach ihn Rainer verblüfft.
Der kleine Mann mit Glatze betrachtete seinen Retter nun ziemlich interessiert und plötzlich begann sein rundes Gesicht zu strahlen: 
„Ja, und soweit ich mich erinnern kann, bist du doch der Rainer Barkhoff.“
Sofort tat sich vor Rainer ein Szenario aus längst vergangenen Tagen seiner Schulzeit auf. Hermann war damals ein schmächtiges Bürschchen gewesen, das sein dichtes Haar immer zu einem langen Pferdeschweif zusammengebunden hatte. Er hatte mit Max und Rainer gemeinsam die Oberstufe besucht und war der beste Schüler in der Klasse gewesen. Doch aus seinen hervorragenden Leistungen hatte er niemals Kapital geschlagen oder sich etwas darauf eingebildet. Eher das Gegenteil war der Fall gewesen. Hermann hatte damals schon unter einem Helfersyndrom gelitten, was ihn in der Klasse ziemlich beliebt gemacht hatte. Wenn einer seiner Mitschüler den Durchblick verloren hatte, war er nur zu gern bereit gewesen, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, bis der Betreffende wieder sattelfest war. Es hatte in der Klasse einige gegeben – zu denen auch Max zählte –, die es zu einem Großteil seiner Mithilfe zu verdanken hatten, dass sie überhaupt die Matura geschafft hatten. Doch auf der Uni hatten sie sich dann aus den Augen verloren. Während Rainer ein Wirtschaftsstudium eingeschlagen hatte, war Hermann in die Naturwissenschaften gegangen. 
Die Freude, einander nach so vielen Jahren durch solch unerwartete Umstände wieder zu treffen, war groß. Hermann ließ es sich nicht nehmen, seinen ehemaligen Schulkollegen in sein nahe gelegenes Zuhause einzuladen. Hermann war Ornithologe und lebte wegen seines Berufes in einer Dienstwohnung, die sich mitten im Auengebiet des Praters befand. Diese Dienstwohnung stellte sich als schmuckes, weitläufiges Holzhaus heraus, das ihm das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung zur Verfügung stellte und das keine 5 Minuten entfernt von ihrem Weg lag.
Hermanns Frau Agnes war ebenfalls Ornithologin. Sie hieß Rainer überaus herzlich willkommen. Agnes war eine zierliche, eher unscheinbare Frau, die irgendwie an eine graue Maus erinnerte. Doch wenn sie lächelte und ihre intelligenten Augen zu leuchten begannen, dann glich sie einem Stern, der am dunklen Himmel besonders hell leuchtete.
Während sich Hermann umzog, untersuchte Agnes den verletzten Vogel. Wie Rainer richtig vermutet hatte, war der Flügel gebrochen. Mit fachkundigen Händen schiente sie den Knochen des Vogels und trug ihn anschließend hinaus.
In der Zwischenzeit war auch Hermann wieder zurückgekommen. Sofort entwickelte sich zwischen den beiden Männern ein lebhaftes Geplauder, bei dem all die kleinen Geschichten und Bonmots, die sie während der Schulzeit erlebt hatten, ausgegraben wurden. 
In Windeseile ging der Nachmittag in den Abend über. Hermann ließ es sich nicht nehmen, Rainer auch noch zum Abendessen einzuladen. Während Agnes das Nachtmahl vorbereitete, zeigte Hermann Rainer die riesigen Volieren hinter dem Haus, in denen verletzte Bussarde, Seeadler, Reiher, Enten und Falken ihre Genesung abwarteten. In einer der kleineren Volieren saß jetzt auch der kleine, noch immer ziemlich erschöpfte Eisvogel mit aufgeplustertem Gefieder und geschientem Flügel. Bis dieser wieder in Ordnung war, würde die Balz sicherlich schon vorbei sein. Doch dafür kam er jetzt mit dem Leben davon und konnte sich nächstes Jahr noch einmal ordentlich ins Zeug legen. 
„Wie lange machst du denn diesen Job hier schon?“, wollte Rainer wissen. 
„Nun ja, es ist nun das vierte Jahr, seit wir wieder aus Dubai zurück sind.“ 
„Was, du warst im Ausland?“, fragte Rainer verblüfft. 
„Ja, ich bekam nach meinem Studium als Ornithologe keinen Job hier in Österreich. Dann erfuhr ich von einem Freund, dass die Scheichs in den Emiraten nach deutschen oder österreichischen Falknern suchten. Diese Gelegenheit ließ ich mir nicht entgehen. Schon während meiner Studienzeit habe ich mich zum Falkner ausbilden lassen. Ich hatte daher die Möglichkeit mein Hobby zum Beruf zu machen. So ging ich mit Agnes so lange ins Ausland, bis ich hier in Österreich diesen Job angeboten bekommen habe.“
„Da hast du ja schon ein sehr aufregendes Leben hinter dir.“ 
„Sagen wir so, es war sicherlich nicht uninteressant. Ich arbeitete damals für einen arabischen Prinzen, der in Österreich studiert hatte. Daher wollte der Prinz unbedingt einen Falkner aus Österreich haben. Du musst wissen, dass Greifvögel für die Scheichs in Nahen Osten ein äußerst beliebtes Hobby und ein wichtiges Statussymbol sind. Nicht nur, dass sie selbst Falken, Habichte, Adler, Milans und Bussarde ziemlich erfolgreich züchten, sie kaufen auch die edelsten und teuersten Tiere weltweit auf und lassen sie zur Jagd abrichten. Jeder Scheich, der etwas auf sich hält, hält sich diese Raubvögel. Ich habe mich im Laufe der Jahre zu einem ziemlich fachkundigen Falkner gemausert, wobei mir natürlich auch mein Studium als Ornithologe sehr zugute kam. Bald zählten die Vögel meines Scheichs zu den besten Jagdvögeln der Welt, was meinem Freund natürlich noch mehr Ansehen und Würde verschaffte. Noch heute ruft er mich an oder schickt mir seinen Jet, wenn er Probleme mit seinen Babys hat.“ 
„Warum bist du dann nicht geblieben. Du hättest mit deinem Können dort sicher ein tolles Leben führen können.“ 
„Ja, mag wohl sein. Doch ich bin Europäer, und das aus tiefster Überzeugung. Auf Dauer wäre das Leben dort für Agnes und mich nichts gewesen, obwohl mich Mohamed mit allen erdenklichen Zuckerln zu überreden versuchte. Doch wir sind nach wie vor gute Freunde und in relativ engem Kontakt. Ihm habe ich auch diesen Job hier zu verdanken“, erzählte Hermann frei von der Leber weg. 
Plötzlich begannen Rainers Alarmglocken zu läuten und er erinnerte sich an Angelinas Worte: ‚Ich weiß nur so viel, dass es diesen Menschen gibt und er dir zum richtigen Zeitpunkt begegnen wird. Darum achte darauf, dass diese Chance nicht ungenutzt an dir vorübergeht.’ 
Verwundert blickte Rainer seinen ehemaligen Schulfreund an, der zärtlich durch das Gitter der Voliere den Kopf eines zahmen Reihers streichelte. Mit einem Mal erkannte er in Hermann seinen rettenden Strohhalm. 
Rainer wusste nicht so recht, wie er beginnen sollte und überlegte hin und her. Doch dann verwarf er all seine Überlegungen und rückte geradewegs mit seinem Anliegen heraus. 
„Hermann, ich hab ein mächtiges Problem und ich glaube, dass du der Einzige bist, der mir noch helfen kann.“ 
Verblüfft blickte ihn sein Freund an. 
„Ich? Bist du dir sicher?“ 
„Ja, ich bin mir nun absolut sicher, dass es kein Zufall war, dass wir uns begegnet sind.“ 

Die Männer gingen ins Haus zurück und Rainer erzählte ihm von seinen großen Schwierigkeiten. Aufmerksam hörte Hermann zu und überlegte, wie er seinem Freund helfen könnte. 
„Du möchtest also, dass ich dir eine Schiene zu meinem Scheich lege. Das wird ziemlich schwierig sein, denn derartige Menschen wickeln ihre Geschäfte nie persönlich ab, sondern sie haben im Vorfeld immer Makler, Berater und Sekretäre, die für sie arbeiten. Die Hürden dort sind ziemlich hoch, denn diese Mitarbeiter sind allesamt korrupt und geldgierige Säcke. Sie alle wollen für ihre Dienste ordentlich gesponsert werden. Das heißt dann aber noch lange nicht, dass sie ihrem Herrn dein Anliegen mit dem von dir gewünschten Engagement auch vortragen. Es kann auch durchaus möglich sein, dass sie es vergessen und dann nochmals für ihre Dienste bezahlt werden wollen. Bis dann endlich das, was du anzubieten hast, an der richtigen Stelle landet, können Wochen, Monate, ja sogar Jahre vergehen, bis du dann zu guter Letzt doch eine Absage bekommst.“ 
Deprimiert ließ Rainer sich in das Sofa zurückfallen. Agnes hatte währenddessen den Tisch gedeckt und den beiden zugehört. Nachdem alle beim Esstisch Platz genommen hatten, mischte sie sich nun auch in das Gespräch ein, welche Möglichkeiten es gäbe, doch an den Scheich heranzukommen, ohne dabei seinen Unmut zu wecken. 
„Hermann, ich hab da vielleicht eine Idee, wie du Rainer helfen kannst.“ 
Während sie die Teller mit Kartoffelgulasch füllte, blickten die beiden Männer sie mit unverhohlenem Interesse an: 
„Das Produkt, das Rainer anzubieten hat, kommt doch der Greifvogeljagd ziemlich nahe. Deine kleinen Hubschrauber sind letztendlich nichts anderes als Vögel auf der Jagd nach Beute. Die Vorliebe fürs Jagen ist bei den Arabern doch offensichtlich. Alles, was nur irgendwie in diese Richtung deutet, ist für sie von Wert und weckt ihr Interesse. Wenn man Mohamed in richtiger, unaufdringlicher Form suggeriert, dass diese eisernen Vögel ähnlich wie ihre Falken funktionieren und dazu noch Geld, Sicherheit, doch vor allem Ansehen bringen, könnten die Chancen für dich ziemlich gut stehen, das nötige Geld für dein Unternehmen zu bekommen.“ 
Erstaunt und mit echtem Respekt blickten die beiden Männer Agnes an. Plötzlich sprang Hermann auf und küsste sie herzhaft auf die Wange. 
„Das ist ja wirklich ein unglaublich guter Einfall von dir. Hab ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?“ 
„Ja, erst heute morgen“, erwiderte sie mit gespielter Sachlichkeit, die jedoch von ihren liebenden Augen Lügen gestraft wurde.
Unwillkürlich zog sich Rainers Herz zusammen und er musste an Isabell denken. Wie sehr sehnte er sich danach, genau wie dieses Paar mit ihr in Zärtlichkeit, Akzeptanz und überaus liebevollem Miteinander zu leben.
Doch dann nahm Agnes wieder seine Aufmerksamkeit in Anspruch.
„Da gibt es vielleicht noch einen Umstand, den man nicht übersehen sollte. Mohameds Lieblingsschwester ist im zarten Alter von fünf Jahren bei einem Besuch in Libyen auf so eine Mine getreten. Durch die Explosion hat sie beide Beine verloren. Seither ist sie an den Rollstuhl gefesselt.“
„Ich wusste gar nicht, dass ihre Behinderung durch einen Unfall verursacht wurde“, sagte Hermann verblüfft.
„Nun ja, ich glaube kaum, dass Mohamed mit dir über solche tragische familieninterne Angelegenheiten sprechen würde. Doch die Frauen des Hauses reden natürlich auch über solch furchtbare Schicksalsschläge sehr gerne. Sie haben ja sonst nicht viel zu tun.“
Hermann begann nun angestrengt zu überlegen.
„Nun, wenn wir auf dieser Schiene fahren, haben wir ganz gute Chancen, dass Mohamed dich anhört, wenn ich die nötige Vorarbeit leiste.“
Plötzlich sah Rainer ein kleines Licht am Ende des dunklen Tunnels aufleuchten. Positive Energie begann wieder durch seine Blutbahnen zu strömen. Auch seine Kampfbereitschaft und sein Durchsetzungswille waren mit einem Schlag wieder da. „Hermann, wenn du mir hilfst, dass dein Scheich die dringend benötigte Kohle rausrückt, dann bekommst du 5 % Erfolgsprovision. Das sind immerhin 250.000 Dollar.
„Wie es aussieht, ist der heutige Tag ja wirklich mein Glückstag. Erst bewahrst du mich vor einer Lungenentzündung und dann habe ich durch dich auch noch gute Chancen, reich zu werden.“
„Nun ja, reich wäre vielleicht ein wenig übertrieben. Aber sicherlich würdest du dir einige Annehmlichkeiten leisten können, auf die du bisher verzichten musstest.“
Mit einem seltsamen Lächeln im Gesicht beobachtete Hermann seinen Gast, der plötzlich vor Tatendrang sprühte.
„Langsam beginne ich auch schon zu glauben, dass unsere Begegnung nach so vielen Jahren kein Zufall ist. Mohamed hat mich gestern angerufen und mich gebeten, für einige Tage nach Dubai zu kommen, da er große Probleme mit seinen Gerfalken hat. Derzeit ist er noch in den USA unterwegs. Doch Ende der Woche wird er wieder zu Hause sein und will mir dann seinen Flieger schicken. Das wäre der Freitag oder spätestens der Samstag. Ich bin überzeugt, dass es ihm nichts ausmacht, wenn ich dich als meinen Freund und Berater einfach mitnehme.“
Es war lange her, dass Rainer Glückshormone freigesetzt hatte. Erleichtert und dankbar zugleich dachte er an Angelina. Rainer hatte keine Ahnung, ob er diesen glücklichen Zufall dem Schicksal zu verdanken oder ob Angelina diesem ein wenig auf die Sprünge geholfen hatte. Schließlich hatte sie ihm indirekt Hermann angekündigt und ihn motiviert, durchzuhalten. Zumindest wusste er, dass sein Ausharren und seine Unbeugsamkeit nun belohnt wurden und langsam Früchte zu tragen schienen. 
Am Küchentisch hatte man noch lange überlegt, wie es am klügsten wäre, an die Sache heranzugehen. Es war schon ziemlich spät, als Rainer aufbrach und Hermann ihn zu seinem Auto begleitete. Zum Abschied umarmte Rainer voller Dankbarkeit seinen wiedergewonnenen Freund.
„Du hast absolut keine Ahnung, wie froh ich bin, dir begegnet zu sein. Noch heute vormittags glaubte ich, vor den Trümmern meines Lebens zu stehen. Doch durch dich hat plötzlich alles wieder Sinn bekommen. Du zählst wirklich zu den Guten, Hermann. Ich bin zutiefst dankbar, dir begegnet zu sein.“
Ergriffen erwiderte der kleine Mann Rainers feste Umarmung. 
„Langsam, langsam, noch ist die Schlacht nicht gewonnen. Aber die Strategie ist schon einmal ziemlich gut“, versuchte er, Rainers Euphorie ein wenig zu bremsen.
„Es hat mir immer schon gut getan, wenn ich anderen helfen konnte. Doch dir zu helfen, ist mir eine besondere Freude. Du kämpfst nicht um Geld, sondern für deine Ideale. Und das hebt dich weit über den Durchschnitt hinaus.“

Kapitel 60

Die nächsten Tage saß Rainer wie auf Nadeln. Er versuchte, endlich seine Steuererklärung zu machen, konnte sich aber auf diese umfangreiche und hohe Aufmerksamkeit erfordernde Arbeit einfach nicht konzentrieren. Zu viele Gedanken gingen durch seinen Kopf und störten seine Konzentration. Kaum läutete sein Telefon oder Handy, fuhr er aufgeregt hoch, weil er hoffte, dass Hermann der Anrufer sei. Obwohl Rainer wusste, dass sein Freund sich nicht vor Donnerstag bei ihm melden würde, hoffte er doch, vielleicht schon etwas früher zu erfahren, wann der Scheich bereit war, ihn zu empfangen.
Längst hatte Rainer alle relevanten Unterlagen wie die Investorenpräsentation, die Due Diligence der Bank, Marktanalysen, Businesspläne, technische Dokumentationen sowie Kopien der wichtigsten Verträge fein säuberlich in seiner Aktentasche verstaut. Auch sein kleiner Reisekoffer lag bereits fix und fertig gepackt in seinem Wagen, sodass er jederzeit reisebereit war.

Rainer lief ziemlich unrund. Nicht nur diese ungewisse Erwartungshaltung ließ es ihm an Gleichmut fehlen, sondern auch der Umstand, dass Isabell schwanger war. Rainer fühlte sich betrogen und zutiefst verletzt. Als er sie das letzte Mal im Büro gesehen hatte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihn noch immer liebte. Wieso ließ sie es dann zu, noch einmal von Max schwanger zu werden? Glaubte sie denn wirklich, dass dieses Kind ihre Ehe wieder ins Lot bringen würde? Max würde sich um dieses Kind doch genauso wenig kümmern wie um Lisi. Es war Rainer ohnehin unverständlich, wieso die Kleine so an ihrem Vater hing. Eigentlich musste er ja sogar dankbar sein, wenn die Hennings bald das Land verlassen und sich auf einem anderen Kontinent ein neues Zuhause aufbauen würden. Nur so bestand für ihn eine Chance, sich von Isabell zu distanzieren und sie im Laufe der Jahre vielleicht sogar vergessen zu können. Vielleicht hatte er dann endlich auch das Glück, eine Frau zu finden, die er uneingeschränkt lieben konnte und die diese Liebe auch erwiderte.
Am Mittwochmorgen hatte es ein heftiges Gewitter gegeben. In einigen tiefer gelegenen Bezirken musste sogar die Feuerwehr ausrücken, um Keller auszupumpen oder verstopfte Kanäle unter überschwemmten Straßen freizulegen. Dazu war ein eisiger Nordwind durch die Stadt gefegt. Bei diesem Wetter war man alles andere als bereit, freiwillig vor die Türe zu treten. Bei diesen tristen Wetterverhältnissen konnte Rainer nicht erwarten, dass Angelina auf ihn warten würde. Doch gerade heute war wieder einer jener Tage, wo er besonders ihren Zuspruch und ihre Nähe gebraucht hätte.
Doch wider Erwarten ließ der frische Wind schon am späten Vormittag den Himmel aufklaren und vertrieb die dunklen Wolken mitsamt den heftigen Regenfällen. Innerhalb weniger Stunden hatte das Wetter umgeschlagen. Mit ihren bereits kraftvollen Strahlen ließen die Sonne und der nun milde Südwind innerhalb weniger Stunden die nasse Erde abtrocknen und verwandelten den Nachmittag in einen schon angenehmen warmen Frühlingstag. Rainers Hoffnung stieg also, dass er seine Freundin doch noch auf ihrer Bank antreffen könnte.
So viele Ereignisse hatten sich in den letzten Tagen angesammelt, von denen sie ganz einfach wissen musste. Hoffentlich war sie schon da. Wenn nicht, würde er wohl oder übel auf sie warten müssen. Da Rainer durch die ständige Ungewissheit über den Aufenthaltsort seiner Freundin schon ziemlich genervt war, hatte er beschlossen, für sie ein Wertkartenhandy zu kaufen, damit er sie jederzeit erreichen und mit ihr reden konnte.
Rainer war gerade im Begriff, das Büro zu verlassen, um den nächsten Handyshop aufzusuchen, als Max zur Tür hereinkam.
„Oh, wie ich sehe, bist du im Weggehen“, stellte er bedauernd fest.
„Dann werde ich wohl später noch einmal vorbeischauen müssen“, fuhr Max fort und wollte bereits wieder die Tür schließen.
Rainer ließ den Mantel wieder in den Sessel zurückfallen und erwiderte genervt:
„Später bin ich nicht mehr da, also was willst du?“
Max setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und atmete tief durch.
„Rainer, das gespannte und aggressive Klima zwischen uns geht mir genauso auf die Nerven wie dir. Wir sind doch Freunde. Es müsste uns doch gelingen, eine Ebene zu finden, wo wir miteinander zumindest kommunizieren können, ohne uns ständig anzugreifen.“
Sein verbindlicher Ton machte Rainer hellhörig. Die Ebene, von der Max sprach, würde es nie mehr geben, da diese Freundschaft schon längst vorbei war. Vorsichtig fragte er daher:
„Und was schlägst du vor?“
„Ich habe vor, mit meiner Familie für einige Zeit ins Ausland zu gehen, da ich aus Asien ein ziemlich gutes Jobangebot bekommen habe. Während dieses Aufenthaltes würden sich sicherlich unsere emotionalen Wogen glätten. Wir hätten dann vielleicht eine gute Chance, unsere angeschlagene Freundschaft wieder zu festigen.“
Rainer nickte nur schweigend, ließ aber Max nicht aus den Augen. Er wusste, dass dies nicht der Grund sondern nur ein Vorwand war, wieso er mit ihm sprechen wollte. Max hatte anscheinend keine Ahnung, dass ihm Isabell bereits den wahren Beweggrund seines Auswanderns verraten hatte.
„O.k., dann bon Voyage“, erwiderte Rainer kühl.
Max begann nun herumzudrücken und wusste nicht so recht, wie er mit der Sprache herausrücken sollte. Doch dann ließ er die Katze aus dem Sack.
„Der Umzug wird in ca. vier bis fünf Wochen stattfinden. Isabell hat dann die problematische Zeit ihrer Schwangerschaft hinter sich, sodass wir spätestens Anfang April abreisen wollen. Ich möchte daher, dass zu diesem Zeitpunkt die leidige Angelegenheit mit der „Mine-Dedecting“ geklärt ist. Nachdem es dir ja nicht gelungen ist, das nötige Geld aufzutreiben, ist es nun wirklich an der Zeit, dieses leidige Thema abzuschließen. Bevor ich von hier weggehe, möchte ich die Angelegenheit geregelt haben.“
Rainer musste innerlich lachen, denn Max ließ nie etwas wirklich geregelt zurück. 
„Nun ja, du wirst dich schon noch ein wenig gedulden müssen. Das russische Sponsorenkonsortium hat mir eine Frist bis Ende März eingeräumt. Bis dahin werde ich nichts unversucht lassen, um die „Mine-Dedecting“ doch noch zu finanzieren.“
„Warum willst du nicht einsehen, dass der Zug längst abgefahren ist und keiner mehr Interesse hat, in dieses aussichtslose Projekt zu investieren? Selbst Coleman hat bereits erkannt, dass die „Mine-Dedecting“ nichts weiter als ein schöner, aber unrealisierbarer Traum war.“ 
Von Max demütiger und verbindlicher Haltung war nun nicht mehr viel übrig. Langsam ließ sein unterdrückter Zorn sein schwammiges Gesicht rot anlaufen. 
„Auch wenn Coleman seinen Traum aus leicht nachvollziehbaren Gründen nicht weiterträumen will und kann, so tue ich das eben für ihn und zwar sicherlich bis Ende März. Ist das klar?“
Wütend sprang Max auf und ging zur Tür.
„Du bist ein störrischer, verbitterter alter Esel. Langsam solltest du erkennen, wann der Zeitpunkt des Loslassens gekommen ist. Du bist kein Zauberer, der mir nichts, dir nichts drei Millionen Dollar aus dem Zylinder zaubern kann.“
„Da hast du sicherlich recht, Zauberer bin ich keiner. Doch ich werde erst dann loslassen, wenn ich alle meine Ressourcen ausgeschöpft habe. Auf deine 10 Millionen wirst du daher noch etwas warten müssen. Vielleicht sogar weit länger, als dir und deinen Freunden lieb ist“, erwiderte Rainer mit einem schadenfrohen Lächeln. Doch Max konnte seine Antwort nicht mehr vollständig hören. Erbost hatte er lautstark die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen.

Kapitel 61

Erleichtert atmete Rainer auf, als er Angelina eingebettet zwischen ihren Plastiktragetaschen auf der Bank sitzen sah und mit ihrer Katzenfutterdose in der Hand vorbeigehende Passanten anbettelte. Als ob sie sein Näherkommen spürte, lächelte sie ihm beinahe glücklich entgegen.
„Hallo Junge! Wie schön dich zu sehen!“, rief sie ihm entgegen und lachte dabei über ihre eigene Unzulänglichkeit.
Schnell kam Rainer näher, nahm ihre kalten Hände und drückte sie zärtlich.
„Guten Tag, meine Liebe. Die Freude, dich zu sehen, liegt natürlich wie immer ganz auf meiner Seite.“
Angelina erwiderte den Druck seiner Hände und ihre blinden Augen blickten zu ihm auf.
„Du bist und bleibst ein Charmeur der alten Schule“, stellte sie zufrieden fest.
Rainer griff in seine Manteltasche, holte ein neues Handy hervor und drückte es Angelina in die Hand. Es war ein Blindenhandy, auf dem die Zahlen erhaben und in Blindenschrift auf den Tasten angebracht waren.
„Was ist das?“, fragte Angelina neugierig.
„Das ist ein Handy. Ich habe es für dich besorgt, damit ich weiß, wo du steckst. Es wäre ein großer Wunsch von mir, dass du es immer bei dir trägst.“
Angelina befühlte das kleine Mobiltelefon in ihrer Hand.
„Junge, das ist wirklich lieb von dir, aber ich brauche es nicht. Ich weiß ohnehin, wann du mich sehen willst.“
„Es ist mir aber angenehmer zu wissen, dass ich dich jederzeit erreichen kann“, beharrte Rainer auf seinem Wunsch.
„Junge, ich hab doch gar keine Steckdose, an der ich das Handy laden könnte.“
Daran hatte Rainer nicht gedacht und schien für einen Moment ein wenig ratlos zu sein. Doch dann hellte sich seine Miene wieder auf und er erwiderte:
„Stimmt, dann werde ich eben einen zweiten Akku besorgen und ihn immer austauschen.“
Liebevoll, aber bestimmt drückte sie Rainer das Handy wieder in die Hände.
„Junge, so ein Handy passt nicht zu mir und ich will es auch nicht. Wenn du mich brauchst, werde ich einfach da sein. Aber es freut mich, dass du dich um mich sorgst.“
Enttäuscht steckte Rainer das Mobiltelefon wieder in die Tasche. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, fragte Angelina rasch:
„Doch nun erzähl, was gibt es Neues, was machen die Geschäfte?“
Rainer rückte die prall gefüllten Säcke zur Seite und nahm direkt neben ihr Platz.
„Angelina, es hat sich so viel in den letzten Tagen ereignet, dass ich gar nicht weiß, wo ich zuerst anfangen soll.“
„Nun, dann beginn einmal mit dem, was dir am Wichtigsten ist.“
„Das wichtigste Ereignis und absolute Highlight ist, dass ich Ende der Woche mit einem ehemaligen Schulfreund nach Dubai fliegen werde“, und Rainer erzählte seiner Freundin, durch welchen Umstand er Hermann wieder getroffen hatte und wie dieser ihm behilflich sein wollte, seinen Scheich als Investor zu gewinnen.
„Und diese glückliche Fügung des Schicksals habe ich dir zu verdanken, Angelina. Du bist wirklich meine gute Fee, mein absoluter Glücksstern.“
Voller Dankbarkeit legte er den Arm um die schmächtigen Schultern der alten Frau und drückte sie an sich.
„Vorsicht Junge, ich kann ja verstehen, dass du dich freust. Doch deshalb brauchst du mich nicht gleich wie eine Ziehharmonika zusammenquetschen.“
„Entschuldige, aber ich bin so erleichtert, ja fast glücklich, dass ich doch noch eine echte Chance bekomme. Meine Euphorie geht wohl ein wenig mit mir durch.“
Doch sofort wurde Rainer wieder ernst und fuhr mit wehmütiger Stimme fort:
„Das war die positive Nachricht. Die negative Neuigkeit ist, dass Max wieder Vater wird. Isabell ist schwanger. Außerdem will er mit seiner Familie in einigen Wochen nach Thailand auswandern, wo Max am Strand von Phuket ein Hotelressort entwickeln möchte.“
Nachdem Angelina nichts erwiderte, fuhr Rainer unglücklich fort:
„Weiß du, was ich nicht verstehe? Ich war mir so absolut sicher, dass Isabell meine tiefen Gefühle für sie erwidert hat. Doch von einer Minute auf die andere wandte sie sich plötzlich von mir ab. Und als ob sie mich damit nicht schon genug verletzt hatte, wurde sie dann auch noch von diesem elenden Hurenbock schwanger.“
„Hmm, wer sagt dir denn, dass dieses kleine Wesen in ihrem Bauch wirklich sein Kind und nicht deines ist?“, zog Angelina Rainers Behauptungen in Zweifel.
„Das ist doch absurd. Wenn Isabell wirklich von mir schwanger wäre, würde sie dieses Baby nie bekommen. Außerdem hat sie mir gesagt, dass sie verhütet.“
Wissend lächelte Angelina in sich hinein.
„Ach Junge, es ist schon erschreckend, wie unerfahren du in puncto weiblicher Psyche bist. Was Frauen sagen und dann wirklich tun, sind oft zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.“
„Nun, wenn ich schon so blöd sein soll, kannst du mir vielleicht sagen, was dann diese ganze Scheiße soll?“ 
Schmerz und Empörung hatten Rainers Stimme lauter werden lassen. Doch langsam begann er, die Tragweite von Angelinas Worten zu erfassen und neue Zweifel, aber auch vorsichtige Hoffnung begannen sich in seiner Seele zu regen.
„Vielleicht wollte Isabell einfach das Schicksal entscheiden lassen, ob sie von dir schwanger werden sollte oder nicht. Hast du mir nicht erzählt, dass sie von Max eine Geschlechtskrankheit übertragen bekommen hatte und deshalb die Pille absetzen musste? Allem Anschein nach gab es damit dann auch keine Verhütung mehr. Tatsache dürfte jedenfalls sein, dass sie bis Weihnachten keinen sexuellen Kontakt mit ihrem Mann mehr hatte und in dieser Zeit nur mit dir zusammen war. Rein nach der Wahrscheinlichkeit kommst du eher als Vater in Frage als Max“, stellte Angelina sachlich fest.
„Aber wieso sagt sie mir dann nichts?“ 
Verwirrt fuhr sich Rainer durch sein kurzes, blondes Haar. Er konnte sich einfach keinen Reim auf Isabells Verhalten machen.
„Ganz einfach, Junge, diese Frau liebt dich wirklich. Und wenn sie dich schon nicht haben kann, dann will sie zumindest etwas von dir, was sie an dich erinnert. Und was wäre da wohl besser als dein Kind?“
„Doch wenn das wirklich so sein sollte, was ist, wenn Max ihr auf die Schliche kommt?“
„Was sollte schon sein, wenn es so wäre? Max kann sich doch unmöglich von Isabell trennen. Eine Scheidung würde ihn viel zu teuer kommen. Außerdem scheint der Mann sie zu lieben, sofern er überhaupt zu einem solchen Gefühl fähig ist. Sehr viele Alternativen hat Max nicht, wenn er nicht draufzahlen will. Da ist es sicherlich das kleinere Übel, stillschweigend die Augen zu schließen und dein Kind als sein eigenes anzuerkennen.“
„Aber Angelina, dann ist es ja auch mein Kind! Ich kann doch unmöglich zulassen, dass dieses Schwein sich als Vater meines Sohnes oder meiner Tochter aufspielt?“ 
„Dann wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben als Isabell zur Rede zu stellen. Du hast die Wahl. Entweder du kämpfst um sie, um möglicherweise euer Kind und um euer Glück, oder du ziehst den Schwanz ein und überlässt sie Max.“

Kapitel 62

Aufgewühlt ging Rainer nach Hause. Er brauchte einfach Zeit, um diese neuen Erkenntnisse zu verarbeiten. Durch Angelinas Vermutungen waren Rainers Zweifel immer mehr der Gewissheit gewichen, dass in Isabell ihr gemeinsames Kind heranwuchs. Angelina wusste doch immer genau, wovon sie sprach. Sie wusste also auch, dass er der Vater war. 

Als ob diese Gewissheit für den heutigen Tag nicht schon genug starker Tobak gewesen wäre, erlebte er in dieser Nacht – sozusagen als kleine Draufgabe – die Fortsetzung seines Albtraumes. Doch dieser Traum war mit Abstand der furchtbarste, aber auch der berührendste aller seiner bisherigen Zeitreisen. 
Tief in seinen Gedanken an Isabell und die „Mine-Dedecting“ versunken, war Rainer wie üblich völlig übermüdet im Ohrenfauteuil vor dem offenen Kaminfeuer eingeschlafen. Sofort fand er sich in dieser erschreckend kalten, abweisenden und zutiefst deprimierenden mittelalterlichen Welt wieder. 

So großartig die Gemächer Papst Clemens VIII. mit allem nur erdenklichen Prunk und Luxus ausgestattet waren, so sehr ließ der Komfort in den Gefängniszellen der Engelsburg zu wünschen übrig. 
Dieser Februar war ungewöhnlich kalt. Außer den an den Wänden befestigten Öllampen, die ihr spärliches Licht durch die Gänge der Zellen warfen, gab es hier nichts, was Wärme spenden könnte. Zudem lag das Gefängnis auch noch einige Klafter über dem Boden, sodass der nasskalte Wind vom nahe gelegenen Tiber heraufkam und durch jede Ritze und Öffnung zog.
Das Aufeinanderprallen der im Freien herrschenden Kälte und den doch wenig wärmeren Temperaturen innerhalb der Gefängnismauern bildeten auf den nicht verputzten, riesigen Travertinquadern einen ständigen feinen Dunstfilm. Immer wieder begann dieser zu tropfen und überall sammelten sich auf dem ohnehin feuchten Lehmboden kleine und auch größere Lacken. Die modrig-abgestandene Luft in den fensterlosen Zellen und der scharfe Geruch der Exkremente, der aus den vielen hölzernen Kübeln aufstieg, erzeugten einen beinahe unerträglichen Gestank. Doch Ranolfo hatte sich im Laufe der Jahre auch an diesen furchtbaren Geruch gewöhnt. Das feuchte Stroh seines Liegeplatzes hatte sich schon längst in feinste Partikel aufgelöst. Nur die grob gewebte Rosshaardecke stellte noch einen gewissen Schutz gegen die erbarmungslose Winterkälte dar, die förmlich aus den Steinen zu kriechen schien. 
Ranolfos einst gutbürgerliche Kleidung hatte im Laufe der vielen Jahre seiner Einkerkerung unter argen Verschleißerscheinungen gelitten. Von seinem ehemals strahlend weißen Spitzenhemd aus feinstem Batist war nur noch ein dunkelgraues, völlig verschmutztes Fragment übriggeblieben. Auch seine Beinkleider, sein Wams und seine Schuhe waren längst bis zur völligen Unkenntlichkeit zerstört. Gleich zu Beginn seiner Haft waren die dünnen Seidenstrümpfe der ständigen Belastung des Tragens zum Opfer gefallen. Seither steckten seine nackten, von Rattenbissen übersäten Beine völlig schutzlos in dem löchrigen Etwas, was einmal seine Lederschuhe waren. Ranolfo war es ein Rätsel, wieso die Ratten so scharf auf seinen ausgemergelten und unterernährten Körper waren, obwohl sich doch kaum 50 Meter weiter die zum Bersten vollen päpstlichen Lagerräume für Weizen, Öl und Oliven befanden.
Doch letztendlich hatte das alles keinerlei Bedeutung mehr. Selbst seine chronische Bronchitis hatte er begonnen zu ignorieren. Im Laufe der Jahre hatte ihm der Skorbut fast alle seine Zähne geraubt und sein entzündetes und teilweise blutendes Zahnfleisch brannte höllisch. Bis vor kurzem hatte er noch versucht, seine von Rattenbissen eiternden Wunden so gut wie möglich zu behandeln. Doch nun erregten auch diese hässlichen Geschwüre kein besonderes Interesse mehr in ihm. Nur an diese verdammte Kälte hatte er sich nie gewöhnen können. 
Ranolfo war Süditaliener und liebte wie alle seine Landsleute nichts mehr als die Sonne und die Hitze. Wenn ein Neapolitaner drei Tage lang keine Sonne sah, verfiel er sofort in tiefste Depressionen, die er dann in viel Vino zu ersäufen versuchte. Doch kaum zeigte sich die Sonne, war die Welt wieder in Ordnung und man stieß wiederum mit viel Vino auf das neu gewonnene Leben an.
Ranolfo betrachtete die nackte Steinwand, wo er mit Hilfe eines rostigen, schmalen Eisenbolzens aus dem Scharnier seiner Zellentür die Tage, Wochen, Monate und schließlich Jahre seit seiner Inhaftierung in den kalten Stein geritzt hatte. Sehnsüchtig schloss er seine entzündeten Augen und dachte an Nola, den Ort seiner Kindheit. Wie gerne würde er noch einmal von den Abhängen des Vesuvs aus die aus dem Orient heimkehrenden Schiffe beobachten, deren weiße Segel sich majestätisch im heißem Sommerwind blähten und die, beladen mit allen möglichen Schätzen des Morgenlandes, schließlich im Golf von Neapel vor Anker gehen würden. 
Doch wonach er sich am meisten sehnte, war Isidora. Nur noch ein einziges Mal wollte er seine schöne Geliebte berühren und sein Gesicht in ihr duftendes, rotblondes Haar vergraben. 
Doch wie so oft wurde Ranolfo durch die markerschütternden Schmerzensschreie eines zur Folter Verurteilten aus diesen wunderschönen Tagträumen gerissen. Im Laufe der Jahre hatte er aufgrund der Intensität und dem Tonfall der unterschiedlichen Schreie zu differenzieren gelernt, ob es sich bei dem Gepeinigten um einen Einsteiger handelte oder ob der Gefangene schon Bekanntschaft mit dem äußerst umfangreichen und sehr schmerzintensiven Sortiment an Folterwerkzeugen der Henker gemacht hatte. In der Regel jammerten die bereits Wissenden von dem Augenblick an, wo sie brutal aus ihren Zellen gezerrt wurden. Diese armen Teufel wussten bereits, welch unermessliche Qual auf sie wartete.
Meist versuchten diese Pechvögel, so rasch es ging in Ohnmacht zu fallen, um diesen höllischen Schmerzen so schnell wie möglich zu entgehen. Vor Ranolfos innerem Auge trottete eine lange Prozession aus vielen gequälten und verstörten Gesichtern vorbei, die diese ungeheuren Schmerzen durch gespickte Hasen, Knieschraube, Kopfpresse, Würgeisen, Kettengeisel oder Judaswiege nicht mehr ausgehalten hatten.
Sie waren bereit gewesen, alles zu gestehen, was ihnen die heilige Inquisition der römisch-katholischen Kirche vorgeworfen hatte, nur um diesen fürchterlichen Qualen endlich ein Ende zu setzen. Nicht selten erlag einer dieser armen Gemarterten noch auf der Streckbank seinen Mißhandlungen. Wenn es sich bei dem Gefangenen um einen armen Mann ohne familiären Anhang gehandelt hatte, wurde sein Leichnam ohne viel Federlesen direkt von der Brüstungsmauer in den Tiber entsorgt.
Das alles geschah im Namen Gottes und zu seinen Ehren. Welch böser und hinterhältiger Gott musste das sein, der zuließ, dass in seinem Namen anständige und vor allem unschuldige Lämmer seiner Herde so gepeinigt und gequält werden durften? Dieser vermeintlich so großmütige und gerechte Gott war doch in Wirklichkeit nichts anderes als ein extrem perfides Werkzeug des Teufels. Zuerst wollte er angebetet und verehrt werden. Doch wenn man Pech hatte und zur falschen Zeit am falschen Ort war, standen die Chancen ziemlich gut, von seinen obersten Vertretern in seinem Namen zu Tode gefoltert zu werden.
Ranolfo erhob sich von seiner durchlöcherten Decke und humpelte die schmale Zelle auf und ab. Mit lauter Stimme zitierte er die Metamorphosen des Ovid, um dabei so gut wie möglich die immer lauter werdenden Schmerzensschreie zu ignorieren. Das Gehen half ihm dabei abzuschalten. Er wusste nur zu gut, dass diese Schreie bald in ein erschöpftes Wimmern übergehen und schließlich ganz verstummen würden. Dann würden die Henkersknechte den leblosen Körper dieser gemarterten Kreatur in ihre Zelle zurückschleifen, wo dann der Misshandelte mit seinen schweren Verletzungen sich selbst überlassen war.
Ranolfo hatte Glück gehabt, dass der Papst die Folter an ihm ausdrücklich untersagt hatte. Zumindest war ihm diese Tortur erspart geblieben. In all den langen Jahren seiner Einkerkerung war er kein einziges Mal auf die Streckbank gelegt worden und er hatte auch keine Bekanntschaft mit der Neunschwänzigen machen müssen. Zu Beginn seiner Inhaftierung, als er noch genug Kraft und Kampfeswillen hatte, um sich gegen alles und jedes aufzulehnen, hätte ihn sein Inquisitor Kardinal Bellarmin nur zu gern den fachkundigen Händen seiner Schergen übergeben. 
Doch im Laufe der Zeit hat Ranolfo immer mehr zu zweifeln begonnent, ob er nicht doch lieber die Schmerzen an seinem Körper ertragen hätte als diese unendlichen geistigen Qualen, denen man ihn ausgesetzt hat. Er durfte weder schreiben noch lesen. Für einen Denker, Gelehrten und Philosophen war das die härteste aller Strafen. 
Seufzend lehnte sich Ranolfo an die feuchtkalte Mauer. Bald würde er frei sein. Weder die Kurie noch die von ihr gesteuerten weltlichen Institutionen würden ihm dann noch etwas anhaben können. Morgen früh, am 17. Februar des Jahres 1600, würde man ihn am Campo di Fiori als reuelosen, starrköpfigen und verbissenen Häretiker am Scheiterhaufen hinrichten. Und wie üblich würde die Kirche selbst mit dieser Verbrennung nicht das Geringste zu tun haben und ihre Hände in Unschuld waschen. In all ihrer Menschlichkeit, Großmut und fürsorglichen Nächstenliebe hatte sie auch ihn der weltlichen Macht übergeben, die diese Drecksarbeit verrichten musste. 
Vor vielen Jahren war dem Papst eine Liste Ranolfos sämtlicher Werke über Theologie, Magie, Philosophie und Naturwissenschaften vorgelegt worden. In der Folge musste er vor dem Inquisitionsgericht zu einer ganzen Reihe von beanstandeten Thesen Stellung nehmen, die er in seinen Büchern erörterte. Darin hatte Ranolfo behauptet, dass es unzählige Welten geben müsse und dass Seelen von einem Körper in den nächsten oder in eine andere Welt und Zeit wandern könnten. Magie hielt er für absolut nützlich und zulässig. Deshalb war Ranolfo auch felsenfest davon überzeugt, dass Moses seine Wunder mit Hilfe dieser Magie vollbringen konnte. Die alten Ägypter waren ganz einfach doch nicht so klug und wissenschaftlich bewandert gewesen. 
Die Heilige Schrift war für Ranolfo eine groß angelegte Täuschung gewesen. Außerdem war er davon überzeugt, dass selbst der Teufel Gutes bewirken könne. Ja, er hatte sogar zu behaupten gewagt, dass Christus nicht Gottes Sohn war. Viel eher hielt er ihn für einen besonders gebildeten und meisterhaften Zauberer, der die Menschen an der Nase herumgeführt hatte und deshalb zu Recht gehängt und nicht wie überliefert gekreuzigt worden war.
Ranolfo hatte keine Chance gehabt, diesen indoktrinierten Kuttenträgern seine Theorien näherzubringen oder diese wenigstens zu diskutieren. Es war ihm unmöglich gewesen, durch diese undurchdringliche Wand aus Opportunismus, Intoleranz und Überheblichkeit zu dringen.
Deshalb hatte Ranolfo auch um eine Audienz bei Papst Clemens VIII. gebeten. Er hatte gehofft, im Oberhaupt der Katholischen Kirche etwas mehr Weitblick und Erhabenheit zu finden als in seinen speichelleckenden Kardinälen und Bischöfen. Von diesen kleingeistigen Bürokraten, die nur darauf bedacht waren, sich selbst und das starre System des Klerus mit seinen veralteten Strukturen und seiner menschenverachtenden Glaubensideologie unanfechtbar zu erhalten, hatte er keinerlei Verständnis erwarten können. Doch seine Bitte, bei Papst Clemens VIII. vorzusprechen, war ihm immer wieder verwehrt worden.
Wegen seiner Gotteslästerungen und Verfehlungen war Ranolfo vom „heiligen“ Offizium der Inquisition vielfach verhört worden. Doch nachdem es ihm immer wieder gelungen war, den Kardinalpräfekten und den langen Schweif der Mitglieder der Glaubenskongregation in die Enge zu treiben, hatte man ihm schließlich ein Ultimatum von 40 Tagen gestellt, um sämtliche seiner Thesen zu widerrufen.

Doch er hatte keinerlei Anstalten mehr gemacht, in all den vielen Anklagepunkten zu widerrufen. Ranolfo hatte die Hoffnung längst aufgegeben, sein Leben durch irgendeinen Widerruf noch retten zu können. Denn welches Leben hätte er dann noch zu erwarten? Es war ihm durchaus bewusst, dass ihn die Inquisition selbst nach einem vollständigen Widerruf niemals wieder freilassen konnte. Für sie war und blieb er ein Ketzer und Aufwiegler, ein Feind, der die Kirche verhöhnte und deren Doktrin und damit den Heiligen Stuhl in Frage stellte. Aus dieser Überlegung heraus hatte sich Ranolfo für das kleinere Übel entschieden. Er wollte lieber den Märtyrertod sterben als irgendwo im hintersten Eck dieses menschenunwürdigen Kerkers langsam zu verrecken. 
Ranolfo sah seinem letzten Morgen seines Lebens mit gemischten Gefühlen entgegen. Immer wieder befielen ihn Zweifel, ob er wirklich das Richtige getan hatte. Was hatte er nur falsch gemacht, dass sein Leben jetzt so tragisch enden musste?
Traurig legte er sich wieder auf seine verdreckte Decke und rollte sich wie ein Embryo zusammen, um im Schlaf die quälende Kälte, seine Schmerzen und den bohrenden Hunger in seinem Magen zu vergessen. Doch Ranolfo war viel zu aufgewühlt, um erlösenden Schlaf zu finden. Ein Rascheln ließ ihn wieder seine müden Augen öffnen und er beobachtete eine schmutzige Ratte, die mit vorsichtiger Neugier an der Zellenwand entlanglief und nach Nahrung suchte. Für einen kurzen Moment beneidete er diesen kleinen, ekelhaften Nager, dessen einziges Sinnen und Trachten nur darauf ausgerichtet war, zu fressen, zu schlafen und sich zu vermehren.
Ohne dem Tier noch weiter Beachtung zu schenken, schloss Ranolfo wieder seine Augen. 
Wie wäre sein Leben wohl verlaufen, wenn er nicht genau in diese Zeit der Umwälzungen und des geistigen Wandels hineingeboren worden wäre, in welcher der calvinistisch–lutherische Protestantismus das bis dahin unumschränkt herrschende Papsttum in Frage stellte und seine damit verbundene Machtposition schmälerte? Hätten sich diese großen Zweifel gegenüber der Kirche denn überhaupt seiner bemächtigt, wenn Kopernikus nicht bewiesen hätte, dass das bisherige Weltbild des Griechen Ptolemäus, das vom Vatikan wie ein Dogma behandelt wurde, falsch war. Dass nicht die Erde Mittelpunkt des Planetensystems war, sondern die Sonne im Zentrum aller Planetenbahnen stand und so gesehen die Erde einen peripheren und mit den anderen Planeten völlig gleichwertigen Platz im Universum einnahm? Dieses neue heliozentrische Weltbild wies daher dem Stellvertreter Gottes auf Erden eine wesentlich untergeordnetere Rolle zu, was den absoluten Machtanspruch der Kirche erheblich schmälerte. Viele bedeutende Denker der damaligen Zeit wie Kepler oder Galilei schlossen sich den Ansichten Kopernikus‘ an und erbrachten rasch eigene Beweise, dass dessen Behauptungen völlig richtig waren. Mit diesen wissenschaftlich belegten Erkenntnissen wurde erstmals auch ganz offensichtlich, dass systematisches Beobachten, Analysieren und Berechnen dem bloßen Interpretieren vieler in der Bibel enthaltenen Aussagen weit überlegen war. 
Wären die turbulenten Berg- und Talfahrten seines Lebens aufgrund seines aufwieglerischen Geistes ausgeblieben, wenn er nichts von diesen neuen und umwälzenden Denkweisen erfahren hätte? Oder hätte sich sein rebellisches, der Kirchenlehre absolut diametrales Denken sogar in Grenzen gehalten, wenn er Isidora schon früher begegnet wäre?
Tief in seinem Inneren wusste Ranolfo aber, dass seine unermesslich wilde Gier nach Wissen, Aufklärung und neuen Erkenntnissen trotzdem nie verstummt wäre. Sein Geist glich der ständig brodelnden Lava des Vesuv, der immer wieder eruptierte und dabei Magma aus seinem tiefsten Inneren in feurigen Fontänen in die heile Welt hinausschleuderte und damit Unwillen, Befremdung, ja Angst und Hass verursachte.
Schon als Novize im Dominikanerorden war Ranolfo erstmals in Konflikt mit den offiziellen Vertretern der Kirche geraten. Er hatte die Marienverehrung abgelehnt und keine Heiligenbilder in seiner Zelle geduldet. Schon im Alter von 18 Jahren war er wegen diesem Verhalten angeklagt worden. Seinem Abt war es aber damals noch gelungen, die Anklage niederzuschlagen. Doch die immer wiederkehrenden Konflikte mit den Glaubenslehren der „heiligen“ katholischen Kirche und die damit verbundenen Konfrontationen mit der Glaubenskongregation waren auch nach seiner Priesterweihe und nach dem Abschluss seines Theologiestudiums nicht verebbt; ganz im Gegenteil. 
In Neapel war Ranolfo der Boden schließlich zu heiß geworden und er entschloss sich zur Flucht. So begann der lange Weg seiner ruhelosen Wanderschaft durch halb Europa und Ranolfo wurde immer mehr zum Getriebenen. Selbst seine Konversion zum Calvinismus brachte ihm letztendlich nicht die erhoffte Ruhe und vollständige Zustimmung. Die von ihm verfasste Streitschrift gegen den Philosophieprofessor Antoine de la Faye, einem führenden Calvinisten, hatte ihn in Genf sogar kurzzeitig ins Gefängnis gebracht, bis er seine Thesen widerrief. 
So zog er schließlich weiter nach Toulouse, Paris, London, Marburg, Prag und Frankfurt. Doch überall geriet Ranolfo mit seinen undiplomatischen und absolut kirchenfeindlichen Äußerungen in Konflikte und löste in einer Gesellschaft mit fest verankerten Glaubensdogmen heftige Entrüstung und wütende Reaktionen aus.
Nach beinahe 20 Jahren der Ruhe- und Rastlosigkeit begann Ranolfo, sich nach Kontinuität, Eintracht und Frieden zu sehnen. Er war es leid, sich mit opportunistischen und bornierten Kleingeistern herumzuquälen. Der Drang, den Menschen seine Philosophie, seine logischen Erkenntnisse und seine Sicht der Wahrheit zu vermitteln, hatte jetzt deutlich nachgelassen. Mit zunehmendem Alter musste Ranolfo deprimiert erkennen, dass die Welt für den Aufbruch in eine neue Zeit und für Auseinandersetzungen auf wissenschaftlicher Ebene einfach noch nicht reif war. 
Ranolfo sehnte sich plötzlich wieder nach dem Zuhause seiner Kindheit. Seine Heimat Neapel, die Sonne, das Meer und der Duft von reifen Zitronen und von frischem Thymian und Rosmarin fehlten ihm immer mehr. Er wollte endlich zur Ruhe kommen und mit dieser so uneinsichtigen und dummen Kirche seinen Frieden schließen. Zu diesem Zwecke wollte Ranolfo die Neuauflage einer seiner Schriften dem neuen Papst Clemens VIII. widmen. 
Der Zufall wollte es, dass der Patrizier Francesco Montanigo bei Ranolfo anfragte, ob er bei ihm Privatunterricht nehmen könne. Der reiche venezianische Kaufmann wollte in die Gedächtniskunst eingeweiht werden. Dieses Angebot nahm der Philosoph nur zu gerne an, da die Stelle einer Professur für Mathematik, für die er sich in Padua beworben hatte, bereits an Galilei vergeben worden war. In Venedig fühlte er sich zumindest vor dem Zugriff Roms sicher, da diese Stadt zu der Zeit ein unabhängiger und mächtiger Staat war. Außerdem brauchte er dringend Geld.
Ohne allzu große Erwartungen war Ranolfo aus der Gondel gestiegen und betrat den imposanten Palazzo Montanigos, der in unmittelbarer Nähe des Dogenpalastes lag. Der Reichtum des Venezianers war hier allgegenwärtig. Riesige Kandelaber leuchteten mit einer Unzahl von brennenden, parfümierten Kerzen das mit Carrara-Marmor ausgelegte Stiegenhaus aus. Imposante Deckenfresken, aufwändig gearbeitete Mosaike, die springende Delphine und Meerjungfrauen zeigten, und dicht geknüpfte Wandteppiche mit verschiedensten Jagdmotiven vervollständigten das teure und sehr erlesene Mobiliar in den beeindruckenden Räumlichkeiten, durch die Ranolfo vom Majordomus geführt wurde. Als die beiden Männer in einem hohen, hellen Raum in einem der oberen Stockwerke angekommen waren, verbeugte sich der Diener und zog sich schweigend zurück. Das riesige Zimmer war so imposant und aufwändig eingerichtet, dass er sie anfänglich gar nicht darin sitzen sah. Erschrocken war Ranolfo zusammengezuckt, als ihn eine weiche, wohlklingende Frauenstimme begrüßte: 
„Es ist mir eine Freude und Ehre zugleich, Euch im Haus meines Mannes begrüßen zu dürfen, Signore Prado.“
Jetzt erst sah er sie und für einen Moment stand für ihn die Welt still. Unbewusst hielt Ranolfo seinen Atem an, als sich ihre Blicke trafen. Noch nie in seinem Leben war er einer so schönen und begehrenswerten Frau begegnet. In all den Jahren seines unsteten Wanderlebens hatte er zwar viele Frauen getroffen, doch selten war es einem Wesen dieser Spezies gelungen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Waren sie schön, dann fehlte es ihnen meist an Geist, der die äußerliche Schönheit erst richtig zum Strahlen bringen konnte. Doch begegnete ihm einmal eine Frau, die ihn nicht gleich durch ihr einfaches Gemüt abschreckte, sondern wohltuende Inspiration vermittelte, dann war sie meist ziemlich hässlich. Noch nie war ihm ein weibliches Wesen über den Weg gelaufen, in dem sich Geist und Schönheit dermaßen ergänzten. Und so ein Prototyp dieses leider viel zu seltenen Frauentyps war Isidora Montanigo.
Ranolfo weidete seinen Blick an dieser zierlichen, kleinen Frau, die ihr rotblondes, mit bunten Bändern verflochtenes Haar nicht, wie es der Mode verheirateter Frauen entsprochen hätte, unter einer unförmigen Hörnerhaube versteckte, sondern es durch ein goldenes Haarnetz zusammenhielt. Ihr rostrotes Obergewand aus schwerem Samt hatte eine mit goldenen Kordeln geschnürte Korsage, deren tiefes Dekolleté wunderschöne, blasse Brüste erahnen ließ. Das eng anliegende Kleid fiel ab der Taille in eine Unzahl von tiefen Falten, die in einer langen Schleppe endeten. Aber auch die trichterförmigen, fast am Boden streifenden Ärmel unterstrichen ihren zierlichen und anmutigen Wuchs noch. Doch das Schönste an diesem ätherischen Wesen waren ihre samtigen grünen Augen, die an einen stillen und tiefen Waldsee erinnerten. Unwillkürlich verspürte er den Wunsch, in diese Augen einzutauchen und niemals mehr aus diesem Traum zu erwachen.
„Signore Prado! Seid Ihr noch da?“ 
Schlagartig wurde Ranolfo aus seinen Tagträumen gerissen. Rasch begrüßte er die Dame des Hauses mit einer tiefen Verbeugung.
„Verzeihung, ich war von Eurer Schönheit so geblendet, dass ich ein wenig sprachlos war“, gestand er Isidora ohne Scham.
Überrascht über seine offenen und ohne Hintergedanken gesetzten Worte blickte sie zu dem hochgewachsenen, hageren Mann hoch. 
„Mein Herr, ein Mann Eurer Intelligenz und Bildung, deren größte Bewunderin ich bin, ist angetan von einem schwachen Weib?“ 
„Ja, ich muss offen und ehrlich gestehen, dass mir ein solcher Moment der Gefühlsaufwallung noch nie widerfahren ist.“
Sich über die Etikette hinwegsetzend ergriff sie ohne zu zögern seine Hände und drückte sie sanft.
„Ich fühle mich zutiefst geschmeichelt, Signore Prado.“ 
Dann ließ sie seine Hände aber schnell wieder los, was Ranolfo zutiefst bedauerte. 
„Es tut mir unsäglich leid, doch mein Gatte hat mir eine Depesche zukommen lassen, worin er mich bat, Euch mitzuteilen, dass er unvorhergesehen in Genua aufgehalten wird. Eines seiner Schiffe ist noch ausständig und er muss die Lieferung abwarten. Das Schiff dürfte in einen heftigen Sturm geraten und ziemlich weit vom Kurs abgekommen sein. Ich darf Euch daher auch in seinem Namen willkommen heißen und Euch bitten, Euch hier wie zu Hause zu fühlen.“
Ranolfo hatte keineswegs das Gefühl, dass diese Verspätung Isidora leid tat, denn ihre Augen hatten eine ganz andere Sprache gesprochen.

Dieser Abend in ihrer Gesellschaft zählte zu den schönsten, an die sich Ranolfo erinnern konnte. Isidora konnte ohne Weiteres mit Aspasia verglichen werden, der sie an Geist, Schönheit, Bildung und Witz um nichts nachgestanden hätte. Immer wieder trafen sich ihre Blicke und wie unabsichtlich berührten sich ihre Hände, sodass die Luft im Laufe des Abends vor Spannung und Erotik zu knistern begann.
Es war schon ziemlich spät am Abend, als sich die beiden in ihre Gemächer zurückzogen. Doch es dauerte nicht lange und Ranolfos innigster Wunsch ging in Erfüllung. Der schwere, geschlossene Brokatvorhang seines Alkovens wurde kurz zur Seite geschoben und keinen Augenblick später spürte er einen zarten, duftenden Frauenkörper in seinen Armen, der sich weich an ihn schmiegte.
Obwohl Ranolfo in der Dunkelheit nicht einmal seine Hand vor den Augen sehen konnte, wusste er doch, dass Isidora ihn schweigend zu liebkosen und küssen begann, so, als ob das niemals anders gewesen wäre…
Dieser Nacht folgten noch viele andere. Jede einzelne dieser wunderbaren Nächte wurde von beiden als besonderes Geschenk des Schicksals empfunden. Denn nicht nur ihre Körper waren eins geworden, sondern auch ihrer beider Geist und Seele. Während des Tages verhielt sich das Liebespaar sehr distanziert und höflich zueinander, sodass die Domestiken keinerlei Verdacht schöpfen konnten. Doch viele Andeutungen und versteckte Gesten vermittelten dem anderen ein ständiges und unsäglich inspirierendes Gefühl von Nähe, Vertrautheit und Liebe. Nacht für Nacht schlich sich Isidora in sein Zimmer, sodass sich bald ein besonderes Band um Ranolfo und Isidora webte. Ihre langen philosophischen Gespräche und die Erzählungen aus ihrer beider Leben wurden immer wieder durch leidenschaftliche Wollust unterbrochen. In diesen Nächten hat Ranolfo erfahren, wie unsäglich wohltuend es war, endlich mit einem Menschen im Einklang zu schwingen und nur glücklich zu sein. Noch nie hatte Ranolfo bei einer Frau solch wunderbare Gefühle verspürt wie bei Isidora. Zum ersten Mal in seinem Leben war er rundherum glücklich und zufrieden. Dieses völlig neue und berauschende Empfinden, sich nicht getrieben zu fühlen, verstanden zu werden und sich nicht verteidigen oder rechtfertigen zu müssen, weckte in ihm eine bisher nie gekannte Sehnsucht nach einer Familie, einem richtigen Zuhause.
In diesen kalten, langen Winternächten erfuhr Ranolfo, dass Isidora als einziges Kind einem alten venezianischen Adelsgeschlecht entsprang. Durch Fehlinvestitionen und Misswirtschaft ihres Vaters war die ohnehin nicht sehr vermögende Familie bald verarmt gewesen. Der einzige Ausweg aus dieser Misere war die Verheiratung ihrer damals zwölfjährigen, schon ungewöhnlich schönen Tochter mit dem damals schon alternden, aber dafür sehr reichen Francesco Montanigo. Jeder einzelne Tag dieser mittlerweile 13 Jahre dauernden Ehe war eine Qual für Isidora gewesen. All der Pomp und Reichtum hatten das Gefühl des Ekels und Widerwillens nicht beseitigen können, den sie für Montanigo empfand. Er war ein ausnehmend geldgieriger, gerissener und sehr gewiefter Kaufmann der übelsten Sorte. Für einen zusätzlichen Scheffel Korn ging Montanigo buchstäblich über Leichen. 
Isidora drängte Ranolfo, Venedig zu verlassen, bevor ihr Gatte wieder in der Stadt eintreffen würde. Sie wollte Mittel und Wege finden, ihm nach Sizilien zu folgen, um mit Ranolfo ein einfaches, aber glückliches Leben zu führen. Doch Ranolfo zögerte einen Tag um den anderen hinaus, da er das Glück mit Isidora so lange wie möglich auskosten wollte.

Doch eines schönen Nachmittags war es zu spät gewesen. Isidora spielte Ranolfo gerade auf der Laute vor, als Montanigo unangemeldet in die Bibliothek preschte. Der kleine, untersetzte Mann brachte so viel Kälte mit ins Haus, dass Ranolfo unwillkürlich fröstelte. Montanigo ignorierte die geringsten Höflichkeitsregeln und begrüßte weder seine Frau noch Ranolfo. Mit der ihm eigenen Überheblichkeit baute sich der Zwerg vor Ranolfo auf. 
Um sein Manko an Größe zu kompensieren, trug Montanigo nebst seiner sehr hoch toupierten schwarzen Lockenperücke ein übermäßig wattiertes, giftgrünes Wams um seinen ohnehin ziemlich voluminösen Bauch. Der ausladende spanische Kragen ließ seinen sehr kurzen Hals in der eng gelegten Halskrause völlig verschwinden. Die aus demselben Stoff gearbeitete ausgestopfte Melonenhose bekleidete dafür zwei unwahrscheinlich dünne Storchenbeine. Ranolfo konnte kaum glauben, dass so spindeldürre Beine in der Lage waren, diesen feisten Oberkörper zu tragen. Unwillkürlich erinnerte ihn der Anblick dieses Mannes mit seinen kalten, hervorstehenden, aber ungemein intelligenten Knopfaugen an eine widerliche, hässliche Erdkröte, die gierig nach jeder vorbeischwirrenden Fliege schnappt.
Nachdem ihn dieser herausgeputzte Gockel von oben bis unten mit einer beinahe unerträglichen Taktlosigkeit gemustert hatte, stellte er schließlich ziemlich nüchtern fest: 
„Nun, ich hatte eine andere Vorstellung von Euch, Prado. Man hat Euch mir als einen imposanten und charismatischen Mann beschrieben. Ich hoffe doch sehr, dass Euer Geist und Eure Intelligenz Euer äußeres Erscheinungsbild Lügen straft. Denn wenn ich Euch so betrachte, hat es fast den Anschein, dass Ihr kaum des Schreibens mächtig seid.“
Nicht nur die maßlose Arroganz und grenzenlose Unhöflichkeit ließ Ranolfo zornig werden, sondern auch diese piepsende Kastratenstimme trieb ihn fast zur Weißglut. Ranolfo war gerade im Begriff, seinem Unmut mit einigen sehr gewagten Worten Luft zu machen und diesem kurzbeinigen, selbstgefälligen Pimpf verbal in die Erde zu stampfen, als Isidora bittend ihren Kopf schüttelte. Ranolfo atmete noch einmal tief durch, sodass diese erste Woge seiner aufgestauten Wut ein wenig abklingen konnte.
„Signore Montanigo, ich bin nicht nur des Schreibens und des Lesens mächtig, ich bin auch in Philosophie, Theologie, Mathematik und der Physik bewandert“, entgegnete Ranolfo mit eisiger Zurückhaltung.
„Nun gut, ich werde Euch morgen ob Eures Wissens auf die Probe stellen, um zu sehen, ob Ihr das Geld wert seid, das ich gewillt bin, in Euch zu investieren. Ich erwarte Euch um 8.00 Uhr hier in der Bibliothek. Ihr dürft Euch jetzt entfernen.“
Die Unhöflichkeit, mit der Ranolfo behandelt wurde, ließ ihn schaudern. Von Fürsten und Königen war er mit wesentlich mehr Hochachtung behandelt worden als von diesem aufgedunsenen, fetten Schwein. Er war weder zum Abendessen gebeten worden noch hatte ihn Isidora in dieser Nacht besucht. Traurig musste er zur Kenntnis nehmen, dass der Zauber viel zu rasch vorbei war und die kalte Realität ihn und Isidora eingeholt hatte. Jetzt erst konnte er so richtig verstehen, wieso ihn seine Geliebte so gedrängt hatte, dass er ging, noch bevor Montanigo nach Hause zurückkehrte. 
In den nächsten Tagen versuchte Ranolfo redlich, den Kaufmann in der Gedächtniskunst zu unterrichten. Doch Montanigos Interesse und seine Aufmerksamkeit hielten sich in Grenzen und er schweifte immer wieder ab. Offensichtlich interessierte es ihn mehr, in die magische Kunst der Goldherstellung eingeweiht zu werden. Ranolfo versuchte, dem habgierigen Mann klarzumachen, dass er die Formel, nach der Montanigo so gelüstete, nicht kannte und diese höchstwahrscheinlich auch nur als Wunschdenken von Träumern existierte. Doch Montanigo war fest davon überzeugt, dass es diese Wunderformel geben musste und setzte Ranolfo immer mehr unter Druck.
Ranolfo wusste nun, dass es nun wirklich höchste Zeit war zu verschwinden. Nicht nur, dass er dieser widerlichen Krämerseele den Wunsch nach noch mehr Reichtum nicht erfüllen konnte und es auch nicht wollte, ist es ihm auch unerträglich geworden, Isidora nicht mehr berühren zu dürfen. 
In einem unbeobachteten Moment warnte ihn Isidora und drängte ihn erneut zur Flucht. Aufgeregt holte sie einen Beutel Goldstücke aus den tiefen Falten ihrer Tunika hervor und drückte ihn Ranolfo in die Hand. 
„Liebster, nimm das Geld und flieh so schnell wie möglich. Ein Domestik muss mich beobachtet haben, als ich in einer unserer Nächte zu dir geschlichen bin und hat Montanigo davon in Kenntnis gesetzt. Er hat mich deshalb zur Rede gestellt und wollte von mir wissen, ob uns in seiner Abwesenheit mehr als nur reine Gastfreundschaft verbunden hat. Gott sei Dank konnte ich seine Anschuldigungen ziemlich überzeugend widerlegen. Doch nicht nur dieser Verdacht erzürnt ihn, sondern auch jener Umstand, dass dich mein Gatte für einen großen Magier hält und fest davon überzeugt ist, dass du ihm die Formel für die Aufbereitung von Gold absichtlich vorenthältst.“ 
Isidora lief völlig verängstigt zur Tür und blickte in das Stiegenhaus hinunter. Doch es war so still, dass man eine Nadel hätte fallen gehört.
„Liebster, geh jetzt. Beim hinteren Ausgang des Hauses sind die Boote festgebunden. Nimm eines davon und versuche damit, das Festland zu erreichen.“
Isidoras Nervosität hatte sich nun auch auf Ranolfo übertragen. Rasch ließ er den Beutel unter seinem Hemd verschwinden und eilte beunruhigt zur Tür. Doch bevor er seine Flucht antrat, schloss er noch einmal die Tür und nahm Isidora zum Abschied ein letztes Mal in seine Arme. Fast brutal drückte er ihren zarten Körper an sich und küsste sie mit aller Leidenschaft. 
„Ich liebe dich, Isidora, wie ich noch nie einen anderen Menschen geliebt habe. Die Tage mit dir waren so unbeschreiblich schön, dass ich sie nie werde vergessen können. Es war bestimmt die wunderbarste Zeit in meinem Leben.“
Ranolfo warf einen vorsichtigen Blick in das menschenleere Treppenhaus. Ein letztes Mal wandte er sich Isidora zu und ihre unglücklichen und doch so liebenden Blicke trafen sich.
„Ich warte in Nola auf dich“, flüsterte er Isidora noch hoffnungsvoll zu, ehe er wie vom Teufel gejagt die Stufen des Stiegenhauses hinunterrannte. Vorsichtig öffnete Ranolfo die schwere Tür zum Hinterausgang, wo die Boote der Montanigos festgebunden lagen und träge im trüben Wasser schaukelten. Doch kaum hatte er den schmalen hölzernen Pier betreten, fielen von beiden Seiten Montanigos Schergen über ihn her und überwältigten ihn. Brutal wurde Ranolfo auf die feuchten Holzbalken des Stegs geworfen und seine Hände am Rücken gefesselt. Dann wurde er wieder hochgerissen und in das Kontor ihres Herrn geschleppt. 
Montanigo hatte ihn bereits erwartet. Sein zufriedenes, siegessicheres Lächeln triefte vor überheblicher Selbstgefälligkeit, was Ranolfo an diesem aufgeplusterten Hahn besonders verachtete. Zufrieden ging Montanigo um Ranolfo herum und blickte schadenfroh zu ihm auf.
„Wie ich sehe, wolltet Ihr ohne Abschied und auch ohne Lohn abreisen. Das kann ich jedoch unmöglich zulassen. Denn bevor Ihr uns verlassen dürft, steht noch eine kleine Information aus, die Ihr mir bis jetzt vorenthalten habt. Nennt mir also diese besondere Formel, nach der mich gelüstet, und Ihr könnt gehen, wohin auch immer Ihr wollt.“
Montanigos aufgeregte und krächzende Fistelstimme ging Ranolfo durch Mark und Bein und förderte seinen Widerwillen gegen diesen arroganten Laffen noch mehr.
„Signore Montanigo, zum hundersten Mal, mir ist diese Formel der Goldherstellung nicht bekannt. Ich bezweifle auch sehr, dass es sie wirklich gibt. Glaubt Ihr denn wirklich, ich würde hier in Euren Diensten stehen, wenn ich dieses geistigen Besitzes mächtig wäre?“
„Schade, Prado, wirklich schade, dass Ihr mich nicht in Euer kleines Geheimnis einweihen wollt“, beharrte Montanigo auf seiner Überzeugung. 
„So bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Euch wegen Häresie der Inquisition zu übergeben. Zumindest ist dies ein kleiner Trost für die erlittene Schmach, die ich durch Euch erdulden musste, da Ihr meinem Weib weit mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht habt als mir.“
Blitzschnell griff Montanigo in das geöffnete Hemd Ranolfos und holte den vollen Geldbeutel hervor.
„Wie ich sehe, seid Ihr von meinem Weib für Eure Dienste schon reichlich entlohnt worden. Für meine Begriffe ist das allerdings viel zu viel. Der einzige Lohn, der Euch zusteht, ist, im Kerker zu verfaulen.“ 

Anfangs hatte Ranolfo noch gehofft, dass er der venezianischen Inquisition unterstellt bleiben und ein relativ mildes Urteil erhalten würde, wenn er die lange Liste von belastenden Äußerungen teilweise widerriefe. Aber inzwischen hatte Rom von seiner Verhaftung erfahren und der oberste Inquisitor, Kardinal Santaserverina, forderte von Venedig seine Auslieferung an die Kurie in Rom.
Seither waren mehr als sieben lange Jahre vergangen. Montanigos Prophezeiung ist auch wirklich in Erfüllung gegangen. Er begann im wahrsten Sinne des Wortes langsam zu verfaulen. Seufzend setzte sich Ranolfo wieder auf und wickelte die Decke um seinen frierenden Körper. Unmöglich konnte er jetzt noch Schlaf finden. Er lehnte sich an die kalte Steinwand und schloss seine schmerzhaft eiternden Augen, die durch einen chronischen Katarrh wie die Hölle brannten. 
In all den langen Jahren hatte ihn Isidora kein einziges Mal besucht. Von einem aus Venedig stammenden Häftling hatte er erfahren, dass Montanigo seine Isidora wie eine Gefangene behandelte. Sie durfte keine Gäste mehr empfangen und nur noch in seinem Beisein und in tiefer Verschleierung das Haus verlassen. 
Als Ranolfo von ihrem Schicksal erfuhr, lächelte er bitter in sich hinein. So waren sie wohl beide zu Gefangenen geworden. Doch Ranolfo wusste, dass sie ihn nicht vergessen hatte. Sie hat dafür gesorgt, dass er zumindest ab und zu etwas Anständiges zu essen bekam. Sicherlich wäre er sonst schon längst verhungert, da Häftlinge keinen Anspruch auf eine Mahlzeit hatten. Sie mussten von Familienangehörigen oder Freunden versorgt werden. Da Ranolfo weder Familie noch Freunde hatte, war Isidora die einzige in Frage kommende Person, der er das bisschen Käse, Fleisch und Brot zu verdanken hatte, das er ein- bis zweimal in der Woche vorgesetzt bekam.
Im Kerker war nun die stillste Zeit angebrochen. Zwischen Mitternacht und ca. vier Uhr früh war es hier drinnen angenehm ruhig. Nur das Rascheln und Quietschen der Ratten und Mäuse war noch zu hören. Auch die durch die Folter gepeinigten Gefangenen hatten nun zu jammern aufgehört und waren für kurze Zeit in einen erlösenden Schlaf gefallen. Für Ranolfo war es irgendwie unwirklich und befremdend, dass diese Nacht nach so vielen Hunderten von Nächten die letzte in seinem Leben sein sollte.
Plötzlich hörte er Schritte, die sich rasch näherten. Ohne weiters darauf zu achten, hielt er seine Augen geschlossen. Doch diese Schritte verharrten plötzlich vor seiner Zellentür.
Leise und eindringlich hörte er die Stimme des Kerkermeisters sagen:
„Wenn eine halbe Stunde im Stundenglas verronnen ist, müsst Ihr gehen. Der Gefangene dürfte eigentlich keine Besuche mehr empfangen, außer von den Mönchen und dem Priester“, setzte der Mann die mit einem weiten Umhang verhüllte Person in Kenntnis. Dann hörte Ranolfo noch einige Münzen klimpern, ehe sich der Kerkermeister schlurfend entfernte. Die Gestalt hob nun die Laterne hoch und versuchte, mit dem schummrigen Licht der Kerze vorsichtig die Zelle auszuleuchten.
Ranolfo vergaß plötzlich zu atmen. Für einen kurzen Moment glaubte er zu träumen und rieb sich seine entzündeten Augen. Doch als er erkannte, dass er keinem seiner unzähligen Trugbilder zum Opfer gefallen war, erhob er sich mit einem Gefühl unsäglicher Glückseligkeit und eilte aufgeregt zu den Gitterstäben seiner Zellentür. Sein Herz setzte für einen Schlag aus, als er im matten Schein des Kerzenlichtes ihr wunderschönes Gesicht erkannte. Wie sehr hatte er sich in all den Jahren danach gesehnt, nur noch ein einziges Mal in diese wundervollen Augen blicken zu dürfen. Vielleicht war dieser kaltherzige und unerbittliche Gott doch nicht ganz so verdammenswert. Zumindest jetzt war ihm Ranolfo unendlich dankbar, dass er sie noch einmal sehen und ein letztes Mal berühren durfte. Isidora schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück, um ihn besser betrachten zu können. Das Entsetzen spiegelte sich in ihren wundervollen grünen Katzenaugen wider, als sie ihn nun genauer betrachten konnte.
„Oh Gott, was haben sie dir nur angetan?“, flüsterte sie verzweifelt, als sie ihren völlig verdreckten und mit Geschwüren und Ausschlägen übersäten Geliebten betrachtete. Ohne auch nur einen Anflug von Ekel zu empfinden, umfassten ihre zarten, weichen Hände seine schmutzigen und eiskalten Finger, mit denen er sich an den verrosteten Gitterstäben festhielt. Sofort presste Ranolfo schluchzend seine aufgesprungenen Lippen auf diese zärtlichen Hände. Tränen der Freude und Dankbarkeit, aber auch der Wehmut ob der wundervollen Erinnerungen flossen über seine hageren Backenknochen in seinen dichten und mittlerweile grauen Bart.
„Meine geliebte Isidora. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dir noch einmal in die Augen blicken, ja dich berühren zu dürfen“, flüsterte er immer wieder glücklich aufschluchzend.
„Ich musste dich unter allen Umständen noch einmal sehen. Montanigo wollte unbedingt bei deiner Hinrichtung zugegen sein. Ich bettelte ihn so lange an, bis er mich endlich auch mitnahm.“
„Doch wie bist du ihm entwischt?“, fragte Ranolfo erstaunt. 
„Ich habe seinen Wein mit einer ordentlichen Prise Opium versetzt. Als er dann tief und fest eingeschlafen war, habe ich ihm den Schlüssel gestohlen und mich davongeschlichen.“
Isidora blickte ihn sehnsüchtig an. Sie sah weder seine entzündeten Augen noch seinen zahnlosen und offenen Oberkiefer. Sie spürte nur die Liebe, die sie über all die langen Jahre hindurch verbunden hatte. Liebevoll strich Ranolfo mit seinen rauen Fingern über ihre zarte Wange. 
„Du hast mir so gefehlt. So viele Jahre warst du der einzige Lichtblick in meinen Gedanken und hast mir den Willen gegeben weiterzuleben. Doch jetzt ist es zu spät.“
„Wieso widerrufst du dann nicht, mein liebster Ranolfo. Noch ist es Zeit“, drängte Isidora voller Angst um ihn, während sie ihr Gesicht zwischen die kalten, unnachgiebigen Gitterstäbe presste, um ihm so nah wie möglich zu sein. Zärtlich küsste Ranolfo ihre hohe Stirn und streichelte mit seiner Hand über ihr mittlerweile mit grauen Strähnen durchwirktes Haar. 
Bekümmert lächelte er sie an und sagte traurig:
„Ich hätte es ja getan. Doch ich erkannte, dass ich meine Freiheit durch diesen Widerruf nicht mehr zurückerhalten hätte. Ich wurde durch den Klerus zur Persona non grata erklärt. Sie können mich unmöglich freilassen, da sie viel zu sehr meinen aufwieglerischen Geist fürchten. Mein einziger Weg in die Freiheit ist der Tod.“ 
Verzagt blickte sie ihn mit tränenschweren Augen an. Isidora erkannte, dass Ranolfo recht hatte und es kein anderes Entrinnen aus diesem furchbaren Kerker gab.
„Dann verlässt du mich also wirklich, Liebster?“
Von tiefer Trauer übermannt konnte Ranolfo nur noch stumm und seinem Schicksal ergeben nicken.
Doch plötzlich lächelte Isidora. Mit einem Mal hatte Ranolfo den Eindruck, als ob dieser düstere und abstoßende Kerker nicht mehr existierte. Überall sah er nur noch Licht und Sonne. Mit seiner Liebsten an der Hand lief er lachend und unsäglich glücklich über die grünen und weichen Frühlingswiesen Nolas. 
Doch dann löste Isidora zärtlich ihre Hand aus der seinen und griff in den Beutel, der an ihrem Gürtel hing. Vorsichtig zog sie ein kleines Medaillon heraus, auf dem das Gesicht eines wunderschönen kleinen Mädchens mit schwarzen Locken gemalt war. Ranolfo blickte fragend auf das Medaillon. Er hatte keine Ahnung, wer dieses Kind war. 
„Mein Liebster, wenn du morgen aus dieser Welt gehst, wirst du jemanden zurücklassen, in dem ein Teil von dir weiterleben wird. Das ist das Bild unserer Tochter Beatrice. Ich habe sie nach Dantes „Göttlicher Komödie“ benannt, weil auch sie etwas ganz Besonderes ist.“ 
Bis in die kleinste Faser seines Körpers aufgewühlt nahm Ranolfo völlig benommen das goldgerahmte Medaillon in seine Hände und betrachtete das kleine Antlitz in ungläubiger Ehrfurcht.
„Willst du damit sagen, dass ich der Vater dieses wunderschönen Engels bin?“ Beinahe versagte ihm seine völlig überwältigte Stimme.
„Ja Ranolfo, du bist der Vater unserer Tochter Beatrice. Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten und beinahe genauso wissensdurstig wie du es auch warst“, erwiderte Isidora mit dem Stolz einer Mutter. Für einen kurzen Moment wirkte sie unendlich glücklich, als sie an ihre Tochter dachte.
Isidora ließ sich mit Ranolfo auf den Boden nieder und begann von ihrem Kind zu erzählen, wie es heranwuchs und wie glücklich das Kind war. Obwohl Montanigo wusste, dass Beatrice nicht sein Kind sein konnte, vergötterte er die Kleine wie eine Prinzessin und verwöhnte sie nach Strich und Faden. Das Mädchen war die einzige wirkliche Schwäche in seinem Leben. Vielleicht auch gerade deshalb, weil Montanigo wusste, dass er selbst niemals eigene Kinder haben konnte.
Als die beiden Liebenden die näher kommenden Schritte des Kerkermeisters hörten, wussten sie, dass ihre Zeit nun vorbei war. Ein letztes Mal umfasste Isidora mit ihren Händen den Kopf ihres Geliebten und küsste voller Zärtlichkeitt seine wunden Lippen. 
„Leb wohl, mein Liebster. Zusammen mit Beatrice wirst du immer der Mittelpunkt in meinem Leben sein. Du wirst mich nie ganz verlassen, denn durch deine Tochter werde ich dich immer in meiner Nähe spüren.“
Dann zog sie die Kapuze ihres Umhangs wieder tief in ihr Gesicht und verließ laut aufschluchzend das Gefängnis. In der Aufregung seines verbotenen Handelns hatte der Kerkermeister völlig vergessen, die zweite Laterne mitzunehmen. Ranolfo lehnte sich an die Gitterstäbe und rückte die Laterne ganz nah zu sich heran. Immer wieder betrachtete er im Kerzenschein das Medaillon mit dem Bildnis seiner Tochter.
Jetzt hatte der Tod für ihn endgültig seinen Schrecken verloren. Er fühlte sich heiter und gelöst, nein, er war einfach nur noch glücklich. In diesem Moment hatte Ranolfo seinen Frieden mit sich, der Welt, doch vor allem mit Gott gemacht. Nach mehr als 20 Jahren begann er wieder zu beten. Nicht zu der Karikatur eines Gottes, die ihm die Kirche immer wieder aufoktroyieren wollte, sondern zu seinem Gott, den er endlich gefunden hatte.

Es musste noch ziemlich früh am Morgen gewesen sein, denn noch kein Hahn hatte den nahenden Tag angekündigt. Die sonst eher stillen Gänge wurden plötzlich durch lautes Gemurmel und geschäftiges Getrappel belebt. Ranolfo wurde aus seiner Zelle gezerrt und in einen kleinen, hellen, aber fensterlosen Raum gebracht. Dort wurde er nicht nur von einer Delegation äußerst papstgetreuer Jesuiten erwartet, sondern auch von glatzköpfigen Dominikanermönchen, die dazu abgerichtet waren, Häretiker und Ketzer aufzuspüren und zu verfolgen. Nicht umsonst wurden sie so treffend als „domini canes“, die Hunde des Herrn, bezeichnet.
Ranolfo musste sich erst an das für seine entwöhnten Augen viel zu helle Licht anpassen, um diese altbekannten und unerbittlichen, doch vor allem scheinheiligen Ausgeburten der römischen Kurie erkennen zu können. Obwohl ihre verweichlichten und feisten Körper in dicken, wollenen Kutten steckten, fröstelte den Mönchen. Ranolfo musste lächeln, denn auch mit der lukullischen Enthaltsamkeit nahm es wohl keiner der hier vertretenen Glaubensbrüder allzu ernst. 
Der Sprecher dieser Kuttenträger versuchte ein letztes Mal, Ranolfo zur Vernunft zu bekehren und ihn zu einem Widerruf zu überreden. 
„Mein Sohn, noch ist es nicht zu spät, um auf den richtigen Weg des Glaubens zurückzukehren. Gott der Herr ist gnädig und barmherzig und würde dich verirrtes Schaf durch seine Großmut wieder in seine Herde aufnehmen.“
Für einen Moment fühlte sich Ranolfo wieder in jene Zeit zurückversetzt, wo er mit seiner spitzen Zunge verblendete und unwissende Kleingeister vor den Kopf gestoßen hatte. Mit ätzendem Spott erwiderte er:
„Dann wäre ich ja nichts anderes als ein Schaf unter vielen hirnlosen und dumm vor sich hin blökenden Schafen. Da will ich schon viel lieber der gefährliche Wolf sein, der diese geistlosen Viecher ein wenig durcheinander jagt. Nein, da lasse ich mein Leben viel lieber für die Freiheit als zu einem stupiden, ferngelenkten, doch vor allem seelenlosen Schaf zu mutieren, zu dem ihr alle längst geworden seid.“ 
Die Mönche, die während des Wortwechsels ständig Gebete für Ranolfos verlorene Seele heruntergeleiert hatten, hielten in ihrem Singsang schockiert inne und blickten voller Empörung zu dem Unbelehrbaren hinauf. Zutiefst in seinem Stolz verletzt, schnaubte der Dominikaner mit hochrotem Kopf: 
„Das Feuer wird Eure Überheblichkeit schon zu zügeln wissen. Für gottlose Menschen wie Euch gibt es in unserer Gesellschaft keinen Platz.“
„Das ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich Euch recht gebe. Also spart Euch eure unsinnigen Worte und Bekehrungsversuche. Ich bin bereit, meinem Richter gegenüberzutreten. Doch es wird nicht lange dauern und ihr alle werdet mir folgen. Doch dann wird Gott über Euch Gericht halten. Und sollte dieser Gott auch nur annähernd gerecht sein, dann werdet ihr allesamt auf ewiglich in der Hölle der Verdammnis schmoren“, prophezeite Ranolfo seinen Widersachern.

Unter einem riesigen Aufgebot von betenden Mönchen und Soldaten führte man Ranolfo im ersten Morgenlicht aus dem Gefängnis. Fest hielt er das Medaillon seiner Tochter in seine Handfläche gepresst, sodass es niemand sehen konnte. Der Philosoph wurde auf den Campo de Fiori geführt, um dort der weltlichen Gerichtsbarkeit übergeben zu werden. Eine ungeheure Menschenmenge wartete bereits vor dem riesigen Scheiterhaufen auf den Abtrünnigen. Als der Mob den Verurteilten sah, zog sich ein erwartungsvolles Grölen, Johlen und Schreien durch die Reihen. Ranolfo wurde mit Pferdeäpfeln und sonstigem Unrat beworfen und als ketzerischer Lutheraner, Gotteslästerer und Ausgeburt der Hölle beschimpft. 
Auf dem Weg zu seiner Richtstätte wurde Ranolfo an einer grob zusammengezimmerten Holztribüne vorbeigeführt. Selbst der Heilige Stuhl wollte sich das Spektakel seiner Hinrichtung nicht entgehen lassen. Umgeben von einer Unzahl von Kardinälen, die Ranolfo in ihrem purpurroten Ornat und ihren selbstgefälligen und triumphierenden Gesichtern eher an Repräsentanten Luzifers erinnerten, wirkte der Pontifex in seinem weißen Kleidchen eher blass und unscheinbar. Wie hätte Ranolfo jemals erwarten können, vor diesem uncharismatischen und äußerst durchschnittlichen Gottesmann Gehör zu finden. Auch dieser war ein Schaf unter vielen anderen, nur wusste er es nicht.
Ranolfo war gerade im Begriff, mit beißendem Spott über diese verlogene und opportune Gesellschaft von lächerlichen Schießbudenfiguren herzuziehen, als ihm plötzlich von einem der Henker ein Stück Stoff in den Mund gestopft wurde, damit keine Schmähworte gegen die heilige katholische Kirche mehr über seine Lippen dringen konnten.
Vor dem Scheiterhaufen wurde Ranolfo seine zerlumpte Kleidung vom Leib gerissen und sein halb verhungerter Körper wurde nackt über die Holzstufen hinaufgetrieben, wo man ihn mit Ketten an einen fest in der Erde verankerten Holzpfahl fesselte. Niemand ahnte, dass er das Medaillon noch immer in seiner Hand versteckt hielt. Diese kleine Bild seiner Tochter gab ihm Kraft und Stärke, diesen letzten und so schweren Gang in Würde zu gehen. Im sicheren Wissen, nicht mehr sinnlos gestorben zu sein, erwartete er sein Schicksal. Der Drang nach Wissen, seine unzähmbare Neugier und seine Ideale würden in seinem Kind und in seinen Enkeln und Urenkeln weiterleben. Er hatte nicht verloren, denn die Welt würde irgendwann durch Menschen seines Schlages doch noch erkennen, wie verblendet sie war.

Kapitel 63

Wie von zarten Händen wachgestreichelt fühlte Rainer sich langsam zurückkehren. Diesmal erwachte er nicht in panischer Angst, sondern er tauchte völlig ruhig, aber unsäglich müde in seine Realität ein. 
Rainer begann nun wieder die Wärme des knisternden Kaminfeuers zu spüren und öffnete seine müden Augen. Es schien ihm, als hätte er eine Ewigkeit geträumt, doch die dicken Scheite im Kamin waren kaum verbrannt. Er konnte also unmöglich länger als 15 Minuten geschlafen haben. Entspannt betrachtete er den unruhigen Tanz der Flammen, die ihm jetzt angenehme und heimelige Wärme spendeten. 
Noch kaum einen Atemzug davor hatten ihm gerade diese Flammen seinen sicheren Tod beschert. Obwohl er dieses Sterben mit all seiner Endgültigkeit gefühlt hatte, hatte in diesem Traum sein Sterben nichts Grausames und Erschreckendes mehr an sich gehabt. Nur seine Seele war mit unendlicher Trauer und Wehmut erfüllt. Aber er empfand auch noch ein anderes Gefühl. Ganz deutlich spürte er diesen Nachhall von Liebe, Zärtlichkeit und Hoffnung. 
Ein leichtes Brennen in seiner rechten Hand lenkte Rainer von seinen Gedanken ab.
Langsam öffnete er seine Finger und betrachtete seinen flachen Handteller. In seiner Handfläche konnte Rainer ganz deutlich rot geränderte Konturen eines Kreises erkennen. Noch ehe ihm richtig bewusst wurde, was dieser Kreis zu bedeuten hatte, wurde seine Aufmerksamkeit durch das laute Poltern eines fallenden Holzscheites angezogen. Plötzlich sah er in der aufglimmenden Glut einen runden Metallring, der durch die Hitze hell zu leuchten begonnen hatte. 
Rasch stand Rainer auf und holte mit dem Schürhaken das kleine Metallstück aus dem Feuer. Vorsichtig ließ er den leuchtenden Ring auf den Steinboden gleiten und kühlte ihn mit dem Wasser aus der neben dem Couchtisch stehenden Mineralwasserflasche ab. Sofort begann der heiße Ring zu zischen und zu dampfen. Doch schnell war das Metall erkaltet, sodass seine Finger es berühren konnten, ohne sich zu verbrennen. 
Rainer nahm den kleinen, gezackten Metallring und betrachtete ihn von allen Seiten. Intuitiv legte er ihn dann in die immer blasser werdenden Konturen auf seiner Handfläche. Selbst die durch die heiße Glut nun leicht abgerundeten Zacken des Ringes passten perfekt in das rote Mal auf seiner Haut. Zärtlich schlossen sich seine Finger um dieses kleine Stück Metall, in dem sich einst das Miniaturporträt seiner kleinen Tochter befunden haben musste. Seufzend und mit einem sehnsuchtsvollem Gefühl der Freude und auch Wehmut lehnte sich Rainer in seinen Ohrenfauteuil zurück. Und wie so oft schon stellte er sich die gleiche Frage: Wer war er wirklich?

Kapitel 64

Kurz vor sechs Uhr läutete Rainers Handy. An diesem Morgen kam er aber nur sehr langsam zu sich. Ruhelos hatte er sich die halbe Nacht in seinem Bett hin- und hergewälzt. All die Eindrücke und bewegenden Erlebnisse der letzten Tage hatten seine Psyche ziemlich durcheinander gewirbelt, dass er einfach nicht zur Ruhe kommen konnte. Seine Träume und die realen Erlebnisse hatten sich so heftig in seiner Seele vermischt, dass er für einen kurzen Moment sogar dachte, das Läuten seines Handys sei Teil eines seiner vielen Traumfetzen. Doch der Rufton wurde stetig lauter und das Handy auf seinem Nachttisch begann immer heftiger zu vibrieren. Endlich fuhr Rainer noch völlig benommen hoch und murmelte ein schlaftrunkenes „Hallo“ in den Lautsprecher seines Handys. 
Sofort war er hellwach, als er Hermanns klare und freundliche Stimme hörte:
„Hey, was ist los mit dir, du alter Sack? Es ist schon sechs Uhr morgens und du schläfst immer noch? In zwei Stunden holt mich Mohameds Jet in Schwechat ab. Wenn du noch immer mitfliegen willst, solltest du dich so schnell wie möglich in die Dusche bewegen und dann sofort zum Flughafen kommen. Ich erwarte dich in einer Stunde im General Aviation“, forderte ihn Hermann gut gelaunt auf.
„O.k., ich bin schon auf dem Weg.“ 
In weniger als einer halben Stunde war Rainer fertig. Sein Koffer wartete ohnehin schon gepackt im Flur, so dass er nur mehr seinen Laptop verstauen musste und zu dem bereits wartenden Taxi eilte.
Rainer war noch nie zuvor in einem Privatjet geflogen. Die gediegene Ausstattung der Falkon kannte er aus dem Fernsehen, die schlichtweg die Superlative des Reichtums verkörperte. Für seine bescheidenen Begriffe war dieser Pomp ein wenig zu heftig. Doch der Jet war zweifelsohne sehr beeindruckend und bot jede nur erdenkliche Bequemlichkeit. Hermann und Rainer genossen diesen Luxus und ließen sich vom Stuart jeden Wunsch von den Augen ablesen. 
Während des Fluges erzählte Hermann, wie sich das anfangs rein berufliche Verhältnis zwischen ihm und Prinz Mohamed im Laufe der Jahre immer mehr zu einer herzlichen Freundschaft entwickelt hatte. Für diese positive Entwicklung waren sicherlich das gemeinsame Interesse und die wunderbaren Erlebnisse der Greifvogeljagd ausschlaggebend. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sich das Misstrauen Mohameds ihm gegenüber gelegt hatte. Doch nach einigen Monaten hatte der Prinz aber erkannt, dass Hermann nicht zu jenen vielen Nutznießern zählte, die ständig um ihn herumscharwenzeln, sondern ein durch und durch loyaler Mann mit Rückgrat war. Hermann hatte dem Scheich die nötige Ehrerbietung nicht aufgrund seiner sozialen Stellung entgegengebracht, sondern weil er echte Sympathie und Hochachtung für diesen Araber empfand. In ihm hatte der Scheich einen adäquaten Gesprächspartner gefunden, der ihm auch einmal widersprach, wenn er nicht seiner Meinung war. Mohamed hatte sich zu lange in Europa aufgehalten, so dass viele seiner althergebrachten und traditionellen Ansichten einen westlichen Touch abbekommen hatten. Über sensiblere Themen konnte sich nun mit Hermann austauschen, ohne in ein falsches Licht zu geraten. Natürlich wusste Hermann das Privileg dieser seltenen Freundschaft sehr zu schätzen, da Mitglieder des Königshauses Ausländer bestenfalls als nützliche Paria betrachteten und eher zu übersehen pflegten.
Mit seinen vielen Anekdoten und Geschichten aus Tausend und einer Nacht entführte Hermann Rainer in eine Welt, die wunderlich, fremd und faszinierend zugleich war. Hermann wies ihn aber auch darauf hin, dass die Emirati ein sehr reserviertes Volk waren und es vorzogen, möglichst unter sich zu bleiben. Rainer sollte sich daher auch nicht wundern, wenn man sich ihm gegenüber sehr zurückhaltend, ja manchmal sogar schon fast unhöflich verhalten würde.

Als die beiden knapp drei Stunden später auf dem International Airport Dubai landeten und nach der Passkontrolle die zentrale, äußerst mondäne und ziemlich belebte Geschäftshalle des bedeutendsten Flughafens im Nahen Osten betraten, war Rainer doch überrascht, in welch überaus fortschrittlicher und hochmoderner Welt er sich nun wiederfand. Die ungeheure Betriebsamkeit und Hektik erinnerten ihn irgendwie an einen Ameisenhaufen, auf dem die kleinen Tierchen in vermeintlich planloser Geschäftigkeit herumliefen. 
Mit einem Taxi ging die Fahrt in die nur fünf Kilometer nordöstlich gelegene Stadt. Es war knapp nach 11 Uhr, als sie auf der Al-Maktum-Brücke den Dubai Creek überquerten, der die Stadt in die Stadtteile Bur Dubai und Deira teilt. Die heißen Strahlen der Sonne heizten die Stadt auf mehr als 40 Grad auf. Das ungewöhnlich klare Licht ließ die futuristische Stadt noch imposanter erscheinen als sie ohnehin schon war. In Dubai Marina stiegen die beiden Männer in einem der vielen modernen Hotels ab, in dem bereits zwei Zimmer für sie reserviert waren. 
Rainer war das erste Mal in den Emiraten. Es erstaunte ihn enorm, wie hier zwei völlig fremde Welten aufeinanderprallten. In einer hochmodernen Geschäftswelt, die den westlichen Standards in keiner Weise nachstand, wenn nicht sogar diese noch übertrafen, hatten durchaus auch noch Kamele, Straßenhändler mit ihren Basaren und kleine Fischerboote Platz. Überall wurde emsig gebaut und riesige halbfertige Wolkenkratzer ragten an jeder Ecke hoch in den Himmel empor. Die Dubai Marina mit ihren Straßencafés, Promenaden und Geschäften war bereits ein beliebter Treffpunkt für die Besucher dieses neu entstehenden Stadtteils, in dem sich auch Rainer und Hermann nach einem kleinen Imbiss noch ein wenig die Beine vertraten, ehe sie sich um 13:30 Uhr wieder am Flughafen einfanden, wo Assim, der Lieblingssohn des Prinzen, im Gebäude für Privatpiloten auf sie wartete.
Das Anwesen des Prinzen lag knapp 30 Flugminuten außerhalb der Stadt. Mit dem Auto hätten sie mehr als zwei Stunden auf dem Highway durch die Wüste fahren müssen. Doch Assim hatte sich erboten, die Gäste seines Vaters mit seiner neuen einmotorigen Cessna von Dubai abzuholen, da er jede sich bietende Gelegenheit zum Fliegen nutzen wollte. 
Hermann und Assim waren gut miteinander bekannt und begrüßten sich mit vertrauter Herzlichkeit. Als der 20-jährige, für einen Araber ziemlich groß gewachsene Mann Rainer begrüßte, spürte der Europäer sofort die vorsichtige Zurückhaltung, die Fremden hier entgegengebracht wurde und vor der ihn Hermann ja bereits gewarnt hatte. 
Rainer wurde der Platz neben Assim zugewiesen. Ab diesem Zeitpunkt galt das Interesse des jungen Mannes nur noch seinem Flugzeug und dessen modernster Technik, sodass seine Vorbehalte Ausländern gegenüber rasch in den Hintergrund rückten. Irgendwie kamen Rainer die Anzeige- und Steuerungsgeräte ziemlich vertraut vor. Er erkundigte sich bei dem jungen Piloten nach der Einstellung des Höhenmessers und was mit QNH gemeint war. Erfreut über Rainers offensichtliches Interesse gab Assim nur zu gerne Auskunft.
„Sind Sie etwa auch Pilot, weil Sie sich so gut im Cockpit eines Flugzeugs auskennen?“, fragte ihn Assim neugierig.
„Nein, ich bin noch nie mit so einem kleinen Flugzeug geflogen“, erwiderte Rainer, der selbst über sein Wissen erstaunt war. 
„Doch was nicht ist, kann ja noch werden. Ihr Interesse ist jedenfalls ein gutes Zeichen, dass Sie am besten Weg dorthin sind, irgendwann einmal selbst ein Flugzeug zu steuern“, stellte ihm Assim mit wohlwollendem Lächeln in Aussicht.

Bald kam das ausgedehnte Anwesen des Prinzen in Sicht. Es lag wie eine grüne Oase mitten in der trockenen Wüste. Um den imposanten, im orientalischen Baustil gehaltenen Palast herum lagen Tennisplätze, ein Golfplatz sowie ein riesiger Swimmingpool inmitten eines künstlich angelegten Palmenhains. Am Ende dieses kleinen Waldes befanden sich drei riesige Volieren und einige Nebengebäude. Ein wenig außerhalb des Besitzes gab es dann auch noch die Landebahn für Kleinflugzeuge, auf der der Pilot nun zur Landung ansetzte. 
Die drei Männer stiegen in den geparkten Jeep, den Assim nun direkt zu den Volieren steuerte. Die Vogelkäfige hatten die unvorstellbare Größe von Fußballfeldern. Die Volieren waren so hoch, dass sogar ausgewachsene Palmen darin genügend Platz fanden und sich ungehindert entfalten konnten. Rainer war ziemlich beeindruckt von diesen aufwändig gearbeiteten und mit großer Sorgfalt und Liebe ausgestatteten Käfigen, die ihn an das Palmenhaus im Wiener Burggarten erinnerten. 
Völlig in die Betrachtung dieser Bauwerke versunken hörte er nicht das Näherkommen eines eher kleinen Mannes, der in einen traditionellen weißen Kaftan gekleidet war. Erst als Hermann freudig die Arme hob und auf den Mann zuging, wusste Rainer, dass dieser Araber der Prinz sein musste. Auch diesem stand die Freude ins Gesicht geschrieben, als er Hermann sah und sich die beiden herzlich umarmten. 
Nachdem die erste Begrüßung vorbei war, wurde Rainer dem Prinzen vorgestellt:
„Lieber Mohamed, das ist mein Freund Rainer Barkhoff, von dem ich dir erzählt habe. Ich hoffe sehr, dass du ihm für einen kurzen Moment dein Ohr leihen wirst, um dir sein Anliegen anzuhören.“
Wie es Rainer vorhin bereits bei Assim erlebt hatte, wurde nun auch der Prinz umgehend ernst und reserviert. Mit einem Schlag spürte Rainer die imaginäre Wand, die sich zwischen ihm und dem Prinzen aufbaute. Ohne Rainer die Hand zu reichen, begrüßte er ihn mit einem kurzen, aber höflichen Kopfnicken. Rainer hatte keinen Zweifel, dass der Prinz über seine Anwesenheit nicht besonders erfreut war. Wäre Hermann nicht der langjährige Freund Mohameds gewesen, wäre der Prinz sicherlich niemals bereit gewesen, ihn zu empfangen. Rainer verhielt sich deshalb auch sehr ruhig und zurückhaltend. Er würde warten, bis der Prinz zu einem Gespräch bereit war.
„Ja, später, wenn das Problem mit meinen Falken gelöst ist“, erwiderte der Prinz abweisend. 
Noch im selben Moment schien Rainer schon wieder vergessen zu sein. Mohamed nahm Hermann vertraulich beim Arm und führte ihn zur Voliere mit den Gerfalken. In ratloser Verzweiflung erzählte er Hermann, dass das Weibchen nach der Eiablage nicht das übliche Brutverhalten an den Tag legte und sich um das Gelege nicht mehr kümmerte. Die gesamte Last des Brütens lag deshalb bei dem Männchen. So gesehen hatte die Brut keine allzu große Überlebenschance. Außerdem schien es das Weibchen mit der Mauser zu übertreiben, obwohl es doch gar nicht brütete. Es riss sich beinahe alle Federn aus, sodass es kaum noch fliegen konnte. 
Rainer fühlte sich nun etwas deplatziert, da die beiden Männer über das Problem der Vögel zu fachsimpeln begonnen hatten und für die Falkner der Rest der Welt nicht mehr zu existieren schien. 
Bevor Hermann und der Prinz in die Voliere stiegen, rief Assim seinem Vater noch nach:
„Vater, soll ich dem Freund von Hermann mit meinem Flugzeug ein bisschen die Gegend zeigen? Ihr beiden seid ja jetzt sowieso beschäftigt und habt keine Zeit für ihn“, fragte er beinahe bittend.
Es war offensichtlich, dass es der Prinz verabscheute, wenn man ihn bei seinen Vögeln störte und er warf seinem Sohn einen genervten Blick zu.
„Ja, mach was du willst, nur stör mich jetzt bitte nicht länger“, erwiderte er unwirsch und widmete sich sofort wieder Hermann, der nun laut zu überlegen begonnen hatte, was der Grund des Fehlverhaltens des Weibchens sein könnte.
Erfreut lächelnd wandte sich Assim an Rainer:
„Ich hoffe doch, dass Sie es vorziehen, mit mir einen kleinen Ausflug zu machen, als hier in der Hitze auf die beiden zu warten. Bis mein Vater und Hermann mit ihrem Beobachten und Ratschlagen fertig sind, kann das ewig dauern.“
„Nein, ich würde mir die Gegend nur zu gern ein bisschen näher aus der Luft ansehen“, erwiderte Rainer und freute sich auf den Ausflug.

Rasch stiegen die beiden Männer wieder in den Jeep und fuhren zur Landebahn zurück. Auf dem Weg dahin erzählte Assim voller Stolz, dass er erst vor zwei Tagen das Flugzeug von seinem Vater zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte und heute schon zum fünften Mal damit aufstieg. Der Enthusiasmus des Jungen kannte keine Grenzen, sodass er in seinem Überschwang Rainer gleich ein weiteres Mal die Funktionen der verschiedenen Instrumente erklärte. Von Assims Begeisterung wurde Rainer so mitgerissen, dass es ihm überhaupt nichts ausmachte, nochmals erklärt zu bekommen, was der kleine Flieger alles drauf hatte.
Der wolkenlose Himmel und die unendliche Weite der stillen Wüste vermittelten auch Rainer ein besonderes, aber auch irgendwie vertrautes Gefühl von Freiheit und Erhabenheit. Er konnte Assim sehr gut verstehen. Fliegen konnte zu einer Droge werden. Natürlich wollte der Junge jede sich bietende Möglichkeit nutzen, um sich in die Lüfte zu erheben. Die Cessna 206 flog nun über die Stadt. Jetzt erkannte Rainer erst richtig, wie reich die Emirate wirklich waren. Tief beeindruckt blickte er über diese schier nie enden wollende Wüste mit ihren Tausenden von Bohrstellen, die das schwarze Gold aus dem Bauch der Erde pumpten, wo es dann in Pipelines weitergepumpt wurde. Aus der Vogelperspektive sahen diese Rohre fast wie Adern aus, die einer geheimnisvollen Ordnung folgend das Sandmeer durchquerten.
Assim stand die Freude ins Gesicht geschrieben, dass er Rainer so beeindrucken konnte. 
„Jetzt fliegen wir noch vor zur Küste. Dort befindet sich der Jebel Ali. Das ist der größte Hafen der Welt und er verfügt sogar über ein Trockendock für Supertanker. Außerdem gibt es dort neun Freihandelszonen, wo sich Niederlassungen von General Motors, Schneider Electrics und Siemens befinden“, berichtete der Junge seinem Fluggast voller Stolz über die Errungenschaften seines Landes.
„Doch leider hält auch unser Erdöl nicht ewig. Hier in Dubai wird in etwa im Jahr 2015 Schluss mit der Förderung sein. Daher müssen wir uns schon auf die Zeit danach einstellen. Wir erweitern bereits seit Jahren unser Wirtschaftssortiment und investieren in Kommunikationstechnologien, Tourismus und Finanzdienstleistungen“, fuhr Assim ziemlich sachlich fort. Der junge Mann wirkte jetzt fast müde und leicht verkrampft. Allem Anschein nach hatten ihn der runde Geburtstag und der Flugstress mit seiner neuen Cesna ein wenig überanstrengt. Doch Rainer schenkte dem Befinden des jungen Mannes keine weitere Aufmerksamkeit und bestaunte die riesigen Hafenanlagen. Im Vergleich dazu wirkte der Hamburger Hafen nur wie eine etwas größere Marina. Es war unglaublich, was hier mit Hilfe des Erdöls alles aus der Erde gestampft worden war. 
„Zum Abschluss fliegen wir noch kurz zu den künstlich geschaffenen Inseln. Das größte Projekt heißt ‚Die Welt‘ und soll die Erdkugel mit allen ihren Kontinenten und Ländern darstellen. Auch Österreich ist darauf zu sehen und…“
Plötzlich rang Assim nach Luft und seine Augen begannen sich zu verdrehen, ehe er das Bewusstsein verlor. Langsam sank sein erschlaffender Oberkörper auf das Steuerhorn und drückte es nach vorne. Sofort wanderte die Nase der Maschine nach unten und sie begann rasch an Höhe zu verlieren. Aufgeregt schüttelte Rainer Assim an der rechten Schulter. Doch der Junge reagierte nicht mehr. In heller Panik rüttelte er an dem jungen Mann und schrie ihn mit fast überschlagender Stimme an. Doch vergebens. Assim war völlig weggetreten und kein Wort drang mehr zu ihm vor.
Die Maschine befand sich jetzt schon fast im Sturzflug. Wenn Rainer nicht sofort handelte, dann würden sie in wenigen Sekunden dort unten im Hafen oder auf einem der Docks zerschellen. Rainer mahnte sich zur Ruhe und überlegte mit nüchterner Konzentration wie er den Absturz noch verhindern konnte. Mit aller Kraft versuchte er den Körper des Piloten nach hinten in den Sitz zu ziehen und zog dabei den Schultergurt so straff wie möglich an. Während Rainer mit seiner linken Hand noch am Gurt zog, fasste er mit der rechten schon das Steuerhorn und zog es fest zu sich heran. Sofort kam die Schnauze hoch und statt den Wellen des Meeres, die an den Pier des Hafens anschlugen, sah Rainer durch die Cockpitscheibe plötzlich nur noch das Azurblau des Himmels. Die Maschine zog steil nach oben und drückte die Körper der Männer fest in die Rückenlehnen der Sitze. Es gelang Rainer nun endlich, den Gurt des Piloten so fest anzuziehen, dass das Steuer unbehindert frei bleiben würde. Doch was war das? 
Aus dem hochtourigen Heulen des Motors war ein vibrierendes Stottern geworden. Die Maschine begann zu zittern und zu wackeln. Außerdem hörte er von irgendwo her ein warnendes Pfeifen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Rainer musste dringend handeln. Wieder schoss ein heftiger Adrenalinschub durch seine Adern und ein feiner Schweißfilm begann sich auf seiner Stirn zu bilden. Hektisch drückte Rainer das Steuerhorn wieder nach vorne und versuchte so die Landschaft in das Cockpitfenster zu bekommen, um eine möglichst parallele Linie mit der Instrumententafel zu bilden. Dazu bewegte er die Steuersäule vorsichtig nach rechts, um den linken Flügel zu heben und umgekehrt. Gott sei Dank hatte er Assim genau beobachtet, als der den Gashebel bediente. Rainer begann nun angestrengt zu überlegen. Die Maschine war vor dem Ausfall des Piloten ja fast von alleine geflogen. Es war daher wohl klüger, die Position des Gashebels erst dann zu ändern, wenn er etwas mehr Gefühl für das Flugzeug bekommen hatte. Rainer leitete eine große Rechtskurve ein, indem er das Steuerhorn ganz leicht nach rechts drehte. Die Maschine reagierte sofort und erleichtert konnte Rainer nun sehen, wie sich der Boden in der Cockpitscheibe langsam in einem leichten Winkel nach rechts zu neigen begann. Gleichzeitig begann aber die Nase der Maschine leicht nach oben zu ziehen und der Boden sank im Fenster scheinbar nach unten weg. Vorsichtig drückte Rainer das Steuerhorn leicht nach vorne und holte sich so den Boden wieder zurück in sein Blickfeld, bis der Schnittpunkt mit der Unterkante der Cockpitscheibe wieder mittig passte. 
Vorsichtig flog Rainer einige Runden, um sich an das Flugzeug zu gewöhnen. Es dauerte nicht lange, bis er herausgefunden hatte, wie die Steuerung zu bedienen war. Nun konnte Rainer endlich etwas durchatmen und war dankbar, dem Tod noch einmal entronnen zu sein. Zumindest war die akute Gefahr vorläufig einmal gebannt. Rainer nahm das Mikrofon in die eine Hand und drückte die Sprechtaste, so wie er es bei Assim gesehen hatte: 
„Mayday, Mayday, Mayday, Tower Dubai!” 
Erleichtert atmete Rainer durch, als sich auf seine Durchsage hin sofort der Controller meldete. In kurzen Zügen schilderte Rainer dem Mann am anderen Ende der Leitung seine Notsituation.
„Wo befindet sich die Maschine?“, fragte ihn der Controller mit sachlicher Nüchternheit.
Rainer blickte um sich. Die Maschine war in der Zwischenzeit weit über das Meer hinausgeflogen. Auf den ersten Blick fand er keine Anhaltspunkte. Doch dann flog Rainer eine leichte Linkskurve und konnte endlich doch einen Anhaltspunkt erkennen:
„Unmittelbar vor mir liegen zwei Palmeninseln. Ich habe aber keine Ahnung, wie sie heißen“, antwortete Rainer.
Der Blick auf die Inseln war wunderschön und glich einer verträumten Südseeinsel. Doch Rainer hatte jetzt andere Sorgen als sich an den besonderen Schönheiten dieser Gegend zu erfreuen.
Aufgrund seiner Angaben konnte der Tower die Maschine am Radar identifizieren, worauf hektische Debatten begannen, von denen Rainer dort oben Gott sei Dank keine Ahnung hatte. Am liebsten hätten die Controller die Maschine mit dem Ungläubigen ja ohne viel Federlesens im Meer notwassern lassen und die Angelegenheit wäre vom Tisch gewesen. Doch leider war einer der Söhne von Prinz Mohamed an Bord, was diesen Weg der Risikominimierung unmöglich machte. Jedem der Controller war völlig klar, dass der Prinz wie ein Racheteufel über sie herziehen würde, wenn sie nicht alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um seinen Sohn wieder lebend herunterzuholen. 
Der Passagier hatte die Maschine ja bisher ganz gut in der Luft halten können. Vielleicht gab es wirklich eine Chance, die Cessna irgendwie auf den Boden herunterzubringen, ohne dabei größeren Schaden zu verursachen. Keinesfalls durften sie die Maschine aber über bebautes Gebiet führen. Die Gefahr eines Absturzes und der damit einhergehenden Katastrophe war einfach zu groß. Die Controller einigten sich darauf, Rainer möglichst an den verbauten Bereichen der Stadt vorbeizulotsen. Das schien aus seiner derzeitigen Position auch relativ gut möglich. Für eine Notlandung bot sich die Minhad Airport Base mitten in der Wüste förmlich an. Sollte bei der Landung das Flugzeug wirklich zu Bruch gehen, so konnten die Controller den Amis den schwarzen Peter in die Schuhe schieben und wären fein aus dem Schneider. Die nachfolgenden Probleme der Amis mit dem Scheich würden sie dann herzlich wenig interessieren.
Es musste ihnen jetzt nur noch gelingen, den steuernden Passagier an der südlichsten Palmeninsel vorbei über die Wüste zu lotsen. Der Stadtrand von Dubai würde ihm dann die Richtung zu der Piste zeigen. Sofort wurde die amerikanische Airbase über die bevorstehende Notlandung alarmiert. Während man dort im Eiltempo mit der Räumung aller Pisten und Rollwege begann, versuchte der Controller Rainer langsam in Richtung Wüste zu lotsen:
„Achten Sie auf das schwarze runde Instrument mit dem kleinen Flugzeug und der Kompassrose. Drehen Sie auf 120 Grad und halten Sie diesen Generalkurs dann so gut wie möglich“, war das Erste, was Rainer nach einem langen Moment des Schweigens wieder hörte. Er hatte schon fast befürchtet, dass ihn die Typen dort unten im Tower hier oben in der Luft einfach verhungern lassen wollten.
„Wir bringen Sie rechts an der südlichsten Palmeninsel vorbei und lotsen sie neben dem Stadtrand von Dubai direkt in die Wüste. Dort übernimmt dann ein Kollege von der amerikanischen Airbase. Over.“
Rainer kannte sich zwar mit einem Kompass ganz gut aus, aber er verließ sich in dieser extremen Situation lieber auf seine Augen und auf seinen gesunden Menschenverstand. Er steuerte einfach direkt auf die größte und südlichste der vor ihm liegenden Inseln zu. Der Controller war offensichtlich auch zufrieden, denn er ließ Rainer in Ruhe. Bald war die Insel erreicht und Rainer stellte fest, dass hier in Wirklichkeit gleich drei Barrieren waren, die die Palmeninsel wie ein Reifen im Süden gegen die Strömung schützten. Bald hatte er die Küstenlinie erreicht. Als er die zweite der beiden Autobahnen unter sich überflogen hatte, meldete sich der Controller der Minhad Airbase bei ihm: 
„DU CMM from Minhad Airbase, drehen Sie nun vorsichtig nach links, bis ich stopp sage. Sie werden uns dann genau parallel zu den Häusern von Dubai anfliegen. Beginnen Sie jetzt langsam mit der Drehung.“ 
Rainer tat wie geheißen und brachte die Maschine in etwa auf den gewünschten Kurs. 
„Stopp. Das war sehr gut. Jetzt sehen Sie einmal vor sich aus dem Fenster. Unsere Airbase befindet sich noch ca. 40 Kilometer direkt vor Ihnen. Melden Sie mir bitte, wenn Sie uns zweifelsfrei erkennen können. Die Piste liegt in einem Winkel von 45 Grad genau vor Ihnen.“ 
„O.k., mache ich“, erwiderte Rainer und hielt bereits jetzt Ausschau nach der Airbase.
Nach wenigen Minuten machte er eine Fläche vor sich aus, die wie ein Flugplatz aussah. 
„Ich habe einen Flugplatz vor mir“, informierte Rainer den Controller. 
„Gut, kommen Sie vorsichtig näher und behalten Sie dabei möglichst genau Ihre Richtung bei.“ 
Rainer flog jetzt direkt auf einen kleinen schwarzen Strich im grauen Sand zu, der rasch größer wurde. Die Piste und den vorgelagerten Rollweg konnte er nun mit freiem Auge erkennen, als ihn der Controller wieder anrief.
„DU CMM from Minhad Airbase, überfliegen Sie den Platz und halten Sie dann noch ca. drei Minuten genau Ihren Kurs weiter, bis sie eine Autobahn überfliegen. Dann drehen Sie die Maschine vorsichtig nach rechts, bis ich stopp sage. Over“, wies er Rainer an.
Rainer konnte bereits die Autobahn sehen und tat wie ihm geheißen. 
„Stopp. Halten Sie jetzt diesen Kurs. Sie behalten jetzt die Autobahn immer im gleichen Abstand von ca. 5 Kilometern rechts unter sich. Diese führt Sie genau zu Ihrer letzten Kurve. Beginnen Sie jetzt wieder nach rechts zu drehen, bis Sie die Piste genau vor sich haben. Die Piste ist rechts, das, was Sie links sehen, ist der Rollweg“, erklärte er dem unfreiwilligen Piloten.
Rainer begann seine letzte Kurve zu fliegen. Das gelang ihm gar nicht mehr so schlecht. Dann hörte er wieder die Anweisungen des Controllers:
„DU CMM from Minhad Airbase, Sie befinden sich jetzt ca. 9 Kilometer vor Touchdown. Nehmen Sie vorsichtig etwas Gas weg. Achten Sie darauf, dass die Geschwindigkeit nicht zu stark zurückgeht. Das sehen Sie auf dem runden Instrument direkt vor sich. Sie erkennen es an dem grünen, gelben und roten Segment. Bleiben Sie in etwa bei 85 Meilen, das ist mitten im grünen Bereich.“ 
Rainer zog vorsichtig am Gashebel. Instinktiv zog er auch das Steuerhorn ganz leicht zu sich. Sofort ging die Geschwindigkeit von 110 auf 90 und dann weiter auf 85 Meilen zurück. Der Höhenmesser vor ihm begann langsam zu kreisen und Rainer erkannte, wie der Wüstenboden immer näher kam. Sein Herz pochte so laut, dass es förmlich in seinen Ohren dröhnte. Erneut spürte er einen heftigen Adrenalinschub, der ihm seine Haare zu Berge stehen ließ. Rainer wusste, dass ihm jetzt der schwierigste Teil seines ungewollten Einsatzes bevorstand. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und seine Konzentration war noch nie in seinem Leben stärker gewesen. Instinktiv stieg er mit den Füßen in die Pedale unter seinem Sitz und begann das Seitenruder zu erforschen. Dann hörte er wieder die mittlerweile schon vertraute Stimme des amerikanischen Controllers:
„DU CMM from Minhad Airbase, in der Mitte des Cockpits befindet sich ein weißer Hebel, auf dem ‚Flaps’ steht. Setzen Sie den Hebel auf 10 Grad und achten Sie dabei auf Ihre Geschwindigkeit. Achtung, die Maschine wird nach oben weg wollen. Korrigieren Sie sie mit Vorsicht, over!“ 
Rainer drückte den Hebel in die erste Raste nach unten. Sofort fuhren die Landeklappen aus und er hatte Mühe, die Maschine konstant in ihrer Fluglage zu halten. 
„Das war ja perfekt!“, lobte ihn der Mann im Tower. 
„Wie hoch ist Ihre Geschwindigkeit jetzt?“ 
„85 Meilen.“ 
„Sehr gut! Geben Sie die nächste Stellung und achten Sie auf die gleichen Symptome. Nehmen Sie vorsichtig noch etwas Gas weg und reduzieren Sie die Geschwindigkeit auf 80 Meilen. Achten sie darauf, nicht langsamer zu werden. Korrigieren Sie die Geschwindigkeit mit der Fluglage.“
Rainer hatte nun den Bogen raus. Er fuhr die Landeklappen auf die zweite Stellung aus und gleich darauf auch noch auf die letzte. Die Cessna hing jetzt in den Klappen wie an einem großen Fallschirm. Der Controller unten war sichtlich überrascht. 
„Wie viel Flugerfahrung haben Sie denn? Das ist ja fast profimäßig, was Sie uns hier bieten.“ 
„Das ist meine erste Flugstunde“, stöhnte Rainer und der Schweiß auf seiner Stirn begann in seine Augen zu tropfen.
„Respekt, Sie sind ein echtes Naturtalent.“ 
Rainer konnte die Hochachtung in seiner Stimme deutlich mitschwingen hören. Doch augenblicklich konnte er dieses Kompliment nicht entsprechend würdigen, da er jetzt weit Wichtigeres zu tun hatte.
Die Piste war in der Zwischenzeit bereits bildfüllend im Cockpitfenster zu sehen. 
„Sie sind noch etwas zu hoch“, informierte ihn der Controller. 
„Wenn es nicht passt, drücken Sie den Gashebel einfach nach vorne und starten Sie durch. Verändern Sie dabei aber keinesfalls die Stellung Ihrer Landeklappen! Das machen Sie erst, wenn ich es sage!“
Rainer zog einfach das Gas voll heraus und ließ sich in den Landeklappen wie an einem Gleitschirm nach unten gleiten. Automatisch richtete er mit seinen Füßen auf den Seitenruderpedalen die Maschine knapp über der Piste genau aus und begann, vorsichtig die Nase nach oben zu ziehen. Plötzlich war das Piepsen der akustischen Warnung wieder da. Dann fiel die Maschine die letzten zwei bis drei Meter durch und landete auf allen drei Rädern gleichzeitig. Rainer steuerte mit den Händen und den Füßen und versuchte, das ausrollende Flugzeug auf der Piste zu halten. 
„Treten Sie gleichmäßig mit beiden Füßen in die Pedale. Das ist die Bremse. Ziehen sie den roten Hebel neben dem Gashebel voll heraus.“ 
Stotternd verabschiedete sich der Motor und der Propeller blieb stehen. Schließlich stand auch die Maschine am Ende der Piste und das Bugrad berührte dabei schon fast den Sand.
Es war zwar nicht die schönste Landung, die diese Airbase je gesehen hatte, aber bei Weitem auch nicht die schlechteste. Auf jeden Fall war es die beste Leistung, die ein Mann bieten konnte, der noch keinerlei Flugerfahrung hatte. 
Das Flugzeug stand nun völlig still am Ende dieser großen, leeren Piste inmitten der Wüste. Für einen Moment glaubte Rainer, der einzige Mensch in diesem verlassenen Teil der Welt zu sein. Doch dann sah er eine Armada aus blauen und gelben Lichtern auf sich zurasen.
Erschöpft, doch vor allem erleichtert lehnte er sich in seinen Sitz zurück und dachte:
„Ein Königreich für eine Flasche Cognac.“
Dann ließ die Spannung in ihm nach und er begann am ganzen Körper zu zittern. Langsam wurde ihm nun in vollem Ausmaß bewusst, mit welch unglaublichem Husarenstück er gerade dem sicheren Tod ein Schnippchen geschlagen hatte. Doch dann erinnerte er sich plötzlich wieder an Assim und beunruhigt wandte er sich dem noch immer bewusstlosen Mann zu. Der Junge schwitzte am ganzen Körper. Noch während Rainer notdürftig seinen Puls und seine Atmung überprüfte, wurden bereits hektisch die Türen des Cockpits aufgerissen und in einem heillosen Stimmenwirrwarr griffen unzählige Hände nach ihm und Assim.
Ein Krankenwagen wartete bereits direkt neben der Maschine. Noch während man den jungen Mann in den Wagen schob, wurde er bereits von einem Notarzt untersucht.
Rainer weigerte sich, sich untersuchen zu lassen und bestand darauf, im gleichen Rettungsauto mit Assim mitgenommen zu werden.
Der Notarzt fragte Rainer, wie es zu dieser Ohnmacht gekommen war, während er Assims Blutdruck maß und eines seiner geschlossenen Augenlider hob. Dann stach er Assim mit einer dünnen Nadel in den Finger, worauf sofort ein Tropfen Blut sichtbar wurde. Mit einer dünnen Pipette saugte der Arzt das Blut auf und ließ es auf die Oberfläche eines Teststreifens tropfen. Diesen schob der Arzt in einen kleinen Apparat, der Rainer völlig unbekannt war. Sekundenlang starrte der Arzt auf eine Skala, die sich immer mehr nach unten bewegte.
„Shit! Nur noch 38“, murmelte er besorgt. Rasch öffnete der Arzt einen kleinen Metallschrank und holte eine Infusionsflasche heraus, die er Rainer wortlos in die Hand drückte. Dann band er Assim den Arm mit einem Gummiband ab und schlug mit der flachen Hand auf die Ader an der Innenseite seines Arms. Sofort trat diese hervor und der Arzt setzte einen Venenfloh, an den er die Flasche anschloss.
„Halten Sie die Flasche hoch, damit genug Glukose fließen kann.“
„Was ist mit ihm?“, fragte Rainer ziemlich besorgt.
„Wie es aussieht, hat der Junge hier einen schweren Hypo. Das ist eine Unterzuckerung seines Körpers. Nur eine Viertelstunde später und ich hätte nichts mehr für ihn tun können.“
Bestürzt blickte Rainer den glatzköpfigen Arzt an.
„Das kann doch nicht möglich sein? Vor kaum einer Stunde war Assim noch kerngesund.“
„Doch, das ist möglich. Nur kommt so eine plötzliche Veränderung sehr selten vor. Normalerweise sind Hypos ein Symptom der Zuckerkrankheit, die sich mit vielen anderen Symptomen ankündigt. Doch manchmal kommen solche Zustände auch völlig überraschend, und es ist oft das Letzte, woran man denkt.“ 
„Und wieso wissen Sie das dann so genau?“ 
„Weil meine Frau genauso wie der junge Mann hier in Südafrika von einem Hypo heimgesucht worden ist. Sie hatte jedoch weniger Glück. Die Kollegen hatten ihren Zustand erst zu spät erkannt und sie ist innerhalb einer halben Stunde verstorben.“
Rainer hatte keine Zeit mehr, sich über dieses furchtbare Geschehen genauer zu informieren, denn plötzlich hörten die beiden Männer Assim leicht stöhnend zu sich kommen. Bald blickte er, noch ziemlich verstört, zu Rainer und dem Arzt auf.
„Wo bin ich?“, fragte er flüsternd und total orientierungslos.
Rainer strich ihm beruhigend über die feuchte Stirn und sagte:
„In Sicherheit. Alles ist o.k. Du bist bewusstlos gewesen und wir bringen dich ins Krankenhaus.“
„Aber wo ist mein Flugzeug?“, fragte Assim völlig durcheinander und wollte sich aufsetzen.
Doch Rainer drückte ihn sanft auf die Bahre zurück.
„Mit deinem Flugzeug ist alles in bester Ordnung. Wenn alles gutgeht, wirst du morgen schon wieder fliegen“, versuchte er den jungen Araber zu beruhigen, worauf ihm der Arzt einen sehr zweifelnden Blick zuwarf.

Kapitel 65

Mit viel Tamtam wurde Assim in einen gesonderten Bereich des Krankenhauses transportiert, wo er von oben bis unten durchgecheckt wurde. Rainer war froh, dass man ihn links liegen ließ. Er wollte jetzt ohnehin nur noch alleine sein und sich in einer stillen Ecke etwas Hochprozentiges einverleiben. Doch dann fluchte er leise vor sich hin. Er hatte völlig vergessen, dass er sich hier unter Muslimen bewegte, für die Alkohol ein absolutes Tabu ist. So blieb ihm nichts anderes übrig als sich eine Diätcola aus dem Automaten zu holen und noch immer verwirrt aus dem Fenster zu starren. Rainer konnte es einfach immer noch nicht ganz fassen, dass er die Cessna heil gelandet hatte. Irgendwie war er davon überzeugt, dass er das Flugzeug auch ohne Hilfe der Controller hätte landen können.
„Du bist der Star der Stunde, weißt du das?“, unterbrach Hermann seine Gedanken. 
Rainer drehte sich zu seinem Freund um, der ihn bewundernd anblickte. 
„Soviel Schneid hab ich dir gar nicht zugetraut.“
„Ja, es gibt eben Situationen, wo man über sich hinauswachsen muss, um am Leben zu bleiben.“
„Das stimmt schon, nur so ganz ohne Fachwissen ein Flugzeug fast profimäßig zu landen, grenzt schon beinahe an ein kleines Wunder. Bist du wirklich noch nie mit einem Flugzeug geflogen?“ 
Rainer lächelte geheimnisvoll und setzte erneut die Flasche an seine Lippen.
„Nicht in diesem Leben.“

Kapitel 66

Rainer hatte nicht damit gerechnet, welch riesige Kreise dieses unvorhergesehene Abenteuer in Dubai zog. Innerhalb weniger Stunden mutierte er zum Star, zum Helden, zum auserwählten Retter. Keiner kam auch nur ansatzweise auf die Idee, dass Rainer in erster Linie einmal sein eigenes Leben retten wollte und Assim ganz einfach davon profitiert hatte. Jeder war davon überzeugt, dass Rainer von Allah auserkoren war, den Sohn des Scheichs zu retten.
Die reservierte und eher ablehnende Haltung Prinz Mohameds hatte sich nun grundlegend geändert. Noch während sich Rainer mit Hermann über das Erlebnis unterhielt, stürzte plötzlich der Scheich in den kleinen Aufenthaltsraum und verbeugte sich in beinahe demütiger Haltung vor Rainer. Mit Tränen der Freude und Erleichterung in den Augen schloss er Rainer in die Arme. Seine Arroganz war nun wie weggewischt. In seinen Augen war nur noch tiefe Dankbarkeit eines Vaters zu lesen, die Rainer zeigte, wie sehr er diesen Sohn liebte.
„Lieber Herr Barkhoff, ich stehe tief in Ihrer Schuld. Ihrer Geistesgegenwart und Ihrem Können ist es zu verdanken, dass Assim noch lebt. Allah hat Sie gesandt, um meinen Sohn den Fängen des Todes zu entreißen. Mein Dank ist Ihnen tausendfach gewiss.“
Rainer war gerade im Begriff zu erwidern, dass diese Handlung selbstverständlich war, weil es ja auch um sein Leben ging, als ihm Hermann einen warnenden Blick zuwarf, worauf Rainer sofort in seinem Gedankengang umschwenkte und beinahe unterwürfig antwortete:
„Es war mir eine große Ehre und Freude, Ihrem Sohn das Leben retten zu dürfen.“
Genau das waren die Worte, die der Scheich hören wollte. Voller Dankbarkeit drückte er noch einmal den Retter seines Sohnes an sich und informierte diesen feierlich:
„Zum Dank für Ihren selbstlosen Einsatz zur Rettung meines Sohnes findet heute Abend im Dubai-Atlantis ein kleines Fest zu Ihren Ehren statt. Assim wird leider nicht teilnehmen können, da ihn diese Krankheit länger ans Bett fesseln wird. Doch unsere Gedanken werden auch bei ihm sein.“ 
Bei der Erwähnung der schweren Diabeteserkrankung seines Sohnes huschte ein Schatten großen Kummers über sein freudiges Gesicht.
Bevor Hermann dem Scheich folgte, klopfte er Rainer anerkennend auf die Schulter und sagte leise:
„Das ist jetzt deine Gelegenheit, dein Bonus. Nutze ihn und mach was draus.“

Kapitel 67

Obwohl Rainer bereits von diesem tollen Hotel gehört hatte, war er doch ziemlich überrascht, als er in der ohnehin schon äußerst beeindruckenden Lobby hinter einer fast meterdicken, riesigen Acrylwand einen Walfisch auf sich zukommen sah. Es dauerte einige Zeit, bis er sich daran gewöhnt hatte, dass Clownfische, Haie, Thunfische, Rochen und noch viele andere Meeresgetiere in den riesigen Aquarien um ihn herum ihre stillen Runden zogen. 
Von einem Consierge wurde er in eines der vielen Restaurants geführt, das der Scheich für diesen Abend gemietet hatte.
Das kleine Fest, von dem Prinz Mohamed gesprochen hatte, war ein riesiges Gelage mit allen nur erdenklichen Köstlichkeiten, an dem mindestens 200 Gäste teilnahmen. Rainer hatte keine Ahnung, wie es der Prinz innerhalb weniger Stunden fertiggebracht hatte, das Lokal, die Speisen, doch vor allem die vielen Gäste zu organisieren. Rainer war nun froh, so umsichtig gewesen zu sein, seinen besten Anzug mitzunehmen, denn die Emirati legen großen Wert auf Designerlabel, da diese auch die soziale Herkunft ihres Trägers andeuten. 
Beinahe die ganze Familie des Scheichs und alle seine Freunde und Bekannten waren anwesend und wollten dem Lebensretter persönlich danken. Natürlich waren in diesem erlauchten Kreis nur Männer anzutreffen. Die Ehefrauen, Nebenfrauen und Töchter feierten in einem abgesonderten Teil des Restaurants, wo sie vor Männerblicken geschützt waren. 
Nur Assims Mutter ließ es sich nicht nehmen, tief verschleiert im Saal zu erscheinen und Rainer persönlich für die Rettung ihres Sohnes zu danken. Rainer war zutiefst ergriffen, dass sie sich über die Etikette hinwegsetzte, um ihm diese große Ehrerbietung entgegenzubringen. 
Der große, blonde Hüne, der unter den eher kleinen, dunklen Arabern fast wie ein Außerirdischer wirkte, war überrascht, mit welcher Freude und Inbrunst diese Menschen hier fähig waren, ihre Feste zu feiern. Jeder lachte oder unterhielt sich angeregt mit seinem Nachbarn, während man immer wieder von den riesigen Tellern nahm, auf denen die beliebten Lammgerichte Kabsa und Mandi mit Bergen von Reis angerichtet waren. Es waren mehrere Versuche notwendig, bis Rainer endlich den Dreh heraus hatte, ohne Messer und Gabel zu essen. Die Emirati formten das Brot zu kleinen Schaufeln, auf die sie dann das Fleisch zusammen mit dem Reis häuften. Die Kunst bestand darin, nichts fallen zu lassen, während man das Brot zum Mund führte.
Der Scheich war sehr darauf bedacht, dass sich Rainer wohlfühlte und lud ihn ein, noch mehr vom weichen Butterfisch oder vom Hummer zu probieren. Zur orientalischen Musik tanzten wunderschöne Bauchtänzerinnen, die ihm feurige Blicke zuwarfen. Prinz Mohamed forderte ihn mit zwinkerndem Lächeln auf, sich eines dieser hübschen Mädchen auszusuchen oder vielleicht gleich alle mitzunehmen, die ihm den Rest der Nacht versüßen würden. Doch Rainer lehnte dankend ab, obwohl jedes einzelne der Mädchen eine Sünde wert gewesen wäre. Er war viel zu aufgewühlt, um an Sex zu denken. Außerdem wollte er den kommenden Tag unbedingt mit einem klaren Kopf beginnen, da ihn der Scheich aufgefordert hatte, in seinem Büro in der Stadt vorzusprechen und ihn über sein Anliegen zu informieren. 

Das Fest dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Immer wieder wurde er gebeten, den Hergang dieser filmreifen Actiongeschichte zu erzählen. Obwohl sich Rainer schon fast wie eine Schallplatte vorkam, die man ständig abspielte, ließ er sich seinen Widerwillen nicht anmerken und begann immer wieder von Neuem. Schließlich wollte er niemanden verärgern oder brüskieren, da er doch so herzlich aufgenommen wurde. Der einzige Mensch hier, der mit ihm Mitleid hatte, war Hermann. Mitfühlend lächelte er ihm zu, als er wieder einmal von vorne beginnen musste. Als das Fest schon in den Morgen hinein ging, gesellte er sich zu Rainer und sagte:
„Gratuliere, du Ungläubiger hast dich ja tapfer geschlagen und für einen Europäer einen ziemlich guten Eindruck hinterlassen. Man spricht in den höchsten Tönen von dir. Hat Mohamed bezüglich deines Anliegens eigentlich etwas erwähnt?“
„Ja, er hat mich für den heutigen Morgen zu sich in sein Büro bestellt.“
„Dann wünsch ich dir viel Glück, obwohl ich glaube, dass du das jetzt nicht mehr wirklich nötig haben wirst.“
Hermann stand gähnend auf und reichte Rainer zum Abschied die Hand.
„Für mich wird es Zeit, mich vom Acker zu machen. Ich muss heute wieder zu den Falken raus. Die Viecher machen mir wirklich Sorgen. Ich hab zwar so einen Verdacht, wieso das Weibchen nicht brütet und sich so viele Federn ausrupft, doch ich muss sie wohl mindestens noch eine Woche beobachten, um sicher zu sein, dass ich richtig liege.“
„Das heißt also, dass ich alleine zurückfliegen werde.“ 
„Anzunehmen, außer Mohamed lässt dich nicht weg“, scherzte Hermann.

Kapitel 68

Knapp vor 10 Uhr fand sich Rainer in dem riesigen Bürogebäude des Scheichs ein. Obwohl er diese Nacht nicht geschlafen hatte, fühlte er sich ziemlich frisch. Rainer wusste, dass die nervliche Anspannung und die Aufregung sein Schlafbedürfnis unterdrückte. Wenn sich der Stress gelegt hatte, würde er sicherlich wie ein Stück Holz umfallen und zwei Tage durchschlafen. 
Bevor Rainer bei seinem Gönner vorsprach, brauchte er aber unbedingt einen neuen Anzug. Den von gestern konnte er unmöglich mehr tragen, da sich die gesamte arabische Speisekarte des Festes auf Sakko, Krawatte und Hemd verewigt hatte. 
Doch für Männer seiner Größe war es selbst in Dubai schwierig, etwas Passendes zu finden. Mit knapper Not fand er schließlich doch noch einen Anzug, der zwar in den Ärmeln und in der Hosenlänge ein wenig zu kurz war, doch das war allemal besser als seinen verschmutzten, nach Zigarettenrauch stinkenden und verknitterten Anzug tragen zu müssen.
Während Rainer im Vorzimmer wartete, bis der Scheich Zeit für ihn hatte, ging er in Gedanken noch einmal die Strategie durch, wie er Prinz Mohamed für sein Projekt gewinnen wollte. Doch je länger er warten musste, umso mehr begann er, an seinen Überlegungen zu zweifeln, und eine heftige Unruhe erfasste ihn. 
Der Scheich war die letzte Hoffnung, die er noch hatte. Wenn er diese Chance jetzt vergeigte, war nicht nur das Projekt „Mine-Dedecting“ endgültig gestorben, sondern auch er war dann völlig mittellos und beruflich in einer Sackgasse gelandet. Doch daran wollte Rainer jetzt noch nicht denken. Früher oder später würde er es vielleicht ohnehin tun müssen.
Der Sekretär des Scheichs riss ihn aus seinen deprimierenden Gedanken, als er ihn freundlich bat, ihm zu folgen. Rainer ging mit ihm durch die angenehm klimatisierten Gänge, bis sie schließlich vor einer riesigen weißen Flügeltür ankamen. Lächelnd öffnete er die Tür und bat ihn einzutreten.
Beeindruckt blieb Rainer stehen. Noch nie hatte er ein dermaßen gediegenes und imposantes Büro gesehen. Der Raum war mindestens 160 m2 groß und lag in einem der obersten Stockwerke des Wolkenkratzers. Die Glasfront, die die gesamte Stirnseite des Büros einnahm, bot einen atemberaubenden Blick über die Stadt und über den Dubai Creek. Die Büromöbel und EDV-Ausstattung waren im modernsten Design gestaltet und vermittelten einen äußerst dynamischen Eindruck.
Der Scheich saß in seinem weißen Kaftan ungewöhnlich frisch hinter seinem wuchtigen Schreibtisch und unterzeichnete die Briefe in seiner Unterschriftenmappe. Als er das Öffnen der Türe hörte, blickte er neugierig über den goldenen Rand seiner Lesebrille hinweg. Als er Rainer erkannte, zog unverhohlene Freude über sein rundes Gesicht. Während sich Mohamed die Brille von seiner Nase zog, stand er auf und kam mit freudigem Lächeln auf seinen Gast zu.
„Wie schön, Sie zu sehen, Herr Barkhoff“, begrüßte er Rainer überschwänglich.
„Ich hoffe, Sie konnten noch ein wenig schlafen.“
„Ja, danke, ein wenig Schlaf ist mir nach diesem tollen Fest doch noch geblieben“, log Rainer und ergriff die dargebotene Hand des Scheichs.
„Es freut mich, dass Ihnen unsere kleine Dankesfeier gefallen hat.“
„Ja, sehr, doch so viel Dank hatte ich gar nicht erwartet.“ 
„Es kann nie zuviel des Dankes sein“, erwiderte der Prinz und verbeugte sich ungewöhnlich bescheiden vor dem Retter seines Sohnes.
Der Scheich führte Rainer zu den schwarzen Ledersofas und bat ihn, Platz zu nehmen, während er über die Gegensprechanlage Kaffee bestellte. Dann setzte er sich Rainer gegenüber und blickte ihn ernst an.
„Herr Barkhoff, was Sie für meinen Sohn, für mich und meine Familie getan haben, ist mit keinem materiellen Wert aufzuwiegen. Nicht nur, dass Sie die Cessna heil heruntergebracht haben, hat Assim das Leben gerettet, sondern auch die Schnelligkeit, mit der Sie die Landung durchgezogen haben. Natürlich muss ich auch dem Notarzt danken, der sofort erkannt hatte, warum mein Sohn kollabiert ist. Assim war bereits während des Fluges in höchster Lebensgefahr gewesen. Innerhalb weniger Minuten hatte sich sein Blutzucker abrupt verändert. Wenn Sie es nicht so geschickt und umsichtig angestellt hätten und nur einige Minuten länger gebraucht hätten, wäre jede medizinische Hilfe für meinen Sohn zu spät gekommen. Der Notarzt, aber vor allem Sie, Herr Barkhoff, haben echt tolle Arbeit geleistet.“
Rainer merkte, wie ergriffen der Scheich war. In diesem Moment kam auch der Sekretär mit dem Kaffee und servierte schweigend die dampfenden kleinen Tassen. Diese kurze Zeitspanne nutzte der Scheich, um sich zu sammeln. Als der Sekretär das Büro verlassen hatte, fuhr er nun wieder sachlich fort: 
„Mein Freund Hermann hat mir erzählt, dass Sie ein Anliegen haben, bei dem ich Ihnen vielleicht behilflich sein kann. Erzählen Sie mir davon.“
Jetzt war die Stunde der Wahrheit gekommen. Rainer atmete noch einmal tief durch, ehe er dem Prinzen von seinem Projekt berichtete. Der Mann hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. All die Hoffnungen, die vielen Enttäuschungen und das Herzblut, das er für diese Sache bereits geopfert hatte, flossen in seine Worte ein. Mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihn selbst ein wenig irritierte, versuchte er dem Scheich zu vermitteln, wie sehr sein Herz an diesem Projekt hing. 
Nachdem Rainer fertig war, überlegte der Scheich kurz, ehe er sagte:
„O.k., Herr Barkhoff, Sie brauchen also ca. 5 Millionen Dollar. Noch bevor Sie wieder in Ihrem Land angekommen sind, wird diese Summe auf Ihrem Konto für Sie bereitliegen. Es ist mir eine große Freude, Ihnen zum Dank dieses Geld zu schenken.“ 
Verblüfft starrte Rainer den Prinzen an. Offenbar hatte der Scheich nicht ganz begriffen, worauf er hinauswollte. Rainer schüttelte betroffen den Kopf und erwiderte schnell: 
„Verehrter Prinz, Sie haben mich völlig missverstanden. Ich fühle mich durch Ihre Großzügigkeit zutiefst geehrt, aber ich will kein geschenktes Geld von Ihnen. Ich möchte, dass Sie mein Hauptinvestor werden, sozusagen meine unangefochtene und völlig integre Galionsfigur für ein absolut humanes und lebensbejahendes Projekt, das sich über Grenzen, Völker, Religionen und Politik hinwegsetzt. Mit unserer „Mine-Dedecting“ will ich einen Beitrag für sicheres Leben, Lebensfreude, Hoffnung und Nächstenliebe leisten. Es darf einfach keine zerfetzten Kinderleiber mehr geben. Ich will keine verzweifelten Augen von hilflosen Müttern mehr sehen, die mitansehen müssen, wie das Leben aus den kleinen Körpern ihrer Söhne und Töchter heraustropft. Ich will lachende Kindergesichter sehen, die mit ihren Familien im Freien Fußball spielen können, ohne dabei Angst haben zu müssen, von einer Tretmine verstümmelt oder sogar getötet zu werden.“
Rainer war dermaßen aufgewühlt und durcheinander, dass er einfach aufstehen musste. Mit schnellen Schritten und eindringlichen Gesten lief er im Büro auf und ab. Er wusste selbst nicht, was plötzlich in ihn gefahren war. Vielleicht war dieser unkontrollierte Gefühlsausbruch ja noch auf die einschneidenden Erlebnisse in den Lüften über dem Persischen Golf zurückzuführen. Aber auch sein Bemühen um dieses wunderbare Projekt und die damit verbundene Sisyphusarbeit rissen ihn zu diesem Emotionsausbruch hin. 
Rainer blieb ruckartig stehen und hielt in seinem Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Hochachtung vor dem Leben inne. Resigniert ließ er die Arme sinken. 
„Es tut mir leid, Prinz Mohamed. Ich wollte Sie mit meinem ungezügelten Gebaren nicht befremden. Doch meine Nerven liegen augenblicklich ziemlich blank. Ich möchte mich für mein ungebührliches Verhalten entschuldigen. Sie sind meine letzte Hoffnung, verehrter Prinz. Wenn ich Sie für dieses Projekt gewinnen kann, dann kann mir weder die Mafia oder die Rüstungsindustrie noch sonst jemand etwas anhaben. Denn kein halbwegs normal denkender Mensch würde sich mit einem arabischen Scheich anlegen, der in dieser humanitären Angelegenheit für andere Araber kämpft und eintritt, die vom Schicksal nicht so begünstigt worden sind wie er selbst. Wenn wir das schaffen, brechen wir der Minenindustrie in aller Welt das Genick. Kein Mensch wird noch Minen kaufen und verlegen, weil er genau weiß, dass sie schon wenige Tage später wieder geräumt sein werden. Nur darum geht es mir.“
Erschöpft nahm Rainer wieder auf seinem Ledersofa Platz und befürchtete, dass er den Scheich mit seinem exaltierten Benehmen ein wenig vergrault haben könnte. Doch dieser blickte Rainer nur mit unverhohlenem Interesse an und fragte ihn neugierig:
„Wer sind Sie wirklich, Herr Barkhoff?“ 
Rainer blickte den Prinzen etwas verdutzt an.
„Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Prinz Mohamed.“ 
„Sie sind nicht nur ein Mann mit besonderen Fähigkeiten, wie Sie uns ja gestern schon bewiesen haben, Sie scheinen auch ein Mann zu sein, dem das Wohl anderer Menschen weit mehr am Herzen liegt als das eigene. Welches besondere Geheimnis umgibt Sie, das Sie so eklatant von den anderen Menschen unterscheidet? Wenn Sie mir nicht irgendetwas vorspielen und Ihre Worte wirklich der Wahrheit entsprechen, dann beschämen Sie mit Ihrer Selbstlosigkeit, Ihrer grenzenlosen Liebe und Ihrer Bereitschaft, Gutes tun zu wollen, nicht nur mich, sondern viele andere auch.“
Wer war er wirklich? Plötzlich erinnerte sich Rainer an seinen ersten Traum, wo er als Ruak auf seine abgearbeiteten, schwieligen Hände hinabblickte, in denen Heilkräuter, Blätter und Wurzeln lagen, die er zu einem Sud aufkochen lassen wollte, um seiner Sippe damit eine heilende Linderung zu verschaffen. Aber da war auch Raoul, der ihn das Flugzeug mit Sicherheit hatte steuern und landen lassen. Und jetzt, gerade jetzt hatte Ranolfo aus ihm gesprochen, der wie so oft sein Herz auf der Zunge getragen hatte, um der Welt mehr Einsicht, mehr Größe und Verständnis zu vermitteln.
Zum ersten Mal fühlte Rainer eine innere Verbundenheit mit diesen drei längst vergangenen Leben, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Und doch hingen gerade diese drei Schicksale wie durch Gottes Fügung untrennbar miteinander zusammen. Durch die Sehnsucht nach dem Guten und dem Streben nach Vollkommenheit und Wahrheit waren diese drei Seelen wie mit einem untrennbaren Band verbunden. Plötzlich fühlte Rainer unglaubliche Energie und Stärke in sich hochsteigen. Erlöst atmete er durch. Endlich hatte sein verblendeter Geist begriffen, wer er wirklich war.
Rainer blickte dem wartenden Scheich direkt in die Augen. 
„Ich bin hier, weil ich etwas zu Ende bringen muss. Wenn ich meine Aufgabe erfüllen kann, schließt sich der Kreis. Dann habe ich meine Mission erfüllt.“ 
Prinz Mohamed hatte natürlich keine Ahnung, wovon Rainer sprach. Doch er fühlte aus der Schwere seiner Worte, dass es hier um weit mehr als um Bestätigung, beruflichen Kick und den damit verbundenen Endorphinstoß ging. Instinktiv spürte der Scheich, dass hier etwas Mystisches, Grenzüberschreitendes im Spiel war, das mit normalen Maßstäben nicht gemessen werden konnte.
Die Hochachtung vor diesem Mann stand dem Araber ins Gesicht geschrieben. Tief bewegt stand Prinz Mohamed auf und reichte Rainer die Hand. 
„Lieber Freund, bevor Sie in mein Büro gekommen sind, hatte ich im Sinn, Sie für Ihre großartige Leistung fürstlich zu belohnen. Ich habe jedoch nicht damit gerechnet, dass schlussendlich ich durch Sie beschenkt werde. Wir leben leider in einer sehr schnelllebigen, oberflächlichen und äußerst materiell ausgerichteten Welt, wo man durch die rasche Abfolge von Eindrücken und Handlungen nur zu leicht vergisst, dass Allah uns Demut, Bescheidenheit und Nächstenliebe geschenkt hat, um uns das Gefühl zu vermitteln, Mensch zu sein. Durch Sie bin ich mir heute dieser Werte nach langer Zeit wieder bewusst geworden. Es ist mir eine große Freude und Ehre, Ihnen nicht nur als Investor, sondern auch als Mentor und Pate für dieses Projekt zu Verfügung zu stehen. Wo immer ich Sie unterstützen kann oder Sie Hilfe brauchen, ich bin jederzeit für Sie da.“ 
Rainer glaubte plötzlich zu schweben und vor Freude und Ergriffenheit brachte er kein Wort über seine Lippen. Das Einzige, was er doch noch herauspressen konnte, war ein heiseres „Danke“.

Kapitel 69

Der Scheich bestand darauf, dass sein neuer Freund und Geschäftspartner wieder in seinem Privatjet nach Wien zurückgeflogen wurde. Obwohl es Rainer nichts ausgemacht hätte, die öffentliche Verkehrsmaschine zu nehmen, war er nun doch froh, für einige Stunden alleine sein zu können. So konnte er endlich wieder zur Ruhe kommen und zu sich selbst finden. 
Obwohl Mohamed ihn gerne noch einige Tage bewirtet hätte, drängte Rainer nach Europa zurück. Mit den nun reichlich vorhandenen Geldmitteln konnte er endlich beginnen, das Projekt in die Tat umzusetzen. Der Scheich hatte natürlich für Rainers Drängen Verständnis und versprach ihm, dass sich seine Anwälte so rasch wie möglich mit ihm in Verbindung setzen würden, damit er so schnell wie möglich an das so dringend benötigte Geld herankam.
Bevor Rainer aber zum Flughafen fuhr, besuchte er noch Assim im Krankenhaus. Der junge Mann musste noch einige Tage auf der Privatstation bleiben, bis er richtig auf das Insulin eingestellt sein würde. Er musste auch lernen, die nötige Dosis selbst zu bestimmen und sie sich auch zu injizieren. Assim freute sich sehr, seinen Lebensretter vor dessen Abreise noch einmal zu sehen, obwohl diese Freude durch das Wissen um seine unheilbare und einengende Krankheit doch ziemlich geschmälert wurde. 
Irgendwie fühlte sich Rainer für diesen jungen Mann verantwortlich. Es bekümmerte ihn zu sehen, wie niedergeschlagen der Junge war. Bevor Rainer ging, fasste er Assim freundschaftlich an der Schulter und blickte ihm zuversichtlich in die Augen:
„Assim, du kannst diese Krankheit weder ignorieren noch wegschieben. Lerne mit ihr zu leben und sie zu respektieren. Wenn du das tust, kann dein Leben fast genau so schön wie vorher sein. Assim, lebe! Lebe so intensiv wie irgend möglich und lerne, dankbar für das wirklich Schöne in deinem Leben zu sein.“
„Meinst du wirklich?“, zweifelte Assim an Rainers Worten.
„Ja, da bin ich mir völlig sicher. Das Leben ist ein Geschenk Gottes. Nur wer es huldigt und zu schätzen weiß, wird sich an ihm erfreuen, egal wie schwierig es sein kann.“
„Und woher weißt du das so genau?“ 
„Weil ich weiß, wie es ist, wenn man sein Leben verliert und so gerne noch weiterleben hätte wollen“, erwiderte Rainer. Doch damit Assim nicht weiter auf dieses rätselhafte Statement eingehen konnte, fuhr er rasch fort:
„Wenn ich das nächste Mal komme, dann fliegen wir gemeinsam und du zeigst mir noch die vielen anderen wunderbaren Schönheiten deiner Heimat. Ich hoffe, dass ich bis dahin auch schon meinen Flugschein habe. Schließlich hast du mich auf den Geschmack gebracht.“
„Wirklich? Das wäre ja echt toll, wenn auch du den Schein hättest.“ Das Leuchten in seinen Augen ließ darauf schließen, dass Assim für einen Moment seine schreckliche Krankheit vergessen hatte. 
„Ja, es ist sehr lange her und ich hatte schon fast vergessen, wie schön das Gefühl ist, wie ein freier Vogel in den Himmel aufzusteigen“, erwiderte Rainer und fühlte dabei die Seele Raouls in sich. 
„Ich werde sehr gerne als dein Sicherheitspilot fungieren. Dann zeig ich dir alles, was du sehen willst.“
Als Rainer Assim verließ, hatte er das Gefühl, dass der Junge nicht mehr ganz so deprimiert war wie zuvor. Rainer nahm sich fest vor, Flugstunden zu nehmen und bei seinem nächsten Besuch mit Assim so viel Zeit wie möglich in der Luft zu verbringen. Der Sohn des Scheichs war ihm wirklich ans Herz gewachsen. Irgendwie war Assim genau der Junge, den er leider nie haben würde…

Kapitel 70

Als Rainer am späten Nachmittag nach Wien zurückkehrte, fühlte er sich orientierungslos, deprimiert und irgendwie verlassen. Selbst in der vertrauten Umgebung seiner Wohnung fand er nicht die erhoffte Ruhe, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Rainer fühlte sich nach diesen unerwarteten, schicksalsträchtigen und zugleich so wunderbaren und fremdartigen Eindrücken ausgebrannt und leer. Seufzend schob er den noch vollgepackten Koffer mit seinem Fuß hinter die Eingangstür und schenkte sich endlich das lang ersehnte Glas Cognac ein. Dabei fiel sein Blick auf die Konfektschale auf der Kommode, in der er die Utensilien aufbewahrte, die in einem engen Bezug zu seinen Träumen standen. Beinahe zärtlich strich er mit seinen Fingerkuppen über die scharfen Kanten der Pfeilspitze, die vielleicht einst in seiner Schulter gesteckt hatte, über das lose Blatt Papier, auf dem er als Raoul in energischen Zügen Irenes Antlitz festgehalten hatte und das leere Medaillon, aus dem ihm vor so vielen Jahren das liebliche Kindergesicht seiner kleinen Tochter entgegengelächelt hatte. 
Die Erkenntnis, schon mindestens drei Mal gelebt zu haben, schuf in Rainer eine gewisse Erhabenheit und ein Gefühl von Neugier und grenzüberschreitender Spiritualität. Rainer fühlte einen besonderen Druck auf sich lasten, eine Erwartung, der er unbedingt gerecht werden musste. Er hatte seine Aufgabe gefunden, aber er hatte sie noch nicht erfüllt. 
Außerdem drehte sich ein Großteil seiner Gedanken nun wieder um Isabell. Ihr abweisendes Verhalten, das sicherlich auch mit ihrer Schwangerschaft zusammenhing, setzte ihm ziemlich zu. Wie sollte er um sie und um das gemeinsame Kind kämpfen? Der Schutzmantel, den sie in den letzten Wochen um sich gewebt hatte, war mittlerweile so dicht, dass er ihn nicht mehr zu ihr durchdringen konnte.
Wie immer, wenn sein Gemütszustand nicht gerade zum Besten stand, begann ihm Angelina zu fehlen. Nachdenklich trank er den Rest seines Glases aus. Rainer bereute es nun, dass er Angelina dieses verdammte Handy nicht doch aufgeschwatzt hatte. Dann hätte er ihr jetzt zumindest eine Sprachnachricht senden können, dass er dringend mit ihr sprechen musste. Rainer ging auf die Terrasse hinaus und blickte in den Park hinunter. Vielleicht saß sie ja auf ihrer Bank und wartete auf ihn. Doch ihre Bank war leer. Deprimiert schloss Rainer die Balkontür und ging ins Vorzimmer zur Gegensprechanlage, wo die Glocke vom Haustor schrill läutete. Nur widerwillig hob er ab. Bestimmt hatte wieder einmal jemand seinen Schlüssel vergessen oder ein Zettelverteiler um Einlass bat. 
„Junge, wo bist du denn? Ich frier mir hier herunten fast den Arsch ab“, hörte er Angelinas vorwurfsvolle Stimme aus dem kleinen Lautsprecher dröhnen. Rainer war es, als ob durch ein tief verhangenes Wolkenmeer plötzlich die Sonne durchstach und mit ihren Strahlen seine trostlose Welt wieder zu erhellen begann. Wie hatte sie als Blinde es nur geschafft, seinen Klingelknopf zu finden? 
„Komm doch rauf, Angelina. Hier oben ist es schön warm“, forderte er sie erfreut auf.
„Nein, Junge, das ist nichts für mich. Du weißt, ich bin ein Kind der Straße und ziehe meine Parkbank vor. Also mach dich auf die Socken und lass mich nicht noch länger warten.“
Rainer ließ sich nicht zweimal bitten und warf seinen Mantel über. Er wartete nicht auf den Aufzug, sondern rannte, immer gleich zwei Stufen auf einmal nehmend, das fünfstöckige Stiegenhaus hinab. In der Zwischenzeit hatte sich Angelina mit ihren obligaten Plastiksäcken in der einen Hand und den immer wieder leicht auf den Boden schlagenden Blindenstock in der anderen Hand auf den Weg zu ihrer Bank gemacht. Hoch erfreut, sie zu sehen, lief Rainer seiner Freundin nach und drückte sie glücklich an sich. Dann hob er sie samt ihren Sackerln hoch und wirbelte sie herum. Wieder roch Rainer diesen wunderbaren und mittlerweile so vertrauten Duft, der von ihr ausging. Völlig überrumpelt von seinem unerwarteten Gefühlsausbruch schrie die alte Frau fast ängstlich auf:
„Bist du jetzt total verrückt geworden? Ich bin fast älter als die Ewigkeit und kein biegsames Ballettpüppchen mehr, das man so herumwirbeln kann!“
„Angelina, selbst wenn du tausend Jahre alt wärst, würdest du für mich immer jung bleiben.“ 
Rainers Freude war so groß, dass er sie gleich ein zweites Mal hochhob.
„Du bist ja total durchgeknallt, Junge. Lass mich jetzt runter und erzähl mir lieber, was sich bei dir alles so getan hat.“ 
Die beiden nahmen auf der Parkbank Platz. Der Frost hatte in den letzten Tagen nachgelassen und rundherum drangen die ersten Schneeglöckchen und Schneerosen durch die feuchte, duftende Erde. Angelina sog die nicht mehr ganz so kalte Luft tief in ihre Nase.
„Spürst du den nahenden Frühling, Junge? Er wird nicht nur das Land verwandeln. Diesmal wird er auch für dich große Veränderungen bringen.“
„Ich weiß, Angelina. Die nächsten Wochen und Monate werden entscheidend für mich sein. Doch wie es aussieht, ist mein Kurs stark im Steigen begriffen und aus dem Wetterhäuschen lacht mich gerade die Sonnenmaid an.“ 
Rainers Hochstimmung war nicht zu überhören.
„Das klingt ja verdächtig gut nach positiven Neuigkeiten“, unterbrach ihn Angelina interessiert.
„Kann man wohl sagen, meine Liebe. Die beiden letzten Tage waren eine richtige Berg- und Talfahrt meiner Gefühle. Nicht nur, dass sie aufregend und gefährlich waren, sie zählen sicherlich auch zu den erkenntnisreichsten in meinem bisherigen Leben. Mein Geist hat förmlich einen Quantensprung gemacht.“
Rainer begann von Scheich Mohamed zu erzählen und dessen anfänglich ziemlich abweisender Haltung, die sich nach seiner glücklichen Notlandung und der damit verbundenen Rettung seines Sohnes in Hochachtung und Verbundenheit gewandelt hatte. Voller Erleichterung erzählte er Angelina, dass der Scheich als Investor eingesprungen war und alle nötigen Geldmittel bereitgestellt hat. Außerdem war er bereit, sich auch mit seinem Namen für die „Mine-Dedecting“ einzusetzen. Was gäbe es Besseres für sein Projekt als die Schutzherrschaft eines so einflussreichen arabischen Prinzen! Noch dazu, wo doch so viele Geschäftsfälle und Aufträge aus dem Nahen Osten und dem Vorderen Orient zu erwarten waren.
Doch langsam begann sich Rainers Euphorie wieder zu legen, sodass Angelina hellhörig wurde.
„Warum wirst du denn plötzlich so nachdenklich, Junge?“ 
„In der Nacht, bevor ich nach Dubai geflogen bin, fand mein letzter Traum seine Fortsetzung. Dieses Erlebnis war mit Abstand das Schrecklichste, doch zugleich auch das Ergreifendste, was ich je gedacht, gefühlt oder erlebt habe.“
Stockend begann Rainer von Ranolfo zu erzählen, der gegen die Verblendung, den Hochmut und die Selbstverherrlichung der Kirche gekämpft hatte. 
„Weißt du, Angelina, als ich das erste Mal diesen Tod am Scheiterhaufen miterlebt hatte, war mein Sterben das absolut Schrecklichste, was einem Menschen nur widerfahren konnte. Doch als dieser furchtbare Traum in seiner ganzen Vollständigkeit ein zweites Mal in mir abgelaufen ist, habe ich erkannt, dass alles Negative immer auch etwas Positives in sich birgt. Mein Tod ist nicht vergebens gewesen und ich bin nicht umsonst gestorben. Es war mir gelungen, viele Menschen aufzuwühlen, die erkannt haben, dass ihre Welt aus mehr als nur bedingungslosem Glauben und absolutem Gehorsam bestand. Sie haben mich nicht brechen können, obwohl es diese scheinheiligen Pfaffen bis zur letzten Minute versucht hatten. Mein Tod ist gleichzeitig auch ihre Niederlage gewesen. Er ist zu einem der unzähligen Beweise für die Irrtümer der katholischen Kirche geworden und wirkt über alle Zeiten hinaus. Wer Toleranz und Liebe predigt und sich gleichzeitig mit Brutalität und menschenverachtender Ignoranz dagegen zur Wehr setzt, hat jeden Anspruch auf Unfehlbarkeit verwirkt. Darauf hat Ranolfo immer wieder hingewiesen und auf die Selbstbestimmung des Glaubens selbst bis zu seinem Tod gepocht. 
Erst am Abend vor seiner Hinrichtung hatte er von seiner Tochter erfahren. Mit ihrem Medaillon in seiner Hand war er am Scheiterhaufen gestorben. Das war die große Gnade gewesen, die ihm zuletzt doch noch zuteil geworden war und ihn das erlittene Leid vergessen ließ. Mit dem sicheren Wissen, dass ein Teil von ihm in seinem Kinde weiterleben würde, war er aus dieser Welt gegangen.“
„Du weißt nun also, dass du nicht nur als Ruak und Raoul, sondern auch als Ranolfo schon einmal gelebt hast.“
„Nach diesem letzten Traum war es für mich nicht mehr schwierig zu erkennen, dass diese Ereignisse nicht so einfach der Willkür meines Schicksals zuzuschreiben sind. Es steckt eine gewisse Ordnung und eine besondere Symmetrie hinter diesen drei Männern, in denen ich mich permanent wiederfinde. In den langen Stunden des Rückflugs habe ich intensiv über meine Träume nachgedacht. In jeder dieser drei Persönlichkeiten habe gelebt. Doch auf wundersame Weise war mir immer wieder dasselbe Schicksal widerfahren, obwohl der Handlungsablauf in völlig unterschiedlichen Bereichen stattgefunden hatte. In jedem dieser drei Leben hatte ich besondere Begabungen, die mich zum Außenseiter gestempelt hatten. Viele Menschen erkannten meine ungewöhnlichen Talente und bewunderten sie. Andere haben mich genau deswegen gehasst und verfolgt.
Als Ruak fühlte ich die Kraft und die Weisheit des Schamanen in mir. In Raoul wurde in mir der Grundstein für Poesie und Schöngeist geweckt. Doch Ranolfo spüre ich am intensivsten von allen. Denn so wie er bin auch ich ein Freidenker, der sich nicht beirren lässt und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, Zielstrebigkeit, Loyalität und absolutes Vertrauen in seine Berufung in sich trägt.“
„Ja, du bist schon etwas ganz Besonderes. Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, habe ich sofort gespürt, dass in dir mehr steckt als ein biederer, kleiner Bürohengst“, sagte Angelina und nickte wissend mit dem Kopf.
„Wenn du schon damals gewusst hast, wie es um mich steht, wieso hast du es mir nicht schon viel früher gesagt“?“
„Ach Junge, wozu hätte ich das tun sollen? Deine Träume sind doch nur für dich bestimmt. Wie du mit ihnen umgehst, dafür bist nur du selbst verantwortlich. Es steht mir nicht zu, dich zu beeinflussen. Meine Berufung ist es, dich ein Stück deines Weges zu begleiten, deine Freundin zu sein, die dir zuhört und dir vielleicht ab und zu einen kleinen Tipp geben kann. Deine Aufgabe besteht darin, aus deinen Träumen zu lernen und dich selbst zu erkennen. Dann musst du selbst entscheiden, was für dich wichtig und richtungsweisend ist.“
Fast unwillig fiel Rainer seiner Freundin ins Wort:
„Ach Angelina, manchmal redest du echten Blödsinn. Was sollte an diesen Albträumen für mich schon richtungsweisend sein? Dass ich demnächst wieder einmal ins Gras beißen werde? Dieser Gedanke ist wirklich nicht sehr erbaulich. Ich bin jetzt dreimal durch die Hand eines anderen getötet worden und konnte absolut nichts dagegen tun. Wenn mein Leben so wie meine Träume verläuft, dann kann ich jetzt schon die Vorbereitungen für mein Begräbnis treffen und die Paten in Druck geben.“
„Junge, denk nicht so kleinkariert. Deine Träume suchen dich doch deshalb heim, damit dir dieses Schicksal erspart bleibt. Du sollst nicht wieder durch fremde Hand ein vorzeitiges Ende finden, das dich an der Erfüllung der dir zugewiesenen Aufgabe hindert. Jetzt hast du den Vorteil, ja das große Glück, durch deine Träume aus der Erfahrung deiner Vergangenheit zu lernen. Dass du immer ein begnadeter Außenseiter warst und es auch immer sein wirst, hast du doch schon völlig richtig erkannt. Mach dir diese Position zunutze und lerne aus ihr heraus gezielt zu agieren. Vergleiche deine Träume und versuche zu erkennen, welche Beweggründe dich wirklich steuern und motivieren.“
„Wie immer sprichst du in Rätseln, Angelina.“ 
Wissend lächelte sie ihn an und erwiderte:
„Ja, vielleicht jetzt noch, weil du dir noch nicht wirklich die Mühe gemacht hast, über deine Träume genauer nachzudenken. Du weißt zwar, dass du ein Wiedergeborener bist, doch du weißt noch nicht, wer dein Feind ist. Wenn sich dieser Nebel vor deinem inneren Auge zu lichten beginnt, wirst du erkennen, dass dein Kampf noch lange nicht zu Ende ist, ja noch nicht einmal so richtig begonnen hat. Denn dieses Mal entscheidest du selbst über das Schicksal. Du wirst dafür die Kraft und die Erfahrung aus all deinen drei Leben brauchen. Nur darum hast du in diesen Männern gelebt und bist wiedergeboren worden, weil du zu etwas Großartigem bestimmt bist.“

Nachdem sich Rainer von Angelina verabschiedet hatte, ging er nachdenklich in seine Wohnung zurück. Der Nachdruck, mit dem ihn Angelina auf die Bedeutung seiner Träume aufmerksam gemacht hat, beunruhigte ihn sehr. Rainer wusste, dass seine Freundin versuchte, ihn auf die richtige Spur zu führen. Dazu musste er aber erst einmal die richtige Witterung aufnehmen. Er wollte Angelinas angedeutete Warnung keinesfalls ignorieren und ernsthaft beginnen, sich mit diesen Träumen intensiv auseinanderzusetzen. Der heutige Abend war der beste Anfang dazu.

Kapitel 71

Schon am nächsten Tag setzten sich die Anwälte des Scheichs mit Rainer in Verbindung. Unbürokratisch und ohne jede Diskussion ging die Vertragsunterzeichnung innerhalb kürzester Zeit über die Bühne. In dieser weltweit größten Wirtschaftskrise, wo jeder Investor zum Pfennigfuchser wurde, war dieses erfolgreiche Placement eine absolute Ausnahmeerscheinung. Der Scheich ließ sich nicht lumpen, denn seine Anwälte gingen ohne jedes Wenn und Aber auf alle Vorschläge und Angebote Rainers ein. Dieses äußerst nachsichtige Verhalten zeigte Rainer nur zu gut, dass dieses Investment im Grunde genommen doch als Geschenk gedacht war. Selbst wenn das Unternehmen nicht den geplanten Profit einbringen würde, hatte er als Geschäftsführer von diesem Investor nichts zu befürchten. Rainer nahm sich fest vor, alles daranzusetzen, dieses Unternehmen zum Erfolg zu führen und dem Scheich eine ordentliche Rendite abzuliefern. Er wollte keine Geschenke. Was er wollte, war, als Geschäftsmann und als Vorreiter dieser neuen Technologie ernst genommen zu werden. Sobald die Millionen des Scheichs ordentlichen Gewinn abwerfen würden, würde Prinz Mohamed erkennen, dass Rainer auch als Betriebswirt kein Träumer und Fantast war, sondern dass er sehr wohl in der Lage war, seine Visionen auch umzusetzen. Aber wusste der Scheich das nicht bereits? Rainer musste über diesen Gedanken lächeln und dachte mit großer Hochachtung an seinen neuen Gönner.

Nachdem die Vertragsunterzeichnung notariell beglaubigt worden war und das Geld am Firmenkonto seiner Bank lag, fuhr Rainer zu Coleman, um ihn von dieser wunderbaren Wendung für die „Mine-Dedecting“ zu unterrichten. Weder Jake noch Max wussten davon, dass Rainer in Dubai war. 
Auf der Fahrt nach Mödling malte sich Rainer aus, wie überrascht und glücklich Jake sein würde, wenn ihm sein Partner die Verträge über die so dringend benötigten Geldmittel mit den noch feuchten Unterschriften vorlegen würde. Rainer konnte es ja selbst noch kaum fassen, dass es ihm nach dieser endlos langen Zeit der Sisyphusarbeit doch noch gelungen war, das nötige Kapital aufzutreiben. Immer wieder blickte er erleichtert und beglückt zugleich auf den Beifahrersitz, wo in der einfachen Ledermappe der Schlüssel zur Verwirklichung all ihrer Träume und Ziele lag. 
Nach und nach begann sich das Gefühl in Rainer zu festigen, dass nun ein neuer Anfang, ein völlig neuer Lebensabschnitt begonnen hatte, wo das Glück endlich auf seiner Seite war. In seiner Euphorie blieb Rainer beim nächsten Supermarkt stehen und besorgte zur Feier des Tages eine Flasche Champagner. Schließlich musste dieses Ereignis auch gebührend begossen werden. 
Es dauerte ewig, bis Grace auf das Klopfen an der Haustür reagierte. In freudiger Erwartung, dass endlich die Türe geöffnet wurde, hielt er die Champagnerflasche in Augenhöhe, damit sie sofort erkennen konnte, dass sich etwas ganz Besonderes ereignet hatte. Als die Tür aufging, blickte ihn Grace mit großen Augen an.
„Überraschung, Grace, wir haben es endlich geschafft. Jakes Minenhubschrauber werden fliegen und zwar schneller als wir es für möglich gehalten haben! Ich hab endlich die nötige Finanzierung beisammen. Nun geht’s los, Grace, und niemand kann uns jetzt mehr aufhalten.“
Rainer trat an ihr vorbei ins Haus und blickte sich um. Nachdem er Jake nicht sehen konnte, fragte er vergnügt:
„Wo ist denn dieser alte Haudegen? Nun ist es aber genug mit Trübsalblasen und Nichtstun, denn jetzt wird gearbeitet und zwar auf Hochtouren.“
Langsam schloss Grace die Tür und blickte Rainer traurig an. Mit fast tonloser Stimme sagte sie:
„Sie kommen leider ein bisschen zu spät, Rainer. Jake ist tot.“
Rainer glaubte sich verhört zu haben und blickte Grace völlig konsterniert an. Erst jetzt bemerkte er, dass Jakes Frau ganz in Schwarz gekleidet war und tiefe Ringe ihre verweinten Augen umrandeten. Rainer ließ die Flasche sinken und flüsterte bestürzt:
„Um Gottes Willen, was ist passiert?“
„Jake hat sich vor zwei Tagen erschossen.“
„Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein.“
Grace‘ Augen füllten sich wieder mit Tränen, sodass sie kaum sprechen konnte.
„Durch die Wirtschaftskrise haben wir fast unser gesamtes Vermögen verloren. Unsere Aktien, Investmentfonds und Wertpapiere waren von einer Minute auf die andere plötzlich fast nichts mehr wert. Der einzige Lichtblick war noch der mögliche Verkauf an diese Organisation. Doch dann hat uns am Freitagabend Max darüber informiert, dass wir auch von dieser Seite kein Geld mehr zu erwarten hätten, wenn wir nicht so rasch wie möglich unterschreiben würden. Diese Information war dann jener Tropfen, der in Jake das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Seine ohnehin schweren Depressionen, weil er sich als Krüppel völlig unnütz gefühlt hatte und deshalb nicht anderen zur Last fallen wollte, haben am Samstag ihr absolutes Tief erreicht. Jake hat sich mit einer Flasche Whisky in sein Zimmer zurückgezogen, wo er sich kurz darauf eine Kugel durch den Kopf gejagt hat.“
Rainer brauchte einige Sekunden, bis er diese Hiobsbotschaft in ihrer vollen Tragweite erfasst hatte. Erschüttert blickte er auf seine Ledermappe, deren Inhalt ihn noch vor wenigen Minuten in einen unsäglichen Freudentaumel versetzt hatte. Fassungslos ließ er sie sinken. 
„Grace, das kann doch alles nicht wahr sein? Jetzt, wo für uns endlich das grüne Licht aufleuchtet, ist Jake…“ Rainer konnte nicht mehr weitersprechen. Der dicke Kloß in seinem Hals ließ ihn nur noch vor Schmerz laut aufseufzen und Grace trauernd in die Arme nehmen. 

Kapitel 72

Zwei Tage später fand das Begräbnis in aller Stille am Mödlinger Friedhof statt. Die Trauergemeinde war sehr klein und kam sich auf dem großen Friedhof ziemlich verloren vor. Auch Max und Isabell nahmen an den Trauerfeierlichkeiten teil. Isabell wirkte ziemlich erschöpft und niedergeschlagen. Die Schwangerschaft schien diesmal nicht so reibungslos über die Bühne zu gehen wie jene von Lisi. Doch bestimmt trug auch der Tod Jakes seinen Teil zu ihrer schlechten Verfassung bei. Isabell verbrachte jede freie Minute bei Grace und half ihr bei der Abwicklung der Erbschaftsangelegenheiten und beim Spießrutenlauf durch den Behördendschungel, der für Amerikaner in Österreich völlig unverständlich und kompliziert war.
Es verletzte Rainer sehr, dass Isabell ihn zu meiden versuchte. Außer einer kurzen Begrüßung und den üblichen Höflichkeitsfloskeln gab es nichts, womit sie ihn bedachte. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich völlig auf Grace, welche sie am offenen Grab ihres Mannes stützen musste. 
Max hingegen starrte mit versteinerter Miene in das offene Grab, in das der Sarg bereits hinabgesenkt worden war. Rainer war sich sicher, dass Max mit seinem ständigen Insistieren und Drohen nicht ganz unschuldig an Jakes Tod war. Er hat genauso gut wie Rainer gewusst, dass Jake sich in einer sehr kritischen Phase seines Lebens befunden hatte und jede zusätzliche Erschütterung ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Der übermächtige Zorn auf seinen ehemaligen Freund ließ Rainer die Fäuste ballen. Hatte er es etwa sogar darauf angelegt oder war Max’ schicksalsträchtiger Besuch bei Coleman nur auf seine schreckliche Unsensibilität zurückzuführen? 
Colemans Witwe wollte nach dem Begräbnis so schnell wie möglich wieder nach Hause. Da Max noch einen Termin bei seinem Steuerberater hatte, bot sich Rainer an, Grace in seinem Wagen zurückzubringen. Rainer bemerkte, dass es Max nicht sonderlich behagte, als Isabell zu Grace in Rainers Auto einstieg. Sie wollte jetzt keinesfalls ihre ziemlich mitgenommene Freundin alleine lassen. Max konnte seinen Unwillen nur hinunterschlucken und sich ohne seine Frau auf den Weg zurück nach Wien machen.
Die Stimmung war den Umständen gemäß ziemlich gedrückt. Obwohl Rainer die beiden Frauen nur absetzen und dann ebenfalls in die Stadt weiterfahren wollte, bat Grace ihn, für einen kurzen Sprung mit ins Haus zu kommen. Eher zögernd kam Rainer ihrer Bitte nach und parkte seinen Wagen am Straßenrand direkt hinter Jakes verwaistem Auto. Er wollte eigentlich nicht mitansehen, wie Grace sich hinter ihren vier Mauern ihrer tiefen Trauer hingab. Mit solchen gefühlsbetonten Situationen konnte er nicht besonders gut umgehen. Doch wider Erwarten war Grace äußerst gefasst. Rainer hatte nicht den Eindruck, dass sie in Selbstmitleid und in Verzweiflung ertrank. Freundlich, aber bestimmt bat sie Rainer und Isabell, im blauen Salon Platz zu nehmen, während sie in der Küche Kaffee aufbrühte. 
Es war lange her, dass Rainer mit Isabell alleine in einem Raum war. Sie spürten das Spannungsfeld, das sich sofort um sie herum aufbaute und beide unruhig werden ließ. 
Die Schwangerschaft begann sich bereits leicht unter Isabells schwarzem Pulli abzuzeichnen. 
Als Rainer gedankenverloren auf die leichte Wölbung ihres Bauches starrte, verschränkte Isabell verlegen ihre Hände darüber, so als ob es ihr unangenehm wäre, dass sie in anderen Umständen war.
„Geht es dir gut, Isabell?“, fragte Rainer besorgt, nachdem er in ihre müden Augen geblickt hatte. 
„Den Umständen entsprechend, ja“, erwiderte sie tonlos. 
„Wie ich von Max erfahren habe, hast du einen ziemlich potenten Investor aufgetrieben“, wechselte Isabell rasch das Thema, um von ihrer Schwangerschaft abzulenken.
„Ja, doch leider habe ich diesen dicken Fisch zwei Tage zu spät an Land gezogen“, seufzte Rainer deprimiert und blickte auf die Kommode, wo eine gerahmte und mit einem Trauerflor versehene Fotografie von Jake stand.
Sowohl Rainer als auch Isabell waren froh, als Grace mit dem Kaffeetablett wieder den Salon betrat. 
Nachdem jeder seine Tasse hatte, nahm Grace neben Isabell auf dem Sofa Platz. Für einen kurzen Moment überlegte Rainer, welche der beiden Frauen nun trauerte. Während Isabell einen ziemlich zerknirschten Eindruck machte, wirkte Grace eher nüchtern und sehr überlegt. 
„Lieber Rainer, das plötzliche Ableben meines Mannes hat mich nicht nur in einen gefühlsmäßigen Abgrund der Verzweiflung katapultiert, sondern stellt für mich auch ein großes finanzielles Desaster dar. In seinem Abschiedsbrief schrieb Jake, dass ich zusammen mit Ihnen und Max unsere Patente dieser Organisation nun unsererseits zum Kauf anbieten sollte, damit wir zumindest noch ein bisschen Geld dafür bekommen. Dann hätte ich noch genügend Geld, um hier oder in den Staaten ein halbwegs sicheres Auskommen zu haben. Leider hat Jake zu früh aufgegeben…“
Für einen kurzen Moment konnte Grace nicht weitersprechen, da sie von einer Welle übermächtiger Wehmut und Trauer erfasst wurde. Sie schloss ihre Augen, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Doch schnell fasste sie sich wieder und fuhr fort:
„Ich habe mir Ihre Unterlagen über das Investment durchgesehen. Soweit ich es als Laie erfassen kann, bieten sich durch die großzügige finanzielle Beteiligung dieses Scheichs Möglichkeiten, an die Jake vorher nicht einmal im Traum zu denken gewagt hat. Ich bin daher zu dem Entschluss gekommen, den Verkauf der Patente auszuschlagen, sofern Sie auch unter den veränderten Voraussetzungen, dass nun nicht mehr Jake, sondern ich Ihre Partnerin bin, dieses Projekt auch weiterhin durchziehen wollen. Ich würde mich Ihnen jedenfalls gerne anschließen.“
Damit hatte Rainer nicht gerechnet. Er hatte fest angenommen, dass Grace jetzt das Handtuch werfen würde. Irgendwie hatte er sich schon wieder von dem Gedanken verabschiedet, die „Mine-Dedecting“ wirklich zu einem florierenden Unternehmen machen zu können.
„Grace, das wäre absolut wunderbar, wenn Sie sein Lebenswerk zu Ende bringen würden. Jake wäre sicherlich stolz auf Sie. Als Geschäftsführerin kann ich Ihnen auch ein gewisses Einkommen anbieten, bis die Dividenden uns alle aus unseren finanziellen Sorgen befreien werden.“ 
Rainers klare Stimme war in ein Flüstern übergegangen. Zu ergriffen um weiterzusprechen, nahm er seine Tasse und trank den nun mittlerer Weile kalten Kaffee.
Grace lächelte ihn dankbar an und erwiderte feierlich:
„Mein Mann soll nicht umsonst gestorben sein. Zusammen mit Ihrer Hilfe werde ich seinen Traum verwirklichen. Das Einzige, worauf ich jedoch Wert lege, ist, dass die „Mine-Dedecting“ einen neuen Firmennamen erhält. Ich will, dass in Zukunft das Unternehmen in „Coleman-Foundation“ umbenannt wird, damit jeder weiß, dass mein Mann den Grundstein für diese segensreiche Institution gelegt hat.“

Kapitel 73

Die Fahrt zurück in die Stadt verlief anfänglich ziemlich schweigsam. Rainer war total aufgewühlt. In den letzten Tagen hatte er das Gefühl, als lähmten gleichzeitig Herzrhythmusstörungen und Kammerflimmern seine Aktivitäten. Doch durch ein plötzliches Defibrillieren wurde mit einem Schlag seine volle Herzaktivität wieder hergestellt.
Obwohl die Begleitumstände dieser positiven Wendung sehr traurig waren, konnte sich Rainer doch eines besonderen Hochgefühls nicht erwehren, das ihn absolut motivierte und über schier unüberbrückbare Schluchten tragen würde. Verstohlen blickte er zu Isabell, die mit geschlossenen Augen am Beifahrersitz zu dösen schien. Zögernd berührte Rainer ihre Hand. Er spürte keinen Widerstand, als er ihre kalten Finger vorsichtig an seine Lippen führte und zärtlich küsste. Isabell öffnete ihre Augen und wandte sich ihm schweigend zu. Für eine kurze Weile trafen sich ihre Blicke, ehe sich Rainer wieder auf die Straße konzentrieren musste. Doch in diesem kurzen, magischen Moment lag all die Wärme und Liebe, die sie füreinander noch immer empfanden. Rainer ließ ihre Hand nicht los, drückte sie wieder und wieder an seinen Mund und überhäufte sie nun mit leidenschaftlichen Küssen. Ohne den Blick von der Straße zu wenden, sprudelten nun all seine so lange aufgestauten Gefühle aus ihm heraus:
„Isabell, ich liebe dich so sehr, dass ich vor Sehnsucht nach dir fast vergehe. Du fehlst mir in allem und jedem. Seitdem du mich hast fühlen lassen, was ich dir bedeutet habe, ist es noch viel schwerer geworden, auf dich zu verzichten.“
Isabell entzog ihm sanft ihre Hand und begann zärtlich, sein kurzes, blondes Haar zu kraulen. 
„Du fehlst mir auch“, gestand sie ihm zaghaft.
„Es vergeht kein Tag, an dem ich beim Aufwachen nicht an dich denke und mir am Abend nichts sehnlicher wünsche als in deinen Armen einzuschlafen.“
Ihre Worte klangen in seinen Ohren wie Sirenengesang. Er konnte nicht genug davon bekommen. Rainer fuhr an der nächsten Ausfahrt ab und stellte seinen Wagen auf dem ziemlich leeren Parkplatz eines riesigen Möbelhauses ab. Aufgewühlt wandte er sich Isabell zu:
„Wieso stößt du mich dann weg und lässt mich nicht an deinem Leben teilhaben?“
„Rainer, ich bekomme ein Kind und ich habe eine Tochter und einen Mann, denen ich verpflichtet bin“, versuchte sich Isabell zu rechtfertigen.
„Ja, aber welchen? Du bist mit einem Mann verheiratet, der nur aus purem Egoismus besteht. Du hast mehr verdient, Isabell. Du hast mich verdient.“
Zärtlich nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und lächelte ihn voller Liebe an.
„Ich weiß, Liebster. Ich weiß. Doch momentan ist alles in Aufruhr, sodass ich absolut keine Ahnung habe, wohin ich gehöre.“
„Du gehörst zu mir. Vom ersten Tag an, als ich dir begegnet bin, habe ich das gewusst. Gib uns doch eine Chance, Isabell.“
Seufzend ließ sie ihre Hände sinken und erwiderte völlig durcheinander:
„Lass mir Zeit. Zu vieles ist momentan aus dem Lot, und ich bin ziemlich aus der Spur. Die plötzliche Wendung in der Minen-Geschichte dürfte Max und seinen Plänen einen gravierenden Strich durch die Rechnung gemacht haben. An dem Tag, als Jake sich das Leben genommen hatte, war Max nach Thailand geflogen und hat das Grundstück gekauft, auf dem er sein Hotel bauen will. Als du ihn nach seiner Rückkehr darüber in Kenntnis gesetzt hast, dass du endlich die Finanzierung aufgetrieben hast, hat er fast durchgedreht. Er hatte bereits fix mit den Millionen im Gegenzug für seine Anteile gerechnet.“ 
„Aber ich dachte, dass dieses Waffenkonsortium sein Angebot zurückgezogen hatte?“, fragte Rainer erstaunt.
„Das stimmt nicht. Max wollte nur auf Jake mehr Druck ausüben, damit er endlich zu seinem Geld kommen würde. Er hatte aber wirklich nicht damit gerechnet, dass seine quasi Notlüge das Zünglein an der Waage sein würde und den Ausschlag gab, dass Jake sich umbringt.“
„Dieser verdammte Idiot. Er musste doch wissen, dass Jake in seinem jetzigen Zustand absolut nicht belastbar war.“
„Du weißt doch genauso gut wie ich, dass Max in vielen Dingen das nötige Feingefühl fehlt. Jetzt macht er sich die größten Vorwürfe deswegen“, versuchte Isabell das unüberlegte Verhalten von Max herunterzuspielen.
Rainer brauchte einige Zeit, bis sich sein Zorn auf Max wieder gelegt hatte. Natürlich wusste Rainer, dass es Max bestimmt nicht darauf angelegt hatte, Jake in den Selbstmord zu treiben. Doch sein unüberlegtes Handeln zeigte ihm ein weiteres Mal, dass Max absolut nicht das Zeug hatte, ein Projekt dieses Ausmaßes zum Erfolg zu führen. Es war vielleicht ohnehin für alle Beteiligten das Beste, wenn Max aus der „Mine-Dedecting“ aussteigen würde.
„Mit dem Kapital, das mir jetzt zur Verfügung steht, kann ich ihn vielleicht sogar auszahlen und dann kann er endlich von hier verschwinden.“ 
Traurig lächelte Isabell ihn an:
„Du kannst ihm aber keine 20 Millionen bezahlen.“
Verwirrt blickte er sie an und fragte:
„Wieso 20 Millionen? Es ging doch immer nur um 10 Millionen Dollar?“
„Max will dort unten keine kleine 10-Zimmer-Pension für altersschwache Pensionisten hinbauen. Dieses Hotel soll ein weitläufiges Ressort mit allen Schikanen werden, ein richtiges Ferienparadies für Menschen, die in ihrem Urlaub die Annehmlichkeiten eines Fünfsternehotels suchen. Er hat bereits unser Haus in Sievering verkauft und auch die beiden Wohnungen, die wir vermietet hatten. Auch meine Eltern haben ihm Geld geborgt, damit er schon jetzt mit dem Bau beginnen kann. Mit diesem Geld hat er den Baugrund gekauft, das Hotel geplant und den Auftrag gegeben, die Ruinen des vom Tsunami zerstörten Gebäudekomplexes wegräumen zu lassen.“
„Oh Gott. Ist denn dieser Idiot jetzt völlig durchgeknallt? Wie konnte er so unüberlegt handeln, wo doch noch alles völlig in der Schwebe hängt?“ 
„Nun, Max hatte es geschafft, Coleman so weit unter Druck zu setzen, dass dieser endlich bereit war zu verkaufen. Deine Einwilligung hätte nicht mehr gebraucht. Schließlich hat ja keiner mehr damit gerechnet, dass du das Geld doch noch auftreiben würdest und dass Coleman sich umbringen würde. Außerdem stand Max ziemlich unter Zeitdruck. Die Baugründe am Strand von Phuket gingen nach der Tsunamikatastrophe weg wie die warmen Semmeln, nachdem die thailändische Regierung einen Teil der verwüsteten Hotelgründe für die Entwicklungsfirmen freigegeben hatte. Max musste sofort handeln, sonst wären die besten Liegenschaften direkt am Strand weg gewesen.“
Jetzt erst verstand Rainer, wieso in Max so absolut keine Freude aufgekommen ist, als er von dem neuen Investor erfahren hatte. 
„Wie lange habt ihr denn noch vor, in Österreich zu bleiben?“, fragte Rainer und sein kurzfristiges Hochgefühl fuhr wieder tief in den Keller seiner Frustration.
„Max will Mitte Juni übersiedeln, damit Lisi noch die Unterstufe des Gymnasiums in ihrer Schule beenden kann. Im Herbst soll sie dann eine internationale Schule in Bangkok besuchen.“ 
„Und du? Willst du das auch?“
Erregt strich sich Isabell eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars aus dem Gesicht. 
„Wer fragt schon, was ich will? Max ist so von diesem Projekt besessen, dass er annimmt, alle anderen dächten genauso. Lisi hat er mittlerweile so manipuliert, dass sie schon völlig überdreht ist. Sie spricht nur noch von dem kleinen Segelboot, das Max ihr kaufen will, von Elefantenausflügen in den Dschungel und den Freundinnen, die sie besuchen kommen dürfen. Max lässt sie fest in dem Glauben, dass unser neues Leben in Thailand eine immerwährende Party sein wird. Wenn ich auch nur ein Wort sage, dass wir vielleicht doch hierbleiben sollten, dreht sie völlig durch. Das Kind hat absolut keine Ahnung, was sie dort unten erwartet. Doch wenn ich versuche, ihr klarzumachen, dass das Leben dort kein Dauerurlaub sein wird, läuft sie sofort zu Max, der mir dann die schwersten Vorwürfe macht, Lisi die Freude zu nehmen und sie zu desillusionieren. Die beiden haben sich gegen mich verbündet, sodass ich als die Böse und als Spaßverderberin abgestempelt werde.“ 
„Doch wenn ihr übersiedelt, bist du ja bereits hochschwanger. Der Stress und die enorme Belastung könnten sogar eine Frühgeburt verursachen. Du scheinst zu vergessen, dass die medizinische Versorgung in Asien bei Weitem nicht so gewährleistet ist wie hier in Österreich. Will denn Max so mutwillig das Leben seines ungeborenen Kindes aufs Spiel setzen?“
Isabell wandte sich von Rainer ab und blickte unglücklich aus dem Fenster, wo sich bereits zaghaft das erste frische Grün auf den wenigen noch unverbauten Feldern zu zeigen begann. Doch dann lächelte sie ihn zuversichtlich an und sagte:
„Ich weiß nicht, woher ich meinen Optimismus nehme, doch irgendwie habe ich eine unbestimmte Vorahnung, dass sich doch noch alles zum Guten wenden wird. Mein Leben ist im Augenblick ein einziger Trümmerhaufen. Nichts ist so, wie ich es mir vorgestellt habe. Doch das kleine Wesen, das in mir langsam heranwächst, gibt mir Hoffnung und Halt. Ich weiß, dass ein Schutzengel über meinem Baby wacht und ihm nichts passieren wird, wo immer ich auch bin. Ich weiß aber auch, dass sich diese Bindung zwischen dir und mir niemals mehr lösen wird. Alles im Leben hat seine Bestimmung. Und wie es aussieht, sind wir füreinander die Bestimmung. Wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen wird sich unser Los erfüllen.“
Intuitiv musste Rainer an Angelina denken. Diese beinahe feierliche Aussage, die fast einer Prophezeiung glich, hätte genauso auch über Angelinas Lippen kommen können. Isabells unerschütterlicher Glaube an eine positive Wendung des Schicksals hatte wieder einen zarten Keim der Hoffnung in Rainers Seele gesetzt, worauf er ruhiger und zuversichtlicher wurde. 
„Wenn du es sagst, Isabell, dann will auch ich daran glauben. Ich verspreche dir, dass ich alles dafür tun werde, damit unsere Bestimmung eintritt.“
Zärtlich zog er sie an sich heran und umarmte sie liebevoll. Rainer spürte wieder ihren vertrauten Duft in seiner Nase, der noch mehr Sehnsucht in ihm auslöste. Fast ehrfurchtsvoll strich er mit seiner Hand über ihren leicht gewölbten Bauch.
„Außerdem verspreche ich dir, dass ich diesem Kind ein wesentlich besserer Vater sein werde als Max es je hätte sein können. Auch wenn er der leibliche Vater ist, wird es doch unser Baby sein.“
„Ja, davon bin ich restlos überzeugt“, stimmte Isabell zu und lächelte tiefgründig in sich hinein.

Kapitel 74

Schon seit Stunden brütete Max über einem Papierberg aus Zahlen, Kalkulationen, Aufstellungen, Anboten und Rechnungen. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, er brauchte ziemlich dringend die 10 Millionen Dollar, oder sein Traum als Hotelier war geplatzt, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte. Bis die „Coleman-Foundation“ wirklich satte Gewinne abwerfen würde und er diese in sein Hotel investieren konnte, war dieses Projekt schon längst gestorben. Zu einer zusätzlichen Zwischenfinanzierung in der notwendigen Höhe war keine Bank mehr bereit. Max hatte bereits alle verfügbaren Kreditlinien voll ausgeschöpft. In Zeiten der größten Bankenkrise seit 50 Jahren waren alle sehr vorsichtig mit der Vergabe von Krediten geworden, selbst wenn man zu 90% sicher sein konnte, dass das Geschäft Gewinne abwerfen würde. Kredite wurden – wenn überhaupt – nur noch dann vergeben, wenn man auch entsprechende Sicherheiten anbieten konnte. Doch seine Immobilien hatte Max ja bereits verkauft und das Geld dafür arbeitete schon am anderen Ende der Welt. Wenn er nicht bald zusätzliches Kapital auftreiben konnte, würden er und seine Familie spätestens Anfang Juli völlig mittellos auf der Straße sitzen. 
Verzweifelt raufte sich Max sein schon ziemlich angegrautes Haar. Er saß auf einer Zeitbombe, deren Lunte schon ein ordentliches Stück abgebrannt war. Wenn er nicht draufgehen wollte, musste er etwas unternehmen, und zwar rasch. Für ihn gab es nur eine Möglichkeit, diese Zündschnur zu durchtrennen. Er musste Rainer ausschalten. Jeder Versuch, ihn zu überreden, war jetzt vergebene Liebesmüh‘ gewesen. Der unerwartete Geldregen, der sich für Rainer doch noch aufgetan hatte, hat Max nun absolut in seiner Überzeugung bestärkt, sein Vorhaben durchzuziehen. Sein Geschäftspartner hatte nun alle Trümpfe in der Hand, sodass sich selbst Colemans Alte wieder auf Rainers Seite geschlagen hat. Es gab nun absolut keinen Grund mehr, wieso Rainer mit der Entwicklung der „Coleman-Foundation“ nicht beginnen sollte. 
Max musste auch weiter gute Miene zum bösen Spiel machen. Keinesfalls durfte Barkhoff mitbekommen, dass er gegen die „Coleman-Foundation“ intrigieren würde.
Der einzige Weg aus diesem Schlamassel führte über Barkhoff. Wenn er Rainers Zukunftspläne nicht stoppen konnte, würde er alles verlieren.
Schweren Herzens holte er sein Handy hervor und wählte die Nummer von Smith. Ohne lange um den heißen Brei herumzureden, informierte er mit tonloser Stimme den Beauftragten der Organisation:
„Der Ernstfall ist eingetreten. Barkhoff hat die nötigen Millionen aufgetrieben und kann zu arbeiten beginnen.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte Funkstille, sodass Max fast schon glaubte, dass die Leitung unterbrochen war. Doch dann hörte er Smith‘ vorwurfsvolle Stimme:
„Und wieso haben Sie nichts dagegen unternommen?“
„Ganz einfach, ich hatte keine Ahnung, dass Barkhoff noch einen möglichen Investor in petto hatte. Es gab auch absolut keinen Mail-Verkehr mit dem Mann.“
„Worauf warten Sie dann? Legen Sie sich ins Zeug und drohen Sie dem Geldgeber, wie Sie es auch bei den anderen getan haben.“
„Ich glaube kaum, dass ein milliardenschwerer arabischer Prinz sich von meinen Drohbriefchen beeindrucken lässt. Der Schuss würde unweigerlich nach hinten losgehen. So mächtige Typen lassen sich nicht in die Enge treiben. Dieser Araber würde mit Sicherheit herausfinden, dass ich der Übeltäter war und mich aus dem Weg räumen lassen. Ich kann daher unmöglich aktiv werden.“
„Und was gedenken Sie jetzt zu tun?“
„Ich gedenke, nichts mehr zu tun. Wenn Ihre Bosse so scharf auf dieses Geschäft sind, dann liegt es jetzt in Ihren Händen, etwas zu unternehmen. Ich bin mit meinem Latein am Ende.“
„O.k., dann werden wir uns eben um Barkhoff kümmern.“
Zutiefst deprimiert ließ Max sein Handy wieder in seine Sakkotasche gleiten und griff nach der auf dem Tisch stehenden Wodkaflasche. Max hasste Wodka. Doch das war ihm jetzt egal. Er wollte sich nur sinnlos betrinken, um zu vergessen, dass er seinen ehemaligen Freund gerade für zwölf Silberlinge der Waffenmafia ans Messer geliefert hatte.

Es war schon weit nach Mitternacht, als Ekaterina verschlafen aus dem Schlafzimmer in die Küche kam. Die noch am Abend ziemlich volle Wodkaflasche war nun fast leer. Max war in seinem Rausch vom Sessel gekippt und schlief am Boden. Ekaterina hasste es, wenn Max betrunken war. Er wusste einfach nicht, wann es genug war. Diesen Zustand kannte sie von den russischen Männern schon zur Genüge. Außerdem ging es ihr extrem gegen den Strich, wenn er seine Probleme mitbrachte, die sie sich dann mehr und weniger anhören musste. Außerdem glich ihre Küche immer mehr einem Büro. In den letzten beiden Wochen hatte Max alle Papiere und Unterlagen, die mit seinem Asienprojekt zusammenhingen, hierher verfrachtet. Max hatte Angst, dass Rainer in diesen Unterlagen stöbern und ihn dann zur Rechenschaft ziehen könnte. Auch zu Hause wollte er die Unterlagen nicht aufbewahren, weil er seiner Frau nicht völlig vertraute. Sie schien von seiner Idee absolut nicht begeistert zu sein, ihr weiteres Leben in Thailand verbringen zu müssen. 
Ekaterina hatte damit keinerlei Probleme. Im Gegenteil, sie freute sich darauf, endlich in einem warmen Land am Meer leben zu dürfen. Max hatte ihr versprochen, in seiner riesigen Hotelanlage ein tolles Appartement für sie einzuplanen. So würde er sie auch zwischendurch immer besuchen können, was in Ekaterina eher zwiespältige Gefühle auslöste. Sie wusste nicht, ob es ihr wirklich gefallen würde, wenn Max jederzeit und unverhofft auftauchen konnte, um weiter seine perversen Spielchen mit ihr zu treiben. Doch sie wusste nur zu gut, alles im Leben hatte seinen Preis. Ein Leben im Luxus, wo man jeden Tag in der Sonne liegen und bunte Cocktails mit kleinen Sonnenschirmchen darin trinken kann, bekommt man eben nicht umsonst. 
Verächtlich stieg Ekaterina über den betrunkenen Mann und nahm auf seinem Stuhl Platz. Mit großem Interesse betrachtete sie den Plan der Hotelanlage, den ihr Max bis jetzt vorenthalten hatte. Der zweistöckige Gebäudekomplex wirkte wie ein kleines Dorf, der um zwei riesige Swimmingpools herum angeordnet war. Die Empfangshalle und der anschließende Speisesaal waren die größten Räume des Hotels und bildeten gleichzeitig das Zentrum der Anlage. Von der Lobby aus verzweigten sich die Gänge und Wege zu den einzelnen Zimmern und Appartements. Im entferntesten Winkel der Anlage hatte Max das Büro mit dem anschließenden privaten Wohnbereich für seine Familie geplant. Dazu gehörte auch ein kleiner Privatstrand, der vom restlichen Strand separiert war. Doch neben den Unterkünften fürs Personal, der riesigen Küche, dem Barbereich, den kleinen Restaurants und den vielen anderen Nebenräumen konnte sie ihr Appartement nicht finden. Max hatte erwähnt, dass er es am anderen Ende der Anlage vorgesehen hatte, damit sie Isabell so wenig wie möglich unter die Augen kommen würde. Max wollte ihr eine Art Pseudojob geben, damit sie sich ungehindert im Hotelbereich bewegen konnte, ohne dabei unnötiges Aufsehen oder gar den Unwillen seiner Frau zu erregen. 
Noch einmal suchte Ekaterina den Plan der Anlage genau ab, aber nichts deutete auf ihr gediegenes Appartement direkt am Strand hin. Eine dunkle Vorahnung begann in der Russin zu keimen, die ihre inneren Alarmglocken läuten ließen. Immer mehr wurde ihr Verdacht zur Gewissheit, dass dieser betrunkene und abartige Scheißkerl hier unter ihrem Tisch ein ganz gemeines Spiel mit ihr spielte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag, dass Max nie wirklich vorhatte, sie nach Thailand mitzunehmen. Nur um sie bei Laune zu halten, ließ er sie in der Hoffnung und in ihren Träumen schwelgen, dass sie ihn begleiten würde. Seelenruhig hatte er trotz ihrer Anwesenheit die kleine Wohnung verkauft, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, was aus ihr werden sollte. Widerwillig rang es ihr aber doch einigen Respekt ab, dass Max dazugelernt hatte. Er agierte jetzt völlig anders als beim ersten Mal, als er sie verlassen wollte. Damals war es ihr mit der nötigen Raffinesse gelungen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Doch jetzt spielte er mit aller Kaltblütigkeit den sorgenden Liebhaber. Max war drauf und dran, sie kalt abzuservieren. Es war ihm scheißegal, was aus ihr werden würde.
Ekaterina fühlte sich zutiefst gekränkt und ausgenutzt. Ihre anfängliche Verzweiflung wandelte sich aber bald in ohnmächtigen Zorn, dem sie irgendwie Luft machen musste. Mit aller Kraft trat sie mit ihrem nackten Fuß in Max’ aufgedunsenes Gesicht und dann zwischen seine gespreizten Beine. Bei jedem Tritt stöhnte der betrunkene Mann schmerzvoll auf, ohne jedoch sein Bewusstsein wiederzuerlangen. Ekaterina versuchte, ihren gigantischen Gefühlsausbruch unter Kontrolle zu bringen und begann, so emotionslos wie nur möglich zu überlegen. Wie konnte sie aus ihrer augenblicklich mehr als tristen Situation das Beste machen? Zu allererst musste sie sich jetzt absolute Gewissheit verschaffen, ob ihre Vermutungen auch wirklich richtig waren.
Es war Schwerstarbeit, den schweren und schlaffen Körper von Max ins Bett zu hieven. Ekaterina ließ ihn dann noch zwei Stunden schlafen, ehe sie ihn zu massieren begann. Bald befand er sich in einer Art Dämmerzustand, der noch durch den vielen Wodka ziemlich beeinflusst war. Mit leiser Stimme sprach sie eindringlich auf ihn ein:
„Wo soll denn Ekaterinas Appartement in deinem tollen Hotel hinkommen?“
Max murmelte einige unverständliche Worte und wollte weiterschlafen. Doch Ekaterina massierte seinen Nacken so kräftig, dass sie ihn immer wieder in diesen halbwachen Dämmerzustand zurückholte.
Die Russin musste ihre Frage einige Male wiederholen, bis sie endlich eine einigermaßen verständliche Antwort bekam:
„Von wegen Appartement, Ekaterina bekommt eine Ansichtskarte in ihr stinkendes russisches Kaff geschickt, mehr nicht“, lallte Max in seinem Suff. 
„Und wieso nimmst du sie nicht mit?“, flötete Ekaterina weiter.
„Ich gefährde doch nicht meine Ehe wegen dieser kleinen russischen Schlampe. Dort unten gibt es ohnehin Mädchen in Hülle und Fülle, die mir alle meine Wünsche erfüllen. Wozu sollte sie dann noch gut sein? Um mir noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen? Nein, ich habe genug von ihren ständigen Forderungen nach immer mehr Luxus. Was ich brauche, kann ich dort unten weit billiger haben. Doch solange ich noch da bin, wird sie weiter benutzt. Dann kann sie meinetwegen dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst.“
Die schweißtreibende Arbeit hatte sich gelohnt. Jetzt wusste Ekaterina zumindest ganz genau, was Max mit ihr vorhatte. Diese nüchterne Erkenntnis ließ sie fast verzweifeln.
Ekaterina hatte keine Ahnung, was sie nun tun sollte. Sie wusste nur, dass sie etwas unternehmen musste, um sich vor dem Abgrund zu bewahren. Rasch hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt. Während sie versuchen wollte, einen finanziell potenten Fisch an ihre Angel zu bekommen, wollte sie gleichzeitig aufmerksam mitverfolgen, was Max weiter treiben würde. Obwohl es ihr jetzt zwar noch schwerer fallen würde, freundlich und liebenswürdig zu sein, musste sie nun mehr denn je gute Miene zum bösen Spiel machen. Irgendwie musste sie es schaffen, eine Möglichkeit zu finden, hier in Wien bleiben zu können. Unmöglich konnte sie jetzt noch nach Sanchursk zurückkehren, wo ein tristes und hoffnungsloses Leben auf sie warten würde.

Kapitel 75

Es schien so, als ob die Kanzlei aus einem langen Winterschlaf erwacht war. In den letzten Monaten war die Sekretärin schlichtweg unterbeschäftigt gewesen und hatte den lieben langen Tag im Internet gesurft, um sich die Langeweile zu vertreiben. Damit war es nun schlagartig vorbei. Zwischen Telefonverbindungen, Terminvereinbarungen, Diktaten und vielem mehr riss es die kleine, quirlige Luise ziemlich herum. Die Freude, dass durch das Geld des Scheichs endlich wieder Leben in dieses alte Gemäuer eingekehrt war, ließ ihr Gesicht trotz Stress und Hektik glücklich und zufrieden strahlen. Luise hatte sich berechtigte Sorgen um ihren Job gemacht. Sie arbeitete nun schon seit vielen Jahren mit Rainer zusammen und war seinerzeit die Chefsekretärin des alten Rotter. Als dieser jedoch seine Firma verkaufen musste, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit weit geringeren Bezügen bei dieser riesigen internationalen Consultingfirma zu arbeiten, die Rotters Kanzlei aufgekauft hatte. Luise hatte nur zu gerne zugesagt, als ihr von Rainer Barkhoff ihre alte Stelle wieder angeboten wurde. Jedoch mit jenem kleinen Unterschied, dass nun er der Boss war. 
Rainer und Luise waren ein gut eingespieltes Team. Der Stress und die Freude, endlich mit dem lang ersehnten Aufbau des Unternehmens beginnen zu können, ließen die intelligente Frau wieder zur Höchstform auflaufen. Rainer konnte sich auf die knapp 50-jährige Witwe verlassen, für die nach dem Ableben ihres Mannes ihr Job zum wichtigsten Lebensinhalt geworden war. Die Identifikation mit ihrer Arbeit, ihre Initiative und ihr organisatorisches Talent unterstützten Rainer sehr und nahmen ihm viel von seinem Stress ab. Es war offensichtlich, dass sie lieber für ihn als für Henning arbeitete. Doch auch Max war ihr Chef, sodass sie seine Wünsche und Anordnungen nicht so einfach ignorieren konnte. 
Bei Max war von Auftrieb nichts zu bemerken. Er „funktionierte“ eher, als dass man von Begeisterung sprechen konnte. Rainer wusste nur zu gut, dass Max absolut keine Freude mit der Verwirklichung des Minenprojektes hatte. Obwohl Rainer ihm nicht mehr vertraute, konnte er Max doch nicht völlig ausschließen. Immerhin war er mit Grace und ihm zusammen ein gleichberechtigter Partner. Rainer musste nun sehr vorsichtig sein und ihn so einsetzen, dass Max so wenig Schaden wie möglich anrichten konnte.
Rainer war heilfroh, dass er die Produktionshalle noch nicht abgestoßen hatte. Vor nicht einmal vier Wochen war er knapp davor gestanden, den Vertrag zu kündigen, da er die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Die Mitarbeiter hatte er aber schon vorher kündigen müssen, da deren Löhne und Lohnnebenkosten seine gesamten Ersparnisse aufgefressen hatten. Die meisten seiner ehemaligen Mitarbeiter konnte er jedoch wieder zurückgewinnen, da es in Zeiten wie diesen ziemlich schwierig geworden war, einen ordentlichen Job zu ergattern. Besonders freute sich Rainer über den jungen Maschinenbauingenieur und den Computerfreak, die zusammen ein ziemlich gutes Team abgaben und einander bestens ergänzten. Ihnen war es auch zu verdanken, dass die verwendete Technologie noch zusätzlich durch einen weiteren Nutzen an Attraktivität gewann. Den beiden Tüftlern war es gelungen, die hochsensiblen Geräte durch eine kleine Aufrüstung mit der zusätzlichen Möglichkeit auszustatten, während ein- und desselben Arbeitsganges nicht nur Minen, sondern auch Wasser im Boden zu orten.
Dieses Feature würde das Interesse an dieser High-tech-Innovation weiter steigern, denn in vielen Steppengürteln, wo Minen lagen, war auch das Wasser knapp.
Die für die erste Präsentation bestellten Hubschrauber wurden bereits in der Produktionshalle ausgerüstet. Die Sensoren und die Elektronik wurden einfach als Black-Box angesteckt und über ein Stromkabel mit dem Generator des Motors verbunden. Dann wurde die Software des Systems überprüft und der Rechner der Flieger mit den GPS-Wegepunkten gefüttert. Die nötigen Testflüge sollten in einer aufgelassenen Schottergrube in der Nähe der Produktionshalle stattfinden, bis alle eventuell noch anfallenden Mängel behoben waren. Die Hubschrauber mussten bei der Präsentation vor dem internationalen Publikum einfach so präzise und sicher wie ein Schweizer Uhrwerk funktionieren.
Während sich Rainer um die Produktion kümmerte, die Berichterstattung in den Medien ankurbelte und ehemalige Interessenten aus vielen Ländern mit Minenproblemen erneut kontaktierte, hatte er Max die Aufgabe zugeteilt, nach einem passenden Testgelände zu suchen, wo entweder noch genügend echte Minen vorhanden waren oder wo man Dummys vergraben konnte. Das Testgelände sollte von einer großen Tribüne aus übersichtlich einsehbar sein, damit man sofort erkennen konnte, wie effektiv das System funktionierte. 
Die ägyptische Regierung hatte sich sofort bereit erklärt, ein passendes Gelände zur Verfügung zu stellen. In der Nähe von Sharm el-Sheikh bot das ägyptische Innenministerium einen nahezu idealen Platz an. Vom internationalen Flughafen, der sich ein wenig außerhalb Hurghada befand, dauerte es mit dem Auto keine zwei Stunden, um an den Ort des Geschehens zu gelangen. Das ägyptische Verteidigungs- wie auch das Innenministerium erklärten sich bereit, militärischen Begleitschutz für die hochrangigen politischen Gäste zu stellen, das Gelände abzuschirmen und entsprechend zu bewachen. 
Rainer konnte es kaum glauben, wie schnell und reibungslos Planung und Durchführung vonstattengingen. Sein Spießrutenlauf um Kapital hatte ein Ende gefunden und er konnte der Verwirklichung seines Traumes jetzt recht optimistisch und entspannt entgegensehen.
Nachdem bekannt wurde, dass Scheich Mohamed nicht nur die Schirmherrschaft über die „Coleman-Foundation“ übernommen, sondern auch als Investor die Hände im Spiel hatte, bemühten sich nun auch wieder Fonds, Banken und andere Investoren, die bereits abgesagt hatten, doch noch in das Geschäft einzusteigen. Rainer bereitete es nun eine gewisse Genugtuung, lächelnd Absagen erteilen zu können. 
Nachdem er einem nun wieder interessierten Ethikfonds eine Absage gemailt hatte, fuhr er seinen Rechner hinunter. Für heute wollte er Schluss machen. Es war bereits knapp nach 22.00 Uhr und an der Zeit, endlich nach Hause zu gehen. Wie so oft war er der Letzte, der die Kanzlei verließ. Doch bevor er aufbrach, rief er noch rasch Isabell an. Er wusste, dass sie nie vor 23 Uhr ins Bett ging. Wenn Max am Apparat sein sollte, würde er ihn einfach fragen, ob er schon wüsste, wie viele Ziele und Typen man in etwa brauchen würde, um den Gästen eine effektive Vorführung bieten zu können. Doch wie erhofft hob Isabell ab und ihre weiche, sanfte Stimme signalisierte ihm, wie sehr sie sich über seinen Anruf freute. Seit der Aussprache in seinem Auto waren zwei Wochen vergangen. Seitdem war kein Tag vergangen, wo sie nicht miteinander telefoniert hatten. Wie so oft lief ihm ein kleiner Schauer über den Rücken. 
„Hallo Isabell. Bist du alleine?“ 
„Ja, natürlich. So wie fast jeden Tag“, erwiderte sie nicht besonders unglücklich darüber, dass Max nicht zu Hause war. Im Laufe der letzten beiden Wochen war es Rainers Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die kleine Russin für Max bei Weitem noch nicht erledigt war. Eher das Gegenteil war der Fall. Da Coleman nun nicht mehr lebte, machte er aus seinem Verhältnis auch in der Öffentlichkeit kein Hehl mehr. 
„Ich wollte dich fragen, ob du mit mir morgen Abend essen gehen möchtest. Wir könnten uns ja vorher einen Film ansehen oder eine Ausstellung in der Albertina besuchen, wenn du Lust hast“, fragte Rainer und hoffte, dass sie zusagen würde. 
„Das ist ja wirklich eine echt tolle Idee. Ich war schon ewig nicht mehr im Kino. Max hat sowieso einen seiner vielen „Termine“ im achten Bezirk und Lisi ist zu einer Pyjamaparty eingeladen. Ja, es wäre wundervoll, mit dir auszugehen.“
Doch dann hielt sie für einen Moment inne und überlegte:
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir Grace mitnähmen? Seit Jakes Tod hat sie sich völlig zurückgezogen. Ein bisschen Abwechslung würde ihr sicher guttun.“
„Keineswegs. Lade sie ein mitzukommen. Es würde mich sehr freuen, sie zu sehen. Das wäre auch eine gute Gelegenheit, ihr von unseren tollen Fortschritten zu berichten. Bis jetzt hatte ich ohnehin viel zu wenig Zeit dazu.“
Voller Vorfreude, Isabell morgen endlich wiederzusehen, machte er sich auf den Weg in die Parkgarage bei der Oper. Als er schon fast dort angekommen war, fiel ihm ein, dass er wichtige Unterlagen vergessen hatte, die er dringend für den morgigen Testflug in der Schotterhalde brauchte. Fluchend lief er zurück und begann, nach den Unterlagen zu suchen, die sich zuletzt Max ausgeliehen hatte und die dann den Weg zurück auf seinen Schreibtisch nicht mehr gefunden hatten. 
Der Schweinestall auf Max’ Schreibtisch war gigantisch, sodass Rainer unwillig aufstöhnte. Es war kein Wunder, dass dieser schlampige Hund ständig auf der Suche nach irgendwelchen Papieren war. Rainer musste den halben Schreibtisch durchstöbern, bis er endlich die notwendigen Unterlagen gefunden hatte. Bei dieser Suchaktion fand er auch ein großes Kuvert, in dem sich unzählige Bilder seiner Frau befanden. Rainer konnte sich erinnern, dass Max diese Bilder für eine Powerpoint-Präsentation gebraucht hatte, die er anlässlich Isabells 30. Geburtstag hatte machen lassen. Isabell suchte schon seit Jahren nach diesen Bildern, um sie wieder an ihre Plätze in den Alben einzukleben. Rainer steckte das Kuvert zusammen mit seinen Unterlagen in den Aktenkoffer und ging wieder in Richtung Parkgarage.

Zu dieser späten Zeit war es in den Decks schon ziemlich still, sodass seine Schritte laut auf dem harten Asphalt hallten. Rainer wollte gerade seinen Autoschlüssel aus der Manteltasche ziehen, als plötzlich zwei schwarz gekleidete Männer hinter einem dicken Betonpfeiler hervortraten. Es war offensichtlich, dass die beiden auf ihn gewartet hatten. Ihr aggressiver Gesichtsausdruck ließ nicht unbedingt auf ein nettes Plauderstündchen schließen. Einer der Typen hatte einen Gummiknüppel in der Hand, wie ihn die Polizei bei Sondereinsätzen verwendete. Demonstrativ hob er den Stock hoch und schlug dann rhythmisch in seine freie Hand, während der andere Mann eine Pistole aus seiner Manteltasche zog und Rainer damit bedrohte. Rainer war den beiden Männern noch nie zuvor begegnet, doch intuitiv wusste er, dass diese Ganoven Smith und Wesson sein mussten. 
„Guten Abend, Herr Barkhoff. Mein Name ist Smith und das ist mein Kollege Wesson. Wie Sie sicherlich wissen, sind wir Vertreter eines amerikanischen Rüstungskonsortiums, das großes Interesse an den Patenten Ihrer Minensuchgeräte hat.“
„Ihre Namen sind mir nicht unbekannt“, erwiderte Rainer vorsichtig und spürte seine aufgestellten Nackenhaare, die ein sicheres Zeichen für Alarmstufe Rot waren.
„Herr Barkhoff, wir finden es äußerst schade, dass Sie so absolut nicht bereit sind, mit uns kooperieren zu wollen. Wir haben daher keine andere Wahl, als Ihnen mit dem nötigen Nachdruck zu verstehen zu geben, dass unsere Geduld nun endgültig zu Ende ist. Es liegt uns fern, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten. Doch unter den gegebenen Umständen können wir nicht mehr davon absehen, außer Sie überlegen sich unser Angebot doch noch und das ziemlich schnell!“
Während Rainer den Mann reden ließ, checkte er rasch die Lage. Dann ging er langsam auf Smith zu.
„Natürlich, vieles im Leben ist eine Überlegung wert. Doch in dieser Angelegenheit gab es nichts zu überlegen. Vielleicht wäre aber ihr feiner Kollege bereit, Ihnen seinen Gummiknüppel über ihren Schädel zu ziehen, damit Sie endlich kapieren, was Fakt ist. Von mir bekommen Sie höchstens eine ordentliche Abreibung, um Ihnen endlich verständlich zu machen, dass ich absolut keine Geduld und kein Mitleid mit den hinterhältigen und feigen Mördern meines Freundes habe.“
Noch während Rainer seinen Satz vollendete, schlug er dem völlig überraschten Smith die scharfe Kante seines Aktenkoffers ins Gesicht, worauf dieser zurückstolperte und mit dem Kopf an der Säule aufschlug. Dabei fiel Smith die Waffe aus der Hand und landete auf dem Boden. Blitzschnell kickte Rainer mit seinem Fuß die Pistole so weit wie möglich von sich weg. Die Waffe flog in hohem Bogen durch die Luft und landete dann unter einem weit außerhalb der Reichweite parkenden Auto. 
Doch inzwischen war Wesson nicht untätig geblieben. Mit aller Wucht wollte er mit seinem harten Knüppel Rainer einen heftigen Schlag auf den Kopf versetzen. Im letzten Moment konnte Rainer noch ausweichen und der tödliche Hieb landete auf seiner Schulter. Vor Schmerz schrie Rainer laut auf und ging benommen in die Knie. Doch rasch fasste er sich und war sofort wieder auf den Beinen. Geschmeidig wie eine Katze drehte sich Rainer um seine eigene Achse, sodass Wessons weiterer Schlag ins Leere ging. Aus dieser energischen Drehbewegung heraus schlug er in Wessons ungeschütztes Gesicht und traf mit voller Kraft das Kinn seines Gegners,
bevor dieser noch ein weiteres Mal zu einem Schlag ausholen konnte. Das Bersten des Unterkiefers verursachte ein unangenehmes Geräusch, dem ein langgezogener Schmerzensschrei Wessons folgte, ehe er rückwärts taumelnd zu Boden ging.
Jetzt hatte sich auch Smith wieder hochgerappelt und hielt plötzlich ein Springmesser in seiner rechten Hand. In leicht gebückter und kampfbereiter Haltung näherte er sich Rainer, der mit gegrätschten Beinen und leicht erhobenen Armen den Angriff erwartete. Rainer fühlte sich plötzlich in seinem Element. Diese Art des Kämpfens war ihm vertraut. Er wusste genau, was nun kommen würde und beobachtete seinen Gegner mit Argusaugen. Doch auch Wesson ignorierte er nicht, da dieser sich mit blutendem Mund und einer verschobenen Kinnlade langsam wieder vom Boden erhob.
Der Angriff erfolgte so, wie ihn Rainer vorausgesehen hatte. Mit einem Ausfallschritt und einer rasch vorschnellenden Rechten versuchte Smith, sein scharfes Messer in Rainers Bauch zu rammen. Doch Rainer drehte sich unerwartet schnell zur Seite, sodass der Stich ins Leere ging. Mit seiner bereits zum Schwung ausgeholten Faust versetzte er seinem nun ins Leere hechtenden Widersacher einen gezielten Schlag auf den Solarplexus, sodass Smith nach Atem ringend wie ein voller Sack Mehl zu Boden ging. In der Zwischenzeit war nun auch Wesson wieder kampfbereit. Diesen kurzen Moment, in dem der Mann jetzt auf ihn zukam, nutzte Rainer, um sich seines beengenden Mantels zu entledigen, der ihm viel von seiner Bewegungsfreiheit nahm. Rasch warf er ihn zu Boden und erwartete den nächsten Angriff mit dem gefährlichen Gummiknüppel. 
Den herabsausenden Schlag wehrte Rainer rechtzeitig mit seiner rechten Hand ab, während er mit der Linken dem ziemlich drahtigen Mann einen heftigen Faustschlag in den Magen versetzte. Wesson zuckte kurz zusammen, ging aber dieses Mal nicht zu Boden. Unerwartet riss Wesson nun sein Knie hoch, das genau zwischen Rainers Beinen landete und seine Hoden quetschte. Ein unsäglich stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper, sodass er wie gelähmt zurücktaumelte. Wesson ließ sich die Gelegenheit seiner kurzen Schutzlosigkeit nicht entgehen, hechtete ihm nach und versetzte Rainer mit seinem Schlagstock einen Hieb in die rechte Niere. Für einen Moment blieb Rainer die Luft weg und sein Schrei verhallte ungehört, ehe er kraftlos zusammensackte. Als Rainer noch von Schmerz benebelt aufblickte, sah er das blutverschmierte Gesicht seines Gegners über sich gebeugt, der erneut mit dem Gummiknüppel ausholte und diesen mit einem letzten, gezielten Schlag auf Rainers Kopf niedersausen lassen wollte. Im letzten Moment rollte sich Rainer zur Seite, sodass er noch den feinen Luftzug des dumpf am Boden aufprallenden Mordinstrumentes spüren konnte. Ein heftiger Adrenalinstoß ließ Rainer seine Schmerzen ignorieren, so dass er rasch wieder auf seinen Beinen war. Er ließ die beiden Männer nicht aus den Augen, die mit mordlüsternen Gesichtern auf ihn zukamen. Rainer kannte diese kalten und unbarmherzigen Physiognomien. Er fühlte sich in jene Zeit zurückversetzt, als nicht zwei, sondern vier Männer nach seinem Leben trachteten. Rainer spürte plötzlich, wie das eingeschossene Adrenalin jenen Urinstinkt in ihm wachrief, der auf Überleben ausgerichtet war. Zorn und übermächtiger Hass gegen diese verachtenswerten Kreaturen bemächtigte sich seiner, sodass jegliche Angst von ihm wich. 
Solange sich Rainer erinnern konnte, war er immer schon ein überaus pazifistisch eingestellter Mensch gewesen. Bereits als Kind lag ihm der Dialog weit mehr als das Schlagen. Niemals hatte er das Bedürfnis gehabt, seine Aggressionen durch Raufereien und blindwütiges Hinschlagen abzureagieren, wie es Max so oft getan hatte. Noch nie war sein Sinnen und Trachten dahingehend ausgerichtet gewesen, verletzen zu wollen. Doch nun kam eine andere Seite in ihm zum Vorschein. Plötzlich fühlte er dieses archaische Bedürfnis töten zu wollen. Die Frustration der letzten Monate und seine unbändige Wut über den feigen Anschlag auf Coleman explodierten in seinem Körper. Rainer fühlte, wie er wuchs und sich noch größer fühlte, als er ohnehin schon war. Nie geahnte Kräfte begannen sich in seinem Körper zu aktivieren. Bis in die kleinste Ader fühlte er seine Stärke, seine Überlegenheit und seine Macht. Ohne sich dessen bewusst zu werden, stieß Rainer einen gellenden und furchteinflößenden Schlachtruf aus, der seine Gegner für einen Moment überraschte. Noch während dieses langgezogenen Schreis stürmte er auf die beiden bewaffneten Männer zu.
Rainer bewegte sich mit der Wendigkeit eines Leoparden. Obwohl er nicht bewaffnet war, irritierte er seine Gegner durch seine schnellen Drehbewegungen, die an einen Derwisch erinnerten. Durch seine Schnelligkeit gelang es ihm, den Messer- und Knüppelattacken seiner Gegnergeschickt auszuweichen. Im Gegenzug konnte er jedoch die beiden Männer mit gezielten Faustschlägen und Fußtritten immer wieder kurzfristig außer Gefecht setzen.
Fluchend warf Wesson seinen Knüppel weg, da der eher kleine Mann bei diesem Hünen damit nichts ausrichten konnte und holte wie Smith ein Springmesser aus seiner Lederjacke hervor. Rainer wusste nur zu gut, dass er es hier mit keinen Dilettanten zu tun hatte. Die beiden Männer waren durchaus kampferprobt und steckten seine Hiebe ziemlich gut weg. 
Nachdem die beiden Rainers eher unorthodoxe Kampfweise begriffen hatten, erkannten sie, dass sie nur durch einen gemeinsamen Angriff punkten konnten. Rainer musste nun sehr auf der Hut sein, denn eine zweite Stichwaffe war wesentlich gefährlicher als der Schlagstock. Er wusste, dass er gegen zwei Messerstecher, die gleichzeitig auf ihn zustürmen würden, keine Chance haben würde. Rasch suchte er Deckung hinter jenem Betonpfeiler, hinter dem ihm vorhin die beiden Männer aufgelauert hatten. Er wusste, dass nun die Gefahr gleichermaßen von links und rechts drohte. Sein einzige Chance war jene, dass sie vielleicht nicht genau zum gleichen Zeitpunkt angreifen würden. Rainer musste versuchen, einen der beiden endgültig außer Gefecht zu setzen. Außer seinem wilden Augenspiel und dem heftigen Keuchen schien sein restlicher Körper wie zur Salzsäule erstarrt zu sein, die hinter der Betonsäule auf den ersten Angriff wartete.
Plötzlich schoss eine Hand vor. Doch das Messer, das in dieser Hand lag, ging ins Leere. Rainer hatte mit diesem Angriff gerechnet. Reflexartig schnellte sein Fuß hoch und schlug seinem Widersacher die Waffe aus der Hand. Diese flog empor, prallte hart an der Planfonddecke ab und landete laut polternd auf der Kühlerhaube eines geparkten Autos. Noch ehe der Mann wusste, wie ihm geschah, machte Rainer eine blitzschnelle Drehung und zerrte den Mann direkt vor sich, um ihn als Schild zu benutzen. Keinen Augenblick später steckte auch schon Smith‘ Messer in Wessons Bauch. Sofort knickte der Mann ein und fiel zu Boden. Bestürzt blickte Smith auf seinen schwer verletzten Kollegen und konnte nicht fassen, was soeben passiert war. Diesen kurzen Moment der Ungläubigkeit wusste Rainer für sich zu nutzen und hechtete auf den nun unbewaffneten Mann zu. Ein wilder, erbarmungsloser Kampf begann, in dem Rainer bald die Oberhand gewann. Seine überdurchschnittliche Größe und seine damit verbundene Kraft und Wendigkeit ließen dem eher durchschnittlich großen und schmächtigen Smith ohne sein Messer keine Chance. 
Rainer hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Der übermächtige Zorn und das grenzenlose Leid, das sich im Laufe seiner vergangenen Leben tief in seinem Unterbewusstsein angesammelt hatte, kamen nun mit einer Urgewalt an die Oberfläche. Wie von Sinnen schlug er immer wieder auf Maruk, Albert und Montanigo ein, sodass mit jedem weiteren Schlag das Gesicht seines Widersachers mehr einer blutigen Fleischmasse glich. 
Erst das Heulen einer Polizeisirene brachte Rainer zur Ernüchterung und gebot ihm Einhalt. Fassungslos und befremdet über sich selbst blickte er auf das zerstörte und leblose Gesicht von Smith, der schon lange keinen Widerstand mehr geleistet hatte. In seinem Wahn hätte er den Mann fast totgeschlagen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff Rainer in die Brusttaschen seines Gegners und förderte eine Geldbörse, ein Notitzbuch und einen Autoschlüssel heraus. Dann keuchte er dem Schwerverletzten noch eine Botschaft ins Ohr und hoffte, dass dieser ihn auch verstehen würde:
„Sag deinen noblen Bossen, sie sollen sich in Zukunft überlegen, wen sie sich zum Gegner machen. Selbst wenn ihr mich tötet, wird die ‚Coleman-Foundation‘ unter Scheich Mohamed weiter bestehen. Wenn ihr euch mit den Arabern anlegen wollt, gerne. Doch dann sind eure jetzigen Sorgen sicherlich die kleinsten.“
Schnell fasste Rainer nach seinem Mantel und seinem Aktenkoffer. Ein Verfahren wegen Notwehrüberschreitung konnte er sich zum jetzigen Zeitpunkt einfach nicht leisten. Mit dem Auto würde er unmöglich mehr aus der Parkgarage kommen, da die Ausfahrt sicherlich schon kontrolliert wurde. Auch die Lifte und Stiegenhäuser waren zu gefährlich, um sie in seinem jetzigen Zustand benutzen zu können. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, war, sich im Kofferraum seines Autos zu verstecken und abzuwarten, bis sich der Wind gelegt hatte. Gerade noch rechtzeitig schaffte Rainer es, zu seinem Wagen zu laufen, in den Kofferraum zu steigen und den Deckel zu schließen, bevor ein Großaufgebot von Polizisten das Deck stürmte und die schwer verletzten Männer keine dreißig Meter von seinem Auto entfernt fanden. Rainer konnte nur hoffen, dass es keine Kameraüberwachung des Decks gab, sonst würde er wirklich in ernsthafte Schwierigkeiten kommen. Warum musste ihm das gerade jetzt passieren, wo doch alles so schön im Laufen war. Rainer wollte gar nicht daran denken, was alles passieren würde, wenn er als brutaler Schläger angeklagt werden würde. Schließlich war er bis jetzt die völlig unbescholtene Galionsfigur einer pazifistischen und lebensrettenden Foundation.
Die Spurensicherung dauerte bis weit in die Morgenstunden hinein. Erst als die ersten Dauerparker ins Deck einfuhren und dadurch Bewegung in die Tiefgarage kam, zogen die Sicherheitsbeamten ab. Rainer wartete noch zwei Stunden, bis er sich halbwegs sicher fühlen und aus seinem Kofferraum steigen konnte. Er erinnerte sich an den Autoschlüssel, den er dem einen Gangster abgenommen hatte und kramte ihn aus seiner Manteltasche hervor. Als er die Türfernsteuerung drückte, leuchteten sofort die Blinklichter eines in der Nähe geparkten Geländewagens auf. Rasch ging Rainer zu dem Wagen und warf einen Blick hinein. Als er sich schon wieder abwenden wollte, entdeckte er plötzlich zwischen dem Fahrersitz und der rechten Armstütze eingezwängt eine kleine, unscheinbare schwarze Aktentasche, die von den dunklen Überzügen der Sitze nur schwer zu unterscheiden war.
Vorsichtig legte er den unteren, breiten Teil seiner Krawatte über den Türgriff, um keine Spuren zu hinterlassen. Dann öffnete er die Türe und nahm die Tasche an sich.
Rasch ging Rainer zurück zu seinem Wagen, startete den Motor und bewegte sich unauffällig in Richtung Ausfahrt. Dort fädelte er sich in die Warteschleife jener Autos ein, die die Garage verlassen wollten. Zwar stand ein Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes neben dem Schranken und beobachtete die in den Autos sitzenden Fahrer und Beifahrer, ließ aber alle ungehindert passieren. Als Rainer zum Schranken kam, wurde auch er von dem Mann begutachtet. Gott sei Dank hatte er keinerlei Hämatome oder Schnittwunden im Gesicht davongetragen. Die Blutspritzer in seinem Gesicht und auf seinen Händen hatte er bereits mit seinem Taschentuch und einer Flasche Mineralwasser entfernt, die er immer im Auto hatte. Das Blut auf Anzug und Hemd konnte er durch seinen Mantel verdecken. Rainer wirkte also durchaus unauffällig und seriös, sodass er ohne weitere Schwierigkeiten endlich die Parkgarage verlassen konnte. 
Zuerst musste Rainer so schnell wie möglich in seine Wohnung fahren, um seine blutbefleckte Kleidung zu entsorgen. Als er sich nackt im Badezimmerspiegel betrachtete, blieb ihm fast das Herz stehen. Auf seiner Schulter mit dem ellipsenförmigen Muttermal hatte sich durch den heftigen Schlag mit dem Gummiknüppel ein riesiges, blutunterlaufenes Hämatom gebildet, das höllisch schmerzte. Auch hatte er vier kleinere Schnittwunden an den Armen und am rechten Oberschenkel abbekommen, die aber nicht weiter von Bedeutung waren. Ein weiteres Hämatom hatte er am Becken davongetragen. Dieses war aber nicht so schmerzhaft wie das auf seiner Schulter. Gott sei Dank waren weder Gesicht, Hals noch Hände verletzt. Solche offensichtlichen Zeichen einer körperlichen Auseinandersetzung würden sicherlich gröbere Probleme aufwerfen.
Plötzlich läutete es an Rainers Tür. Hochgradig nervös zog er seinen Bademantel über und ging zur Tür. Als er Isabell im Späher sah, öffnete er erleichtert die Tür.
Sofort fiel ihm ihr besorgter Blick auf. Ohne ein Wort der Begrüßung huschte Isabell rasch in seine Wohnung.
„Ich habe solche Angst gehabt, dass du in der Operngarage in den Zwischenfall verwickelt sein könntest. Schließlich müsstest du zu diesem Zeitpunkt ja gerade in der Tiefgarage gewesen sein, “ flüsterte sie hektisch.
„Was ist passiert?“, fragte Rainer erschrocken.
„Zwei Männer wurden heute Nacht in der Operngarage überfallen. Der eine hatte ein Messer im Bauch stecken und liegt auf der Intensivstation des AKH. Der andere hat ein zu Brei geschlagenes Gesicht und musste in künstlichen Tiefschlaf versetzt werden, doch er ist außer Lebensgefahr. Die Übeltäter sind noch flüchtig und es fehlt jede Spur. Der Hinterhalt muss geplant gewesen sein, denn an der Überwachungskamera waren die Drähte durchgeschnitten, wodurch es zu einem Kurzschluss in der gesamten Überwachungsanlage gekommen war. Daher gibt es auch keine Aufnahmen von dem Vorfall. Erst wenn einer der beiden Männer vernehmungsfähig ist, wird man mehr wissen.“
„Ach du verdammte Scheiße“, fluchte Rainer.
Plötzlich nahmen Isabells Augen wieder einen besorgten Ausdruck an.
„Bitte sag mir, dass du damit nichts zu tun hast.“ 
Anstatt zu antworten, führte er Isabell von der Tür weg. Man wusste ja nie, wer draußen im Stiegenhaus war und eventuell horchen konnte. Im Wohnzimmer öffnete er wortlos seinen Bademantel und ließ ihn fallen. 
„Oh Gott, du warst also doch in der Garage“, flüsterte sie bestürzt, als sie die deutlichen Kampfspuren auf seinem Körper sah.
Rainer zog seinen Bademantel wieder an und erzählte Isabell, was sich auf dem Parkdeck wirklich zugetragen hatte. Isabell hörte ihm ohne Unterbrechung zu und stellte dann ziemlich erschüttert fest:
„Die haben dich, wenn einer dieser Ganoven zu sich kommt und eine Aussage machen kann. Schließlich haben sie nichts mehr zu verlieren. Doch dir und der Foundation können sie vielleicht sogar das Genick brechen.“
„Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich überlege, ob es nicht doch sinnvoll ist, mich der Polizei zu stellen, um eine gewisse Schadensbegrenzung zu erzielen.“
Plötzlich läutete es erneut an der Tür. Erschrocken blickten sich die beiden an. Dann ertönte der Klingelton ein zweites Mal, nur viel vehementer.
Nervös wandte sich Rainer ab und ging in den Flur zurück. Ein Blick durch den Späher bestätigte seine Vermutung. Vor seiner Wohnungstür warteten zwei uniformierte Polizisten und ein in Zivil gekleideter Beamter.
„Guten Morgen, Herr Barkhoff. Dürfen wir kurz eintreten?“, fragte der Beamte.
Mit einem kurzen Nicken öffnete Rainer schweigend die Tür und ließ die drei Männer in die Wohnung.
„Wir sind von der Kriminalpolizei und ermitteln gegen den flüchtigen Täter, der heute Nacht zwei Männer in der Operngarage schwer verletzt haben sollen. Eines der Opfer, das wieder das Bewusstsein erlangt hat, beschuldigt Sie dieser Misshandlungen.“
Rainer fühlte sich in die Ecke gedrängt und sah keinen anderen Ausweg als die Wahrheit zu sagen. Gerade als er den Kriminalbeamten darüber informieren wollte, dass nicht diese Männer, sondern er das Opfer hätte sein sollen, war plötzlich Isabells schlaftrunkene und unwirsche Stimme im Hintergrund zu hören.
„Was ist denn hier los? Welcher Idiot hat die Frechheit, schon so früh am Morgen zu stören?“
Fassungslos blickte Rainer zu Isabell, die mit nichts anderem als einem Polster ihre Blöße bedeckte und mit total wirrem Haar in der Flügeltür des Wohnzimmers stand. Empört fixierte Isabell die überraschten Beamten, ehe sie Rainer mit schneidend scharfer Stimme fragte:
„Hast du etwas angestellt, Liebster? Du hast doch nichts mit Drogen am Hut, oder?“
„Nein Isabell, die Herren wollen nur wissen, wo ich heute Nacht war?“
Isabell lächelte süffisant und fuhr sich aufreizend durch ihr wirres Haar.
„Nun sag schon, oder möchtest du, dass ich den Herren sage, was du heute Nacht gemacht hast?“ 
Rainer wandte sich wieder den Polizisten zu und sagte ein wenig verlegen:
„Meine Herren, ich war heute Nacht zu Hause. Und wie Sie sehen, nicht alleine.“
Der Mann in Zivil fixierte Isabell mit zweifelndem Blick.
„Wer sind Sie und seit wann sind Sie hier?“
„Ich heiße Isabell Henning und bin die Frau des Geschäftspartners von Herrn Barkhoff. Nachdem ich gestern Abend meine Tochter zu einer ihrer Freundinnen gebracht habe, habe ich zu Hause auf den Anruf von Herrn Barkhoff gewartet. Er gab mir das O.k., wann ich wegfahren sollte, damit wir gleichzeitig in der Wohnung wären. Das muss so um zehn gewesen sein. Das heißt, dass ich spätestens um halb elf hier war, nicht wahr, Liebster?“
Rainer überlegte kurz, wann er mit Isabell telefoniert hatte. 
„Ja, ich habe nicht genau auf die Uhr gesehen, aber die Zeit müsste passen.“
Skeptisch blickte der Kriminalinspektor in Isabells Augen. Sie hielt seinem Blick jedoch stand und sagte schnippisch:
„Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie ja bei unseren Telefonanbietern nachfragen. Man wird Ihnen die Richtigkeit meiner Aussage bestätigen.“
„Das werde ich sicherlich tun, Frau Henning. Übrigens, weiß Ihr Mann, dass Sie hier sind und seinen Geschäftspartner ficken?“, fragte der Beamte, da er sich hintergangen fühlte. Er war ein alter Fuchs und wusste, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
„Keine Ahnung, ob er diese Nacht zufällig wieder einmal zu Hause verbracht hat. Ich war auf jeden Fall nicht zu Hause“, lächelte sie ihn herausfordernd an, ehe sie fortfuhr:
„Inspektor, weiß Ihre Frau eigentlich, dass Sie ein Arschloch sind?“
Erstaunt blickte der Mann Isabell an, deren kalter Blick ihn unverwandt traf. 
„Ja, sie sagt es mir jeden Tag.“
„Kluge Frau! Sie lässt Sie nie vergessen, was Sie sind.“
Rainer blieb fast die Luft weg, als er Zeuge dieses verbalen Schlagabtausches wurde. Nie hätte er von seiner so stilvollen und formvollendeten Isabell erwartet, dass sie dermaßen ungehobelt unter die Gürtellinie schlagen konnte.
Wider Erwarten lächelte der Inspektor über ihre Schlagfertigkeit. Er wusste jedoch ganz genau, dass Isabell log und Barkhoff Dreck am Stecken hatte. Doch wenn er auch überzeugt war, dass Barkhoff in den Zwischenfall involviert war, so war das Alibi doch hieb- und stichfest.

Kapitel 76

Nachdem der Inspektor Rainer und Isabell gebeten hatte, in den nächsten Tagen für eventuelle Fragen zur Verfügung zu stehen, verabschiedeten sich die Polizisten. Die beiden atmeten erleichtert durch, als die Beamten endlich abgezogen waren. Doch kaum waren die Schritte im Flur verklungen, zog Rainer die nackte Frau ins Wohnzimmer und schloss die Tür.
„Bist du denn total verrückt geworden? Du hast dich soeben selbst denunziert? Max wird sicherlich davon erfahren und dich zur Rechenschaft ziehen. Mit dieser falschen Aussage bringst du dich in Teufels Küche“, fuhr er sie bestürzt an.
Doch Isabell zog nur gleichgültig ihre Schultern hoch und ging ins angrenzende Schlafzimmer, wo sie das Polster in das ungemachte Bett zurück warf. Obwohl Rainer weiß Gott andere Probleme hatte, konnte er sich aber an ihrer Nacktheit und ihrem sich in Veränderung befindenden Körper nicht sattsehen.
Isabells normalerweise kleine Brüste hatten schon massiv an Volumen gewonnen, sodass sie prall abstanden. Ihr gewölbter Leib ließ absolut keinen Zweifel mehr zu, dass sie schwanger war. Schließlich war sie bereits über dem vierten Monat ihrer Schwangerschaft. Wehmütig musste er daran denken, wie unsäglich glücklich er wäre, wenn sie sein Kind trüge…
„Na und? War ich diejenige, die sich nicht an die Abmachung gehalten hat, oder er? Hoch und heilig hat er mir versprochen mit der Russin Schluss zu machen. Und hat er die Affäre beendet? Nein, genau das Gegenteil war der Fall. Seine kurzen Gastspiele zu Hause sind kaum noch der Rede wert. Wieso sollte ich mich dann noch an die Vereinbarung halten?“
„Hast du denn keine Angst, dass er ausrastet? Du weißt doch, wenn er betrunken ist, kommt bei ihm eine leichte Persönlichkeitsspaltung zum Tragen und er neigt zur Gewalttätigkeit.“
Sofort musste Isabell an jenen Abend denken, als Max von seiner Geliebten nach Hause gekommen war und sie vergewaltigen wollte. Isabell lächelte Rainer weit zuversichtlicher an als ihr zumute war.
„Keine Angst, ich weiß mich schon zu wehren. In letzter Zeit hat Max weit andere Probleme, als seiner verletzten Eitelkeit zu frönen. Außerdem ist das Verhältnis zwischen uns schon so abgekühlt, dass sich seine Aggressionen in Grenzen halten.“
„Was du für mich heute getan hast, hat noch nie jemand getan. Ich bin ganz aufgewühlt, entsetzt und doch freudig erregt zugleich, weil es mir zeigt, wie sehr du mich liebst.“
Isabell hatte begonnen, sich wieder anzuziehen. Als sie ihren weiten Pulli übergezogen und ihr Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte, erwiderte sie zärtlich:
„Wenn man liebt, teilt man nicht nur das Schöne. Außerdem weiß ich, dass du unschuldig bist und das Opfer einer gemeinen Intrige geworden bist. Diese Kriminellen haben ja auch Coleman auf dem Gewissen. Ich finde es gut, dass du diesen Verbrechern ihre Grenzen gezeigt hast. Manchmal muss man eben ein bisschen flunkern, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.“
Vorsichtig zog sie Rainer den Bademantel aus und begutachtete nun genauer seine Verletzungen.
„Die Schnittwunden sind nicht sehr tief, sollten aber trotzdem genäht werden.“ 
„Ich weiß, doch ich kann unmöglich zu einem Arzt gehen. Der müsste eine Meldung machen und ich fliege auf.“
Während Isabell seine Wunden behandelte, blickte sie Rainer erstaunt an.
„Ich kann es ja kaum glauben, dass du mit diesen Ganoven fertig geworden bist. Solche Typen sind doch sicherlich kampferprobt und wissen, wie man mit Waffen umgeht. Doch dass gerade du, der Pazifist schlechthin, fähig warst, den beiden eine derart heftige Lektion zu erteilen und sie fast übern Jordan geschickt hättest, verwundert mich sehr. Ich hatte immer geglaubt, dass du keiner Fliege etwas zuleide tun kannst.“
„Ja, das hatte ich auch geglaubt. Doch in solchen Extremsituationen beginnt man, über sich hinauszuwachsen und ungeahnte Kräfte kommen plötzlich zum Tragen“, erwiderte Rainer nachdenklich; und plötzlich sah er vor seinem inneren Auge wieder Ruak, wie er sich kampfbereit seinen Widersachern stellte.

Bevor Isabell nach Hause fuhr, ging sie mit Rainer noch einmal das Alibi durch. Ihre Aussagen mussten absolut konform sein, falls sie unabhängig voneinander befragt werden sollten.
Wie sich herausstellte, war dies klug gewesen. Denn noch am selben Tag wurden beide zu einem anderen Zeitpunkt in das zuständige Polizeikommissariat gebeten, um ihre Aussage zu unterschreiben. Nachdem Rainer seine Unterschrift unter das Protokoll gesetzt hatte, fragte ihn der Inspektor:
„Herr Barkhoff, jetzt einmal ganz unter uns: Die beiden Schwerverletzten sind keine unbeschriebenen Blätter. Die Typen sind zwei schwere Burschen und die Interpol ermittelt schon lange gegen sie. Bis jetzt konnten wir ihnen aber so gut wie nichts nachweisen. Ich habe mir den Akt herausgesucht und nachgelesen, wie Ihr ehemaliger Geschäftspartner Jake Coleman von einem gestohlenen Van von der Straße abgedrängt worden war und dabei schwerst verletzt wurde. Auch in diesem Fall haben wir den oder die Schuldigen noch nicht gefunden. Wir vermuten, dass ein Flügel der amerikanischen Mafia mit dem Attentat in Zusammenhang steht, jedoch fehlen uns bisher leider jegliche Beweise.“ 
„Ja und? Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?“, fragte Rainer vorsichtig.
„Soviel ich erfahren habe, hat Coleman vor einigen Wochen Selbstmord verübt. Wieso habe ich den bestimmten Verdacht, dass der Zwischenfall in der Parkgarage eine Art Vergeltungsschlag für den Tod Ihres Geschäftspartners sein könnte?“
„Ich habe keine Ahnung, was Sie damit meinen. Das Messer im Bauch des einen Verletzten stammt nicht von mir. Sie haben doch sicherlich schon überprüft, ob 
darauf Fingerabdrücke zu finden waren. Und wenn, dann stammen diese nicht von mir. Wäre es nicht eine logische Erklärung, dass der Täter mir dieses Verbrechen nur in die Schuhe schieben will, um von einer Auseinandersetzung mit dem zweiten Mann abzulenken, damit er gleich zwei Fliegen mit einem Schlag treffen kann? Schließlich gibt es weder Fingerabdrücke, Blutspuren noch sonstige Anhaltspunkte von mir, weil ich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht in der Garage gewesen bin.“
„Bis auf jenen Umstand vielleicht, dass Sie der Mitarbeiter der privaten Sicherheitsfirma, der die Garagenausfahrt kontrolliert hat, gesehen haben will, wie Sie am selben Morgen mit Ihrem Auto die Garage verlassen haben.“
„Dann muss der Mann wohl meinen Astralleib gesehen haben, denn zu diesem Zeitpunkt lag ich mit Isabell Henning zu Hause in meinem Bett.“
„Herr Barkhoff, ich habe ein besonderes Gespür, wenn etwas faul ist. Und hier ist das ganz sicher der Fall. Bleibt also als letzte Möglichkeit nur noch ein misslungenes Attentat auf Sie persönlich. Zwei Auftragskiller mit Springmessern, Gummiknüppel und Pistole stellen einen völlig unbewaffneten Mann. Zu dieser Version würde auch das durchschnittene Videokabel als Vorbereitungshandlung ganz gut passen. Was mich jedoch an dieser Version zweifeln lässt, ist jener Umstand, dass Sie als unbescholtener Mann ohne jegliche Erfahrung im Nahkampf mit den beiden Männern fertig werden konnten.“
„Dann liegt auch offensichtlich auf der Hand, dass ich nicht der Täter sein kann.“
Mit durchdringendem Blick versuchte der Inspektor, in Rainers ausdruckslosem Gesicht zu lesen.
„Leider kenne ich Ihre Motivation nicht. Wenn Sie es sich in nächster Zeit doch noch überlegen wollen, einen Beitrag zur Aufklärung dieses Falles zu leisten, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“
„Ich glaube, dass Sie in dieser Angelegenheit Ihr besonderes Gespür verloren haben. Bei mir befinden Sie sich jedenfalls auf dem Holzweg.“
Der Handschlag zum Abschied dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde länger als üblich. Beide Männer blickten sich dabei direkt in die Augen und wussten genau, was Sie sich nicht sagen konnten. 

Kapitel 77

„Ich fasse es nicht!“, erwiderte Max außer sich vor Wut und Demütigung. 
„Genügt es nicht schon, dass ich mit ziemlicher Sicherheit seinen Bastard am Hals habe? Nein, denn meine doch so ehrenwerte und hochanständige Frau steigt jetzt wieder mit diesem Hurensohn in die Kiste und gibt ihm noch dazu ein Alibi, damit sie mich noch lächerlicher macht!“
Max musste sich unterbrechen, um seinen auflodernden Zorn und seine aufs Neue entfachte Eifersucht wieder unter Kontrolle zu bringen. 
„Hast du auch nur ansatzweise eine Ahnung, dass du mit diesem verdammten Alibi unsere Zukunft zerstört haben könntest?“
„Wieso sollte ich lügen? Außerdem, von wessen Zukunft sprichst du? Dieses Hotel ist vielleicht deine Zukunft, jedoch keinesfalls mehr meine“, korrigierte Isabell ihren tobenden Mann. Während sie ihm mit eiskalter Nüchternheit ihren Sinneswandel wissen ließ, arbeitete Isabell ohne Unterbrechung an den Prüfungsfragen für den am nächsten Tag stattfindenden Englischtest weiter.
Max verabscheute es zutiefst, wenn man ihn so offensichtlich ignorierte. In einem heftigen Wutanfall schlug er den Bildschirm ihres Laptops zu, sodass Isabell kaum noch Zeit hatte, ihre Finger von der Tastatur zurückzuziehen.
Erschrocken blickte sie zu Max auf, der sich auf der anderen Seite ihres Schreibtisches abstützte und sie verärgert anstarrte. In aggressiv leisem Ton zischte er durch seine Zähne:
„Meine Liebe, du vergisst, dass wir eine Abmachung haben. Fakt ist, dass wir miteinander nach Phuket übersiedeln und gemeinsam dieses Hotel dort aufbauen werden.“
„Fakt ist aber auch, dass ich diese berufliche und räumliche Veränderung nur deshalb akzeptiert habe, weil du mir hoch und heilig versprochen hast, dich wie ein ordentlicher Ehemann zu benehmen und dieses russische Flittchen sausen zu lassen, was aber keineswegs der Fall war. Seit Jake tot ist, kennst du überhaupt keine Schranken mehr und führst dich auf, wie wenn du hinter einer läufigen Hündin her wärst.“ 
Isabell war nun ebenfalls aufgestanden und funkelte ihn zornig an. Demonstrativ wolle sie Max zeigen, dass sie keine Angst vor ihm hatte und sich durch seine Drohgebärden nicht einschüchtern ließ. 
„In spätestens drei Monaten sind wir ohnehin weit weg aus diesem Scheißland. Dann ist hier ohnehin alles vorbei und nur du und Lisa zählen noch.“
Für einen Moment glaubte sich Isabell verhört zu haben. Sie lachte laut auf und blickte ihm abschätzend in die Augen.
„Wie gütig von dir, dass wir dann wieder die Nummer eins für dich sind. Doch für wie lange?“, fuhr sie ihn verbittert an.
„Für dich muss ich ja wirklich die Dümmste sein. Glaubst du, ich weiß nicht, dass dann deine russische Hure nur deshalb keine Bedeutung mehr haben wird, weil sich dort unten für dich ein wahres Paradies mit äußerst willigen Mädchen auftut, die dir für ein paar Dollar jeden deiner noch so abartigen Wünsche erfüllen?“
Isabell wurde immer wütender. Energisch kam sie hinter dem Schreibtisch hervor und baute sich wie der kleine David vor dem riesigen Goliath auf. Die ständigen Verletzungen und Demütigungen der letzten Jahre, seine Ignoranz, sein grenzenloser Egoismus und sein absolut fehlendes Feingefühl spie sie ihm nun voller Abscheu ins Gesicht: 
„Du bist ein widerlicher Scheißkerl, der keinerlei Grenzen kennt. Du benutzt Menschen nach Lust und Laune und beutest sie aus, nur um deine Wünsche zu befriedigen. Ich habe dir vertraut, obwohl ich dumme Kuh es besser hätte wissen müssen.“
„Da spricht wohl die Richtige von Vertrauen. Kaum bin ich aus dem Haus und versuche, für diese Familie alles zu tun, damit es ihr gut geht, wirst du brunftig wie eine rollige Katze und fickst gleich meinen besten Freund“, unterbrach er sie laut brüllend.
„Ja, denn der weiß mich wenigstens zu schätzen, was du noch nie getan hast. Er gibt mir das Gefühl, dass ich für ihn etwas Besonderes bin. Er ist ganz einfach der Mann, der du nie sein wirst…“
Isabell konnte den Satz nicht mehr vollenden. Eine heftige Ohrfeige riss ihr den Kopf zur Seite, sodass sie durch die Wucht des Schlages um die eigene Achse gedreht wurde und zu Boden stürzte. Blind vor Wut hatte Max seine Hände zu Fäusten geballt und wollte gerade zu einem kräftigen Tritt gegen Isabells Bauch ausholen, in dem dieser Bastard heranwuchs, als plötzlich Lisi mit ängstlich- schriller Stimme rief:
„Papa, tu‘s nicht!“
Entsetzt lief sie zu ihrer Mutter und baute sich schützend vor ihr auf.
Als Max in die verängstigten Augen seiner Tochter blickte, kam er sofort wieder zur Besinnung. Seine ungeheure Wut war plötzlich wie weggeblasen, als er Lisi mit ihren schützend erhobenen Ärmchen so hilflos und gleichzeitig so mutig vor ihrer am Boden kauernden Mutter stehen sah. Max zog es das Herz zusammen, als er auf sein verstörtes, kleines Mädchen niederblickte. Voller Mitleid und extremen Gewissensbissen wollte er sie in seine Arme schließen und ihr erklären, dass dies alles doch nur ein großes Missverständnis war. Doch Lisi trat gegen sein Schienbein und schrie ihn verzweifelt an:
„Geh raus! Verschwinde von hier! Du tust ihr nur weh.“
Max unterdrückte den stechenden Schmerz. Er wusste nicht so recht, ob dieser von seinem Bein oder aus seinem Herzen kam. Mit aller Behutsamkeit versuchte Max noch einmal, auf seine Tochter einzureden. Doch Lisi fing schrill und hysterisch zu schreien an und ließ sich selbst durch Isabell nicht mehr beruhigen.
„Geh endlich! Du siehst doch, dass sie völlig durcheinander ist!“, fuhr Isabell ihn an, während sie sich mit ihrem Handrücken das Blut aus dem Mundwinkel wischte.
Betroffen blickte Max auf Frau und Tochter hinab. Er wusste, dass in Lisis heiler Welt gerade etwas Grundlegendes zu Bruch gegangen war, was nur sehr schwer wieder zu kitten sein würde. Ihr feindseliger Blick traf ihn mit unbarmherziger Härte, wie er es noch nie an ihr gesehen hatte. 
Unglücklich wandte er sich von jenen beiden Menschen ab, die ihm doch das Wichtigste in seinem Leben waren, auch wenn das vielleicht nicht immer den Anschein hatte. Wie konnte er sich nur so hinreißen lassen, Isabell schon wieder zu schlagen. Er hatte sich doch geschworen, nie mehr die Hand gegen sie zu erheben. Doch sein wunder Punkt war und blieb nun einmal dieser elende Barkhoff. Isabell wusste nur zu gut, wie sehr sie ihn damit traf, wenn sie ihm ausgerechnet diesen niederträchtigen Scheißkerl als Vorbild hinstellte. 
Max brauchte jetzt dringend Ruhe. Er musste nachdenken. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er nicht zu Ekaterina fahren sollte. Doch er verwarf diese Idee schnell wieder. Für Sex hatte er jetzt absolut keinen Sinn. Er musste sich dringend ein klares Bild über seine augenblicklich äußerst schwierige Situation machen. Jetzt ging es um alles. Sein Vermögen, seine Familie und seine Zukunft standen auf dem Spiel. 
Die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen, als Max das Haus verließ und dem schmalen Wanderpfad folgte, der in unmittelbarer Nähe seines Grundstückes in den Wald hinein führte. Zu dieser späten Stunde war hier keine Menschenseele mehr anzutreffen, was Max nur recht war. Noch immer völlig durcheinander, setzte er sich auf eine Bank, von der man einen wunderschönen Ausblick über das hell erleuchtete Wien hatte. Doch Max war blind für dieses wundervolle Panorama. Es belastete ihn sehr, dass Isabells Interesse an seinen Hotelplänen rasant abgenommen hatte. Sicherlich stand dieses Desinteresse mit Barkhoff in Zusammenhang, der sich offensichtlich wieder an sie herangemacht hatte. Unbändiger Hass ergriff ihn und verlieh seinem angespannten Gesicht einen diabolischen Ausdruck.
Max war so sehr in seine Gedanken versunken, dass er jedes Gefühl für die Zeit verloren hatte. Völlig durchgefroren stand er irgendwann auf und ging den Weg nach Hause zurück. Er wusste, dass es höchste Zeit war, sich zu ändern, sonst würde er mit ziemlicher Sicherheit seine Familie verlieren. Ekaterina war in ein paar Wochen ohnehin kein Thema mehr. Doch den Stress, sie jetzt schon abzubauen, wollte er sich in seiner ohnehin schon sehr schwierigen Situation einfach nicht zumuten. Max nahm sich aber vor, von nun an viel mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen und zusammen an einer gemeinsamen Zukunft zu arbeiten. Außerdem musste er unbedingt seine Sexbesessenheit unter Kontrolle bekommen und beschloss, sich einer Therapie zu unterziehen. Vielleicht konnte er Isabell so beweisen, dass er kein Sexmonster war. Und auch Lisi würde er zeigen, dass er kein Mann war, der Frauen schlägt. Doch absolute Priorität genoss eine ganz andere Erkenntnis. Sein Vorhaben, mit seiner Familie ein neues Leben zu beginnen, durfte durch niemanden gefährdet werden. Zuversichtlich lächelnd öffnete Max die Gartentür seines Hauses. Er wusste nun genau, was er zu tun hatte. Niemand, absolut niemand würde ihm seine Frau und sein Geld streitig machen. Dafür würde ihm jedes Mittel recht sein. Max hatte eine Entscheidung getroffen…

Kapitel 78

Voller Stolz blickte Rainer auf die noch druckfrischen Einladungen, die ihm Luise
auf den Schreibtisch gelegt hatte. Auf matt-weißem Büttenpapier stand in schwarzen Lettern: „Coleman-Foundation proudly presents…“
Irgendwie konnte Rainer selbst noch nicht so richtig glauben, was er nun schwarz auf weiß las. Hatte er es jetzt wirklich geschafft, Jakes Traum in die Realität umzusetzen? In weniger als drei Wochen würden seine Minensuch-Hubschrauber zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit zum Einsatz kommen. 
Wie ein Besessener arbeitete er sei mehr als einem halben Jahr nun an der Verwirklichung dieses Projektes. Rainer war aber auch noch nie zuvor so von der Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit eines Produktes überzeugt gewesen wie von diesen Drohnen. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und wie es jetzt schien, würde er auf auch gewinnen.
Morgen würde Luise diese Einladungen an besonders interessierte Entscheidungsträger und Regierungen verschicken. Natürlich hatte sie den fixierten Termin längst per Mail an alle zuständigen Büros weitergegeben. Die offizielle Einladung würde nun nachgereicht werden, um die Bedeutung des geplanten Events zu unterstreichen. Fast pathetisch steckte Rainer die erste Karte in eines der vorgesehenen Kuverts. Diese erste Einladung wollte er Grace persönlich übergeben.
Kurz entschlossen griff er nach seinem Trenchcoat und verließ das Büro. Auf der Fahrt nach Mödling telefonierte er mit Grace und kündigte sein Kommen an. Als er kurze Zeit später den Vorgarten ihres Hauses betrat, öffnete sie Rainer auch schon die Eingangstür und lächelte ihm erfreut entgegen. 
Grace war ihm in den letzten Wochen noch mehr ans Herz gewachsen. Sie hatte ihm absolut vertraut und sich trotz des großen Risikos dazu entschlossen, das Geld des Syndikats auszuschlagen und mit ihm gemeinsam diesen schwierigen und ungewissen Weg weiterzugehen. Und jetzt waren sie mit ihm drauf und dran, Jakes Lebenswerk doch noch zu realisieren. 
Trotz aller Trauer strahlte Grace nun eine fast heitere Melancholie aus, die Rainer noch mehr für sie einnahm. Er hatte Grace wirklich gern und war ihr in tiefer Freundschaft verbunden. Jedes Mal, wenn er sie sah, mahnte ihn sein schlechtes Gewissen, dass er sich viel zu wenig um sie kümmerte. Doch die letzten Wochen waren dermaßen hektisch gewesen, dass er nicht einmal dazukam, sein Haar schneiden zu lassen.. 
Nachdem ihn Grace liebevoll umarmt hatte, führte sie ihn in den blauen Salon, wo das Kaffeegeschirr schon bereit stand. Noch immer trug Rainer dieses unbewusste Gefühl in sich, dass sich gleich eine Türe öffnen und Jake hereinkommen würde. Doch schnell verdrängte er diesen Gedanken wieder. 
Rainer zog nun das Kuvert aus seiner Sakkotasche und überreichte es Grace. Überrascht blickte sie auf das dicke Kuvert in ihren Händen, öffnete den Umschlag und nahm vorsichtig die gefaltete Einladungskarte heraus. Mit steigender Freude überflog sie den Inhalt der Einladung. Dann lächelte sie Rainer mit tränenfeuchten Augen dankbar an.
„Mein lieber Rainer, Sie schaffen es also wirklich und vollenden das Lebenswerk meines Mannes. Oh Gott, wie sehr wünschte ich mir, dass Jake das noch miterleben hätte können“, schluchzte die Witwe.
Zutiefst bewegt umarmteGrace den großen Mann. Rainer war so benommen, dass er für einen Moment nicht wusste, was er tun sollte. Noch nie hatte sich Grace nach dem Tod ihres Mannes so verletzlich und unglücklich gezeigt. Doch dann schloss er seine Arme um die weinende Frau und drückte sie sanft an sich. 
„Grace, das Leben geht weiter. Mit der „Coleman-Foundation“ wird Jake immer ein Teil von uns bleiben.“
Seufzend löste sie sich wieder von Rainer und trocknete ihre Tränen.
„Ja, das wird er. Und Gott hat Sie geschickt, damit Sie sein Werk vollenden.“
Grace lächelte ihn dankbar an und ging dann in die Küche,, um die Kaffeekanne zu holen. Als sie wieder zurückkam, war ihre Schwermut nicht mehr zu spüren, nur ihre leicht geröteten Augen erinnerten an ihre plötzliche Gefühlsaufwallung.
Während sich Rainer über das Eclair hermachte, ließ Grace den essenden Mann nicht aus den Augen. 
„Sie haben sich in den letzten Monaten sehr verändert, Rainer.“ 
Verwirrt hielt Rainer inne, als er gerade seine voll beladene Gabel mit obersgefülltem Brandteig in den Mund schieben wollte. 
„Wie darf ich das verstehen?“
„Nur positiv, mein Lieber. Mit der Herausforderung, die „Coleman-Foundation“ zu etablieren, sind Sie gewachsen. Sie haben sehr an Charisma und Selbstvertrauen gewonnen“, lächelte sie ihn wohlwollend an. 
Während Rainer die kleine Kalorienbombe in den Mund schob, dachte er über Grace‘ Worte nach. Im Zeitraffer ließ er die Monate an sich vorüberziehen. Erstaunt stellte er fest, wie viel sich in dieser kurzen Zeitspanne ereignet hatte. Unsäglich Schönes, Berauschendes und Erhebendes ging mit Kummer, Hass, Zweifel und Entbehrungen einher. Diese Berg-und Talfahrt von Empfindungen. Aber auch grundlegende Erkenntnissen und Erfahrungen, die zum großen Teil aus negativen Erlebnissen gewonnen wurden, hatten zu seiner Veränderung beigetragen.
„Sie haben wohl recht, dass man durch die Herausforderung und die damit verbundene Verantwortung geprägt wird“, erwiderte Rainer nachdenklich.
„Kann es nicht auch sein, dass auch etwas anderes zu Ihrer Veränderung beigetragen hat, als nur Ihre Ambitionen um die Foundation?“
Seufzend lehnte sich Rainer in das Sofa zurück und wischte sich mit seiner Serviette den Mund ab.
„Sie sind eine sehr kluge Frau, der man nicht viel vormachen kann. Ich muss gestehen, dass es mir schwerfällt, über meinen inneren Aufruhr zu sprechen. Meine Gefühle für Isabell bewegen mich zumindest ebenso wie das Gedeihen unserer Foundation. Doch der Preis für diese Liebe war hoch. Sie kostete die Freundschaft zu Max, meinem besten Kumpel. Dieser Umstand macht mich sehr traurig. Doch auf Isabell kann und will ich nicht mehr verzichten.“
Rainer legte die zusammengeknüllte Serviette auf den leeren Teller zurück und schob diesen in die Mitte des Couchtisches. Dann lehnte er sich zurück und sagte bedauernd:
„Zwischen Max und mir hat es in letzter Zeit einige nicht sehr angenehme Auseinandersetzungen gegeben, die sicherlich auch negative Auswirkungen auf die „Coleman-Foundation“ hatten. Ich bin überzeugt, dass sein plötzlicher Wunsch nach räumlicher und beruflicher Veränderung eine Flucht vor mir ist, um seine Frau und in der Folge auch sein Kind nicht zu verlieren.“
„Isabell hat mich schon in ihr Geheimnis eingeweiht, dass Sie sich wieder näher gekommen sind. Sie hat mir auch von dem Alibi erzählt, das sie bei Max in Teufels Küche gebracht hat.“
Rainer lächelte bitter in der Erinnerung an den Abend, als sie ihn völlig aufgelöst angerufen und ihm erzählt hatte, dass Lisi gerade Zeugin geworden war, wie Max sie geschlagen hatte. Damals wollte er sofort los fahren, um sie und das Kind zu holen. Es kostete Isabell einiges an Überredungskunst ihn überzeugen, dass durch diese Aktion nur noch mehr Öl ins Feuer geschüttet und Max endgültig ausrasten würde. Lisi hätte dann womöglich noch einen viel größeren Schock abbekommen als sie ohnehin schon hatte. Diese neuerliche und weit größere Belastung wollte Isabell um jeden Preis vermeiden.
„Ja, nachdem wir nach Jakes Begräbnis von hier weggefahren sind, hat sie mir ihre noch immer tiefen Gefühle für mich gestanden. Damals hatte ich fast geglaubt, vor Glück zu zerspringen. Doch wie sehr sie mich wirklich liebt, habe ich erst an dem Tag erfahren, als sie mir das Alibi gab. Im Wissen, dass sie sich selbst in große Schwierigkeiten bringen wird, hat sie mir vor den Kriminalbeamten einen Persilschein ausgestellt.“
„Und was wird nun weiter gehen, nachdem Sie sich ihrer Liebe so gewiss sind?“
Seufzend hob Rainer seine Schultern.
„Ich weiß es nicht. Isabell und ich sind jedenfalls kein Liebespaar im herkömmlichen Sinn. Obwohl wir uns gefühlsmäßig nie näher standen als jetzt, gibt es keinen Sex. Irgendwie sind wir dafür noch nicht bereit. “
Rainer nahm seine Kaffeetasse und trank daraus, während sein Blick durch das Fenster in die Ferne wanderte.
„Ich hoffe nur, dass in Ägypten alles reibungslos über die Bühne geht und wir mit den Drohnen den gewünschten Erfolg haben werden. Wenn dann die Aufträge wirklich ins Haus flattern, kann ich getrost einen Kredit von zehn Millionen Dollar aufnehmen, um Max seinen Anteil abzukaufen, und diesen zwischen uns aufteilen. Dies würde auch im Interesse der Foundation liegen. Wir können in unserem Unternehmen keinen Mann gebrauchen, dessen Engagement mittlerweile sehr fragwürdig geworden ist.“
„Wieso haben Sie es denn so eilig, Henning aus der Firma zu drängen?“, unterbrach Grace ihn interessiert.
„Ganz einfach, Max benötigt dringend dieses Geld, um sein Hotel doch noch bauen zu können. Isabell hat zwar schon durchsickern lassen, dass sie nicht nach Thailand mitkommen möchte. Doch Max ist noch immer darauf fixiert, mit ihr und Lisi dort ein neues Leben anfangen zu wollen. Wie er wirklich reagieren wird, wenn Isabell ihm klipp und klar zu verstehen gibt, dass sie mit ihrer Tochter in Österreich bleibt, ist jedoch noch die große Unbekannte. Auf jeden Fall brauche ich diese zehn Millionen ziemlich dringend, damit er zumindest seine beruflichen Zukunftspläne nicht aufgeben muss und wir ihn als Teilhaber endlich vom Hals haben.“
„Seien Sie vorsichtig, Rainer. Männer, die sich in die Enge gedrängt fühlen, sind zu allem fähig.“

Bevor sich Rainer von Grace verabschiedete, rang er ihr noch das Versprechen ab, wenigstens an dem Tag der Präsentation nach Ägypten zu fliegen. Es war Rainer ein großes Bedürfnis, den Erfolg der Vorführung gemeinsam zu erleben und den Beginn ihrer Geschäftsbeziehung gebührend zu feiern.

Kapitel 79

Die nächsten Wochen bis zur Präsentation wurden viel hektischer als erwartet. Rainer wusste oft nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Immer mehr Personen meldeten sich, die noch eine Einladung ergattern wollten. 
Wie so oft schon in diesen turbulenten Tagen bewies Luise ihr großes Talent als Organisatorin. Ohne Murren nahm sie Rainer viel von seinem nervenaufreibenden Job ab. Irgendwie schaffte sie es, diese zusätzlichen Interessenten richtig nach ihrer Bedeutung zu erfassen und dann auch noch unterzubringen, selbst wenn sie dabei auf zweckentfremdeten Kamelsätteln sitzen mussten. 
Rainer verbrachte jetzt viel Zeit in der Produktionshalle, wo die drei Hubschrauber bereits fertig ausgerüstet warteten. Die letzten Checks an der Software wurden durchgeführt, damit das Suchprogramm absolut einwandfreie Daten auf die riesige Projektionswand vor der Gästetribüne übertragen konnte. Ein letztes Mal wurden die Drohnen in der Kiesgrube mit Minenattrappen getestet, ehe sie zerlegt, in Transportkisten verpackt und per Luftfracht nach Ägypten transportiert werden konnten. 
Max war schon vor einer Woche nach Ägypten geflogen, um das von der Regierung bereitgestellte Testgelände in der Wüste abzugrenzen, mit Dummys zu bestücken und das Feld dann abzusichern. Außerdem musste er die Organisation der Infrastruktur für den Event und den Aufbau der Tribünen überwachen sowie einen internen Sicherheitsdienst für besonders hochrangige Gäste arrangieren. 

Seit dem leidigen Vorfall, bei dem Lisi Zeugin der Brutalität ihres Vaters geworden war, war Max nun ziemlich kleinlaut und kooperativ geworden. Sein sonst schon übliches Aufbegehren gehörte plötzlich der Vergangenheit an. Ohne Widerrede kümmerte sich Max um die ihm zugeteilten Aufgaben. Vordergründig war er sehr engagiert und kooperativ. Doch unter seiner scheinbar friedlichen Oberfläche brodelten die Hassgefühle gegen Rainer.
Mit keinem Wort sprach Max seinen Geschäftspartner auf das Alibi an, durch das sich Isabell vor der Kriminalpolizei als Rainers Geliebte geoutet hatte. Alle notwendigen Geschäftsgespräche wurden mit distanzierter Höflichkeit und äußerster Sachlichkeit geführt. Rainer musste sich selbst eingestehen, dass er mit Max noch nie so gut zusammengearbeitet hatte. Doch hätten Max Augen Blitze werfen können, dann wäre Rainer sicherlich schon längst tot gewesen. Beiden war nur zu gut bewusst, dass jetzt für private Auseinandersetzungen der denkbar ungünstigste Zeitpunkt gewesen wäre. Doch aufgeschoben war keineswegs aufgehoben, und Rainer musste ziemlich auf der Hut sein. Unwillkürlich musste er an Angelinas Mahnung denken, mit der sie ihn vor der Jagd des Falken gewarnt hatte. Vor seinem inneren Auge tauchten wieder die beiden weißen Tauben auf, wovon eine von einem im Hinterhalt lauernden Turmfalken gerissen worden war.
Dieses Omen ließ ihn vorsichtig werden und er beobachtete das Verhalten seines ehemaligen Freundes nun wesentlich genauer als früher. Außerdem verdichteten sich die Indizien immer mehr, dass Max seine Hände bei den Sabotageakten des Syndikats mit im Spiel gehabt haben musste.
Doch diese Verdachtsmomente waren mittlerweile Schnee von gestern, denn Rainer hatte es geschafft, seine Saboteure auszutricksen. Smith und Wesson waren inzwischen in die geschlossene Krankenstation des Landesgerichtes Wien verlegt worden. Rainer hatte in der Mappe, die er den Kriminellen aus dem Wagen gestohlen hatte, einige ziemlich belastende Schriftstücke gefunden. Zusammen mit dem Notizbuch des einen Verbrechers und einer notariell beglaubigten Sachverhaltsdarstellung lagen diese Unterlagen bereits bei seinem Anwalt.
Soweit Rainer von der Staatsanwaltschaft informiert worden war, waren die Ermittlungen schon fast abgeschlossen. Er selbst wurde jetzt nur mehr als Zeuge und nicht als Beschuldigter angeführt. Auch seiner geplanten Auslandsreise nach Ägypten stand daher nichts mehr im Wege. Da die beiden Gauner keine Gelegenheit mehr gehabt hatten, sich abzusprechen, verwickelten sie sich in ihren Aussagen in immer tiefere Widersprüche. Außerdem stammten die Fingerabdrücke auf den Waffen eindeutig von Smith und Wesson, sodass Rainer mit einer absolut reinen Weste dastand. Wie es aussah, stand den beiden Schwerverletzten ein Verfahren wegen gegenseitiger, schwerer Körperverletzung ins Haus.
Es grenzte fast an ein Wunder, dass er sich bisher so sang- und klanglos aus dieser Affäre hatte heraushalten können. Weder Hautpartikel, Fingerabdrücke oder Blutspuren ließen darauf schließen, dass er Beteiligter an dem Kampf in der Garage war. Auch der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes hatte seine Aussage inzwischen revidiert. Im Laufe der Vernehmungen wurde der Mann immer unsicherer, ob Rainer wirklich der Mann war, nach dem die Polizei gesucht hatte.
Rainer fiel eine schwere Last vom Herzen, als er das Landesgericht verließ. Mit einem besonderen Gefühl von Nähe und Vertrautheit musste Rainer an Angelina denken. Konnte es denn wirklich sein, dass Angelina sein Schutzengel war, der alles Negative von ihm fernhielt?
Rainer hoffte nun sehr, dass auch die Präsentation in Ägypten ohne größere Schwierigkeiten über die Bühne gehen würde. Wenn dann erst einmal der erste Wirbel vorbei wäre, musste er mit Max reinen Tisch machen. Sein Angebot würde ganz klar sein. Max konnte entweder als gleichberechtigter Partner, jedoch mit einer genauen Kompetenzaufteilung, in der Firma bleiben oder aber der Coleman-Foundation seinen Anteil um 10 Millionen Dollar verkaufen.
Ob sich Isabell dann für ihn entscheiden oder aber doch bei ihrem Mann bleiben würde, war für Rainer noch nicht ganz klar. Doch Rainer wollte alles daransetzen, um sie endgültig für sich zu gewinnen. Und wie es aussah, hatte sich auch hier das Blatt bereits zu seinen Gunsten gewendet. 
Seit Max nach Afrika geflogen war, spürte Rainer eine ziemliche Entspannung und Erleichterung. Er konnte jetzt in aller Ruhe seine letzten Vorkehrungen treffen und sogar noch einen Abend mit Isabell verbringen. Ende der Woche wollte er dann ebenfalls nach Ägypten fliegen und Isabell mit Lisi mitnehmen. Der Zeitpunkt der Präsentation traf günstig mit den Osterferien zusammen, sodass Isabell und ihre Tochter ein paar Tage Ferien am Sharm el-Sheikh würden genießen können.

Kapitel 80

Zufrieden lächelnd lehnte sich Ekaterina in ihren Sitz zurück und schloss die Augen. Der Flug nach Kairo würde knappe vier Stunden dauern. Zeit genug, um ein kleines Nickerchen zu machen und zu überlegen, wie sie nun weiter vorgehen musste, um ihre Pfründe zu sichern. Max saß neben ihr und studierte mit akribischer Genauigkeit irgendwelche Skizzen von alten Minenfeldern aus dem Zweiten Weltkrieg. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen zu schmalen Sehschlitzen, damit sie Max unauffällig beobachten konnte.
Ihre Gefühle für diesen Mann hatten sich in den letzten Tagen grundlegend verändert. Ekaterina hatte es nie geschafft, sich in Max zu verlieben, obwohl er ein ziemlich beeindruckender und attraktiver Mann war. Dieser Mangel an tieferem Empfinden resultierte sicherlich auch daraus, dass Liebe und Zuneigung bei ihr zu Hause in Russland nie Thema gewesen waren. Derartige Gefühle konnte man sich ganz einfach nicht leisten, wenn man ohne finanzielle Sicherheit halbwegs menschenwürdig über die Runden kommen wollte. Man musste nüchtern und sachlich denken, sonst blieb man auf der Strecke. Aber vielleicht wurden diese Gefühle für Max auch deshalb nie geweckt, weil sie wie er vom selben Schlag war. Jeder frönte seinem ureigensten Egoismus und versuchte, den anderen zu übervorteilen. Für Liebe und Vertrauen war da einfach kein Platz. Aber zumindest war eine gewisse freundschaftliche Verbundenheit vorhanden gewesen, die ihre Beziehung doch einigermaßen zufriedenstellend gemacht hat.
Max hatte nie begriffen, dass Ekaterina wesentlich intelligenter und gewiefter war als er wahrhaben wollte. Die Russin hatte es aber auch nie verabsäumt, ihn in seiner Meinung zu bestätigen, ein kleines Dummchen vor sich zu haben. Doch die wahre Ekaterina, die Max absolut nicht kannte, glich eher einer suchenden und lauernden Wölfin, die ständig hungrig und jederzeit bereit war zuzuschlagen, um sich einen möglichst großen Anteil an der Beute zu sichern. 
Im Laufe der Monate hatte sich zwischen den beiden ein stillschweigendes Übereinkommen entwickelt, mit dem Ekaterina ganz gut leben konnte. Liebesdienste – wenn auch ziemlich abartige – gegen ein halbwegs sicheres Leben. Außerdem würde sie nach ihrer Ausbildung zur Hilfskrankenschwester die Möglichkeit haben, genug Geld zu verdienen, um sich notfalls auch ohne Mann über Wasser halten zu können. 
Doch in den letzten Wochen hatte sich diese akzeptable Konstellation gewaltig zu ihrem Nachteil verändert. Wenn sie dagegen nichts unternahm, würde sie spätestens in zwei Monaten auf der Straße sitzen. In diesen finanziell so angespannten Zeiten war es auch ziemlich schwierig geworden, einen neuen Wirt zu finden, der ihr Leben finanzierte. Keineswegs wollte Ekaterina wie ihre georgische Freundin Natascha auf dem Strich landen. Diese dumme Nuss hatte es verabsäumt, rechtzeitig ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Nataschas Exlover konnte sich den Luxus, neben seiner Familie auch noch eine Geliebte zu finanzieren, plötzlich nicht mehr leisten. Ohne Vorwarnung hatte dieser Scheißkerl das ahnungslose Mädchen ohne einen Cent in der Tasche vor die Tür gesetzt. Nach Georgien wollte Natascha keineswegs mehr zurück, denn selbst dort konnte sie nur noch als Hure arbeiten, weil sie keinerlei abgeschlossene Ausbildung vorzuweisen hatte. Da wählte sie schon lieber das kleinere Übel und bot ihren Körper hier in Wien statt in Russland für Geld an.
Nachdem Ekaterina nun wusste, dass in dem geplanten Hotel in Thailand für sie kein Platz sein würde, überlegte sie ständig, wie sie ihre wenigen Ressourcen am besten nutzen konnte. Um Max ein Kind anzuhängen, war es zu spät. Außerdem wollte sie in dieser Hinsicht absolut keine Verantwortung übernehmen. Aus eigener Erfahrung wusste sie nur zu gut, wie schrecklich es war, als ungewolltes Kind sein Dasein fristen zu müssen. Ihre Ausbildung würde noch mindestens ein Jahr dauern. Ihr im Laufe der letzten Monate angespartes Geld reichte bei Weitem nicht, um diese lange Durststrecke zu überbrücken. Auch war es in der kurzen Zeit, die ihr jetzt noch blieb, ziemlich schwierig einen passenden Job neben der Schule zu finden. Deshalb reifte in Ekaterina der klare Entschluss, dass es ihr gelingen musste, aus Max genügend Geld herauszupressen, um damit zumindest ihre restliche Ausbildungszeit hier in Wien finanzieren zu können. 
Um aus ihrer Situation das Beste zu machen, musste Ekaterina nun mehr denn je ihre Augen und Ohren offenhalten und zuschlagen, wenn sich für sie eine Möglichkeit ergeben sollte. 
Max hatte keineswegs im Sinn gehabt, Ekaterina nach Ägypten mitzunehmen. Doch die Russin wollte unbedingt im Brennpunkt des Geschehens bleiben, um jede auch noch so kleine Chance nutzen zu können. Es war echte Schwerstarbeit gewesen, bis Max eingewilligt hatte, sie mitfliegen zu lassen. 
Seine schlechte Laune hatte in den letzten Wochen stetig zugenommen. Nichts lief mehr so, wie Max es geplant hatte. Nicht nur, dass Barkhoff mit diesem neuen Investor seine Zukunftspläne völlig durchkreuzte, hatte auch seine Frau ihre Beziehung zu diesem Mann wieder aufgenommen und auch keinerlei Hehl mehr daraus gemacht. 
Ekaterina verstand überhaupt nicht, wieso sich Max darüber so aufregte. Schließlich hatte er ja auch eine ziemlich heftige Affäre mit ihr laufen. Wieso durfte sich diese Frau nicht genauso wie ihr Mann ein wenig Spaß gönnen? Auch eine Trennung der beiden wäre für Ekaterina durchaus akzeptabel gewesen und würde ihre eigene Situation in jedem Fall verbessern. 
Fast zwei Wochen hatte Ekaterina gebraucht, bis sie Max weichgeklopft hatte, sie mitzunehmen. Mit ausgefallenen Sexspielchen hatte sie ihn diesmal nicht locken können, da er dafür augenblicklich überhaupt keinen Sinn hatte. Wenn überhaupt, war er momentan nur an schnellem Sex ohne aufwändiges Drumherum interessiert gewesen. Ekaterina hatte mittlerweile erkannt, dass diese Quickies ein untrügliches Zeichen dafür waren, dass ihr Lover echte Sorgen hatte. Obwohl Max ziemlich zugeknöpft war und nur sehr wenig von seinen Problemen preisgab, hatte die Russin schnell herausgefunden, dass Max in einer echten Existenzkrise steckte. Aus den spärlichen Bemerkungen und den verschiedenen Telefonaten, die er in ihrer Anwesenheit geführt hatte, konnte sie sich leicht zusammenreimen, dass ihm die bereits fix verplanten 10 Millionen Dollar dringend fehlten, die er durch den Verkauf seiner Anteile an der „Coleman-Foundation“ erhalten hätte sollen. Wenn Max diese Summe in den nächsten Wochen nicht auftreiben konnte, würde sein Traum, am Indischen Ozean ein Ferienparadies entstehen zu lassen, wie eine Seifenblase zerplatzen. Zwar hatte Max das riesige und gut gelegene Grundstück relativ preiswert vom Staat kaufen können, aber wie bei solchen Geschäften üblich, war der Kaufvertrag mit einer Klausel versehen. Innerhalb bestimmter Fristen musste mit dem Bau begonnen und dieser auch fertiggestellt werden. Sollte Max diese Baufortschritte nicht termingerecht einhalten, fiele das Grundstück wieder an die thailändische Regierung zurück, ohne dass er dann auch nur einen Cent rückerstattet bekommen würde. Klartext war, dass mittlerweile jeder Cent seines Vermögens in dem Projekt in Thailand steckte. Wenn Max weiter in Verzug kam, würde er bald genauso mittellos wie sie selbst sein. Außerdem hätte er dann noch die Sorgepflichten für eine Frau und zwei Kinder am Hals. 
Zwei Tage vor seiner Abreise hatte Max ein letztes Mal Ekaterina besucht. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles Bitten und Betteln an ihm abgeprallt. Wenn sich Max nicht auf diesem Weg erweichen lassen wollte, musste sie eben eine härtere Gangart wählen. Doch vorher wollte sie es noch ein letztes Mal auf die sanfte Tour probieren. Ekaterina hatte ein erlesenes Abendessen bestellt, das sie als ein von ihr zubereitetes ausgeben wollte. Bei Kerzenschein und stimulierender Musik wollte sie es Max nur in einem neuen, hauchdünnen Negligé, das mehr zeigte als verhüllte, in sehr lasziver Weise servieren. Doch wie Ekaterina bereits geahnt hatte, zeigte Max an ihren Verführungskünsten keinerlei Interesse. Nachdem er nach mehrmaligen Anläufen noch immer nicht reagierte, zog sie ihren Bademantel und dicke Filzpantoffel an, blies die Kerzen aus und schaltete die grelle elektrische Küchenbeleuchtung ein. Diese nun sehr nüchterne Stimmung passte ausgezeichnet zu ihrem seelischen Empfinden. Überrascht nahm Max den plötzlichen Szenenwechsel wahr. 
„Was ist denn jetzt los?“, fragte er erschöpft und schüttete bereits das zweite Glas Rotwein in sich hinein. 
Wie ein zänkisches Waschweib baute sich Ekaterina vor ihm auf und stemmte demonstrativ die Hände in die Taille.
„Das weißt du ganz genau. Ich will, dass du mich nach Ägypten mitnimmst“, fuhr sie ihn mit zornfunkelnden Augen an. 
„Zum hundertsten Mal, du weißt doch, dass das nicht geht. Ich bin die ganze Zeit mit dem Präparieren des Testgeländes beschäftigt und habe außerdem noch tausend andere Dinge zu erledigen, bevor diese verdammte Präsentation stattfindet. Für dich hätte ich absolut keine Zeit“, versuchte Max ihr zum x-ten Mal die Sachlage zu erklären. 
„Und was ist mit den Nächten? Arbeitest du da auch oder möchtest du sie wirklich ganz alleine verbringen, ohne zärtliche Hände, die deinen müden Körper massieren und sonst noch allerhand Gutes für dich tun können?“ 
Die Russin hatte plötzlich wieder ihre Strategie geändert. Zärtlich begann sie, seinen verspannten Nacken und die Schulterblätter zu massieren, sodass er entspannt seine Augen geschlossen hielt und ihre Berührungen genussvoll über sich ergehen ließ. 
„Möchtest du auf das und noch viel mehr wirklich verzichten?“, gurrte sie in sein Ohr. Seufzend öffnete er wieder die Augen: 
„Ekaterina, ich mach da unten keinen Urlaub, sondern einen knallharten Job. Wenn ich nicht hochkonzentriert arbeite und diesen Job nicht ordentlich erledige, dann habe ich ein weiteres Problem am Hals. Bei diesem Geschäft geht es um weit mehr als du in deinem kleinen, einfältigen Köpfchen überhaupt erfassen kannst.“ 
Urplötzlich beendete sie ihre Massage und wandte Max wieder ihr Gesicht zu. Alles Weiche und Zärtliche war aus ihren Augen gewichen. Ekaterina musste sich zusammenreißen, um ihm nicht ihre wirklichen Gefühle entgegenzuschleudern.
„Max, ich will mitfahren. Und wenn du mich nicht mitnimmst, dann wirst du auch mit mir ein echtes Problem haben. Ich lass mich nicht einfach abschieben. Besonders jetzt nicht, wo die kommenden Nächte höchstwahrscheinlich für längere Zeit die letzten sein werden, die wir miteinander verbringen können. Mein Vater hat mir geschrieben, dass es meiner Mutter gesundheitlich nicht gut geht und sie mich sehen möchte. Ich werde für einige Wochen nach Hause fahren müssen, um mich um sie zu kümmern.“ 
„Dann fahr doch gleich nach Russland. Und wenn es ihr wieder besser geht, kommst du zurück“, hakte Max sofort ein, da er unverhofft eine sehr günstige Gelegenheit sah, um sie problemlos abschieben zu können. 
„Nein! Ich fliege mit dir zuerst nach Ägypten. Und wenn du mir diese Bitte nicht erfüllst, werde ich der alten Coleman sagen, dass du zusammen mit dieser Mafia gemeinsame Sache gegen das Projekt gemacht hast.“ 
Für einen kurzen Moment hatte Max geglaubt, sich verhört zu haben. Doch Ekaterinas kalter Blick gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass dieses Miststück weit mehr zu wissen schien als ihm lieb war. Seine ohnehin schon blank liegenden Nerven wurden durch ihre Drohung noch weiter gereizt. Wie von einer Tarantel gestochen sprang er von seinem Stuhl auf und seine Hände umfassten brutal ihren Hals.
„Was hast du gesagt?“, flüsterte er, außer sich vor Zorn. Der Druck seiner Finger wurde immer fester, sodass Ekaterina nur noch sehr mühsam atmen konnte. Vergeblich versuchte sie, mit ihren Händen seinen eisernen Griff zu lockern. Mit angstvoll geweiteten und hervorquellenden Augen röchelte sie schließlich mit letzter Kraft: 
„Willst du mich jetzt auch umbringen?“ 
Rasch ließen ihn Ekaterinas Worte wieder zur Besinnung kommen und Max ließ seine Hände sinken. Sofort brachte sich Ekaterina aus der Gefahrenzone, während sie hustend an ihren schmerzenden Kehlkopf griff. 
„Du wirst mir doch nicht unterstellen wollen, dass ich mit Colemans Unfall etwas zu tun habe?“ 
„Da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher“, erwiderte sie röchelnd, obwohl sie nun wieder uneingeschränkt atmen konnte. 
„Ich habe absolut nichts mit dem Anschlag auf Jake Coleman zu tun“, stellte Max noch einmal mit allem Nachdruck klar. 
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls kennst du diese beiden halbtoten Killertypen im Krankenhaus ziemlich gut. Ich glaube kaum, dass diese Bekanntschaft einen guten Eindruck auf deine Geschäftspartner machen würde.“ 
Max ließ sich wieder auf seinen Sessel fallen, um seine Geliebte mit abschätzenden Blicken zu betrachten. 
„Anscheinend habe ich dich unterschätzt, denn du bist gar nicht so blöd wie ich immer gedacht habe. Was weißt du sonst noch über mich?“, wollte Max wissen und taxierte vorsichtig. 
Ekaterina zuckte unwissend mit ihren Achseln. 
„Was sollte ich sonst noch über dich wissen? Nichts natürlich. Schließlich kommst du nicht deshalb her, um mit mir deine geschäftlichen Angelegenheiten und privaten Probleme zu besprechen, sondern um den Sex zu holen, den du zu Hause nicht bekommst. Es hat sich damals rein zufällig ergeben, dass du hier einige Male wegen dieser Firmenpatente mit einem Mann telefoniert hast. Du solltest versuchen, Coleman und Barkhoff zu überreden, ihre Anteile an irgendein amerikanisches Syndikat zu verkaufen.“ 
In seiner derzeit ohnehin ziemlich angespannten Situation konnte sich Max absolut keine neuen Probleme mehr leisten. Er wusste nur zu gut, wie impulsiv, aber auch durchaus berechnend dieses Miststück handeln konnte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Eine einzige unüberlegte Aussage von Ekaterina und er hätte womöglich noch zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt die Polizei im Nacken sitzen. Max dachte kurz nach und kam schließlich zu der Einsicht, dass es wohl das Beste sein würde, sie doch mitzunehmen. In Ägypten würde sie noch am wenigsten Schaden anrichten können, weil er sie dort besser unter Kontrolle haben würde als hier. Waren aber erst einmal seine persönlichen Pläne umgesetzt, würde er keine Minute länger zögern und dieses kleine Flittchen mit einem Fußtritt nach Russland zurückbefördern. In letzter Zeit hatte die Kleine begonnen, ihn schon ordentlich zu nerven. Das waren genau jene Eigenschaften, die Max bei einer Frau absolut nicht leiden konnte. 
„O.k. Du kannst mitfliegen, wenn du noch einen Sitzplatz für morgen bekommst. Doch wenn Isabell und Lisi nachkommen, wirst du nach Hause fliegen. Ist das klar? Ich habe absolut keine Lust, dass ich mit euch aufsässigen Weibern da unten noch mehr Schwierigkeiten bekomme als es ohnehin schon der Fall ist.“ 
Scheinbar dankbar hatte ihn Ekaterina angelächelt und sich zwischen seine Beine gekniet. 
„Danke Max, das werde ich dir nie vergessen. Du wirst es sicherlich nicht bereuen, mich mitgenommen zu haben.

Kapitel 81

Erleichtert atmete Rainer durch. Ein letztes Mal hatte er alle wichtigen Papiere wie Aufzeichnungen, Zertifikate, Tabellen, Auflistungen, Kontrolllisten und Skizzen überprüft, um ja sicher zu sein, dass alle Unterlagen vorhanden und in Ordnung waren.
Morgen würde er endlich nach Ägypten aufbrechen. Sein Cheftechniker und sein Informatiker waren bereits vor drei Tagen in die Wüste aufgebrochen. Mit im Gepäck war ein voller Luftfrachtcontainer mit den drei zerlegten Hubschraubern und den anderen nötigen Behelfsmitteln, die für die Präsentation gebraucht wurden.
Die beiden Männer wollten auf jeden Fall den Transport der Hubschrauber überwachen, damit diese hoch empfindliche Fracht nicht nur ordnungsgemäß befördert wurde, sondern womöglich nicht auch noch „verloren“ ginge. Barkhoffs Mitarbeiter wussten natürlich, dass gewisse Kreise besonderes Interesse an ihren Babys hatten.
Die beiden Techniker wollten sich genügend Zeit nehmen, die Helis zusammenzubauen. Außerdem waren umfangreiche Testflüge in dem unbekannten Gelände notwendig, um unangenehme Zwischenfälle bei der Präsentation auszuschließen.
Rainer hatte Max gebeten, mit den einsatzbereiten Hubschraubern das zur Verfügung gestellte Gelände nach scharfen Minen absuchen zu lassen. Schließlich musste das abgesteckte Areal unbedingt sauber sein. Die zuständigen ägyptischen Behörden hatten zwar versichert, dass das Gebiet absolut sicher sei, doch Minen können mit dem Wüstenwind wandern und Vorsicht ist nun einmal die Mutter der Porzellankiste. Sollte einer der hochrangigen Gäste bei der Vorführung auf eine scharfe Mine treten, wäre das ein absolutes Desaster für die Coleman-Foundation, an dessen Auswirkungen Rainer gar nicht denken wollte. 
Luise kam in sein Büro und legte einige Mappen auf den Tisch, in die sie ihm alle Unterlagen fein säuberlich geordnet und beschriftet eingeheftet hatte. Rainer hatte zwar alles Nötige auf seinem Laptop gespeichert, aber Luises „Backup“ wollte er keinesfalls missen.
Dankbar lächelte er seine Sekretärin an. Es war schon weit nach 21 Uhr und Luise war noch immer im Büro. Sie war mindestens genauso aufgeregt wie er selbst. Ihr Gesicht strahlte freudige Erwartung aus, die Rainer zeigte, wie sehr sich Luise mit ihrer Arbeit und der Etablierung der Firma identifizierte. Wie schon so oft wurde ihm bewusst, wie richtig es gewesen war, sie wieder zurückzuholen.
„Luise, was tun Sie denn noch hier? Sie sollten doch schon längst zu Hause sein. Soviel ich weiß, wird doch heute Ihre Lieblingsserie im Fernsehen gespielt, die Sie sonst nie versäumen.“
„Das stimmt. Doch heute sowie in den letzten Tagen gab es hier im Büro ganz einfach viel mehr Action als mir die verwirrten Housewifes hätten bieten können.“
Mit einer ordentlichen Portion Schalk in den Augen zwinkerte ihm Luise freundlich zu, während sie die Zahlenkombination eingab, um Rainers Aktenkoffer zu öffnen. 
„Hab ich Ihnen schon gesagt, dass Sie eine ganz besondere Perle sind?“
Luise blickte wohlwollend von dem Zahlenschloss auf und erwiderte:
„Ja, das haben Sie mir schon mehr als einmal gesagt. Doch solche Komplimente hört man immer wieder gern.“
Sie nahm den Koffer, legte die Unterlagen hinein und stellte ihn mitten vor die Tür, damit Rainer ihn nicht übersehen und vergessen konnte. Dann ging sie noch einmal zu ihrem Chef zurück und reichte ihm bewegt die Hand. Rainer spürte förmlich den Kloß in ihrem Hals sitzen, als sie sagte:
„Herr Barkhoff, es grenzt fast an ein Wunder. Sie haben wirklich das Unmögliche geschafft. Ich bin furchtbar stolz, für so einen außergewöhnlichen Mann arbeiten zu dürfen. Wenn Sie mein Sohn wären, würde ich Sie in meine Arme nehmen und links und rechts auf die Wange küssen.“
Rainer stand auf und sagte ergriffen:
„Luise, es wäre mir eine große Freude und Ehre, wenn Sie das täten.“
Zutiefst bewegt und mit tränenfeuchten Augen drückte Luise ihren Chef an sich. Dann nahm sie beinahe mütterlich sein Gesicht in ihre Hände und holte ihn zu sich herab, um ihm liebevoll ein rasches Küsschen auf jede Wange zu drücken. Bevor sie ging, lächelte sie ihn noch einmal zu.
„Ich wünsche mir für Sie aus ganzem Herzen, dass Ihre Träume in Erfüllung gehen. Und damit meine ich nicht nur die Coleman-Foundation. Sie haben sie verdient.“
Rainer wusste natürlich sofort, was sie meinte und erwiderte dankbar ihr Lächeln.

Kapitel 82

Als Rainer am späten Abend endlich mit allen wichtigen Unterlagen bepackt zu Hause ankam, spürte er noch immer Isabells lieblichen Duft in der Luft hängen, der ihm schon so angenehm vertraut war. Mit geschlossenen Augen atmete er tief durch die Nase und ein ungemein warmes Gefühl von Freude und Zuversicht erfüllte ihn. 
In der vergangenen Woche hatte er Isabell fast jeden Tag gesehen, auch wenn es nur auf einen schnellen Mocca in dem winzigen Café um die Ecke war. Diese wenigen Tage, in denen der psychische Druck durch Max‘ Abwesenheit fast wie weggeblasen war, hatten sich ihre Gefühle füreinander ungehindert entfalten können. Wenn es auch ein wenig paradox anmutete, so hatte Rainer doch das Gefühl, dass diese monatelang künstlich aufrecht erhaltene Entfremdung Isabell erst so richtig klargemacht hatte, wie sehr sie zueinander passten. 
Gestern Abend hatte Rainer Isabell zu einem gemütlichen Abendessen in seine Wohnung eingeladen. Rainers Kochkünste waren allseits gefürchtet, daher verließ er sich lieber auf das perfekte Pekingenten-Menü seines Stammchinesen. Auf dem Nachhauseweg vom Büro legte Rainer daher noch einen kurzen Zwischenstopp im Chinarestaurant ein und machte sich dann, beladen mit den verschiedensten Leckerbissen, auf den Weg in seine Wohnung. 
Mit Ach und Krach schaffte er es gerade noch, den Tisch halbwegs festlich zu decken, als Isabell auch schon an der Tür läutete. Ihre wunderschönen grünen Augen glitzerten und leuchteten wie die eines jungen Mädchens, das sich zum ersten Rendezvous mit dem Mann ihrer Träume trifft. 
In den letzten Wochen hatte ihre Schwangerschaft sie in einer besonderen Weise erblühen lassen, was ihr Gesicht noch mehr strahlen ließ. Noch nie hatte Rainer Isabell schöner empfunden als an diesem Abend, obwohl das kleine Bäuchlein und der riesige Busen beim besten Willen nicht mehr zu übersehen waren. 
Anfänglich hatten Rainer Eifersucht und auch Wehmut bedrückt, dass dieses neue Leben nicht sein Kind sein sollte, sondern aus Max‘ Lenden entsprungen war. Doch nach dem Gespräch mit Angelina hatten sich diese Gefühle gewandelt. In jedem Fall würde dieses Kind auch sein Kind sein, das er genauso lieben und schützen wollte wie sein leibliches. Rainer fühlte bereits eine tiefe Verbundenheit mit diesem kleinen Wesen. Fast waren Isabell, das Baby und er schon zu einer richtigen Familie zusammengeschweißt. Nur um Lisi machte sich Rainer Sorgen. Würde sie so ohne weiteres akzeptieren, dass sich seine Rolle als guter Freund der Familie änderte und er ihren leiblichen Vater ins Abseits stellte? Rainer wusste nur zu gut, wie sehr die Kleine noch immer an ihrem Vater hing. Lisi war nach wie vor die unbekannte Größe. Doch im Gegensatz zu früher war Isabell nun nicht mehr bereit, auf ihr gemeinsames Leben zu verzichten.
Rainer und Isabell vermieden es aber, Zukunftspläne zu schmieden. Sie wollten zuerst diese Präsentation abwarten und sehen, was sich weiter ergeben würde. Sicher war aber, dass Isabell nicht mehr bereit war, mit Max nach Thailand auszuwandern. Die Beziehung zu ihrem Mann gehörte der Vergangenheit an. Außerdem hatte sie in der Zwischenzeit erkannt, dass dieses Hotelprojekt viel zu unsicher war, selbst wenn die benötigten 10 Millionen vorhanden gewesen wären. Zu guter Letzt würde es ihr aber unsäglich schwerfallen, aus Österreich wegzugehen und alles, was ihr lieb und teuer war, zurückzulassen. 
Isabell war daher sogar recht dankbar, dass Max ihr durch seine Affäre unweigerlich klargemacht hatte, dass er nicht gewillt war, sein Leben in ihrem Sinne zu ändern, um seiner Ehe und seiner Familie eine Chance zu geben. Sie würde nun keinem weiteren Versuch eines Neuanfangs mehr zustimmen. Max hatte sich im Laufe der Jahre in eine Richtung verändert, die Isabell nicht mehr nachvollziehen konnte und auch nicht wollte. Es fehlte inzwischen zu viel an der nötigen Verbundenheit und Nähe. Die Zeit war reif für grundlegende Veränderungen, aber auch dafür, auf ihr Herz zu hören. Endlich war sie nach langen Zweifeln so weit, ihren Wunsch zu verwirklichen und auch an ihr eigenes Leben zu denken.
Nachdem die beiden die leckere Ente verdrückt hatten, machten sie es sich im Wohnzimmer auf dem Sofa bequem. Isabell fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Vorbehaltslos gab sie Rainer zu verstehen, wie viel er ihr bedeutete und wie sehr sie ihn brauchte. 
Diese Gelegenheit nutzte Rainer auch, um Isabell das Kuvert mit den losen Fotografien von Max’ Schreibtisch zu geben. Hocherfreut, dass ihre alten Bilder wieder aufgetaucht waren und sie diese endlich wieder in die Alben einordnen konnte, zog Isabell den dicken Packen aus dem Kuvert. Voller Interesse ließ das Paar die Aufnahmen zwischen ihrer Geburt und ihrem 30. Geburtstag Revue passieren und Isabell begann in Erinnerungen zu schwelgen.
Plötzlich stieß sie auf ein altes Bild, auf dem sie kaum älter als zwölf Jahre war und auf einem Pferd saß. 
„Schau, da hatte ich meine erste Reitstunde.“
Ungläubig betrachtete Rainer die kleine Fotografie. Auf einer braunen Haflingerstute sitzend lächelte ein vielleicht zwölf jähriges Mädchen glücklich in die Kamera. Bis jetzt war ihm ihr Haar nie wirklich ins Auge gestochen. Auf den bisherigen Fotos war sie zumeist mit einer Schirmkappe oder Mütze zu sehen, in die sie ihr Haar gestopft hatte.
„Du hattest ja wunderschönes, rotblondes Haar, Isabell!“, stellte Rainer ungläubig fest und betrachtete das Foto genauer. Darauf hatte sie ihren Reithelm abgenommen, sodass ihre rote Haarpracht wie flammende Feuerzungen über ihre schmalen Schultern fielen.
„Ja, mit meiner rote Mähne war ich schon etwas Besonderes, aber leider auch oft genug Mittelpunkt von gemeinen Späßen und Spötteleien. Deshalb versteckte ich es auch, um damit sowenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Als ich dann älter wurde und den Kinderschuhen entwachsen war, habe ich dann begonnen, es braun zu färben. Seit dieser Zeit war es vorbei mit dem Rotfuchs.“
Ziemlich schweigend sah nun Rainer mit Isabell die restlichen Fotos durch. Fast bei jedem Foto plauderte sie munter drauf los, so dass ihr nicht auffiel, dass Rainer mit seinen Gedanken ganz woanders war. Nachdem Isabell das letzte Foto wieder ins Kuvert gesteckt und auf den Tisch zurückgelegt hatte, nahm sie Rainer an der Hand und führte ihn ins Schlafzimmer.
Bei diesem Akt der Vereinigung war Rainer weder stürmisch noch erfasste ihn eine Woge aufgestauter Wollust. Eher still und versonnen nahm er Isabell in seine Arme und liebte sie mit einer Bedachtheit und Faszination, als ob sie das erste Mal in seinen Armen läge. Jedes Lächeln, jede Bewegung und jeden Blick sog er wie ein trockener Schwamm in sich auf. Seine Vorsicht und Behutsamkeit ließ Isabell spöttisch lächeln.
„Liebster, ich bin nicht aus Zucker, nur schwanger..... und das von dir“, flüsterte sie ihm schließlich zärtlich ins Ohr.
„Was sagst du?“ 
Wie vom Blitz getroffen starrte Rainer seine Geliebte an. Sein sexuelles Empfinden war mit einem Schlag dahin. Isabell lächelte ihn mitfühlend an und legte seine Hand auf ihren gewölbten Leib. Glück und Freude war in ihren Augen zu lesen.
„Du hast mich richtig verstanden. Dieses Kind ist nicht von Max, sondern von dir. Es wird unser Baby sein.“
Rainer wusste nicht, ob er wachte oder träumte. Völlig durcheinander fühlte den straffen Bauch, in dem sein Sohn oder seine Tochter langsam heranwuchs. Obwohl Rainer geahnt hatte, dass das Kind von ihm sein könnte, hat ihn dieses plötzliche Geständnis doch ein wenig überfordert. Er brauchte Zeit, um diese unerwartete, doch zugleich so wunderbare Neuigkeit zu verdauen.
Noch einmal ließ er ihre letzten Worte in sich nachhallen, um ja sicher zu gehen, nichts Falsches verstanden zu haben. Nun kamen ihm auch wieder Angelinas Worte in den Sinn. Bei einem ihrer letzten Parkbankgespräche hatte sie ja schon anklingen lassen, dass er durchaus der Vater ihres Kindes sein könnte. Doch schnell hatte er ihre Vermutung in den Wind geschlagen. Isabell hatte damals absolut keinen Verdacht aufkommen lassen, dass auch er als Vater in Frage kam. Doch Rainer hätte wissen müssen, dass Angelinas Hinweise immer ins Schwarze trafen.
Irritiert schob Isabell seine Hand weg und setzte sich auf. Rainers plötzliche Teilnahmslosigkeit hatte sie zu verunsichern begonnen. 
„Wenn ich gewusst hätte, dass dich diese Neuigkeit so aus der Bahn wirft, hätte ich das Geheimnis lieber für mich behalten,“ sagte sie frustriert. 
Sofort war Rainer mit seinen Gedanken wieder bei Isabell. Die Überraschungen der letzten Minuten hatten ihn in einen ungeheuren Aufruhr versetzt, sodass er nur stockend sprechen konnte:
„Verzeih, Isabell. Ich bin noch völlig durch den Wind und muss mich erst fangen. Doch wenn ich der Vater deines Babys bin, dann hast du mich gerade zum glücklichsten Mann auf dieser Welt gemacht.“
Noch völlig benommen, aber strahlend vor Glück schloss er die Mutter seines ungeborenen Kindes wieder in seine Arme und drückte sie zärtlich an sich. Niemals hatte sich Rainer Isabell näher gefühlt als in diesem Moment und ein nie gekanntes Glücksgefühl durchrieselte ihn. 
„Wir werden Eltern, Isabell. Ist das nicht wunderbar? Ich bin so…“ 
Rainers Stimme versagte nun völlig und Tränen des Glücks verschleierten seine Augen.
Noch lange, nachdem Isabell in seinem Arm eingeschlafen war, lag er wach und starrte in die Dunkelheit. Wie konnte er nur so verblendet sein und das so Offensichtliche nicht erkennen? Hatte ihn nicht Angelina darauf hingewiesen, dass Traum und Wirklichkeit oft nur durch einen Windhauch voneinander getrennt waren? Wie oft hatte sie ihn schon darauf aufmerksam gemacht in sich hineinzuhorchen und seine Träume nicht ignorieren, denn sie würden ihm den Weg weisen, wer er wirklich war. Als ob man in seinem Kopf einen Schalter umgelegt hätte, erkannte er plötzlich klar und deutlich, dass Isabell nicht nur die geliebte Frau und baldige Mutter seines Kindes war, sondern viel, viel mehr.
Isabell war die Liebe seiner vielen Leben. Sie war ihm durch Zeit und Raum gefolgt 
und hatte ihn nie verlassen. Immer mehr begann Rainer nun zu erkennen, dass sich der Kreis langsam zu schließen begann…

Seufzend stellte Rainer seinen Laptop und die Aktentasche im Vorzimmer seiner Wohnung ab. Wie gerne hätte er Angelina noch vor seiner Abreise von den wunderbaren Ereignissen der letzten Tage berichtet. Doch seine Freundin schien wie vom Erdboden verschluckt. 
Rainer ging früh zu Bett. Am nächsten Morgen musste er zeitig aus den Federn, um Isabell und Lisi abzuholen. Gemeinsam wollten sie dann zum Flughafen fahren.
Obwohl die Müdigkeit tief in seinen Knochen saß, konnte er keinen tiefen Schlaf finden. Die Aufregung, Vorfreude, aber auch ein gewisses Bangen bewegten ihn so sehr, dass er sich ruhelos von einer auf die andere Seite seines Bettes wälzte. Immer wieder zogen kurze Sequenzen seiner schicksalsträchtigen Träume an ihm vorüber und er fühlte sich abwechselnd in das Leben von Ruak, Raoul oder Ranolfo hineinversetzt. Seine Träume begannen sich immer mehr miteinander zu vermischen, bis Rainer nicht mehr wusste, wer er war. Plötzlich fuhr er hoch, saß aufrecht im Bett und blickte benommen um sich. Erleichtert atmete Rainer durch, als er sah, dass er in seinem Bett saß und nicht wieder im Cockpit eines abstürzenden Flugzeugs.
Die irisierende Scheibe des Vollmondes warf ihr mattes Licht durch die schrägen Dachfenster. Einem inneren Impuls folgend stand Rainer auf und ging ins Wohnzimmer. Dort öffnete er die Terrassentür, trat hinaus und stützte sich an der Balustrade ab. Der kühle, aber durchaus angenehme Nachtwind wehte sanft durch die Platanen des Parks. Vor knapp einer Woche hatte der Knospensprung eingesetzt, sodass nun das frische, grüne Blätterkleid der Bäume den direkten Blick auf die verschlungenen Gehwege der Parkanlage schon ziemlich verwehrte. 
Plötzlich spürte Rainer einen intensiven Energiefluss, der von Angelinas Parkbank herrührte. Doch auch der Mond beschien die Stelle des Parks mit einem besonderen, bläulichen Licht, das ihn an seine Träume erinnerte.
Sie war da. Erleichtert schloss er die Terrasse und zog sich an. Dann eilte er durchs Stiegenhaus hinab zur Tür hinaus. Keinesfalls wollte er Angelina verpassen. Zusammengesunken saß sie inmitten ihrer in Plastiktaschen verstauten Halbseligkeiten auf der Parkbank. Im Kegel des silbernen Mondlichtes wirkte sie nun fast wie ein Wesen aus einer längst vergangenen Welt.
Angelina trug nun wieder ihren zerlumpten Lodenmantel, in dem sie nun noch bemitleidenswerter aussah. Als sie Rainers Schritte hörte, wandte sich die blinde Frau ihm zu und schenkte ihm ein warmes Lächeln.
Für einen Moment verharrte Rainer im Schritt und blickte in ihr faltiges und so liebevolles Gesicht. Noch nie hatte ihn diese Woge von Wärme und Liebe für Angelina mehr erfüllt als in diesem Moment. In ihrer Nähe fühlte sich Rainer zu Hause und verstanden, sicher und geborgen, wie im Schoß einer liebenden Mutter.
„Komm doch näher, Junge. Warum verweilst du so fern von mir?“, rief sie ihm mit klarer Stimme zu, die ihn an das klare Geplätscher eines Gebirgsbaches erinnerte. Ihre geschliffene Ausdrucksweise hatte plötzlich nichts mehr mit ihrer ehemals sehr primitiven Artikulation gemein, die er manchmal kaum verstanden hatte. Irgendwie passte diese jugendliche, ungemein kraftvolle Stimme nicht zu einer alten, zittrigen Bettlerin. Verwundert kam Rainer näher und blickte auf seine Freundin hinab. Doch nicht nur ihre Stimme schien verändert. Sie selbst erschien ihm anders, obwohl sie doch genauso aussah wie immer. Eine besondere Aura ging von ihr aus, die sie fast überirdisch erscheinen ließ. 
Rainer nahm ihre kalten Hände und drückte sie zärtlich:
„Hallo Angelina. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.“ 
„Glaub mir, Junge, du wärst sicherlich der letzte Mensch, den ich vergessen würde. Außerdem warst du in den letzten Tagen ohnehin so beschäftigt, dass du keine Zeit für mich gehabt hättest“, fuhr sie fort und zog ihn dabei sanft an ihre rechte Seite.
„Da kann ich dir nicht widersprechen, meine Liebe. Doch wieso kommst du denn heute so spät?“, fragte Rainer verwundert, während die Turmuhr der Karlskirche die zweite Stunde schlug. 
„Ich war ein wenig unpässlich und konnte nicht früher kommen. Doch keine noch so üble Krankheit hätte mich davon abhalten können, dir eine gute Reise zu wünschen.“
„Du hast doch hoffentlich nichts Ernstes gehabt?“, fragte Rainer besorgt.
„Woher denn. Kennst du ein Unkraut, das verdirbt?“, kicherte sie munter drauf los, sodass ihr zahnloser Kiefer zu zittern begann.
Doch Rainer stieg auf ihren lockeren Plauderton nicht ein.
„Im Ernst, Angelina, wenn du krank bist, dann lass ich dich durchchecken. Ich will, dass es dir gut geht. Du musst schon deshalb gesund bleiben, weil ich dich ganz einfach brauche. Der einzige Mensch, dem ich uneingeschränkt mein Herz ausschütten kann, ohne für verrückt gehalten zu werden, bist du.“
Wie immer, wenn ihr Herz voller Liebe war, strich Angelina mit ihrer Hand zärtlich über seine stoppelbärtige Wange.
„Junge, auf mich kannst du zählen. Ich werde dich nie verlassen.“
„Ja, ja, das sagst du nur so dahin, um mich zu beruhigen. Doch dann bist du plötzlich weg, kommst womöglich nicht wieder und ich hab keine Ahnung, was mit dir ist.“ 
Angelina musste über Rainers unbegründete Sorgen lächeln. Doch dann wurde sie wieder ernst und ein Schatten von Trauer verklärte ihr Gesicht.
„Vertrau mir, Junge. Du wirst mich immer spüren, selbst wenn ich einmal nicht mehr da sein werde. Mein Seele wird dich stets begleiten und dir zur Seite stehen.“
Fragend blickte Rainer seine Freundin an und eine dunkle Vorahnung ließ in frösteln. 
„Du bist heute so anders, Angelina. Nicht nur deine gewählte Ausdrucksform irritiert mich, du scheinst auch irgendwie wehmütig zu sein. Kann es sein, dass du dich von mir verabschieden möchtest?“
„Stimmt, das war ja auch der Grund, wieso ich gekommen bin. Schließlich trittst du heute eine schicksalsträchtige Reise an, für die ich dir alles Gute wünschen möchte. Deshalb versuche ich auch ordentlich zu sprechen, damit du ganz genau verstehst, was ich dir zu sagen habe.“
„Nein, Angelina, dein Abschiednehmen fühlt sich so endgültig an“, ließ sich Rainer nicht beirren.
„Unsinn. Das macht bloß der Vollmond. In diesen Nächten sind so alte Hexen, wie ich eine bin, immer ein wenig wunderlich. Das machen die Spannungsfelder, auf die Menschen meines Schlages ein wenig sonderbar reagieren.“
„Um Ausreden scheinst du niemals verlegen zu sein. Woher weißt du eigentlich, dass ich heute wegfliege? Ich kann mich nicht erinnern, es dir gesagt zu haben?“
„Schön langsam solltest du wissen, dass ich immer ein bisschen mehr weiß als andere“, zwinkerte sie schelmisch und tippte mit ihrem Zeigefinger auf ihren schwarzen Zahnstummel.
„Ich bin aber nicht gekommen, um über mich zu sprechen, sondern ich will wissen, was es bei dir Neues gibt. Hattest du wieder einen aufregenden Traum, den ich noch nicht kenne?“, lenkte Angelina das Gespräch auf eine andere Ebene.
„Nein, Angelina, neue Träume gab es keine mehr. Dafür bot mir die Realität mehr als genug Aufregung“, erwiderte Rainer erschöpft und ließ sich in die Lehne der Parkbank zurückfallen. 
„Dann schieß einmal los. Schließlich bin ich heute nicht zum Betteln hier, sondern um meine Neugier zu stillen.“
Es tat gut, wie sehr Angelina an seinem Leben Anteil nahm und sein derzeit sehr turbulentes Leben voller Interesse mitverfolgte. Im Zeitraffer ließ Rainer das letzte halbe Jahr vor seinem inneren Auge vorbeiziehen, bis er nachdenklich erwiderte:
„Weißt du, Angelina, manchmal kann ich es gar nicht glauben, wie sehr sich mein Leben in den letzten Monaten verändert hat. Nicht nur, dass mich das Projekt der Minensuche absolut vereinnahmt hat, nein, auch mein stilles und ereignisloses Leben neben meinem Job hat sich völlig verändert. Aus dem braven und biederen Unternehmensberater, der immer auf der rechten Kriechspur der Autobahn dahingetuckert war, ist ein waghalsiger Rallyefahrer geworden. Ich bewege mich nun auf der Überholspur und hupe alle lahmen Enten von der Fahrbahn, weil ich meine Geschwindigkeit nicht drosseln kann und auch nicht will.“
„Das ist doch ein gutes Zeichen für deine Weiterentwicklung. Du bist eben ein dynamischer und entscheidungskräftiger Geschäftsmann geworden“, unterbrach ihn Angelina stolz.
„Ja und nein. Diese Veränderungen sind so rasant vor sich gegangen, dass mein ureigenstes Ich oft nur schwer mithalten kann. Ich finde kaum die Muße, über die neuen Ereignisse und Eindrücke nachzudenken. Mehr als einmal habe ich Entscheidungen rein aus dem Bauchgefühl heraus getroffen, weil für längere Überlegungen ganz einfach keine Zeit war.“ 
„Es stimmt wohl, dass du in den letzten Monaten sicher mehr erlebt hast als der Großteil der Menschen in ihrem ganzen Leben nicht erfahren werden“, pflichtete ihm Angelina voller Anteilnahme bei.
„Diese einschneidenden Veränderungen, die äußerst turbulenten Ereignisse in deinem Leben und die daraus resultierende Erkenntnis, wer und was du bist, ließen dich echte Quantensprünge in deiner geistigen Entwicklung machen. Ja, in vielem bist du ein anderer geworden, doch im Grunde deines Herzens bist du immer derselbe geblieben.“
„Findest du wirklich? Meine realen Erlebnisse haben mich manchmal so hart ans Limit getrieben, dass ich daran zweifle. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass meine Träume wesentlich intensiver zu meiner geistigen Weiterentwicklung beigetragen haben, als mir bewusst ist. Zu vieles weist in meinem Leben darauf hin, dass meine Träume nicht fiktiv sein können. Ich habe endlich erkannt, dass ich das Leben von jedem dieser drei außergewöhnlichen Männer gelebt habe. Diese Einsicht hat mich anfänglich in echte Panik versetzt. Ich habe versucht, die Tatsache zu ignorieren, wer und was ich einst gewesen bin. Doch immer wieder ließen mich diese drei Männer auf sehr eindringliche Weise spüren, dass ich vor meiner Vergangenheit nicht davonlaufen kann. Natürlich hast auch deinen Teil dazu beigetragen, dass ich meine Träume nicht als Hirngespinste in den Wind schlage. Du hast mir auch gezeigt, dass sie etwas Besonderes für mich bereithalten und weisend für mein weiteres Leben sind. Bis jetzt bin ich mir immer selbst im Weg gestanden, so dass mir der Durchblick fehlte. Doch jetzt ist mir endlich ein Licht aufgegangen. Nicht nur, dass ich mit Ruak, Raoul und Ranolfo durch Raum und Zeit untrennbar verbunden bin, auch Isabell war in meinen Träumen stets präsent. Gestern ist es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich habe endlich erkannt, dass sie mich in all meinen vorhergegangenen Leben begleitet hat und mir nun wieder zur Seite steht. Ruak liebte seine Schwiegertochter Elia, für Raoul war Irene seine große Liebe und Ranolfo fand durch Isidora zum Sinn seines Lebens. Und jetzt ist Isabell für mich die absolute Erfüllung. Was den Stein dann aber wirklich ins Rollen brachte, war die Tatsache, dass mir Isabell gestanden hat, dass sie ihr Kind von mir und nicht von Max erwartet. Plötzlich hatte ich den Durchblick. Elia hatte zwar keine Tochter von Ruak, aber die Kleine war sein Enkelkind und trug daher auch seine Gene. Als ich im Internet nach Irene suchte, fand ich einen kurzen Artikel, wo sie zusammen mit ihrem Mann Albert Raabe und ihrer gemeinsamen Tochter erwähnt wurde. Ich war sehr enttäuscht, dass sie unmittelbar nach dem Krieg meinen Mörder geheiratet hatte und ihm so kurze Zeit später bereits eine Tochter gebar. Dabei bin ich ganz einfach viel zu kurzsichtig gewesen, um zu erkennen, dass dieses Kind nur meine Tochter sein konnte. Irene hat mich geliebt. Nach dem Krieg bestand doch auch kein Grund mehr dafür, so überstürzt zu heiraten. Im Gegenteil, gerade sie hätte warten müssen, denn es war damals sicherlich nicht gerade einfach, als Jüdin einen deutschen Fliegeroffizier zu heiraten. Außerdem hätte sie sicherlich gewartet, um zuerst einmal über meinen Tod hinwegzukommen. Der einzige Grund für diese überstürzte Hochzeit konnte daher nur unser ungeborenes Kind sein. Dieses Kind war meine Tochter, die sie nicht ohne Vater aufwachsen lassen wollte. 
Und Isidora hat mir in der Stunde meines Todes gestanden, dass auch ihre Tochter mein Kind war. Wenn ich mir die Beweggründe meiner Mörder jetzt vor Augen halte, laufen diese immer wieder auf dasselbe Motiv und die ähnlichen Verhaltensmuster hinaus. Es war unbändige Eifersucht, die meine Mörder zu ihren Taten trieb. Deshalb befürchte ich, dass diesmal Max mein Gegenspieler sein könnte und mir demnächst den Garaus machen will. Er passt einfach zu gut in das Schema 
Angelina wandte sich ihm erneut zu und lächelte ihn stolz an:
„So ist es. Diese drei Männer leben in dir weiter. Du bist ihre Inkarnation und vereinst all das Gute von ihnen in deiner Seele. Um dein Ziel zu erreichen, deine Berufung zu erfüllen, musst du wissen wer du bist.“ 
Überrascht blickte Rainer auf die blinde Frau hinab.
„Glaubst du wirklich, dass ihre Seelen in mir weiterleben?“ 
Rainers überraschtes Staunen ließ Angelina fast unwillig erwidern:
„Im Großen und Ganzen bist du ein ziemlich gewieftes Bürschchen. Doch manchmal lässt du mich sehr an deinem Scharfsinn zweifeln. Natürlich sind diese drei Männer in dir. Wo sollten sie sonst sein?“
Angelina unterbrach sich für einen Moment, um ihren aufkeimenden Unmut wieder abklingen zu lassen. Dann umfasste sie fest seine Hände und sprach eindringlich auf ihn ein:
„Deshalb sei klug, Junge, und verstehe dieses Wissen zu nutzen. Es ist ein kostbarer Schatz, den dir unsere Urmutter geschenkt hat. Horch in dich hinein, halte mit deiner Seele Zwiesprache und mach dir die Erkenntnis zunutze, zu wissen, wer und was du wirklich bist. Denke nicht eindimensional, sondern in verschiedenen Ebenen. Die Seelen dieser drei Männer sind in dir vereint. Da ist die Kraft und die Klugheit des Schamanen, der Dichter, der dich Poesie lehrte und den Grundstein für das Schöne und Gute in dir legte, und zu guter Letzt der Freidenker und Revoluzzer, der sich nicht beirren ließ und dir den Sinn für Gerechtigkeit, Zielstrebigkeit, Loyalität und absolutes Vertrauen in deine Berufung vermittelte. Doch das Wichtigste und die oberste Tugend, der Motor, der dich in allen deinen Leben immer weiter trieb und Wunderbares vollbringen ließ, war immer nur die Liebe.“
Rainer fühlte, wie sehr Angelinas Worte in seiner Seele widerhallten. Als ob sich ein riesiges Tor öffnete, durchströmten plötzlich Licht und Kraft seinen Geist und seinen Körper. Angelina nickte leicht mit ihrem Kopf und lächelte ihn wissend an. 
„Junge, du hast eine wichtige Aufgabe zu erfüllen und kannst deinem Schicksal nicht entrinnen. Dein letzter Kampf hat längst begonnen. Doch dieses Mal hast du den Vorteil zu wissen, wo die Gefahr lauert. Also nutze dieses Geschenk, sei vorsichtig und handle mit der Überlegenheit dieser drei Seelen, die in dir ruhen.“

Das zarte, noch verschlafene Gezwitscher der Vögel im Geäst der Bäume kündigte das erste Morgenerwachen an. Der schwarze Nachthimmel ging langsam in ein blau-graues Licht über, das diffus über der noch schlafenden Stadt schwebte. Ein leichter, kühler Morgenwind spielte mit Angelinas Haar, fing es ein und wehte ihr dünne Strähnen ins Gesicht. 
Rainer blickte auf seine Uhr und stellte erstaunt fest, dass es bereits halb fünf war. 
„Schon so spät?“
„Ja, Junge, es wird Zeit aufzubrechen“, sagte Angelina traurig und strich das Haar aus ihrem faltigen Gesicht.
„Ich weiß. Die Zeit ist so furchtbar schnell vergangen, wie immer, wenn ich mit dir zusammen bin.“
Angelina stimmte ihm lächelnd zu.
„Tust du mir einen Gefallen, bevor du gehst?“
„Jeden, den du willst.“
Angelina hob jene ihrer vielen Plastiktaschen hoch, in dem der Mantel seiner Mutter verstaut war.
„Kannst du für mich den Mantel bis zum nächsten Winter aufbewahren? Es ist ziemlich mühsam, ihn überall mitzuschleppen, wenn es jetzt wieder warm wird.“
„Natürlich, Angelina. Das mach ich doch gern. Soll ich sonst noch etwas für dich aufbewahren?“, fragte Rainer und griff nach dem prall gefüllten Tragesack. 
„Nein, das ist das Einzige, worum ich dich bitte, außer dass du mir versprichst, vorsichtig zu sein und gesund zurückzukommen.“
„Das werde ich, meine liebste Angelina.“
Rainer spürte den Kloß in ihrem Hals sitzen. Auch er war zutiefst bewegt. Zärtlich legte er seinen Arm um ihre Schultern. Während er die alte Frau an sich drückte, sog er ihren wunderbar vertrauten Duft ein. Angelina lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schloss ihre blinden Augen. Für beide war dieser Moment der stillen Eintracht, Nähe und geistigen Intimität wunderschön berührend. Rainer hatte keine Ahnung, wie lange sie so still und reglos in dieser Umarmung verweilten. Völlig in seine Gedanken versunken und in dem unsäglich angenehmen Gefühl, sich in der Nähe dieser wunderbaren Frau zu befinden, hatte er Zeit und Raum um sich herum vergessen. 
Plötzlich setzte sich Angelina auf hin und zog eine goldene Kette über ihren Kopf, an der ein kleiner Anhänger pendelte. Er war eine winziges und äußerst filigran gearbeitetes bauchiges Fläschchen, dessen Inhalt hellgrauem, feinem Sand glich.
Während sie mit ihrer Hand nach seinem Gesicht suchte und Rainer dann die Kette vorsichtig über den Kopf zog, sagte sie bewegt:
„Ich will, dass du diese Kette trägst. Sie soll dein Talisman sein, wenn du dort unten in Afrika deine Minen oder sonst was in die Luft jagst. Doch vor allem soll er dich vor jenen Menschen beschützen, die dir schaden wollen.“
„Aber Angelina, dieses Geschenk ist doch viel zu wertvoll. Wenn du dieses Schmuckstück verkaufst, kannst du dir einige schöne Tage machen und es dir gut gehen lassen.“
„Weißt du, Junge, gewisse Dinge kann man nicht verkaufen. Man kann sie nur verschenken. Und dieser Talisman ist eines jener wenigen Dinge, die zu wertvoll sind, als dass man sie mit Geld aufwiegen kann.“ 
Noch nie hatte Rainer ihre Zuneigung mehr gespürt wie in diesem Augenblick. Er berührte den kleinen, in Gold gefassten Glasbehälter und fragte neugierig:
„Was ist da drinnen, Angelina?“
Die alte Frau lächelte ihn verschmitzt an.
„Es ist Feenstaub, mein Junge. Er wird dich beschützen, wo immer du bist.“
„Feenstaub?“, wiederholte ungläubig.
„So etwas gibt es doch gar nicht.“
„Meinst du?“, erwiderte sie und ihr überlegener Gesichtsausdruck ließ ihn sofort an seinen Worten zweifeln.
Rainer war von der Parkbank aufgestanden und blickte aufgewühlt und gerührt zugleich auf die uralte Frau hinunter. 
„Wenn du es sagst, dann will ich es glauben.“ 
Dann griff er nach Angelinas kalten Händen und zog sie zu sich hoch. Ein letztes Mal umarmte Rainer seine Freundin und drückte sie in liebevoller Dankbarkeit an sich.
Doch dieses Mal beschwerte sich die alte Frau mit keinem Wort über den festen Druck seiner Arme. Dann blickte er betrübt in ihre milchig-weißen Augen und sagte ernst: 
„Abschied nehmen heißt immer auch ein bisschen sterben. Eine innere Stimme sagt mir, dass du nicht mehr da sein wirst, wenn ich wiederkomme. Bitte sag mir, dass ich mich irre, Angelina.“
Statt einer Antwort griff sie mit beiden Händen nach seinem Gesicht und blickte ihm direkt in die Augen. Plötzlich hatte Rainer das untrügliche Empfinden, dass sie ihn sehen konnte, denn jede Einzelheit seines Gesichtes spiegelte sich in ihrem Ausdruck wider. Sie holte seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn zärtlich auf die Wange.
„Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dich niemals verlassen werde. Ich werde immer für dich da sein, weil du der Sinn meines Seins bist.“
Rainer fühlte die Schwere ihrer Worte tief in sich drinnen und sah sie verwundert an. Wie so viele Male schon fragte er sie nun ein letztes Mal:
„Wer bist du, Angelina?“
Doch sie lächelte ihn nur schweigend an und nahm ihre Säcke und den Blindenstock.
„Bon Voyage, Junge.“ 
Mit ihren links und rechts baumelnden Plastiktaschen ging sie mit vorsichtigen Schritten den Weg zur U-Bahn-Unterführung hinunter. Wehmütig blickte Rainer seiner Freundin nach, bis er sie schließlich aus den Augen verlor. 

Kapitel 83

Rainer hatte Isabell und Lisi abgeholt und fuhren gemeinsam zum Flughafen. Lisi war in heller Aufregung. Es war das erste Mal, dass sie ihre Osterferien am Meer und nicht in Oberösterreich bei ihren Großeltern verbringen würde. Die Kleine freute sich schon so wahnsinnig auf die warmen Tage am Strand, dass sie vor Aufregung kaum stillsitzen konnte.
Rainer und Isabell konnten dieser Vorfreude nur wenig abgewinnen. Für sie würde nicht viel Zeit zum Baden und zum Entspannen bleiben, da weit wichtigere Dinge im Vordergrund standen. Obwohl die Beiden kein Wort über ihre Probleme wechselten, wussten doch beide, dass diese Reise kein entspannendes Seelenbaumeln sein würde. Isabell war ohnehin dagegen gewesen das Kind auf diese Reise mitzunehmen. Doch gegen Max und Lisi hatte sie keine Chance gehabt, ihren Willen durchzusetzen.
Rainer und Isabells Stimmung wurde auch nicht gerade gehoben, als sie von Max am Flughafen Hurghada abgeholt wurden. In den wenigen Tagen seines Aufenthaltes hier war Max bereits tiefbraun im Gesicht, sodass seine eisblauen Augen einen noch stärkeren Kontrast bildeten. Sein kalter Blick ließ keinen Zweifel aufkommen, wie sehr er verabscheute, Rainer zusammen mit seiner Frau und Tochter die Empfangshalle betreten zu sehen. Die intime Verbindung zwischen den beiden spürte Max sofort. Tausend Gedanken schossen Max durch den Kopf, die zu analysieren er jetzt aber absolut keine Zeit hatte. Doch sein fast unbändiger Hass würgte ihm fast die Kehle zu, als er die drei wie eine kleine, traute Familie auf sich zukommen sah. Sein wie zu Stein erstarrtes Gesicht veränderte sich jedoch sofort zu einem glücklichen Lächeln, als Lisi ihn erblickt hatte und erfreut auf ihn zustürmte. Max drückte sein kleines Mädchen an sich und küsste es liebevoll auf die Stirn. Die anschließende Begrüßung zwischen ihm, seiner Frau und Rainer fiel dafür umso frostiger aus. Jeder der drei Erwachsenen spürte das intensive Spannungsfeld, das wie ein drohendes Damoklesschwert über ihnen zu schweben schien. 
Max chauffierte die Ankömmlinge zum Hotel am Strand vom Sharm el-Sheikh. Um das unangenehm beklemmende Schweigen während der Fahrt ein wenig zu mildern, fragte Rainer, ob es bei der Vorbereitung für die Präsentation irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hatte und wie die ersten Testflüge der Drohnen in der Wüstenluft ausgefallen waren. Ohne besondere Begeisterung informierte Max seinen Geschäftspartner darüber, dass die ägyptische Regierung bisher äußerst kooperativ mitgearbeitet hatte und der „Coleman-Foundation“ jede nur mögliche Hilfe angedeihen ließ. Das zugewiesene Testgelände lag keine 30 Minuten vom Hotel und gut eineinhalb Stunden vom Flughafen entfernt. Die Gäste konnten gegebenenfalls noch am selben Tag wieder nach Hause fliegen, wenn sie nicht im nahe gelegenen Urlaubsort nächtigen wollten. 
Rainer blickte aus dem Fenster. Der kurze Frühling war hier schon wieder abgeklungen und die flimmernde Hitze durch die intensive Sonneneinstrahlung hatten den Boden bereits wieder ausgetrocknet, sodass die dürstende Erde mit ihren vielen Spalten und den Unmengen von Staub ziemlich ungepflegt und verwahrlost wirkte. Der harte Kontrast mit dem frischen Grün und der lauen Luft seiner Heimat machte Rainer zu schaffen. In Momenten wie diesen wusste Rainer zu schätzen, in Mitteleuropa leben zu dürfen.
Bei der Gelegenheit teilte Rainer Max gleich mit, dass er einige wichtige Termine mit hochrangigen Vertretern aus verschiedenen interessierten Ländern wahrnehmen musste, bei denen er auch Max als seinen Co-Geschäftsführer und Partner dabeihaben wollte. Schließlich wollte er die „Coleman-Foundation“ so kompetent wie möglich präsentieren. Deshalb war es besser, gemeinsam als komplette Geschäftsführung aufzutreten, um auch optisch mehr Charisma und Glaubwürdigkeit auszustrahlen. Es war ursprünglich auch Rainers Wunsch gewesen, Grace als Witwe des Gründers und Mentors bei diesen Gesprächen dabeizuhaben. Doch wie zu erwarten war, hatte sie das abgelehnt und vorgezogen, als stille Beobachterin im Hintergrund zu bleiben. Aufgrund des dicht gedrängten Terminkalenders würde Rainer erst in zwei Tagen das Testgelände in Augenschein nehmen können. Die noch verbleibende Zeit war recht knapp bemessen, denn schon in vier Tagen musste die Vorführung über die Bühne gehen. Es war ihm daher nichts anderes übriggeblieben, als alle notwendigen Vorbereitungsarbeiten zur Errichtung der nötigen Infrastruktur um das bereits präparierte Testgelände an Max zu delegieren. Rainer konnte jetzt nur hoffen, dass Max das nötige Engagement und die Umsicht aufbrachte, damit bei der Präsentation keine Pannen entstehen würden.
Der weitläufige Hotelkomplex war in typisch orientalischem Stil gehalten. Die sandfarbene Anlage glich mit ihren eng aneinandergereihten, niedrigen Bungalows um zwei riesige Swimmingpools eher einem kleinen Dorf als einem Hotel. Die Gäste hatten die Möglichkeit, direkt von ihren Appartements zum Pool oder an den Strand zu gehen oder auf schmalen Spazierwegen durch gepflegte Grünanlagen und Palmenhaine zu wandeln. 
Lisi jubelte vor Freude laut auf, als sie die Pools sah, in deren Mitte sich kleine Bars befanden, wo Getränke, Erfrischungen und lecker angerichtetes Eis angeboten wurden. Am weißen Sandstrand waren unzählige Sonnenschirme aufgestellt, die kleinen Palmen glichen und deren Anblick beinahe ein Gefühl von Südseezauber aufkommen ließ.
Doch all diesem Luxus schenkte Isabell nur wenig Aufmerksamkeit. Sie sehnte sich nach dieser unbeschreiblich schönen Woche zurück, die sie zum Großteil mit Rainer verbracht hatte. Noch gestern fühlte sie sich leicht und beschwingt wie ein über beide Ohren verliebtes Mädchen. Seitdem sie Rainer anvertraut hatte, dass er der Vater ihres ungeborenen Babys war, fühlte sie sich ihm noch näher. Zuerst hatte er die Bedeutung ihrer Worte nicht so recht verstanden und sie nur begriffsstutzig und dümmlich angeblickt. Doch als sie ihm dann noch einmal und in aller Deutlichkeit gesagt hatte: „Du wirst Vater!“, hatte es für Isabell plötzlich den Anschein gehabt, als ob diese kurze, doch so gravierende Aussage der Auslöser war, dass sich tief in seinem Inneren etwas zu verändern begonnen hatte. In dieser Nacht hatte Rainer sie mit einer ganz besonderen Innigkeit, einer tief unter die Haut gehenden Intensität und einer schier unstillbaren Sehnsucht geliebt, so als ob er vorher noch niemals ihre Haut berührt, ihren Duft geatmet und ihre Stimme gehört hätte. Die Behutsamkeit und Bedachtheit seiner Berührungen hatte Isabell dermaßen intensiv empfunden, als ob er sich jede Bewegung, jedes Lachen und jeden Lustschrei auf ewig in seine Seele einbrennen wollte. Noch nie hatte sie ihn mehr geliebt als in dieser wunderbaren und unvergleichlichen Nacht.
Doch das bittere Erwachen war vorprogrammiert gewesen. Wie sollte sie nach solch glücklichen Tagen und einer dermaßen erfüllten Nacht jemals wieder neben und mit einem Mann schlafen können, dessen einziges Sinnen und Trachten auf Besitz und reinen Flüssigkeitsaustausch fokussiert war. Allein der Gedanke, jemals wieder seine unsensiblen Berührungen und nassen Küsse ertragen zu müssen, jagten Isabell Kälteschauer über den Rücken.
Die nächsten Tage würden sicherlich zu den härtesten ihres Lebens zählen. Sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen, denn schließlich würde diese Präsentation die Zukunft von ihnen allen bestimmen. Wenn dieses Spektakel hoffentlich reibungslos über die Bühne gegangen sein würde, dann würde sie Max in aller Klarheit sagen, dass sie von ihm trennen würde. Um ihm den Abschied leichter zu machen, wollte sie auf alle Besitzansprüche aus dem gemeinsam erworbenen Vermögen verzichten. Nicht nur mit Rainers Hilfe würde es ihr gelingen, sich und Lisi sicher über die Runden zu bringen, sondern sie wollte gleich nach ihrer Rückkehr ihre Kündigung an der Schule wieder rückgängig machen.
Isabell bedauerte es zutiefst, dass Grace in letzter Minute abgesagt hatte und nicht mitgeflogen war. Der Tod ihres Mannes belastete sie einfach noch zu sehr. Bis jetzt hatte sie noch nicht genügend Abstand gewinnen können, um mit Freude dabei zu sein, wenn Jakes Lebenswerk endlich aus der Taufe gehoben werden sollte. Die Freundschaft der beiden Frauen hatte sich in den letzten Monaten noch mehr intensiviert. Das Leid, die Trauer, aber auch die damit einhergehenden Probleme hatten die Frauen noch mehr zusammenwachsen lassen. Beide schenkten einander den so dringend nötigen Zuspruch, Verständnis und Anteilnahme. Der Trost, zu wissen, dass eine verständnisvolle Freundin in der Nähe war, bedeutete beiden Frauen sehr viel.
Doch gerade jetzt hätte Isabell den Rückhalt von Grace besonders nötig gehabt. Der durch die Schwangerschaft veränderte Hormonhaushalt hatte Isabell merklich empfindlicher und fahriger werden lassen. Sie war ganz einfach nicht so belastbar wie sonst. Als sie bei ihrer Ankunft der stechende, kalte Blick ihres Mannes durchbohrt hatte, ließ dieser sie nichts Gutes ahnen. Seither blickte sie mit einem beklemmenden Gefühl der Vorahnung den kommenden Tagen entgegen. 

Max musste Lisi sofort die Hotelanlage zeigen. So konnte Isabell nach dem anstrengenden Flug in aller Ruhe eine kalte Dusche nehmen und sich dann ein wenig hinlegen. Doch es dauerte nicht lange, bis Max zurückkam. 
„Wo ist denn Lisi?“, fragte Isabell, die erschöpft auf dem breiten Doppelbett ruhte.
„Sie wollte gleich am Swimmingpool bleiben und baden“, erwiderte Max, während er die Jalousien der Terrassentür herunterließ, worauf der Raum unversehens im Halbdunkel versank. Als er Schuhe und Hose ausgezogen hatte und sich anschickte, zu Isabell ins Bett zu steigen, fragte sie fast in Panik:
„Ich dachte, du musst gleich mit Rainer einen Termin in Kairo wahrnehmen.“
„Stimmt, aber wir haben noch genügend Zeit für eine schnelle Nummer. Schließlich war ich jetzt eine Woche lang alleine und hab mich nach meiner Frau gesehnt“, ließ er sie mit wollüstigem Timbre in seiner Stimme wissen.
Angewidert wich Isabell an den äußersten Rand des Bettes zurück, in das Max sich nun hineinfallen ließ.
„Wieso dieser plötzliche Sinneswandel? Wir haben doch schon seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander geschlafen“, fragte sie ihn aufgeregt.
„Nun, vielleicht bin ich in dieser letzten Woche zur Besinnung gekommen und habe erkannt, wie sehr ich dich liebe.“
Aus seinem Mund quoll das Wort Liebe wie ein abgekauter Kaugummi, der längst jeden Geschmack verloren hatte.
„Ich glaube eher, dass du Liebe mit Sex verwechselst. Hältst du es denn keine Woche ohne deine Russin aus, dass du nun von mir deinen ausstehenden Testosteronabbau einforderst?“
Sofort reagierte Max auf Isabells abfällige Äußerung, packte sie hart am Arm und zog sie brutal zu sich heran. Die Lüsternheit war nun aus seiner Stimme gewichen.
„Hör zu, Isabell. Ekaterina ist für mich schon lange gestorben. Wir beide haben vor, in einigen Wochen ein ganz neues Leben zu beginnen. Ich glaube daher, dass es an der Zeit ist wieder zu beginnen, uns einander zu nähern“, fuhr er sie zornig an.
„Es geht um sehr viel für uns als Familie, deshalb erwarte ich auch von dir etwas mehr Engagement und Bereitschaft zur Kooperation“, fuhr er verärgert fort.
Angewidert riss sich Isabell von ihm los.
„Du wirfst mir vor, dass ich nicht kooperationsbereit bin? Kannst du mir vielleicht sagen, wie ich das sein soll? Du behandelst mich wie einen seelenlosen Gegenstand und trittst wie ein Elefant auf meinen Gefühlen herum, als ob das ganz normal wäre. Es ist nicht damit abgetan, dass die Russin für dich passé ist und du nun wieder zur Tagesordnung übergehen willst.“
„Isabell, ich hab jetzt wirklich keinen Bock auf deine Schwangerschaftsneurosen nur wegen dieses Bastards, den du mir unterschiebst, ohne dass ich eine Möglichkeit habe, mich dagegen zu wehren. Auch du sitzt im Glashaus. Sei daher vorsichtig, wenn du mit Steinen wirfst. Du scheinst zu vergessen, dass wir ein gemeinsames Ziel vor Augen haben, in das wir schon sehr viel Zeit, doch vor allem unser ganzes Vermögen investiert haben. Ich erwarte von dir, dass du mit mir am selben Strang ziehst und mich bestmöglich unterstützt. Und dazu zählt nun einmal auch, dass wir ein intaktes und befriedigendes Familien- und Sexualleben haben.“
Als Isabell bei seinen letzten Worten seine Hand zwischen ihren Beinen rasch hochwandern spürte, sprang sie angeekelt aus dem Bett.
„Du erwartest immer nur von den anderen und stellst deine Forderungen. Doch selbst hältst du dich an absolut keine Vereinbarungen, denn sonst wäre diese Schwangerschaft niemals passiert. Ich bin nur deshalb nach Ägypten mitgekommen, weil ich Lisi nicht alleine in deiner Obhut lassen wollte. Verlange daher nicht von mir, dass ich wie ein Chamäleon die Farbe wechsle und wieder die liebende Ehegattin spiele, nur weil du augenblicklich niemanden hast, den du besteigen kannst.“
Max sprang nun ebenfalls aus dem Bett und baute sich vor Isabell auf, die ängstlich an die Wand gedrückt zu ihm hochblickte. Wutentbrannt schlug er mit aller Kraft seine linke Faust knapp neben ihrem Kopf gegen die Mauer, dass diese leicht vibrierte und das Mauerweiß zu bröckeln begann. Isabell zuckte erschrocken zusammen. 
„Was soll dieses blöde Gelaber. Ich habe ein Recht auf Sex. Schließlich bist du meine Frau“, schrie er sie an und sein Gesicht verzog sich zu einer brutalen Fratze.
Isabell spürte einen dicken Kloß in ihrem Hals sitzen. Die Angst ließ sie nun stoßartig keuchen. Nun war der Zeitpunkt gekommen, wo sie Farbe bekennen musste. Isabell nahm nun allen Mut zusammen und flüsterte mit geschlossenen Augen:
„Nicht mehr lange.“
Max blickte sie einen Moment verwirrt an.
„Habe ich mich jetzt etwa verhört?“
„Nein Max, du hast richtig verstanden, ich werde dich verlassen. Sobald wir wieder in Wien sind, reiche ich die Scheidung ein.“
Max nahm die Hand von der Wand und packte sie erneut an ihren Oberarmen.
„Bist du verrückt geworden? Unser gesamtes Vermögen steckt in unserem Projekt in Thailand. Ob du es willst oder nicht, wir sind durch dieses Hotel zusammengeschweißt wie Pech und Schwefel. Du kannst es dir nicht leisten, dich von mir scheiden zu lassen.“
Durch den festen Druck seiner Hände begannen ihre Oberarme zu schmerzen. Doch Isabell versuchte, diesen Schmerz so gut wie möglich zu ignorieren.
„Ich verzichte auf meine finanziellen Ansprüche. Du kannst alles behalten. Das Einzige, was ich will, ist Elisabeth.“
Max lächelte sie kalt an.
„Nein, meine Liebe, du kannst dich zum Teufel scheren und dich in die Arme dieses Dreckschweins Barkhoff flüchten, dem absolut nichts heilig ist. Er wird dich ohnehin fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, wenn er mitbekommt, dass er dich und diesen Bastard sponsern muss. Doch Lisi ist meine Tochter und sie bleibt bei mir, darauf kannst du dir den Finger in deinem mickrigen Arsch abbrechen.“ 
„Das kannst du nicht. Lisi würde nie mit dir alleine nach Thailand gehen. Außerdem würde dir kein Gericht die alleinige Obsorge des Kindes zusprechen.“ 
„Glaubst du? Anscheinend hast du vergessen, dass ich Anwalt bin. Ich weiß ziemlich genau, wie man in solchen Fällen vorgeht. Du hast kein Geld, keine Wohnung und ab Juli auch keinen Job mehr. Welches Gericht würde dir ein Kind überlassen? Du bist ja nicht einmal fähig, dich selbst zu erhalten, geschweige denn, ein Kind zu ernähren.“
Isabells Arme begannen langsam taub zu werden. Mit aller Kraft befreite sie sich aus der festen Umklammerung und stieß ihn zurück. Die Angst in ihr war unermesslichem Zorn gewichen.
„Du wirst meine Tochter niemals bekommen, selbst wenn ich um sie wie eine Löwin kämpfen muss.“
„Und um keinen Preis werde ich zulassen, dass dieses elende Schwein sich als Vater meines Kindes aufspielt“, schrie Max zurück und verließ fluchend das Zimmer.

Kapitel 84

Max brauchte einige Zeit, bis er sich über die vollständige Tragweite dieses Vorfalls im Klaren war. Sein Ego war zutiefst verletzt. War er im falschen Film? Isabell konnte ihn doch unmöglich wegen dieses niederträchtigen Kerls und dessen Bastard nicht einfach verlassen! Obwohl sie Barkhoff mit keinem Wort erwähnt hatte, wusste er doch, woher der Wind wehte. Dieses besondere Naheverhältnis der beiden war ihm bei ihrer Ankunft am Flughafen nicht entgangen. Wenn sie es auch vermieden hatten, sich zu berühren und in die Augen zu blicken, so hatte er doch in ihrem Umgang miteinander eine Vertrautheit und Nähe gespürt, die unwillkürlich seine Eifersucht geweckt hatte. Isabell war seine Frau und niemand würde ihm wegnehmen, was ihm gehörte. Wenn dieser verdammte Barkhoff nicht wäre, so würde es seine immensen Probleme doch überhaupt nicht geben. Wie konnte er damals nur so blöd und kurzsichtig gewesen sein, sich überhaupt auf eine Partnerschaft mit diesem Hurensohn einzulassen. Nicht nur, dass Barkhoff in der Zwischenzeit alle seine Zukunftsperspektiven komplett blockiert hatte und Max nicht mehr die leistete Ahnung hatte, wie er sein Projekt ohne die nötigten 10 Millionen finanzieren sollte, hatte sich dieses Schwein auch noch an seine Frau herangemacht. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, schob er ihr auch noch einen Braten ins Rohr. 
Vor nicht einmal einem Jahr war noch alles in bester Ordnung gewesen. Seine Affären hatten absolut keinen Einfluss auf sein Privat- und Berufsleben gehabt. Alles hatte wie am Schnürchen funktioniert und jeder war glücklich und zufrieden gewesen. Was war nur passiert, dass nun alles so gründlich aus den Fugen geraten war?
Max war so weit den weißen Sandstrand entlanggegangen, bis die Hotelanlagen immer spärlicher wurden und immer weniger Badende am Strand zu sehen waren. Ein altes, umgekipptes Holzboot lag im Sand und moderte langsam vor sich hin. Max setzte sich darauf und blickte verzweifelt auf das ruhige Meer hinaus. Eigentlich hätte er jetzt Barkhoff zu diesem Termin ins ägyptische Verteidigungsministerium begleiten müssen. Doch er hatte absolut keine Lust, dass ihm dieses Arschloch schon wieder unter die Augen kam. Das ständige Läuten seines Handys war nun verstummt und der Mistkerl hatte seine Suche nach ihm endlich aufgegeben. Bestimmt war er jetzt alleine nach Kairo unterwegs. Sollte er sich doch selbst mit diesen Scheiß-Beamten abquälen und ihnen in den Arsch kriechen. Er hatte jedenfalls endgültig genug von Speichelleckereien und dieser geschäftlichen Prostitution.
Wirre und planlose Gedanken schossen durch seinen Kopf. Max war zu sehr aufgewühlt, um diese Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Sein in Selbstmitleid und Verzweiflung badendes Ego ließ kein konstruktives Nachdenken zu. Wenn es ihm nicht bald gelang, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und eine befriedigende Lösung zu finden, war er echt im Arsch. Seine Familie, sein Vermögen und seine Zukunftspläne würden dann wirklich den Bach hinuntergehen und er würde mit nichts als seinen leeren Händen auf der Straße stehen.
Die Sonne stand schon tief, als Max sich endlich erhob und langsam wieder zum Hotel zurückging. Nachdem er seine Emotionen einigermaßen unter Kontrolle gebracht hatte und wieder halbwegs nüchtern denken konnte, wusste er, was er zu tun hatte. Obwohl er seinen bereits in Wien gefassten Plan schon verworfen hatte, nahm dieser nun wieder neue Gestalt an. Diese Operation war die einzige Möglichkeit, um dieser schrecklichen Misere zu entrinnen und gleich zwei Fliegen auf einen Schlag zu erledigen. 
Wenn er sein Ziel erreichen und seine Frau nicht verlieren wollte, musste er diesen Schritt setzen, der nun genau durchdacht und durchgeplant sein wollte. Die Zeit drängte. Max musste alles in die Wege leiten und darauf achten, dass niemand Verdacht schöpfen konnte. 

Kapitel 85

Kaum war Max wieder ins Hotel zurückgekehrt, überschüttete ihn Isabell mit heftigen Vorwürfen.
„Wo warst du denn so lange? Rainer hat dich überall gesucht! Du solltest doch mit ihm zusammen zu diesem Termin ins Verteidigungsministerium fahren. Er war mordsmäßig sauer auf dich, weil du ihn hängen gelassen hast.“ 
Max konnte den Namen Rainer nicht mehr hören. Unwillkürlich begannen heftige Aggressionen in ihm hochzusteigen. Doch derartige Gefühlsaufwallungen konnte er sich jetzt nicht leisten und unterdrückte sie mit aller Kraft.
„Wo ist denn Lisi?“, fragte er so gleichmütig wie möglich und ignorierte Isabells energisches Aufbegehren.
„Sie ist im Badezimmer und duscht“, erwiderte Isabell ziemlich ungehalten.
„O.k., dann komm mit auf die Terrasse, damit wir ungestört miteinander sprechen können.“
Überrascht über die Gelassenheit ihres Mannes folgte sie ihm auf die Terrasse. Isabell nahm jedoch nicht wie er auf einem der Gartenstühle Platz, sondern lehnte sich an die von der Sonne noch aufgeheizte Mauer. 
„Es tut mir leid, dass ich den Termin im Verteidigungsministerium verpasst habe. Doch ich war ganz einfach viel zu aufgewühlt und durcheinander. Es war sicherlich besser hierzubleiben, als dass ich vor diesen überheblichen Regierungstypen zerstreut und unkompetent gewirkt hätte.“
„Zumindest hättest du Rainer anrufen und ihm sagen können, dass du nicht mitkommst. Er war ziemlich beunruhigt, weil niemand wusste, wo du warst.“
Erschöpft lehnte sich Max in seinem Stuhl zurück und atmete tief durch.
„Du hast recht, ich hätte Rainer Bescheid geben müssen. Doch dein unerwarteter Entschluss, dich von mir scheiden lassen zu wollen, hat mich total aus der Bahn geworfen. Ich brauchte ganz einfach Ruhe und Zeit zum Nachdenken.“
Isabell blickte Max unverwandt an, ehe sie vorsichtig fragte:
„Und was ist dabei herausgekommen?“
„Nun, nachdem du mir ja ziemlich deutlich zu verstehen gegeben hast, dass du nichts mehr von mir wissen willst, bleibt mir wohl nichts anderes übrig als deinen Entschluss zu akzeptieren. Ich kann dich schließlich nicht zwingen, mich nach Thailand zu begleiten und mit mir dort ein neues Leben anzufangen. Ich sehe auch ein, dass ich viele Fehler gemacht habe und deine Wünsche und Gefühle oftmals ignoriert habe. Doch du sollst wissen, dass es nie in meiner Absicht lag, dich zu verletzen.“
Max zog ein halbleeres Zigarettenpäckchen aus seiner Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an. Tief inhalierte er den ersten Zug und blies die helle Rauchwolke in den bereits dämmernden Abendhimmel hinaus. Dann blickte er seine Frau mit traurigem Lächeln an:
„Ich hab‘s vergeigt, Isa. Und es tut mir echt leid, dass sich alles in eine Richtung bewegt hat, die ich absolut nicht wollte. Ich werde mir für den Rest der Woche ein anderes Zimmer nehmen, damit du mit Lisi ungestört bist und Abstand gewinnen kannst. Vielleicht gibst du mir ja doch noch eine Chance, dir zu beweisen, wie sehr ich dich liebe und wie sehr ich euch brauche. Wenn die Vorführung positiv über die Bühne gegangen ist und wir wieder nach Österreich zurückgekehrt sind, setzen wir uns in Ruhe zusammen und entwerfen einen Scheidungsvergleich, falls du das dann noch immer willst. Augenblicklich ist dafür absolut keine Zeit. Ich muss mich jetzt auf die Präsentation konzentrieren und zusammen mit Rainer versuchen, einen reibungslosen Ablauf der Schau zu gestalten. Schließlich hängt von diesem Spektakel die Zukunft von uns allen ab. The show must go on, egal wie ich mich dabei fühle.“
Max schnippte die brennende Zigarette in die Grünfläche. Dann stand er auf und ging zu Isabell, die ihm schweigend zugehört hatte. Traurig lächelnd blieb er vor ihr stehen und strich zärtlich über ihre Wange.
„Ich hab dich immer geliebt, Isabell, auch wenn es oft nicht den Anschein hatte.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er ins Zimmer zurück, holte seinen Koffer hervor. Noch bevor Lisi aus dem Badezimmer herauskam, wollte er verschwunden sein.

Isabell stand nach wie vor reglos auf der Terrasse und starrte in den schnell dunkel werdenden Abendhimmel hinaus. Gewissensbisse begannen in ihr zu nagen. Für Isabell wäre es wesentlich einfacher gewesen, wenn er sie angeschrien und erniedrigt, ja sogar geschlagen hätte. Doch dieser Form des stillen und reumütigen Bittens war sie ganz einfach nicht gewachsen. Obwohl ihre Liebe zu Max erloschen war, hatten sich im Laufe der Jahre viele Gemeinsamkeiten, Erlebnisse und eine gewachsene Vertrautheit in ihrer Seele verankert, die loszulassen nicht einfach sein würde.
Nachdem sie die Tür ins Schloss fallen hörte, ging Isabell seufzend ins Zimmer zurück. Ihre Hände fühlten das kleine Wesen in ihrem Bauch. Voll innerer Zerrissenheit erkannte sie, dass sie eine große Verantwortung gegenüber ihrer Kinder und deren Vätern trug. Wofür sie sich auch immer entscheiden würde, Leid und Trauer würden sicherlich nicht ausbleiben.

Kapitel 86

Für Rainer war es unfassbar, dass Max so wichtige Termine mit hochrangigen Entscheidungsträgern des Verteidigungs- und des Tourismusministeriums ganz einfach sausen ließ. Es war ihm äußerst unangenehm, dass er nun alleine auftreten musste, obwohl die Gesprächspartner fix mit Max gerechnet hatten. Mit viel Geschick und Einfühlungsvermögen versuchte Rainer daher, die eingeschnappten Beamten für sich zu gewinnen. 
Die versammelten Vertreter der jeweiligen Ministerien verfolgten die völlig neue Vorgangsweise der Minensuche, die Rainer anhand eines Animationsvideos demonstrierte. Die nun offensichtliche Skepsis der Beauftragten stieß Rainer vor den Kopf. Gerade die Abgesandten der ägyptischen Botschaft hatten den größten Druck auf ihn ausgeübt, endlich mit der Säuberung der konterminierten Gebiete am Sinai zu beginnen.
Rainer versuchte seine Verunsicherung hinter einer Maske aus technischer Kompetenz und wirtschaftlichem Know-how zu verbergen, während er den zweifelnden Vertretern die Vorgangsweise der Planung, Ausarbeitung, Suche und in der Folge der Zerstörung von Minen jedweder Art veranschaulichte. 
Es war Rainer es unverständlich, wieso dieses offensichtliche Misstrauen nun im Raum stand. Die Regierungsbeauftragten waren schon seit Langem auf der Suche nach effizienteren Methoden der Minenbeseitigung. Nur zu gut war man sich der Probleme und Grenzen bewusst, welche die bisher sehr veraltete und ziemlich langwierige Suche und Vernichtung der Sprengfallen mit sich gebracht hatte. Doch jetzt, wo es eine Lösung gab, äußerst effizient, sicher, doch vor allem viel schneller und preiswerter zu entsorgen, zeigten sich die Muselmanen sehr nachdenklich. Gab es vielleicht noch andere Anbieter, die ihm den Auftrag streitig machen wollten, oder lag diese Reserviertheit wirklich nur daran, dass Max den Typen die kalte Schulter gezeigt hatte und sie sich beleidigt fühlten? 
Rainer lief es heiß und kalt über den Rücken. Je mehr Druck er ausübte, umso mehr zogen sich die Araber zurück. Verzweifelt musste er erkennen, dass sein Vorhaben langsam den Bach hinunterzugehen drohte, wenn er nicht bald ein rettendes As aus dem Ärmel zog. Bei dem Gedanken an diese oberste Spielkarte musste Rainer unwillkürlich an Prinz Mohamed denken, den er in der Hitze des Gefechtes völlig vergessen hatte. Mit einem Schlag war Rainers Verunsicherung verschwunden und er fühlte plötzlich wieder Stärke und Zuversicht. 
Einen langen Moment verharrte Rainer schweigend vor der versammelten Menge, bis er sich deren Aufmerksamkeit absolut sicher war. Fast feierlich setzte er dann die Abgesandten davon in Kenntnis, dass Scheich Prinz Mohamed nicht nur Schirmherr der „Coleman-Foundation“ ist, sondern von diesem absolut humanen Projekt überzeugt ist und von ihm unterstützt wurde. 
Nachdem Rainer der versammelten Gesellschaft das notariell beglaubigte Patronat des Scheichs vorgelegt hatte, begannen sich die misstrauischen Mienen der Moslems zu verändern. Prinz Mohamed war einer von ihnen und ein äußerst angesehener Würdenträger in der islamischen Welt. Niemals würde der Scheich einem ungläubigen Effendi diesen Gunstbeweis zukommen lassen, wenn er nicht absolut von diesem Projekt überzeugt wäre. 
Die Gesichter der Araber hellten sich auf und ihre dunklen Augen begannen zu funkeln. Das von Rainer erwartete Wohlwollen und die positive Gesinnung waren nun plötzlich da und ließen ihn erleichtert durchatmen. Unverständliches, aber sicherlich zustimmendes Gemurmel und eine vielversprechende Atmosphäre machte sich im Sitzungssaal breit. Rainer wollte diesen Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen und er legte gleich noch ein Schäufelchen nach. Er wies darauf hin, dass mit dieser raschen und effektiven Säuberung endlich auch viele Rohstoffvorkommen und insbesondere die Erdölreserven an der libyschen Grenze erschließbar sein würden, was dem Land dringend benötigte Devisen und damit auch Bildung, politische Stabilität und Anerkennung bringen würde. Eine seismische Untersuchung der gemeinsamen Erdölfelder mit Libyen würde die festgefahrenen Verhandlungen um eine gemeinsame und gerechte Nutzung wieder in Gang bringen. Außerdem konnte der Tourismus auf der Sinaihalbinsel weiter ausgebaut und damit einhergehend viele Tausende Arbeitsplätze geschaffen werden.
Rainer freute sich über die Zustimmung und zaghafte Euphorie, die durch die Reihen der Männer ging. Die zuständigen Beamten erklärten sich bereit, den Kontakt zu einigen Minenräumfirmen im Land herzustellen. Jener Deal stand im Vordergrund, dass sich die „Coleman-Foundation“ mit jeweils 51% an diesen Firmen beteiligen wollte. Die jetzigen Inhaber sollten dann als Geschäftsführer ihre ehemaligen Unternehmen weiterhin leiten. Im Gegenzug würden diese Firmen den sofortigen Zugang zu der neuen Technologie der „Coleman-Foundation“ erhalten. Durch die zu erwartende hohe Auslastung der Firmen würden die ehemaligen Eigentümer mit ihren „nur“ 49 % dann eine wesentlich höhere Rendite erhalten als zuvor.
Für die gesamte arabische Welt sollte Ägypten zum Ausgangspunkt für die moderne Minenräumung werden. Im Land am Nil sollte der Grundstein für eine neue gesellschaftliche Entwicklung gesetzt werden, mit der mehr Wohlstand und mehr Bildung zu dauerhafter Befriedung führen sollte. 

Als Rainer am frühen Abend wieder ins Hotel zurückkehrte, hatte er eine unterschriebene Vorvereinbarung in der Tasche. Sein unbändiger Zorn auf Max war jetzt weitgehend abgeklungen, obwohl noch immer ein leichter Groll in ihm nagte. Rainer wollte gar nicht daran denken, welche Konsequenzen das unmögliche Verhalten seines Partners beinahe ausgelöst hätte und das Projekt fast den Bach runtergegangen wäre.
Doch die Freude über den Erfolg seiner Mission war ganz einfach zu groß, als dass er sich weiter mit diesen negativen Gedanken herumschlagen wollte. Dieser Triumph versetzte Rainer in eine unglaubliche Hochstimmung und bestärkte ihn noch mehr, einen kleinen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten.
Sobald diese großflächige Entminung genügend Geld und Einfluss abwerfen würde, wollte er auch auf anderen Ebenen versuchen, dem Leid und dem Elend in dieser Welt Einhalt zu gebieten. Bestimmte Zukunftsvisionen geisterten schon in seinem Kopf herum. Doch dafür war jetzt weder die richtige Zeit noch der richtige Ort.

Kapitel 87

Ekaterina war ziemlich überrascht, als plötzlich die Verbindungstür zum nächsten Zimmer aufgesperrt wurde und Max im Raum stand.
„Ich hab es mir überlegt und werde auch die nächsten Tage bei dir bleiben. Das heißt, du kannst noch bleiben, wenn du willst. Isabell spinnt total und ihr Gezanke geht mir schwerst auf den Geist. Ich brauch jetzt Ruhe, um meinen Job ordentlich machen zu können. Deshalb habe ich das Zimmer nebenan gemietet“, informierte Max seine Geliebte. Ohne eine Antwort abzuwarten, kehrte er wieder in sein Zimmer zurück.
Ekaterina verließ das Bett und beobachtete sie ihren Liebhaber, der nun seine Wäsche, Anzüge und sonstiges Zeug im Schrank verstaute. Mittlerweile kannte sie Max gut genug, um zu spüren, dass sie nur die halbe Wahrheit serviert bekommen hatte. Irgendetwas Gröberes musste vorgefallen sein, das Max ihr vorenthielt. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn jetzt direkt danach zu fragen. Mehr als eine aggressive Antwort wie: „Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß“ würde sie nicht zu hören bekommen. Sie musste also versuchen, die ausstehende Information auf Umwegen aus ihm herauszulocken. Auf diese Art und Weise hatte sie schon einiges in Erfahrung gebracht, was er ihr eigentlich nicht hatte sagen wollen. Max war viel zu emotional angelegt, um nicht immer wieder unbedacht kleine Details von sich zu geben, die Ekaterina dann wie in einem Puzzle zusammenfügen konnte. Dass sein ehemals bester Freund Barkhoff nun sein erklärter Feind war, zählte jedoch nicht zu seinen Geheimnissen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit schimpfte er über seinen Partner und ließ kein gutes Haar an ihm. Ekaterina hatte Verständnis für seine Situation. Schließlich will doch kein Mann, dass die eigene Frau vom besten Freund geschwängert wird. Außerdem war Barkhoff auch noch drauf und dran, seine Zukunftspläne zunichte zu machen. Doch Ekaterina fühlte, dass da wesentlich mehr im Raum stand. In den letzten Wochen hatte sich Max ziemlich verändert. Oft starrte er minutenlang ins Leere oder war so tief in seinen Gedanken versunken, das Ekaterina ihn sogar anschreien musste, damit er überhaupt noch reagierte. Seit Max so ungewohnt verschwiegen war, beobachtete sie ihn mit Argusaugen. Es lag eine fast greifbare Spannung in der Luft, die Ekaterina immer mehr zu sensibilisieren begann und zur Vorsicht mahnte.
Doch die Zeit verrann, ohne dass Ekaterina auch nur den kleinsten Anhaltspunkt aufschnappen konnte, der sie ihrem Ziel näher bringen konnte. Dass Max jetzt in das Nebenzimmer einzog, deutete sie aber als gutes Zeichen. Zumindest kam jetzt etwas Bewegung in die Angelegenheit. Ekaterina nahm sich vor, ab sofort mehr Zeit in ihrem Zimmer zu verbringen und in Max’ Abwesenheit seine Unterlagen und seinen Aktenkoffer zu durchforsten. Vielleicht würde sie ja doch noch etwas finden, was ihre verdrießliche Situation verbessern könnte. Außerdem war es auch ziemlich sinnlos, die langen Stunden seiner Abwesenheit in den Cocktailbars am Pool zu verbringen und nach einem neuen Financier Ausschau zu halten. Es war Osterzeit und viele junge Ehepaare tummelten sich mit ihren Kindern in der Anlage um die Pools herum oder machten es sich am Strand bequem. Die in Frage kommenden Männer waren so sehr auf ihre Sprösslinge und ihre Frauen fixiert, dass sie kaum ein Auge für Ekaterina hatten. Die wenigen älteren Männer waren zumeist in Begleitung wesentlich jüngerer Frauen, die ihren Sponsor ständig im Auge behielten. Anbandeln war daher so gut wie aussichtslos, selbst wenn Ekaterina noch so bemüht war und ihre Reize einzusetzen versuchte. Es war zum Verrücktwerden. Außerhalb der Hotelanlage konnte man sich als alleinstehende Frau unmöglich bewegen. Für eine westliche Frau ohne männliche Begleitung war es einfach zu gefährlich und bei dieser Hitze auch viel zu mühevoll, alleine durch die Straßen zu schlendern. Und hier in der Clubanlage gab es ganz einfach nicht das nötige Potential, das für Ekaterina in Frage kommen würde.
Die Tage am Sharm el-Sheikh hatte sich die Russin ein wenig anders vorgestellt. Außer am Strand in der Sonne zu liegen und sich durchbraten zu lassen, viel zu süße Cocktails zu schlürfen und Unmengen an Süßigkeiten in sich hineinzustopfen, die nur dick und hässlich machen, gab es hier für sie nicht sehr viel Abwechslung. 
Langsam aber sicher lief Ekaterina die Zeit davon. In vier Tagen fand die Präsentation statt und dann ging es wieder zurück nach Österreich. Wenn sich nicht bald etwas Greifbares für sie ergab und sie endlich zuschlagen konnte, würde sie schon bald mit einem One-Way-Ticket im Flieger nach Russland sitzen.
Ekaterina ging durch die offene Tür in Max’ Zimmer, wo er gerade seine Jeans im Kasten verstaut hatte. Mit laszivem Blick rieb sie ihre Brüste an seinem Oberkörper und leckte über ihre feuchten Lippen. Als sie sein Hemd aufzuknöpfen versuchte, fasste Max derb nach ihrer Hand und schob sie weg.
„Ich hab jetzt keine Zeit für dich. In einer halben Stunde muss ich beim Abendessen im Speisesaal sein. Ich muss noch duschen und mich fertig machen. Also lass das jetzt. Setz dich zum Fernseher und schau dir deine Serien an“, wies er sie wie ein dummes Kind zurück.
„Und was ist mit mir? Ich hab auch Hunger und möchte etwas essen“, fuhr sie ihn trotzig an.
„Dann bestell dir was aufs Zimmer. In den Speisesaal wirst du jedenfalls nicht hinuntergehen. Wenn dich irgendjemand erkennen sollte oder dich auch nur annähernd mit mir in Verbindung bringt, bin ich echt im Arsch.“
„Ich will aber hier nicht alleine zu Abend essen. Ich hab dich den ganzen Tag nicht gesehen und nun lässt du mich wieder alleine“, motzte sie weiter.
Max packte sie am Arm und fuhr sie in gefährlich leisem Ton an:
„Hör zu, du hast ganz genau gewusst, dass du hier die zweite Geige spielst, wenn meine Familie da ist. Ich kann mir jetzt nicht noch mehr Schwierigkeiten leisten. Also halt gefälligst den Mund, sonst schick ich dich mit der nächstbesten Maschine zurück nach Russland.“
Zornig und frustriert stieß Max die junge Frau aufs Bett. Ohne sie noch eines weiteren Blicks zu würdigen, ging er ins Badezimmer und stieg in die Dusche.
Erbost rappelte sich Ekaterina hoch. Als sie gerade die Tür lautstark ins Schloss werfen wollte, hörte sie Max’ Handy läuten. Ihrer ersten Eingebung folgend nahm sie das Handy vom Nachttisch und wollte es Max bringen. Auf halbem Weg ins Badezimmer blieb sie jedoch plötzlich stehen und ließ das Handy so lange läuten, bis sich die Mailbox einschaltete. Kurze Zeit später hörte sie am Signalton, dass jemand auf die Mailbox gesprochen hatte. Ohne lange zu überlegen drückte sie die Sprachbox. Eine männliche und sehr aggressive Stimme fuhr sie in englischer Sprache an: 
„Verdammt noch mal, wo sind Sie, Henning! Ich warte schon seit Stunden auf Ihren Anruf. Meine Chefs wollen endlich wissen, was Sie nun zu tun gedenken, um diese verdammte Präsentation zu vereiteln. Wenn Sie noch immer an Ihren 10 Millionen interessiert sein sollten, dann wird es Zeit, dafür auch etwas zu tun.“
Obwohl Ekaterinas Englischkenntnisse nicht gerade die besten waren, hatte sie sehr wohl verstanden, dass der Anrufer auf Max Druck ausüben wollte. Plötzlich hörte die Russin, wie der Wasserhahn der Dusche abgedreht wurde. Schnell suchte sie in den Optionen des Handys nach dem Klingelton und ließ es läuten. Dann eilte sie damit ins Badezimmer. Doch bevor sie Max das Telefon in die Hand drückte, stoppte sie den Ton, damit es so aussah, als ob der Anrufer bereits aufgelegt hatte.
„Warum hast du mir das Handy nicht früher gebracht?“, fauchte Max sie an.
„Ich war in meinem Zimmer und habe das Telefon nicht gleich gehört. Außerdem bin ich nicht deine Sekretärin. Was kann ich dafür, wenn der Idiot nicht warten konnte“, erwiderte sie mit gespielter Empörung.
Ekaterina hoffte nur, dass Max ihr jetzt nicht auf die Schliche kam. Doch nachdem er diesbezüglich keinerlei Anstalten machte und es anscheinend auf sein eigenes Versehen zurückführte, die Mailbox irrtümlich gedrückt zu haben, atmete sie erleichtert durch. 
Ohne noch weiter auf seine Geliebte zu achten, wählte Max die letzte Nummer und schloss die Tür zu ihrem Zimmer. Ekaterina versuchte, an der Tür zu lauschen. Doch Max sprach so leise, dass sie nicht mehr als ein monotones Gemurmel verstand.
Ekaterina hatte erwartet, dass Max noch einmal in ihr Zimmer kommen würde, bevor er in den Speisesaal ging. Doch betroffen zuckte sie zusammen, als sie die Eingangstür seines Zimmers zufallen hörte. Max hatte es nicht einmal der Mühe wert gefunden, sich von ihr zu verabschieden, ehe er in den Speisesaal ging. Langsam verhallten seine Schritte auf den nackten Steinfliesen des Korridors. Verzweifelt blickte Ekaterina um sich. Das letzte Mal hatte sie sich so elend gefühlt, als ihr Vater sie vor Jahren für Geld einem Fremden anbieten wollte. Damals hatte sie jedoch noch rechtzeitig von zu Hause fliehen können, um dieser Pein zu entgehen. Doch sehr bald war sie selbst bereit gewesen, sich zu prostituieren. Letztendlich hatte sich bis heute nichts daran geändert. Sie war nicht mehr wert als billiges Fleisch, das man benutzt und dann wegwirft. 
Unbändiger Zorn über diese verdammte Ungerechtigkeit erfasste sie nun. Sie war ein Mensch und wollte auch als solcher behandelt werden. Die Wut, dermaßen diskriminiert zu sein, weckte neue Lebensgeister in ihr. Energiegeladen sprang Ekaterina aus ihrem Bett und ging in Max‘ Zimmer. Sie brauchte nicht lange zu suchen, um fündig zu werden. 
Max’ Aktenkoffer lehnte an der Seitenwand der Kommode und Ekaterina konnte erleichtert durchatmen. Gott sei Dank hatte er ihn nicht in den Speisesaal mitgenommen. Mit dem Koffer in der Hand setzte sich Ekaterina auf sein Bett und gab die Zahlenkombination in das Kofferschloß ein. Max hatte natürlich keine Ahnung, dass sie die Zahlen wusste. Nicht nur einmal hatte sie ihm in den letzten Wochen über die Schulter geschaut und sich dabei den Zahlencode eingeprägt. Schnell war der Koffer offen und ein ungeordneter Haufen von Briefen, Belegen, Prospekten, Stellungnahmen, Tabellen, Angeboten und noch vielem mehr fiel ihr entgegen. 
In der Hoffnung, auf etwas Brauchbares zu stoßen, sichtete sie rasch die Unterlagen. Briefe und Korrespondenz waren großteils in englischer Sprache geschrieben, sodass sie damit nicht wirklich viel anfangen konnte. Deprimiert legte sie den Papierpacken wieder in den Koffer zurück. Doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit von einem großen Bogen gefalteten Papiers geweckt, der in der hintersten Seitentasche des Aktenkoffers verstaut war. Ekaterina zog ihn heraus und schlug den Bogen auseinander. Auf dem Papier war eine stark vergrößerte Landkarte zu erkennen, auf der in einem Raster ein bestimmtes Gebiet mit Rotstift markiert war. Zuerst konnte sich Ekaterina keinen Reim darauf bilden. Doch anhand der eingezeichneten Tribünen und Straßen erkannte sie bald, dass das rot umrandete Gebiet unmittelbar neben dem Testgelände für die geplante Präsentation lag. In dem hervorgehobenen Gebiet waren zusätzlich noch viele Stellen rot schraffiert, in denen „Danger“ stand. Ekaterina hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, wieso Max dieses für die Präsentation uninteressante Gebiet hervorgehoben hatte und nicht das Testgelände. Doch ihre Vermutungen und Überlegungen verliefen immer wieder im Sand. Enttäuscht, nicht fündig geworden zu sein, verstaute sie den Lageplan wieder in das Seitenfach und verschloss den Koffer wieder.
Ekaterina ging in ihr Zimmer zurück und schenkte sich ein Glas Wodka ein. Nervös begann sie auf und ab zu gehen, während sie nach und nach das volle Glas Schnaps in sich hineinschüttete. Ekaterina brauchte dringend etwas Greifbares, womit sie Max erpressen konnte. Unmöglich konnte sie jetzt mehr tatenlos herumzusitzen und zu warten. Die Zeit begann wie Sand zwischen ihren Fingern zu zerrinnen. Mit Grauen erinnerte sich Ekaterina wieder an diesen unangenehmen, doch so vertrauten Gestank der Industrie in ihrer Heimatstadt Sanchursk.
Kurz entschlossen zog sie sich an und ging in den Speisesaal. Sie würde ihren Sitzplatz so wählen, dass Max mit seinem Rücken zu ihr saß, um nicht von ihm gesehen zu werden. Von dieser Position aus wollte sie die illustre Runde beobachten, um eventuell einige Schlüsse zu ziehen. 

Kapitel 88

Als Rainer den Speisesaal betrat, waren Isabell und Lisi bereits anwesend. Wie immer, wenn er sie erblickte, erfüllte ihn für einen kurzen Moment ein intensives Gefühl von Glück und Freude. Rainer musste an Angelina denken. Hatte er nicht ähnliche Empfindungen, wenn er sie sah? 
Rainers seliger Gesichtsausdruck verschwand jedoch sofort, als er Max mit einem vollen Salatteller vom Buffet zurückkommen sah. Sofort meldete sich wieder sein Groll gegen seinen Geschäftspartner. Mit einem warmen Hallo begrüßte er Isabell und Lisi. Dann wandte sich Rainer aber ziemlich frostig an seinen Geschäftspartner:
„Wo warst du? Die Termine heute waren für unser Projekt von größter Wichtigkeit und Du lässt sie einfach sausen. Ich war echt in Teufels Küche und hätte deine Unterstützung gebraucht.“
Der vorwurfsvolle Unterton war Max natürlich nicht entgangen.
„Du scheinst zu vergessen, dass du mir die ganze Arbeit mit den Vorbereitungen für diese verdammte Präsentation aufgehalst hast. Derzeit tanze ich mit meinem Hintern auf fünf Kirtagen und weiß kaum noch, wo mir der Kopf steht. Für den Feinschliff bist ja offensichtlich du zuständig und hast die groben Arbeiten mit dem Untervolk an mich delegiert.“
Obwohl sich die beiden Männer in fast normalem Plauderton unterhielten, war die geballte Aggression zwischen ihren Worten nicht zu überhören. Als Rainer zu einem verbalen Gegenangriff ausholen wollte, schnitt ihm Isabell das Wort ab:
„Jetzt ist es aber wirklich genug. Wir sind hier, um zu essen. Führt eure geschäftlichen Diskussionen bitte nachher unter vier Augen fort.“ 
Isabells strenge Aufforderung brachte die beiden Streithähne schnell zum Verstummen. Doch ihre Blicke und ihre Körpersprache drückten genau das aus, was ihnen Isabell zu sagen verwehrt hatte.
Das Abendessen verlief in äußerst gespannter Atmosphäre. Isabell und Rainer versuchten sich so neutral wie möglich zu geben. Nur ab und zu warfen sie einander verstohlene Blicke zu, um Max nicht noch einen weiteren Stein des Anstoßes zu bieten. Doch gerade dieses Verhalten brachte ihn noch mehr auf die Palme. 
Nur zu gut konnte Max durch dieses Verhalten erkennen, dass die beiden in der letzten Woche sicherlich um einiges mehr als nur verstohlene Blicke getauscht hatten.
Um die fast unerträglich gespannte Situation ein wenig zu lockern, fragte Isabell:
„Was ist denn bei diesen Terminen heute eigentlich herausgekommen?“
„Nun ja, das Treffen mit den Firmen war ja eigentlich nur als Anbahnungsgespräch gedacht gewesen. Du weißt ja, in diesen Breiten geht alles ein bisschen langsamer und träger. Hätte ich dort mit Deutschen oder Amerikanern verhandelt, so wären sicherlich alle Verträge längst unter Dach und Fach“, scherzte Rainer und bemühte sich nun ebenfalls um einen gewissen Grad an Verbindlichkeit. 
„Ich muss aber gestehen, dass ich vom Verlauf dieses Gespräches ein wenig überrascht war. Meine Gesprächspartner waren nicht nur skeptisch, sondern auch ziemlich eingeschnappt, weil ich alleine aufgetreten bin.“
Der vorwurfsvolle Unterton und der herausfordernde Blick waren Max nicht entgangen. Doch schweigend aß er seinen Salat weiter.
„Ich habe den Typen dann anhand einer Animation die Arbeitsweise unserer Hubschrauber gezeigt. Obwohl die Araber erkannt hatten, wie schnell und effizient diese fliegenden Sonden arbeiten, ließen sie sich auch dadurch nicht sonderlich beeindrucken. Ich hatte fast den Eindruck, dass sich die Ägypter aus diesem Geschäft zurückziehen wollten. Erst als ich Prinz Mohamed als Schirmherrn ins Spiel brachte, wandelte sich das Misstrauen der Moslems in eine fast euphorische Stimmung. In der Folge hat der Tourismusminister den Draht zu verschiedenen Minenräumfirmen hergestellt, die ich morgen und übermorgen aufsuchen möchte, um ihnen ein Kaufangebot zu unterbreiten.“
„Und von welchem Angebot sprichst du, wenn ich fragen darf?“, fragte Max schnippisch, da er keine Ahnung hatte, was Rainer nun vorhatte.
„Nun ja, sollte die Präsentation den gewünschten Erfolg bringen, dann will ich den Inhabern dieser Firmen das Angebot machen, uns 51% ihrer Anteile zu verkaufen, sodass wir dort das Sagen haben. Die ehemaligen Eigentümer könnten dann mit unserer Technologie auch weiterhin als Geschäftsführer ihre Betriebe in unserem Interesse leiten. Die Firmen gehören dann zum Konzern der „Coleman-Foundation“. Wir sparen uns die Zeit für den Aufbau einer eigenen Infrastruktur und bekommen sofortigen Zugang zu diesem Markt.“ 
„Und du glaubst wirklich, dass sich diese Unternehmer ihre Betriebe ganz wegnehmen lassen?“, fragte Max mit unverhohlener Skepsis.
„Ja, davon bin ich überzeugt. Bis jetzt war die Minenräumung nämlich eine äußerst zähe, gefährliche und langwierige Angelegenheit. Die „Coleman-Foundation“ stellt ihren Partnern nun eine neue Technologie zur Verfügung, die alle bisherigen konventionellen Verfahren bei Weitem übertrifft und viele Konkurrenten in absehbarer Zeit in den Ruin treiben wird. Mit meinem Angebot könnten diese Firmen aber überleben. Sollten die Eigentümer dann immer noch nicht verkaufen wollen, rechne ich denen klipp und klar vor, dass sie mit ihren verbleibenden 49 Prozent und unserer Technologie in Zukunft weit mehr verdienen werden als vorher mit ihren 100 Prozent. Der Kaufpreis kommt da als kleiner Benefit auch noch dazu. Und selbst wenn die Minenräumung hier in Ägypten einmal erledigt sein sollte, werden diese Firmen auch in anderen Ländern zum Einsatz kommen. Schließlich warten weltweit ca. 100 Millionen Minen auf uns. So gesehen sind sie die nächsten 20 Jahre sicherlich ausgebucht.“
Max suchte nach einem Pferdefuß in Rainers Strategie. Widerwillig rang es ihm Respekt ab, welch völlig unkonventionelle und schlüssige Vorgangsweise sein Partner entwickelt hatte. Die Methode war genau richtig, um wertvolle Zeit für den Markteintritt zu sparen. Nicht eigene Logistik aufbauen, sondern die Kapazitäten mit allen dazugehörenden Kontakten und dem ganzen Know-how einfach zu kaufen. So würde die „Coleman-Foundation“ rasch zum Marktführer werden und gleichzeitig auch die Zahl der Konkurrenten reduzieren. Man brauchte kein besonders helles Köpfchen zu sein, um zu erkennen, dass diese Methode von Rainer auf Dauer einen Megagewinn abwerfen würde. Doch leider brauchte er die 10 Millionen jetzt und nicht erst in ein oder zwei Jahren.
Rainer riss Max aus seinen Gedanken und fragte ihn:
„Ich hoffe, es gibt noch einige freie Plätze auf der Tribüne, wo ich die angepeilten Firmeninhaber unterbringen kann. Die Unternehmer sollen sich gleich selbst davon überzeugen, wie bahnbrechend unsere Drohnen wirklich arbeiten. Selbst wenn sie vorerst noch nein sagen, sollen sie aber wissen, dass es wesentlich einfacher ist, mit uns als gegen uns zu arbeiten.“ 
„Ich denke, das kann ich noch einrichten. Ich war gestern beim Testgelände draußen und die Tribünen sind schon fast fertig aufgestellt. Einige der geladenen Gäste werden sicherlich nicht auftauchen, sodass bestimmt noch Restplätze vorhanden sein werden.“ 
Rainer nickte zufrieden und fuhr fort:
„Am Ende dieses Meetings hatte ich dann endlich den Eindruck gewonnen, dass man hier doch äußerst interessiert an unseren fliegenden Babys zu sein scheint. Auch in den Augen der Grundstücksspekulanten konnte ich bereits einen gewissen Dollarblick erkennen. Denen wäre es wahrscheinlich schon heute lieber als morgen, dass wir mit der großflächigen Räumung beginnen können. Doch Wirtschafts- und Verteidigungsminister haben die drängenden Geschäftsleute zu Besonnenheit und Ruhe gemahnt. Ein paar Tage auf oder ab würden das Kraut jetzt auch nicht mehr fett machen. Nach der Präsentation wollen die dann aber wirklich ans Werk gehen.“
„Und was heißt das dann im Klartext?“, wollte Isabell wissen.
„Sollten meine Vorstellungen nur halbwegs in Erfüllung gehen, dann sind wir innerhalb von zwei Jahren alle steinreich.“ 
Für Rainer selbst besaß dieser Reichtum nur geringen Wert. Er wusste aber, dass Max seinen Job ausschließlich wegen des Geldes machte. Deshalb versuchte Rainer, seinen Partner mit dieser Aussicht auf lohnende Rendite zu locken, um ihn bei der Stange zu halten. Sollte Max nach der Präsentation jedoch nicht mehr so lange warten wollen, bis der Geldregen in vollem Ausmaß über sie hereinbrechen würde, so würde er ihm seinen Anteil um die besagten 10 Millionen Dollar abkaufen. Mit einem unterschriebenen und rechtsgültigen Vertrag mit der ägyptischen Regierung in der Tasche würde er trotz weltweiter Wirtschaftskrise locker jeden Kredit bekommen.
Rainer war sich nur zu sehr bewusst, dass eine längerfristige Zusammenarbeit mit Max nicht mehr möglich sein würde. Er wollte Max auch nicht mehr in seiner Führungscrew haben. Nicht nur ihre beruflichen Interessen zeigten in diametrale Richtungen, auch in privater Hinsicht war es unbedingt notwendig, in Zukunft getrennte Wege zu gehen.
Isabell war Rainers Lebensmensch und die Mutter seines ungeborenen Kindes. Rainer konnte und wollte sie nicht gehen lassen. Diese letzte Hürde musste er zusammen mit Isabell noch schaffen und Max zu der Einsicht bringen, dass seine Exfrau jetzt endlich zu ihm gehörte. Doch Rainer war zuversichtlich. Das Geld war immer schon eine der größten Schwachstellen von Max gewesen. Sollte sein Partner jedoch auf diesen Deal nicht einsteigen wollen, würde ihm Rainer noch eine kleine prozentuelle Beteiligung anbieten. Doch mit diesem Problemkreis wollte er sich erst nach der Präsentation auseinandersetzen.

Kapitel 89

Ekaterina hatte sich unbemerkt in den Speisesaal geschlichen und sich einen Tisch in einer entlegenen Ecke gesucht, wo sie Max, seine Familie und Barkhoff relativ gut beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. 
Verschiedenste Empfindungen kämpften in ihrer Brust. Ekaterina fühlte sich als Paria und aus diesem erlauchten Kreis ausgeschlossen. In aller Deutlichkeit erkannte sie nun, wie lächerlich ihre einst so hochtrabenden Zukunftspläne gewesen waren, diesen Mann ganz für sich zu gewinnen. Noch nie hatte Ekaterina intensiver gespürt, dass sie für Max nichts anderes als Mittel zum Zweck war, dessen Gebrauch nur im Verbrauch lag. Ohne ein einziges Wort der Unterhaltung zu verstehen, konnte Ekaterina jedoch sehr gut erkennen, welche Emotionen an dem nur knapp 15 m entfernten Tisch zwischen den zwei Männern freigesetzt wurden. 
Zwischen diesen riesigen Kampfbullen stand eine zierliche und auch sehr schöne schwangere Frau, deren unruhiger Blick immer wieder zwischen den beiden Gegenspielern hin- und herschweifte. Ekaterina hatte fast Mitleid mit Max, der offensichtlich der Verlierer war. Hätte Ekaterina die Wahl gehabt, so hätte auch sie Barkhoff gewählt, der ganz entschieden der attraktivere von den beiden Männern war. Nicht, dass Max hässlich gewesen wäre, aber dieser Rainer strahlte ein ganz besonderes Flair aus, das irgendwie geheimnisvoll und anziehend wirkte. Ja, dieses Prachtstück von Mann würde sie ganz sicherlich nicht von ihrer Bettkante stoßen, sollte dieser sich jemals in ihre Gasse verirren. Über solche Gedanken und Wunschvorstellungen war die Frau von Max schon längst hinweg. Sie hat sich diesen Adonis bereits unter den Nagel gerissen und bestimmt nach allen Regeln der Kunst vernascht. Obwohl es das Liebespaar konsequent vermied, sich direkt anzusehen, spürte man selbst aus dieser Entfernung noch das Knistern der Zuneigung zwischen Rainer und Isabell. Der arme Max gab sich absoluten Wunschträumen hin zu glauben, bei seiner Frau jemals noch eine Chance zu bekommen.
Neidvoll beobachtete sie diese beiden Menschen, die einfach füreinander geschaffen waren. Max war der Verlierer. Wahrscheinlich würde nur der Tod fähig sein, Rainer von Isabell zu trennen…
Dieser Gedanke löste einen heftigen Stich in Ekaterinas Herzen aus. Mit einem Mal öffnete sich der unsichtbare Vorhang vor ihrem inneren Auge und sie begann sie die Zusammenhänge und Vorgangsweisen in Max’ gefährlichem Plan zu erahnen. Wenn er seine Frau nicht verlieren wollte, dann blieb ihm gar keine andere Wahl als diesen Rainer aus dem Weg zu räumen. Isabell würde ihn dann bestimmt nicht verlassen können und das auch nicht mehr wollen. Schließlich war sie die Mutter seines Kindes und erwartete außerdem ein Baby, von wem auch immer. Rainers Tod würde ihm nicht nur seine Frau zurückbringen, sondern auch seine finanziellen und existenziellen Schwierigkeiten mit einem einzigen Schlag lösen. 
Oh Gott, deshalb war Max in den letzten Tagen so ungewöhnlich geheimnisvoll und verschlossen gewesen. Er musste seinen Geschäftspartner töten, um nicht alles zu verlieren, was ihm wert und teuer war. Aber falls ihre Vermutung wirklich stimmen sollte, wie wollte er diesen Rainer dann um die Ecke bringen? 
Ekaterina musste unbedingt herausfinden, wie Max seinen Gegenspieler ausschalten wollte. Wenn sie seinen mörderischen Plan rechtzeitig in Erfahrung brächte, würde Ekaterina damit nicht nur ein großes Unglück verhindern können, sondern hätte mit dieser Vereitelung sicherlich gute Chancen, in Österreich bleiben zu können.
Doch die Zeit war schon verdammt knapp. Ekaterina war sich ziemlich sicher, dass Max seinen Geschäftspartner noch hier in Ägypten vor der Präsentation ermorden musste. Innerhalb der nächsten Tage musste dieses Mordkomplott über die Bühne gehen, damit Max daraus seinen Vorteil ziehen konnte. Schließlich hatte ja auch der Mann am Telefon wissen wollen, wie Max die Präsentation verhindern wollte.
Unbemerkt hatte sich Ekaterina wieder in ihr Zimmer zurückgeschlichen und sich auf das Bett gelegt. Der Appetit war ihr jetzt gehörig vergangen. Den fehlenden Kalorienbedarf wollte sie mit der restlichen Flasche Wodka ergänzen. Ekaterina überlegte hin und her, welch gefinkelten Plan Max ausgeheckt haben könnte. Alle in Betracht gezogenen Möglichkeiten liefen immer wieder auf denselben Punkt hinaus: Max konnte es sich nicht leisten, auch nur eine einzige Menschenseele mit ins Vertrauen zu ziehen. Bestimmt würden viele der hier ansässigen Araber für ein kleineres Sümmchen Barkhoff ins Jenseits befördern. Doch wenn die Angelegenheit einmal vorbei war, würde man Max finanziell auspressen wie eine saftige Zitrone. Mitwisser bei einem Mord würde ein intelligenter Mensch, wie Max es war, sicherlich zu vermeiden versuchen.
Noch während sie sich ihren Kopf zermarterte, hörte sie durch die geschlossene Verbindungstür Max. Ekaterina erwartete, dass er zu ihr ins Zimmer kommen würde. Doch stattdessen öffnete er seine Terrassentür und ging auf die grüne Wiese hinaus. Währenddessen war Ekaterina leise aus dem Bett gestiegen und beobachtete ihn durch ihre verschlossene Tür zur Terrasse. In ihrem Zimmer war es vollkommen dunkel. Max konnte sie daher unmöglich sehen.
Max sog er an seiner Zigarette, sodass die Glut im trüben Nachtlicht hell aufleuchtete. Minutenlang blickte Max sinnend ins Leere, bis er die abgebrannte Zigarette ins Gras warf. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und drückte auf die Wiederwahltaste. Ekaterina versuchte so leise wie möglich, ihre Terrassentür ein kleines Stück aufzuschieben, damit sie lauschen konnte. Es dauerte nicht lange und sie hörte Max mit nüchterner Stimme sagen:
„Guten Abend. Es gibt eine kleine Änderung in unserem Deal. Wenn ich Ihnen nächste Woche die Firmenanteile von mir und der alten Coleman abliefere, will ich keine 10 Millionen, sondern 20 Millionen Dollar.“
Ekaterina hatte zwar keine Ahnung, was der Mann am anderen Ende der Leitung sagte. Auf jeden Fall tobte dieser aber so laut, dass sie seine aufgeregte Stimme selbst aus der Entfernung noch wahrnehmen konnte. 
„Sie können schreien, soviel sie wollen. Ich habe erkannt, dass diese Technologie viel zu wertvoll und lukrativ ist, um mich dafür mit lumpigen 10 Millionen abspeisen zu lassen. Sie haben bis Ende der Woche Zeit, um mit Ihrem Klienten Rücksprache zu halten. Sollten die nicht auf meine Forderung eingehen, ist es mir auch recht. Dann werde ich eben im Minensuchgeschäft bleiben und zuerst den Sinai säubern, dann die Wüstengebiete Ägyptens und dann geht’s weiter in den Sudan, nach Algerien, Libyen usw. Die „Coleman-Foundation“ wird sich zu einer wahren Goldgrube entwickeln. Wenn Ihr Klient also noch wert auf diese Firma und ihre Patente legt, sollte er schnellstens auf mein Angebot eingehen, denn sonst bin ich spätestens ab übernächster Woche hier im Geschäft.“
Mit siegessicherem Lächeln beendete Max das Gespräch und steckte sein Handy wieder in die Hosentasche. Rasch schloss Ekaterina die Balkontür und sprang zurück in ihr Bett. Als Max ihr Zimmer betrat, stellte sie sich schlafend. Zufrieden begann er sein Hemd aufzuknöpfen und zog seine Hose aus. Dann stieg er zu Ekaterina ins Bett und griff brutal nach ihren Brüsten. 

Kapitel 90

Der Umstand, dass Isabell von ihrem Mann die Scheidung forderte, hatte die ohnehin schon ziemlich gespannte Situation zwischen Rainer und Max noch weiter erhärtet. Es war beiden so gut wie unmöglich geworden, konstruktive Gespräche zu führen. Immer wieder ließ Max ätzende Bemerkungen und andere Feindseligkeiten einfließen, die die Zusammenarbeit äußerst schwierig machten. Mittlerweile wusste Rainer auch, dass Max aus Isabells Zimmer ausgezogen war und sich irgendwo im Hotel einquartiert hatte. Außerdem war er sich nun absolut sicher, dass Max seine kleine Russin mitgenommen hatte. Im Speisesaal waren ihm die aufmerksamen und forschenden Blicke einer blonden jungen Frau aufgefallen, die ganz alleine an einem entlegenen Tisch gesessen war. Irgendwie war ihm diese Frau bekannt vorgekommen. Nach einigem Überlegen hatte er auch gewusst, woher er dieses Gesicht kannte. Rainer hatte die Frau seinerzeit von seinem Bürofenster aus beobachtet, wie sie mit Max eng umschlungen in die Kärntner Straße eingebogen war.
Nach dem Abendessen war Rainer zur Rezeption gegangen und hatte die Gästeliste durchgesehen. Wie erwartet war er auf den den Namen Ekaterina Sukowa gestoßen, die das Zimmer neben Max belegte. Ohnmächtiger Groll war in Rainer hochgestiegen, als er ihren Namen las. Diesem Mann fehlte wirklich jeglicher Anstand und hatte überhaupt keine Skrupel mehr. Um wie viel mehr wollte er denn Isabell noch verletzen und bloßstellen? 
Rainer erwähnte gegenüber Isabell mit keinem Wort, dass Max seine Geliebte mitgenommen hatte. Die augenblicklich ohnehin schon fast untragbare Situation schlug Isabell schon so ziemlich schwer aufs Gemüt, sodass Rainer bereits um ihre Gesundheit bangte. In jedem Fall wollte er jede weitere Aufregung von ihr fernhalten, die ihr nur unnötig schaden würde. Um Max keinen weiteren Stein des Anstoßes zu liefern, vereinbarte Rainer mit Isabell, dass er mit ihr in den nächsten Tagen so wenig Kontakt wie möglich pflegen würde. Sobald die Angelegenheit hier abgeschlossen war und sie wieder in Österreich waren, wollte Rainer mit Isabell voll durchstarten. Dann würde es keine Rücksicht mehr geben. Es war Zeit, endlich Nägel mit Köpfen zu machen und das zu tun, was er bereits vor mehr als zwölf Jahren hätte machen müssen. 
Nach dem Frühstück trafen sich Rainer und Max im Foyer des Hotels zu einem Morgenbriefing. Da sich die beiden den ganzen Tag über nicht sehen würden, wollten sie die wichtigsten Programmpunkte für die nächsten Stunden besprechen, um alle möglichen Unklarheiten zu beseitigen. 
Die eisige Stimmung zwischen den beiden war an einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Die beiden Männern belauerten einander wie Hund und Katz. Doch Rainer versuchte seine Aggressionen unter Kontrolle zu halten und mahnte sich Ruhe. Eskalationen mussten jetzt um jeden Preis vermieden werden.
„Ich werde heute nicht dazukommen, mir das Testgelände anzusehen. Die unvorhergesehenen Termine mit den Eigentümern der Minenräumfirmen und das weitere Treffen mit dem Verteidigungsminister werden ziemlich sicher den ganzen Tag über dauern. Deshalb werde ich mir das Gelände erst morgen früh ansehen können. Ich hoffe, du hast bereits die Fläche abstecken und aus der Luft scannen lassen, damit nichts passieren kann?“
„Was glaubst du eigentlich, was ich da draußen in der Wüste die ganze Zeit über treibe? Mich vielleicht im heißen Sand wälzen und durchbraten lassen?“, erwiderte Max bissig.
„Natürlich habe ich das gesamte Testgelände mit unseren Hubschraubern nach Sprengkörpern absuchen lassen. Wir haben nichts gefunden. Das Gebiet ist sauber. Die verschiedenen Dummys sind auch schon platziert. Wir haben jede Minentype gleich mehrfach simuliert. Aber dich interessiert ja kaum, was sich da draußen in diesem Backofen abspielt. Du bewegst dich lieber in deinem feinen Anzug in klimatisierten Räumen, trinkst eisgekühltes Mineralwasser, raspelst Süßholz und delegierst alle unangenehmen und schweißtreibenden Arbeiten an mich.“
Rainers gute Vorsätze sich nicht provozieren zu lassen, waren plötzlich dahin. 
Besonders jetzt, wo das geschäftliche Engagement seine absolute Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, waren seine Nerven ohnehin nicht allzu strapazierfähig. Max unüberlegte Äußerung hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Rainer konnte seinen Groll nicht mehr in Schach halten und fuhr ihn grimmig an:
„Bist du jetzt schon total übergeschnappt? Hier geht es nicht darum, wer was macht, sondern wer das bessere Geschick zum Verhandeln hat. Nachdem du dich ja lange Zeit überhaupt nicht mehr um das Projekt gekümmert hast und drauf und dran warst, deine Anteile zu verkaufen, nimmst du jetzt den Mund ganz schön voll. Spiel dich hier nur ja nicht als diskriminierter Dienstbote auf! Du scheinst vergessen zu haben, dass ich es war, der in akribischer Kleinarbeit diese Firma am Leben erhalten hat. Jeder Cent meines Privatvermögens steckt in diesem Projekt, damit es nicht auf der Strecke bleibt. Und ich war es auch, der trotz permanenter Sabotage in mühseliger Sisyphusarbeit verzweifelt nach Investoren gesucht und auch gefunden hat. Ich lasse mir mein Lebenswerk nicht durch deine unüberlegten Äußerungen und deinen Informations- und Wissensmangel ruinieren. Deine großen Stärken liegen nun einmal nicht im Schaffen, sondern im Huren und im Saufen. Aber diese Eigenschaften sind hier leider nicht gefragt.“
„Du niederträchtiges Arschloch, spiel dich hier ja nicht als Saubermann auf. Du bist nichts anderes als ein widerlicher, kleiner Parasit, der sich hinter seiner ach so hochanständigen Maske versteckt. In Wirklichkeit bist du keinen Deut besser als ein gieriger, selbstgefälliger und hinterhältiger kleiner Ganove, der anständigen Ehemännern die Frau stiehlt.“
Außer sich vor Zorn sprang Rainer aus seinem Stuhl auf und packte Max an seinem T-Shirt:
„Pass auf, was du sagst, Freundchen. Ich stehle dir deine Frau nicht. Du bist selbst Schuld, dass sie dir davonläuft. Hättest du Isabell anständig behandelt und wärst nicht jedem Weiberkittel nachgelaufen, dann wäre es niemals so weit gekommen. Außerdem möchte ich dich daran erinnern, dass du mir damals Isabell ausgespannt hast, sonst wären wir sicherlich schon seit vielen Jahren ein Paar.“
Von Rainers Handgreiflichkeit und seinem harten Griff überrascht, riss Max sich los. Abschätzend betrachtete er seinen Gegenspieler:
„Du armer Narr glaubst doch nicht allen Ernstes, dass Isa an so einem Looser, wie du es damals gewesen bist, Interesse gehabt hätte. Was hattest du denn schon zu bieten als ein leeres Portemonnaie, dafür aber einen Sack voll unerfüllter Träume und Wünsche? Isa wollte einen richtigen Mann und keinen dahergelaufenen und beschränkten Vorstadttölpel.“
Rainer wollte Max eine deftige Antwort entgegenschleudern, als er auf das erstaunte Hotelpersonal aufmerksam wurde, die dem unerwarteten Schauspiel ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zollten.
„Max, ich will mich mit dir jetzt nicht streiten. Tatsache ist, dass sich in den letzten Monaten einiges verändert hat. Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, als diese Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen und damit zu leben. Wenn dieser Zauber hier vorbei ist, müssen wir über eine Lösung unserer Probleme sprechen. Jetzt sollte unser gemeinsames Interesse aber darin liegen, die „Coleman-Foundation“ bestmöglich zu präsentieren, damit der gewünschte Erfolg gewährleistet ist. Unser aller Zukunft steht und fällt mit einer positiven Präsentation. Wenn es uns auch schwerfällt, unsere Aggressionen im Zaum zu halten, so lass uns zumindest für die nächsten Tage einen Waffenstillstand schließen.“ 
Max lächelte ihn gehässig an:
„Du meinst wohl Möglichkeiten zu deiner Befriedigung und zu deinem Vorteil. Darauf scheiße ich gelinde gesagt. Ich werde mir nichts wegnehmen lassen und am wenigsten von dir.“ 
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand Max auf und das Foyer.

Kapitel 91

Fast sah es so aus, als würde dieser Tag unter keinem guten Stern stehen. An die Erfolge seiner ersten Verhandlungen mit den ägyptischen Regierungsbeauftragten konnte Rainer leider nicht mehr anschließen. Das Angebot, das er den einzelnen Minensuchfirmen vorgeschlagen hatte, prallte an einer Fassade aus Überheblichkeit, Ignoranz und Vorurteilen ab. Es war unmöglich gewesen, diesen bornierten Unternehmern klarzumachen, dass ihre derzeit noch halbwegs gute Gewinne abwerfenden Firmen in absehbarer Zeit durch das moderne Suchverfahren der „Coleman-Foundation“ gehörig unter Druck kommen würden. Rainer hatte all seine Überzeugungskraft aufgeboten, doch drei der vier Eigentümer von Entminungsfirmen waren zu misstrauisch gewesen, um sich auf den angebotenen Deal einzulassen. 
Mit dem vierten Unternehmer hatte Rainer dann aber endlich Erfolg. Das Unternehmen wurde von dem koptischen Christen Khalil Shawari geleitet. Der junge Mann hatte in Berlin Technik studiert und sprach daher fließend Deutsch. Die in der arabischen Welt weit verbreiteten Vorurteile gegen „Ungläubige“, Christen und Europäer waren dem jungen Mann völlig fremd. Als promovierter Diplomingenieur erkannte Khalil schnell, wie groß das technische und betriebswirtschaftliche Potenzial dieser Suchhubschrauber für sein Geschäft sein könnte. Der Kopte brauchte nicht lange zu überlegen. Wenn er jetzt auf diesen Zug nicht aufspringen und die neue Technologie übernehmen würde, dann waren die Tage seines Unternehmens ohnehin gezählt. Gerade sein Betrieb hatte von der Größe und den finanziellen Möglichkeiten her diesem technologischen Quantensprung so gut wie nichts entgegenzusetzen. Entweder würde er dann sehr bald bei Rainers Unternehmen unter weit schlechteren Bedingungen anheuern müssen oder arbeitslos sein. Als erster Partner der „Coleman-Foundation“ würde er sicherlich profitieren und sich bei entsprechenden Erfolgen auch eine wichtige Position in dem voraussichtlich rasch expandierenden Unternehmen sichern.
Zwar wurde Rainers Euphorie durch die erfolglosen Gespräche mit den drei großen Minensuchfirmen ziemlich gedämpft, doch in dem jungen Shawari erkannte er ein ziemlich hohes Potenzial. Seine Firma war zwar mit Abstand die kleinste in der Branche, aber seine Bereitschaft für Veränderungen und sein innovatives Denken ließen bereits jetzt schon darauf schließen, dass durch Engagement und Fleiß des jungen Mannes alle Zeichen auf schnellem Wachstum standen. Je länger Rainer über diese Fusion nachdachte, umso besser gefiel ihm das Ergebnis. Unterm Strich war es sicherlich besser, ein kleines, aber dafür junges und aufstrebendes Unternehmen zu übernehmen als einen alt eingesessenen Betrieb, was sicherlich mit gröberen Problemen verbunden wäre. 
Nachdem Rainer noch am Nachmittag mit Shawari die ersten Vorverträge für bestimmte Gebiete auf der Sinaihalbinsel im Tourismusministerium unterschrieben hatte, kam er am späten Abend völlig erschöpft ins Hotel zurück. Die schreckliche Hitze und die stundenlange Konzentration bei den Gesprächen hatten ihn an die Grenze seiner Belastbarkeit getrieben. Rainer sehnte sich nach einer kalten Dusche, einem großen Cognac und einem sauberen Bett. Und dann wollte er nur noch schlafen.
Max hatte sich kein einziges Mal gemeldet, obwohl Rainer einige Male versucht hatte, ihn telefonisch zu erreichen. Die Sprachbox seines Handys war ausgeschaltet gewesen, sodass Rainer keine Chance hatte, ihn von seinen Fortschritten zu informieren. So konnte er nur hoffen, dass die Vorbereitungsarbeiten beim Testgelände auch weiterhin reibungslos über die Bühne gingen. Da er seinen Partner nicht ans Telefon bekam, rief er einen seiner Techniker an:
„Hallo Thomas, ich wollte nur wissen, ob bei euch da draußen alles in Ordnung ist.“
„Ja, soweit es um unsere Babys geht, gibt es keine Probleme. Wir haben sie heute noch einmal über das Testgelände geschickt, um ja sicher zu gehen, dass wir keine echte Mine übersehen haben und die Drohnen auch mit dem Klima und der Hitze gut zurechtkommen. Dann haben wir noch eine Unzahl von neuen Dummys im Wüstensand vergraben. Die Spezialleinwand steht auch schon. Sieht echt super und sehr eindrucksvoll aus, wie die aufgespürten Dummys mit einem großen, roten Kreuz für ihre Lage und einer Grafik der empfangenen Signale auf die riesige Wand projiziert werden.“ 
„Das ist ja eine wunderbare Neuigkeit.“ 
„Ja, wenn alles so reibungslos über die Bühne geht wie bei der letzten Probe, wird das sicherlich ein ziemlich beeindruckendes Spektakel.“
„Habt ihr vielleicht Max gesehen? Ich habe ihn den ganzen Tag über nicht erreichen können,“ fragte Rainer.
„Ja, er war den ganzen Tag hier und hat den Aufbau der Tribüne überwacht und auch das Übungsfeld noch einmal kontrolliert“, informierte ihn Thomas.
„Doch dort draußen in der Wüste gibt es absolut keinen Empfang. Dass Sie ihn nicht erreichen konnten, ist klar.“
Erleichtert atmete Rainer durch.
„Gut, dann ist ja alles in bester Ordnung. Ich werde morgen vormittags bei euch sein. Dann starten wir noch einmal einen letzten Probegalopp, bevor es ans Eingemachte geht.“
Rainer lehnte sich zufrieden in den Fond des Taxis zurück. Die Präsentation würde übermorgen am Vormittag stattfinden. Nach kaum zwei Stunden würde der ganze Zauber auch schon wieder vorbei sein und die langwierige und mühevolle Arbeit würde dann hoffentlich ihre ersten Früchte tragen.
Rainer ging sofort in sein Zimmer und stellte sich unter die Dusche. Während er erschöpft an der Fliesenwand lehnte und das kühle Nass auf ihn herunterprasselte, ließ endlich seine Spannung nach. Er war total erledigt. Während er die Augen schloss und sein Gesicht in den Duschregen hob, dachte Rainer an Max. Es tat ihm schrecklich leid, dass sich ihre Freundschaft in diese Richtung entwickelt hatte. Doch Rainer konnte nicht alles haben. Entweder diese Männerfreundschaft oder die Liebe zu der Frau seines Lebens. 
Deprimiert stieg er aus der Dusche. Jetzt, wo der Stress nachgelassen hatte, fühlte er sich nicht nur müde, sondern auch ziemlich einsam. Mehr denn je sehnte sich Rainer nach Isabell. Vielleicht sollte er sie anrufen uns sich mit ihr in der Bar auf einen kurzen Drink verabreden. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder und legte sein Handy auf den Tisch zurück. Es war bereits nach Mitternacht und Isabell würde bestimmt schon schlafen. Außerdem bestand auch die Gefahr, dass ihnen Max über den Weg laufen könnte. Eine derartige Provokation und weitere Demütigung würde seinen ohnehin schon furchtbaren Zorn nur weiter schüren und ihn völlig unberechenbar machen. 
Da er Isabell nicht bei sich haben konnte, nahm er die halbvolle Flasche Cognac und das Wasserglas aus dem Badezimmer mit ins Bett. Bei einem kleinen Schlummertrunk wollte er noch einmal die Ereignisse und Ergebnisse der vergangenen Tage überdenken.
Doch irgendwie gelang es Rainer nicht, bei der Sache zu bleiben. Die Erschöpfung zerrte zu sehr an seiner Konzentration und ließ ihn früher als gewollt in einen unruhigen Halbschlaf fallen. Es dauerte nicht lange und ein Kaleidoskop aus verschiedenen Szenen seiner Albträume zog an ihm vorüber, in denen er immer wieder in die hämisch triumphierenden Augen seiner Widersacher blickte, ehe er starb.
Aber auch Angelina blickte ihn mit ihren milchig-weißtrüben Augen an. Immer wieder mahnte sie ihn mit eindringlicher Stimme: „Hüte dich vor dem Flug des Falken.“
Seine Träume wechselten in immer rascherer Folge, bis die drei Augenpaare seiner Mörder schließlich in einem einzigen Blick zusammenschmolzen. Plötzlich fühlte er tiefblaue und eiskalte Augen auf sich gerichtet, die er kannte. 
Bestürzt fuhr Rainer aus seinem wenig erholsamen Schlaf hoch. Er atmete erleichtert durch und langsam wich die aufgestaute Spannung wieder aus seinem Körper. Das Glas mit dem auf seiner Bettdecke verschütteten Cognac lag neben ihm. Benommen stellte er es auf den Nachtisch zurück. Der Geruch des Branntweins stach unangenehm in seine Nase. In seinem Zimmer roch es wie in einer Schnapsbrennerei. 
Es war kurz nach vier Uhr und die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Rainer war viel zu aufgewühlt, um noch einmal die nötige Ruhe zu finden.
Er sprang er aus dem Bett und zog seine Jeans und ein Poloshirt über. Dann öffnete er die Terrassentür seines Zimmers und ging mit nackten Füßen den schmalen Weg durch den Palmenhain zum Strand hinab. Zu dieser frühen Stunde war noch keine Menschenseele unterwegs. 
Vor ihm lag im grauen Morgendunst das noch spiegelglatte Meer. Nur das Rauschen der kleinen Wellen, die an den vorgelagerten Felsblöcken des Strandes leicht glucksend abprallten, war das einzige Geräusch, das die Stille unterbrach. Vom Meer her wehte eine frische Morgenbrise. Der feine Sand unter seinen Füßen hatte in der Nacht seine Hitze verloren und fühlte sich angenehm kühl an. Rainer ließ sich auf dem sandigen Boden nieder. In wenigen Stunden würde die aufgehende Sonne Luft, Sand und Wasser neu aufgeheizt haben, so dass ein Sitzen hier kaum möglich sein würde. Rainer genoss die aufmunternde Frische dieses friedvollen Morgens. Sie half ihm, klarer zu denken. Langsam zog er seine Beine an den Körper und umfasste sie mit seinen Armen, während er den Horizont beobachtete, dessen erster blau-rötlicher Schimmer den nahenden Morgen ankündigte. Obwohl er völlig still dasaß und scheinbar gedankenverloren in die Ferne blickte, war jede Faser seines Körpers angespannt. 
Eindringlicher als je zuvor mahnten ihn seine Träume zur Vorsicht. Wie oft hatte in Angelina darauf aufmerksam gemacht, dass diese Träume wichtige Vorzeichen sind, die er keinesfalls ignorieren durfte. Bis jetzt hatte Rainer aber die erforderliche Ruhe uns innere Abstand gefehlt, um die notwendige Übersicht und damit die richtige Erkenntnis zu gewinnen. Nichts war mehr von seiner einstmals so beschaulichen kleinen Welt übrig geblieben. Sein altes Leben war im Vergleich zu seinem jetzigen Dasein absolut durchschnittlich gewesen. Sein wirkliches Leben hatte ab dem Zeitpunkt begonnen, wo ihm Angelina über den Weg gelaufen war. Sie war es gewesen, die ihm behutsam die Schleier von seinen Augen gezogen hatte. Seine Freundin hatte ihn aus seinem eigenen Schatten geführt und ihn erkennen lassen, welch ungeheures Potential in ihm steckte. Mit ihrer Hilfe war er sich seiner Kraft, seiner Berufung und seiner Fähigkeiten nach und nach bewusst geworden. Rainer hatte sich vom unscheinbaren Mitläufer zu einem verbissenen Einzelkämpfer gewandelt, der nun unbeirrt seine Ziele verfolgte. 
Mit der aufgehenden Sonne stieg auch Rainers Unruhe. Der dumpfe Druck in seinem Magen verhieß nichts Gutes. Immer wieder kamen ihm die bösen Augen seiner Mörder in den Sinn, die schließlich in Max’ kaltem Blick zusammenliefen...
Plötzlich hörte er seinen Namen rufen. Rainer stand auf und wandte sich um und zuckte erschrocken zusammen. 
Isabell trug wieder ihr naturrotes Haar, das in den ersten Sonnenstrahlen wie Gold schimmerte. Ihre meergrünen Augen bildeten nun einen noch intensiveren Kontrast. Er liebte Isabell genauso wie einst Elia, Irene und Isidora. Nein, Rainer liebte sie weit mehr, weil er nun wusste, dass die Liebe dieser Frau so stark war, um ihm durch Zeit und Raum zu folgen. Rainer wurde sich immer mehr der Tragödie seiner Bestimmung bewusst. Würde sich sein Schicksal ein weiteres mal erfüllen und durch die Hand eines eifersüchtigen Gegenspielers sterben? Würde er wieder eine verzweifelte Frau zurücklassen, um dieser in einer anderen Welt erneut zu begegnen? Die Unabwendbarkeit der auf ihn wartenden Ereignisse ließ ihn schaudern. Hatte er denn eine Wahl in sein Schicksal einzugreifen?
Rainers traurige Augen ließen Isabells Lächeln ersterben.
„Gefallen sie dir nicht?“, fragte sie ihn zweifelnd und griff enttäuscht in ihr frisch gefärbtes Haar.
„Du wolltest doch, dass ich sie so trage wie früher.“
Rainer drückte sie liebevoll an sich und küsste sie zärtlich auf die Stirn.
„Oh doch, du gefällst mir jetzt noch mehr als du ohnehin schon tust. Du hättest es niemals anders tragen sollen“, erwiderte er mit wehmütigem Wissen.
Isabell blickte fragend zu ihm hoch.
„Ist etwas passiert? Du klingst so bedrückt?“
Rainer schüttelte den Kopf und drückte sie wieder an sich. Die Angst, sie zu verlieren, schnürte ihm die Kehle zu.
„Nein, mein Engel, ich bin nur ein wenig erschöpft. Die letzten Tage waren ziemlich anstrengend. Und Max macht es mir auch nicht gerade leichter. Ich bin schon froh, wenn der ganze Zauber hier vorbei ist und wir wieder nach Hause fliegen können.“
„Ja, so geht es mir auch. Die Situation mit Max wird immer unerträglicher. Wenn er sich kurz bei uns blicken lässt, dann trieft er vor Gehässigkeit.“ 
„Ahnt Lisi etwas?“, wollte Rainer wissen.
„Ich denke schon. Doch sie sagt nichts. Wenn wir wieder zu Hause sind, dann werde ich mit ihr reden müssen. Es wird Zeit ihr zu sagen, was Fakt ist und dass wir Max nicht nach Thailand begleiten werden.“
Rainer schob sie ein Stück von sich, damit er in ihre Augen schauen konnte.
„Isabell, bist du dir absolut sicher, dass du Max verlassen willst und mit mir leben möchtest.“
„Warum fragst du so etwas? Liebst du mich nicht mehr? Oder bekommst du jetzt kalte Füße?“ 
Isabells ängstliche Fragen ließen ihn sofort seinen Fehler erkennen. Voller Zärtlichkeit nahm er ihr leicht verstörtes Gesicht in seine großen Hände, sodass es darin fast verschwand.
„Verzeih diese dumme Frage. Ich wollte nur sicher gehen, dass du von Deiner Absicht völlig überzeugt bist. Ich liebe dich so sehr, dass ich vor Glück fast schreien möchte. Jeder soll wissen, wie viel du mir bedeutest. Du warst und wirst immer der Mittelpunkt in meinem Leben sein. Du bist mein absolutes Glück, meine Luft, die ich zum Atmen brauche, die Sonne, die mich erwärmt, du bist die Zuversicht und die Hoffnung, du bist der Sinn meines Lebens.“
„Ok, dann passt ja alles“, lächelte sie ihn glücklich an. Dann zog sie seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn auf den Mund.
„Was machst du denn in aller Hergottsfrühe schon hier am Strand?“ fragte Isabell nach dem langen und zärtlichen Kuss. 
„Ich konnte nicht schlafen und wollte mir nur ein wenig die Beine vertreten.“
Das war aber nur die halbe Wahrheit. Rainer wollte sie mit seinen Sorgen nicht noch mehr belasten.
„Und wieso bist du schon so zeitig wach?“
„Ich war durstig und habe mir ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank geholt. Da sah ich jemanden am Strand sitzen. Ich wusste sofort, dass das nur du sein konntest.“
Isabell setzte sich in den Sand und forderte Rainer auf:
„Komm, setz dich zu mir und lass uns zusammen den Sonnenaufgang genießen. So oft haben wir nicht die Möglichkeit dazu.Wer weiß, wann wir wieder die Gelegenheit haben, unbeobachtet zu sein.“
Rainer lächelte sie verliebt an und setzte sich hinter Isabell, damit sie sich an ihn lehnen konnte. Automatisch vergrub er seine Nase in ihr rotes Haar und roch ihren besonderen Duft, während seine Hände zärtlich ihren gewölbten Leib umfingen. So saßen beide eng aneinandergeschmiegt im Sand und betrachteten schweigend den feuerroten Ball, der sich langsam aus dem Meer erhob und mit seiner warmen Helligkeit das trübe Morgenlicht immer mehr zurückdrängte.
Rainer genoss den stillen Moment dieser trauten Zweisamkeit sehr. Vielleicht war es ja auch das letzte Mal, wo er ihr so nahe sein konnte. Wenn, dann wollte er diesen besonderen Moment mit in die Ewigkeit nehmen.
Plötzlich zuckte Isabell zusammen. Auch Rainer hatte in seiner Handfläche den leichten Stoß in ihrem Bauch gespürt.
„Was war das?“, fragte er erschrocken.
„Alles in Ordnung“, beruhigte ihn Isabell und lächelte ihn glücklich an.
„Unser Kind hat mich zum ersten Mal getreten.“ 
Plötzlich erfasste Rainer eine heftige Woche des Glücks.
„Unser kleines Mädchen hat also ihr erstes Lebenszeichen von sich gegeben.“ 
Der Stolz des werdenden Vaters war nicht zu überhören.
„Wieso weißt du denn, dass es ein Mädchen sein wird?“ 
„Ich weiß es eben“, erwiderte Rainer mit wissendem Lächeln.
„Darf ich dich um einen Gefallen bitten, Isabell?“ 
„Um jeden, den du nur willst
„Es wäre ein großer Wunsch von mir, dass unsere Tochter Angelina heißt.“
Verwundert wandte sie sich ihm zu.
„Angelina? O.k., warum nicht? Sie wird ohnehin unser kleiner Engel sein, wieso sollen wir sie nicht auch so nennen.“
Nachdem der Zauber des erwachenden Morgens vorüber war, standen Rainer und Isabell auf und gingen Hand ins Hand ins Hotel zurück. 

Kapitel 92

Auch Max war viel zu aufgewühlt, um Schlaf zu finden. Mit dem Feldstecher in der Hand stand er auf seiner kleinen Terrasse und verfolgte Rainer und Isa, die sich völlig unbeobachtet fühlten. Der Stachel der Eifersucht bohrte schmerzhafter denn je in ihm, als er die beiden Liebenden beobachtete. Max war sofort aufgefallen, dass Isa zu ihrer natürlichen Haarfarbe zurückgefunden hatte. Wenn er geahnt hätte, wie schön und erotisch sie damit aussah, hätte er sie schon wesentlich früher darum gebeten, es so zu lassen wie es ist. Doch wieso hatte sie es gerade jetzt gefärbt? Waren dies etwa schon die ersten Anzeichen einer bevorstehenden Veränderung? Erneut versetzte es ihm einen tiefen Stich in sein Herz, als Isa Barkhoffs mit unendlicher Zärtlichkeit küsste, während sie ihren Körper eng an seinen schmiegte. Max konnte sich nicht erinnern, dass seine Frau jemals so zärtlich und liebevoll zu ihm gewesen war. Was hatte er nur falsch gemacht, dass er niemals diese Gefühle in ihr wecken konnte? Dieses schmerzliche Beobachtung bestärkte ihn nur noch mehr in seiner Überzeugung, dass es höchste Zeit war, dieses Schwein endgültig aus dem Weg zu räumen. Niemand, absolut niemand würde ihm seine Frau wegnehmen. 
Wenn er hier seine Aufgabe erledigt haben würde, dann wollte er diesmal wirklich ernsthaft daran arbeiten, der Mann zu werden, nach dem sich Isa sehnte. Er würde dann endlich einen Therapeuten aufsuchen, der ihm bei seinem Sexproblem helfen musste. Sein Wollen alleine würde nicht ausreichen. Außerdem nahm er sich vor, mit Isa eine Ehetherapie zu machen, damit sie wieder zueinander finden konnten. Max war zuversichtlich. Er würde es sicherlich schaffen, Isa wieder in sich verliebt zu machen. Dann würde sie Rainer bestimmt bald vergessen haben.
Doch zuerst würde er sich nach seiner Rückkehr nach Österreich so schnell wie möglich dieser ziemlich lästig gewordenen Russin entledigen. Er hatte endgültig genug von billigen Huren und deren Abzocke. Unter allen Umständen wollte Max seine Frau zurück und mit ihr ein neues Leben beginnen. Er wusste, dass er große Schuld auf sich geladen hatte. Doch Max wollte alles daransetzen, um Isa wieder glücklich zu machen. Selbst wenn das Kind nicht von ihm sein sollte, würde er es wie sein eigenes behandeln. Zumindest wäre er diesen Akt der Menschlichkeit Rainer schuldig.
Beseelt von der Hoffnung, wieder eins mit seiner Familie zu werden, ging er in sein Zimmer zurück. Mit größter Konzentration studierte er noch einmal den Lageplan, um sich jedes noch so kleine Detail genauestens einzuprägen. Danach faltete er die Karte und schob sie durch einen der schmalen Schlitze der Klimaanlage, die über der Eingangstür angebracht war. 
Nachdem er sich überzeugt hatte, dass der Luftzug des Ventilators das Papier nicht flattern ließ, holte er sein Handy hervor und drückte Rainers Nummer.
„Hallo Rainer, schön, dass du schon auf bist. Der Tag soll heute verdammt heiß werden. Ich bin schon unterwegs zum Testgelände und würde vorschlagen, dass auch du gleich nachkommst, damit wir dieser schrecklichen Hitze nicht total ausgesetzt sind. Im Großen und Ganzen habe ich alles im Griff. Der Aufbau der Tribüne ist fertig. Das Catering ist bestellt und bei der hohen Anzahl der aufgestellten Wegweiser muss selbst ein Blinder die Straße zum Testgelände finden. Ich möchte aber mit dir zusammen die Übungsfläche noch einmal begutachten, damit wir uns einig sind, von welcher Richtung aus die Hubschrauber starten sollen. Obwohl alle Dummys bereits vergraben sind, kann man doch noch überlegen, wie man sie vielleicht noch effektvoller anordnen könnte. Schließlich soll die Präsentation unserer Hubschrauber ja auch ein demonstratives Spektakel werden.“
Rainer war mit dem vorverlegten Termin durchaus einverstanden. Wenn nötig, konnte man dann noch zusammen mit den Technikern bequem das eine oder andere verändern, ohne unter Zeitdruck zu geraten. Im Grunde genommen konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. 

Es war jetzt kurz vor sechs. Die beiden Techniker hatte Max erst für 9 Uhr bestellt, sodass so früh am Morgen keine Zeugen beim Testgelände sein würden. Mit ein wenig Glück würde dieser verdammte Barkhoff in ein paar Stunden tot sein und er damit um 20 Millionen Dollar reicher. Der Anwalt hatte ihn gestern spät abends noch angerufen und ihm mitgeteilt, dass das Konsortium mit seinem Plan und dem Deal einverstanden war. Mit diesen zusätzlichen 10 Millionen würde er Isabell beinahe jeden Wunsch von den Augen ablesen können.
Ohne sich von Ekaterina zu verabschieden, verließ er sein Hotelzimmer. Max hatte absolut kein Interesse, diese kleine Schlampe heute noch einmal zu sehen. Vielleicht gab es ja schon heute einen Flug, mit dem er die Russin nach Österreich zurückschicken konnte. Für Ekaterina war jetzt kein Platz mehr. Zum Abschied hatte er sie gestern Abend noch einmal ordentlich hergenommen und sie so benutzt, wie er es immer schon wollte. Dabei hatte er auf ihrem Körper kleinere, aber auch einige größere Andenken hinterlassen. Doch das war ihm nun ziemlich egal. Sie hatte keine Bedeutung mehr. 

Kapitel 93

Auch Ekaterina hatte in dieser Nacht nicht geschlafen. Zum ersten Mal hatte sie das ernsthafte Gefühl, dass Max nicht ganz dicht war. Obwohl sie ihn mehrere Male inständig gebeten hatte, endlich mit dem Peitschen aufzuhören, hatte er ihre Bitten völlig ignoriert. Wie von Sinnen hatte er die Peitsche auf ihren gefesselten Körper niedersausen lassen. Erst als sie trotz Knebel laut zu brüllen begonnen hatte, hörte er auf. Ihre Vorwürfe stießen jedoch auf taube Ohren. Ohne sich noch weiter um die verletzte Frau zu kümmern, ging Max in sein Zimmer und versperre die Tür.
Ekaterina hatte keine Ahnung, was in Max gefahren war. Sein Verhalten erinnerte aber nun eher an einen irren Psychopathen als an einen etwas perversen Liebhaber. Vielleicht wollte ihr Max mit dieser fiesen Aktion auch nur zu verstehen geben, dass ihm an ihr nichts mehr lag.
Ekaterina hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte. Sie brauchte einige Zeit, um sich aus ihren Fesseln zu befreien, ehe sie die blutenden Striemen auf ihrem Körper mit einem feuchten Handtuch abwischen konnte. Um ihre Verletzungen ordentlich zu versorgen, war jetzt keine Zeit. Rasch zog sie ein langes T-Shirt über und schlich sich auf ihre Terrasse, um ihn durch die Terrassentür seines Zimmers zu beobachten. Gott sei Dank war es stockfinster, sodass Max sie nicht sehen konnte. 
Die halbe Nacht lang saß er auf seinem Bett und brütete über einem Plan. Ekaterina konnte aber nicht erkennen, was er da so intensiv studierte. Als es zu dämmern begann, stand er endlich auf und ging auf die Terrasse. Im letzten Moment konnte sich Ektaterina in ihr Zimmer zurückziehen und die Schlafende spielen. Fast eine halbe Stunde stand Max reglos da und sah wie gebannt durch seinen Feldstecher. Dann ging er laut fluchend in sein Zimmer zurück.
Die schützende Dunkelheit war nun dem hellen Tageslicht gewichen. Unmöglich konnte sie ihn jetzt mehr von der Terrasse aus beobachten. Durch das Schlüsselloch konnte Ekaterina auch nichts erkennen, da der Schlüssel steckte. Jetzt konnte sie sich nur noch auf ihre Ohren verlassen. Mit einem Wasserglas, das Ekaterina an die Tür und an ihr Ohr presste, hoffte sie, die Geräusche im anderen Zimmer besser wahrnehmen zu können. Viel konnte sie jedoch nicht zuordnen, außer dass er einen Sessel irgendwohin schob. Das Ächzen des Holzes deutete eindeutig auf sein hohes Gewicht hin. Ekaterina nahm daher an, dass er darauf gestiegen war. Kurz darauf telefonierte Max mit Barkhoff. Diesmal verstand sie aber jedes Wort. Max wollte sich mit seinem Geschäftspartner draußen in der Wüste treffen, um ihm das Testgelände zu zeigen. Das traf sich sehr gut. Ekaterina würde genügend Zeit haben, um sein Zimmer zu durchstöbern. Irgendwie hatte sie das untrügliche Empfinden, dass Max etwas versteckt hatte, was für sie vielleicht von Bedeutung sein könnte.
Als die Russin hörte wie er sein Zimmer verließ, öffnete sie leise ihre Tür und blickte ihm vorsichtig nach. Bepackt mit seinem Aktenkoffer, etlichen Papierrollen und Plänen verschwand Max schließlich um die Ecke. Wie es aussah, würde er nicht so bald wieder zurück sein. In der Hoffnung, dass er vergessen hatte seine Terrassentür zu versperren, lief sie zu der hinteren Tür. Shit, sie war zu.
Rasch überlegte Ekaterina, wie sie sonst noch in sein Zimmer gelangen könnte. Die Türen konnten von außen nur mit einer Chipcard geöffnet werden. Wenn die Tür ins Schloss fiel, hatte man Pech. Die Russin steckte ihre Chipcard in ihren Slip und warf die Türe zu. Das Putzpersonal hatte bereits begonnen, die Zimmer des Ganges sauber zu machen. Ekaterina lief zu einem der Stubenmädchen und machte ihr verständlich, dass sie sich ausgesperrt hatte. Das unwissende Mädchen schloss ihr natürlich die Tür zu Max’ Zimmer auf. Das war einfacher gegangen als Ekaterina vermutet hatte. 
Aufgeregt ließ sie ihren suchenden Blick durch das Zimmer wandern. Sie hatte aber keine Ahnung, wonach sie eigentlich suchte. Jedenfalls war Max auf einen Sessel gestiegen. Ein Mann seiner Größe hatte normaler Weise kein Problem in die obersten Fächer des Kleiderkastens zu gelangen. Dafür hatte er den Sessel bestimmt nicht gebraucht. Max musste etwas verstaut haben, was schwer zu erreichen ist und nicht mehr im Sichtbereich lag. Viele Möglichkeiten, oberhalb von zwei Metern nach einem Versteck zu suchen, gab es ja nicht. Hinter der Karniese war jedenfalls nichts versteckt. Auch hinter dem Bild an der Wand und auf der Deckplatte des Kastens war nichts zu finden. Doch dann fiel ihr Blick zu der rechteckigen Blende der Klimaanlage. Ekaterina schaltete sie ein. Auf der niedrigen Stufe ließ sich aber nichts Verdächtiges entdecken. Doch dann drückte sie auf volle Leistung. Plötzlich begann ein zusammengefaltetes Papier im starken Luftzug des Ventilators zu vibrieren, sodass man es durch die länglichen Schlitze sehen konnte.
Erleichtert atmete Ekaterina durch. Sie war fündig geworden. Rasch zog sie einen der beiden Sessel heran und versuchte, das zusammengefaltete Papier durch einen der schmalen Schlitze herauszuziehen. Doch nach mehrfachen Versuchen musste sie aufgeben, da sich das entfaltete Blatt einfach nicht durch den engen Spalt ziehen ließ. Nach kurzem Überlegen sprang sie vom Sessel, sperrte die Zwischentür zu ihrem Zimmer auf und holte aus ihrem Suitcase eine Nagelfeile, die sie als kleinen Schraubenzieher benutzte. Doch die Schrauben waren so festgezogen, dass die schmale Feile abbrach. Deftig fluchend begann sie nach einem passenden Ersatz zu suchen. Es war zum Haareraufen, Ekaterina konnte nichts Brauchbares finden. Vorsichtig öffnete sie die Tür und warf einen raschen Blick auf den Korridor. Die Stubenmädchen arbeiteten sich langsam vor. Auf ihrem riesigen, mit frischer Bettwäsche und Badetüchern beladenen Rollwagen, befand sich ein Fach in dem schmutziges Geschirr aus den Zimmern abgestellt wurde. Ekaterinas Blick fiel auf ein benutztes Messer. Das konnte passen. Schnell schnappte sie sich das Messer und verschwand wieder ihrem Zimmer. Ohne sich mit dem Säubern des Messers aufzuhalten, begann sie gleich, die Schrauben damit zu lösen. Es dauerte nicht lange und sie konnte die Blende anheben, hinter der das gefaltete Papier steckte. 
Ekaterina nahm es in ihr Zimmer mit. Dort breitete sie das Papier auf ihrem Bett aus und betrachtete es. Es war derselbe Plan, den sie schon einmal beim Durchstöbern Max’ Aktentasche gesehen hatte. Damals hatte sie aber keine Ahnung, dass dieser Plan so wichtig war und Max ihn verstecken musste. Auch jetzt hatte Ekaterina aber absolut keine Ahnung, was sie damit anfangen sollte. Sie wusste aber, dass dieses rätselhafte Papier der Schlüssel war, der sie ihrem Ziel näher bringen konnte. 
Leichte Panik begann die Russin zu erfassen, weil sie sich zunächst keinen Reim auf den Inhalt der Karte bilden konnte. Doch je länger sie sich auf das Sammelsurium aus Straßen, Richtungsweisern, gekennzeichneter Flächen, Punkten und Kreuzen konzentrierte, umso mehr bekam sie den Durchblick. Auf dem Plan war eine Straße eingezeichnet, die zu einem markierten Gelände führte. Die zweite Straße war mit einem Pfeil und der Aufschrift „Airport“ markiert. Ein großes, rechteckiges Feld, das mit einem blauen Filzschreiber hervorgehoben wurde, schloss direkt an eine rot markierte Fläche an. An der Grenze dieses rot markierten Abschnitts zum blau einfassten Feld befanden sich etliche rote Kreuze, während das blaue Feld mit einer Unzahl von schwarzen Kreuzen versehen war. Was hatten diese verdammten Kreuze bloß zu bedeuten? Doch dann dachte sie an Max, wie er stundenlang vor dieser Karte gesessen war und sich darauf konzentriert hatte. Und plötzlich wusste Ekaterina den Grund. Es mussten diese roten Kreuze sein, die sich Max so genau eingeprägt hatte. Diese roten Markierungen mussten im Gegensatz zu den schwarzen scharfe Minen sein. Je länger Ekaterina die Karte studierte, umso klarer wurde ihr, dass Max dieses Minenfeld millimetergenau vermessen hatte. Das Testgelände selbst war nur mit Minenattrappen versehen, während dieser kleinere und abgegrenzte Teil scharf vermint war. Ekaterina hatte Max’ teuflischen Plan durchschaut. 
Max würde diesen verhassten Barkhoff in jenen Bereich locken, der mit scharfen Minen gespickt war. Da Max ganz genau wusste, bis zu welcher Linie diese gefährlichen Dinger vergraben waren, konnte er ihnen geschickt ausweichen. Sein Geschäftspartner würde aber keine Ahnung haben und völlig vertrauensvoll das gefährliche Terrain betreten, auf dem sich Max so sorglos vor ihm zu bewegen schien. Bei der großen Zahl von Minen würde der unwissende Mann ziemlich sicher auf eine dieser Sprengfallen treten, die ihn unweigerlich töten würde. Max hatte bestimmt dafür gesorgt, dass genügend Sprengstoff in die Minen eingebaut war. Und selbst wenn Barkhoff die Mine nicht gleich zerreißen würde, müsste Max nicht einmal nachhelfen, um ihn über den Jordan zu schicken. Max musste einfach nur ein bisschen warten und zusehen, wie Barkhoff hilflos erblutete. 
Max konnte es dann so drehen und wenden, dass diese Explosion wie ein bedauerlicher Unfall aussehen würde. Das war also der Grund gewesen, wieso er Barkhoff so zeitig am Morgen zum Testgelände bestellt hat. Sicherlich war zu dieser frühen Stunde noch niemand vor Ort. So gesehen würde Max niemand beweisen können, dass er der Drahtzieher dieses Mordkomplotts war. Offiziell gab es keine Verdachtsgründe, wieso Max seinen Geschäftspartner hätte töten sollen. Die Einzige, die Verdacht schöpfen würde, war Isabell. Doch sie würde sich sicherlich hüten, gegen ihren Mann und den Vater ihrer beiden Kinder auszusagen. Ihr Liebhaber war tot und niemand konnte ihn ihr wieder zurückbringen. Was brächte es also dann noch, sich gegen ihren Mann zu stellen. Und selbst wenn, ihre Beweise würden niemals ausreichen, ihn als Mörder zu überführen. 
Doch plötzlich lächelte Ekaterina triumphierend. Sie hatte den Beweis gerade gefunden und sie konnte diesen Scheißkerl nach vollbrachter Tat den Behörden ans Messer liefern. Doch wo läge dabei ihr eigener Nutzen? Sie würde mit einem freundlichen Händedruck und einem „Dankeschön“ trotzdem wieder nach Russland abgeschoben werden. 
Lange brauchte Ekaterina nicht nachzudenken, wie sie ihren Vorteil aus dieser neuen Situation ziehen konnte. Doch nun zählte jede Minute.

Kapitel 94

Nachdem Isabell sich von Rainer verabschiedet hatte, schlüpfte sie noch einmal in ihr Bett zurück. Ihr war nun ziemlich kalt. Der frische Morgenwind und der kalte Sand unter ihren Füßen hatte sie frösteln lassen. Doch Schlaf konnte Isabell keinen mehr finden. Sie fühlte, dass Gefahr in der Luft lag. Obwohl Rainer noch liebevoller als sonst gewesen war, hatte Isabell das untrügliche Empfinden, dass er ziemlich bewegt und voll dunkler Vorahnungen war. Einen Anflug von Verzweiflung hatte sie nur zu gut in seinen Augen ablesen können. Ihren Fragen war er geschickt ausgewichen und Rainer hatte das Gespräch auch sofort in eine andere Richtung gelenkt. Seine Unruhe ging jedoch unwillkürlich auf sie über. Dass seine Sorgen und seine Vorahnung mit Max zu tun haben könnten, lag auf der Hand. Schwierigkeiten mit ihrem Mann gab es ja schon die ganze Zeit über. Isabell wollte Rainer nach dem Abendessen darauf ansprechen. Schließlich würden sie bald ein Paar sein, das auch Schwierigkeiten gemeinsam zu bestehen und zu lösen hatte. Und je früher man sich dieser Probleme stellte umso schneller waren sie vom Tisch.
Ein heftiges Klopfen an der Tür riss Isabell aus den Gedanken. Schnell stieg sie aus dem Bett und eilte zur Tür. Lisi schlief noch friedlich und sollte nicht geweckt werden.
Isabell hatte Rainer oder Max erwartet. Doch stattdessen stand vor ihr eine blonde junge Frau in einem langen T-Shirt, dessen Stoff frische Blutspuren aufwies. 
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Isabell bestürzt und starrte auf die roten Flecken des T-Shirts. Ekaterina folgte ihrem Blick und sah nun auch die Blutspuren, die die Striemen auf ihrem Shirt hinterlassen hatten. 
„Nein, das tut nichts zur Sache“, erwiderte Ekaterina und versuchte, die Flecken mit ihren Händen zu verdecken.
„Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen“, fuhr sie nervös fort. 
„Ich verstehe nicht ganz. Warum wollen sie mir helfen?“, fragte Isabell verwirrt. 
„Wer sind Sie eigentlich?“, wollte Isabell nun wissen und ihre Unruhe begann zu steigen. 
„Ich bin Ekaterina Sukowa, die Geliebte Ihres Mannes.“ 
Isabell brauchte einen Moment, um diese Info zu verdauen.
„Oh, damit habe ich nicht gerechnet“, erwiderte Isabell betroffen. 
„Ich hatte keine Ahnung, dass er Sie auch mitgenommen hat. Was wollen Sie von mir?“, fragte sie weiter und die kühle Distanz nahm zu. Die Russin blickte nervös in den leeren Korridor. Sie wollte nicht, dass irgendjemand das Gespräch belauschte. 
„Es gibt da ein ziemliches Problem, von dem Sie erfahren sollten. Wäre es vielleicht möglich, dass ich einen kurzen Moment ins Zimmer kommen darf?“
Sofort begann sich Isabell zu versteifen. 
„Es wäre wohl besser, wenn Sie wieder gehen. Ich glaube kaum, dass wir Gemeinsamkeiten haben, außer dass Sie meinen Mann kennen.“ 
Isabell wollte gerade die Tür schließen, als sie den Widerstand von Ekaterinas Fuß spürte. Zornig riss Isabell die Tür wieder auf und fuhr die junge Frau erbost an: 
„Nehmen Sie sofort Ihren Fuß aus meiner Tür und verschwinden Sie, sonst rufe ich die Securitiy.“ 
Ohne auf ihre Drohung zu achten, drängte Ekaterina Isabell ins Zimmer und flüsterte eindringlich: 
„Seien Sie still!“, fauchte Ekaterina zurück.
„Glauben Sie wirklich, ich würde hier auftauchen, wenn es nicht wichtig wäre? Es geht hier nicht um mich oder um Sie, sondern um das Leben ihres Freundes Barkhoff.“ 
„Was sagen Sie da?“ Isabell hoffte, sich verhört zu haben. 
„Max will Barkhoff töten.“
Ohne weiter zu fragen, stupste Isabell die junge Frau ins Bad und schloss die Tür. 
„Also, was haben Sie mir zu sagen?“, fragte Isabell in heller Aufregung.
„Bevor ich mit dieser wichtigen Information rausrücke, will ich, dass Sie auch etwas für mich tun. Ihr Mann ist ein Schwein. Er hat mich aus Russland geholt und mich auf abartigste Weise benutzt. Und jetzt will er mich wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Ich habe hier in Wien eine Ausbildung zur Hilfskrankenschwester begonnen und will diese Ausbildung unter allen Umständen fertig machen. Wenn mich Max nicht mehr unterstützt und mich aus der Wohnung wirft, bleibt mir nichts anderes übrig als wieder nach Russland zurückzugehen, wo ich keine Chancen auf einen ordentlichen Job habe. Deshalb biete ich Ihnen einen Deal an: Ich helfe Ihnen und im Gegenzug unterstützen Sie mich, bis ich meine Ausbildung abgeschlossen habe.“ 
„Aha, daher weht der Wind. Sie können mich nicht erpressen“, fuhr Isabell die Russin an und öffnete wieder die Badezimmertür.
„Verschwinden Sie, und zwar schnell. Ich bin absolut nicht in der Laune mir von Ihnen Lügengeschichten auftischen zu lassen.“
„O.k., dann geh ich eben wieder. Aber geben Sie mir dann nicht die Schuld, wenn sie in ca. einer Stunde die Nachricht erhalten, dass Barkhoff von einer Sprengmine zerfetzt wurde. Das geht dann alleine auf Ihr Konto.“
Ekaterina konnte sehen, wie zwei Seelen in Isabells Brust kämpften. 
„In Ordnung, wenn Ihre Vermutung stimmt, werde ich Sie unterstützen, bis Sie Ihre Ausbildung beendet haben. Doch nun sagen Sie mir endlich, was hier los ist!“
Ekaterina hob ihr T-Shirt und zog die eng zusammengefaltete Skizze unter dem BH-Träger hervor. Dabei konnte Isabell für einen kurzen Moment die vielen roten Striemen auf dem Körper der jungen Frau sehen. Isabell war geschockt. Solch ausgeprägte Perversionen hätte sie Max nie zugetraut. War der Mann, den sie geheiratet hatte, ein Monster? 
Rasch strich Ekaterina die gefaltete Landkarte glatt, auf der sofort die roten Kreuze hervorstachen.
„Was ist das?“, wollte Isabell wissen.
„Das ist der Lageplan des Testgeländes.“
„Was bedeuten die roten Kreuze“ fragte Isabell, die nichts Gutes verhießen. 
„Ich brauchte auch einige Zeit, bis mir klar wurde, welchen Sinn sie haben.“
Ekaterina drehte den Plan so, dass Isabell genau erkennen konnte, wie das Testgelände angeordnet war. 
„Dieses große Rechteck hier wurde von der Regierung für die Präsentation zur Verfügung gestellt. Max hat das gesamte Testgelände nach Minen abgesucht und es für die Präsentation gesäubert. Angrenzend an das Testgelände befindet sich aber ein Gebiet, das total vermint ist. Ich weiß nicht, ob die Minen schon vorher da waren, oder ob Max sie neu ausgelegt hat. Diese roten Kreuze auf der Karte markieren die noch immer scharfen Minen, die jederzeit explodieren können.“
„Ja, das kann ich nachvollziehen. Doch wo liegt nun das Problem?“, drängte Isabell aufgeregt.
„Das Problem ist, dass Barkhoff keine Ahnung hat, dass direkt neben dem Testgelände scharfe Minen deponiert sind. Da Max sich die Grenzen ganz genau eingeprägt hat, weiß er, wie er sich gefahrlos in diesem Todesstreifen bewegen kann, ohne auf einen dieser Sprengkörper zu treten. Ich könnte mir vorstellen, dass Max gemeinsam mit Barkhoff in dieses Feld hineingeht. Max wird ihn so lange in diesem Feld herumführen, bis Barkhoff auf einen dieser Sprengkörper steigt, der ihn tötet.“
Isabell erkannte nun auch, dass dieser schreckliche Plan eine absolute Todesfalle war. Verzweifelt schlug sie ihre Hände vors Gesicht, während sie Ekaterinas weiteren Ausführungen aufmerksam lauschte.
„Dieser Anschlag wäre eine absolut sichere Möglichkeit, um Barkhoff aus dem Weg zu räumen, ohne dass man Max dafür belangen könnte. Niemand würde beweisen können, dass Barkhoff als Chef der Minenräumfirma nichts von dem verminten Feld gewusst hätte. Es dürfen nur keine Zuseher dabei sein. Deshalb musste er Rainer am frühen Morgen zum Testgelände locken, wenn noch keine Menschenseele anwesend war.“ 
„Um Gottes Willen, Rainer hat mich vor 15 Minuten angerufen, dass er auf dem Weg zum Testgelände ist, wo er Max treffen will.“
Isabell begann fieberhaft nachzudenken.
„Ich muss Rainer warnen. Rasch holte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte seine Nummer. Doch sofort meldete sich seine Mailbox.
„Shit, dort gibt es ja keinen Empfang.“ Ihr stoßartiger Atem ließ keinen Zweifel zu, unter welch psychischem Stress sie stand.
„Ich muss ihn warnen“, flüsterte sie panisch vor Angst.
Ohne noch weiters auf Ekaterina zu achten, ging sie aus dem Bad ins Zimmer zurück und begann sich rasch anzuziehen. 
Durch den immer lauter gewordenen Wortwechsel und durch Isabells hektische Aktivitäten war auch Lisi wach geworden. Verschlafen wischte sie sich ihre noch müden Augen.
„Mami, was ist los?“, fragte sie noch ziemlich benommen.
Noch während Isabell in ihre Schuhe schlüpfte, forderte sie Lisi auf:
„Zieh dich rasch an, wir machen einen Ausflug. Komm, beeil dich, mein Schatz.“
Schweigend beobachtete Ekaterina Isabell. Sie hatte Mitleid mit der schwangeren Frau, der die Verzweiflung so offensichtlich ins Gesicht geschrieben stand. Der Ehemann und Vater ihres Kindes war gerade dabei, ihren Liebhaber zu killen. Keine besonders schöne Situation für eine werdende Mutter, die jeden Stress vermeiden sollte.
Ekaterina fasste nach Isabells Hand und blickte ihr in ihre verängstigten Augen.
„Wenn Sie wollen, dann kümmere ich mich in der Zwischenzeit um Ihre Tochter.“ 
„Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Doch ich kenne Sie nicht. Deshalb ist es für mich das kleinere Übel, wenn ich Lisi mitnehme.“

Es war kurz nach sechs Uhr, als Isabell mit Lisi im Laufschritt zu einem der Taxis eilte, die bereits vor dem Hotel auf Gäste warteten. Ekaterina blickte den beiden nach und war in diesem Moment glücklich darüber, dass sie Ekaterina Sukowa war und nicht die Frau von Max Henning.

Kapitel 95

Rainer hatte im Hotel einen Wagen gemietet, um damit zu dem knapp 40 Minuten entfernten Testgelände zu fahren. Nachdem er endlich den Morgenverkehr von Sharm el-Sheikh hinter sich gelassen hatte, ging die Fahrt auf der noch leeren Landstraße ziemlich zügig dahin. Die Route führte ihn direkt durch den Nationalpark Ras Mohammed. Aber Rainer hatte für die beeindruckende Schönheit der wüstenartigen Landschaft, die am Horizont von schroffen Gebirgen geprägt war, während auf der anderen Seite das Rote Meer im Sonnenschein tiefblau funkelte, absolut keinen Blick.
Rainer hatte die Klimaanlage des Wagens auf 18 Grad gestellt, doch es war ihm noch immer heiß. Immer wieder musste wischte er seine feuchten Hände an den Jeans trocken, während der Schweißfilm auf seiner Stirn bereits in dünnes Rinnsal in seinen Hals gebildet hatte . Obwohl Rainer aus jeder Pore seines Körpers transpirierte, war sein Mund staubtrocken. Rainer Nerven waren zum Zerreißen gespannt. 
Als Max ihn heute früh angerufen hatte und ihn bat, zum Testgelände zu kommen, wusste Rainer, dass dieses Treffen nicht ohne Folgen bleiben würde. Max klang diesmal so anders als sonst. Jegliche Gefühlsregung schien aus ihm gewichen zu sein. Rainer hatte keine Ahnung, was ihn in der Wüste erwarten würde. Zur Sicherheit hatte er eine Pistole mitgenommen, die im Halfter unter seinem Sakko steckte und unangenehm in die Seite drückte.
Seine Beklemmung stieg, je weiter er sich dem Testgelände näherte. Würde ihn bald wieder dasselbe Schicksal ereilen wie in seinen Träumen? Diesmal wollte Rainer sich aber mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln wehren, auch wenn er bis jetzt noch nicht wusste, wie er das anstellen sollte. Angelina hatte ihn ja darauf hingewiesen, dass er nun die Möglichkeit hatte, dieser neuerlichen tödlichen Gefahr zu trotzen. Dieses Mal wusste er, woher der Wind wehte und hätte sich darauf vorbereiten können. Doch konnte er das wirklich?
Rainer fuhr durch das mit riesigen Steinquadern künstlich geschaffene Steinportal, das den Eingang zum Nationalpark markierte. Max hatte ihn informiert, dass das Testgelände im Anschluss an den Park lag und dann keine 10 Minuten mehr entfernt war. Nach einigen Minuten Fahrt hielt Rainer seinen Wagen plötzlich an und stieg aus. Er war einfach zu aufgewühlt, um weiterfahren zu können. Bevor er Max gegenübertrat, musste er versuchen, seine fünf Sinne wieder richtig unter Kontrolle zu haben. Doch dafür musste er erst einmal einige Minuten in sich kehren. 
Zu dieser frühen Morgenstunde war hier noch keine Menschenseele anzutreffen. Die erhabene Schönheit des zerklüfteten, aus dem Wüstensand emporragenden Bergmassivs und der noch tiefblaue, wolkenlose Himmel bildeten ein ergreifend schönes Szenario. Völlig reglos nahm Rainer diese friedvolle Einsamkeit in sich auf. Auf wundersame Weise fühlte er sich plötzlich eins mit den Elementen. Rainer spürte eine besondere Kraft, die ihn anzog und zu durchströmen begann. Diese grenzenlose, nur durch das Pfeifen des Windes unterbrochene Stille fühlte sich an wie die unendliche Ewigkeit. Rainer schloss seine Augen und atmete tief durch. Ein noch nie gekanntes Empfinden von Ruhe und Frieden begann in seiner Seele Oberhand zu gewinnen und ließ seine Nervosität und seine Ängste immer mehr in den Hintergrund treten. 
Wie von unsichtbarer Hand geleitet stieg Rainer auf einen nahe gelegenen Hügel, auf dessen kleinem Hochplateau vier mannshohe Felssteine in den Himmel ragten. Diese sogenannten Ringsteine markierten einen Kreis. Noch bevor er diesen betrat, wusste Rainer, dass dies ein besonderer, ein heiliger Ort war. Seine Kraft war so alt wie der Boden, der ihn trug. 
Ehrfürchtig stand Rainer in der Mitte des Kreises und begann nach den in die Steinwand geritzten Symbolen der Urzeitgöttin zu suchen. Er wandte sich zum nördlichen der vier Ringsteine und streckte seine rechte Hand aus. Bald fühlte Rainer im unteren Bereich des Steines die verwitterten Spiralen und die besondere Bedeutung, die diese Symbole für ihn hatten. 
Für viele Besucher hatten diese Zeichen keine oder nur wenig Bedeutung. Es waren eben nur irgendwelche Schneckenlinien und Kreise, die irgendwer irgendwann einmal in den Stein geritzt hatte. Doch für den Schamanen zeigten diese Symbole den ewigen Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt, die immerwährende Wiederkehr des Lebens mit dem Versprechen, irgendwann in Raum und Zeit ewige Erfüllung und Frieden zu finden. 
Aber Rainer wusste auch um die Bedeutung der vier Steine. Sie symbolisierten die Verbindung des weiblichen Mondes mit der männlichen Sonne und verwiesen auf eine direkte Verbindung der Erdkraft mit dem Universum.
Rainer spürte, wie ihn eine ungeheure Kraft zu durchdringen begann. Ein nie gekanntes Gefühl von Frieden, Stärke und Zuversicht begann seine Seele zu durchfluten. Plötzlich hörte er im Pfeifen des Windes eine weibliche Stimme, die ihm fast zärtlich ins Ohr flüsterte:
„Junge, es ist an der Zeit, dich deiner Prüfung zu stellen. Sei stark und erweise dich würdig.“
Rainer lehnte sich an den senkrecht aufragenden Stein. Mit geschlossenen Augen versuchte er, diesen Wellen aus Zuversicht und unsäglichem Vertrauen in seinem Herzen Herr zu werden. Er wusste nun, dass Angelina ihn hierher geführt hatte, um ihn für das Kommende mit der nötigen Kraft und dem urzeitlichen Wissen der Schamanen zu wappnen.
Noch einmal atmete Rainer tief durch, während er mit den Fingern seiner rechten Hand den Boden dieser magischen Stätte berührte. Seine Handfläche fühlte sich plötzlich sehr warm an und seine Finger empfingen Kraftlinien, die tief aus dem Boden unter ihm kamen. Rainer hatte seine Mitte gefunden. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwarten würde. Intuitiv fühlte er jedoch Vertrauen und Sicherheit. Diese starken Gefühle hatten ihm bisher noch gefehlt. Das hatte ihn geängstigt und irritiert. 
Noch einige Minuten verweilte er an diesem besonderen Ort des Friedens. Bedauernd riss er sich schließlich los. Unruhe und Angst waren nun aus seiner Seele gewichen. Was immer nun passieren mochte, es würde gut sein.
Langsam ging Rainer wieder zu seinem Auto zurück. Doch bevor er einstieg, zog er sein Sakko aus und nahm seinen Waffengürtel ab. Wie lächerlich kam es ihm jetzt vor, sich mit einer Schusswaffe gegen Max schützen zu wollen. Rainer wusste nun, er war ein Auserwählter, der keine Waffe brauchte.

Kapitel 96

Max’ Unruhe wuchs. Es war bereits kurz nach halb acht. Doch von Rainer war nichts zu sehen. In knapp 90 Minuten würden die beiden Techniker mit den drei Hubschraubern auftauchen, um diese noch einmal zu testen. Rainer wollte die Drohnen vor der Präsentation unbedingt noch fliegen sehen, um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. 
Außerdem sollten an diesem Morgen noch die letzten Sitzgelegenheiten angeliefert werden. Wenn dieser Dreckskerl nicht bald auftauchen würde, dann konnte Max seinen perfekten Plan vergessen. Denn das Letzte, was er brauchen konnte, waren ungebetene Zaungäste. 
Das für die Präsentation präparierte Feld lag direkt vor der Tribüne. Verschiedenste Dummys sind in das von scharfen Minen gesäuberte Gebiet vergraben worden, damit die Gäste mit freiem Auge den Einsatz der Hubschrauber mitverfolgen konnten. Das unmittelbar an das Testgelände angrenzende Areal war für Max’ Absichten nahezu ideal geeignet. Bei der Säuberung des Testgeländes waren schon ungewöhnlich viele Minen gefunden worden, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Im Laufe der Jahrzehnte mussten die Sprengkörper durch Wind und Sand zusammengeschoben worden sein. Doch die dichteste Konzentration dieser Sprengfallen befand sich in dem Bereich, der an das Testgelände anschloss. Das leicht ansteigende Gelände war mit unzähligen Steinen unterschiedlichster Größe versehen, sodass man schon sehr genau hinschauen musste, ob ein Teil einer Mine oder nur ein Stein aus dem Sand ragte. Doch die meisten Minen waren ohnehin mit einer Sandschicht bedeckt und waren für das freie Auge völlig unsichtbar.
Max hatte das gefährliche Gebiet genau gekennzeichnet. Die Markierungen waren aber nur für ihn selbst erkennbar. In akribischer Arbeit hatte er diese Grenzen mit einem Handsuchgerät abgesteckt.
Max hatte sich nun so an der Grenze des sicheren Testgeländes platziert, dass ihn Rainer von der Straße aus sofort erkennen musste. Auf einem kleinen Tischchen hatte er einige Landkarten, Unterlagen und sonstigen Krimskrams angehäuft, um den Eindruck zu erwecken, von diesem Tisch aus zu arbeiten. Wenn Rainer seinen Wagen verlassen hatte, wollte Max ihn zu sich winken und dann nur noch darauf warten, dass Rainer geradewegs durch das verminte Feld auf ihn zukommen und mit einem dieser verdammten Dinger in die Luft fliegen würde. 
Doch die Zeit verstrich und Max geriet langsam in Panik. Nervös holte er sein Handy hervor und versuchte, Rainer zu erreichen. Doch fluchend steckte er das Telefon wieder in seine Hosentasche. In dieser Scheißgegend gab es ja absolut keinen Empfang. Verzweifelt begann Max, drei Schritte vor und dann wieder drei Schritte zurückzulaufen. Für eine längere Laufstrecke fehlte ihm der Mut. 
Dann sah er endlich eine Staubwolke hinter den vorgelagerten Hügeln aufsteigen. Max hoffte inständig, dass in diesem Fahrzeug Rainer saß. Endlich kam ein Auto in Sicht, das in unmittelbarer Nähe seines Wagens parkte. Dankbar schickte Max ein Stoßgebet zum Himmel, als er Rainer endlich aussteigen sah. Er lächelte seinem ehemaligen Freund entgegen und winkte ihn zu sich heran. Rainer winkte zurück und machte sich auf den Weg. Max zog seine Schirmkappe vom Kopf und nahm die dunkle Sonnenbrille ab. In regloser Erwartung stand er am Scheitelpunkt des Hügels und wartete darauf, dass sich sein Nebenbuhler endlich in seine Richtung bewegen würde. 
Langsam stieg Rainer den flachen Hügel hinauf. Während Max wie gebannt jeden einzelnen Schritt seines Rivalen verfolgte, zogen noch einmal all jene glücklichen Erinnerungen an ihm vorüber, die sie zusammen erlebt hatten. Oh Gott, wie schön und unbeschwert diese Zeit doch gewesen war. Keiner hatte ohne den anderen etwas unternommen. Zusammen waren sie hinter den Mädchen her, hatten gemeinsam die Schule geschwänzt und sich volllaufen lassen. Wenn einer in eine Schlägerei verwickelt war, war der andere nicht weit, um dem Freund beizustehen. So viele schöne Erinnerungen machten Max das Herz schwer, sodass er fast schon gewillt war, sein Vorhaben abzubrechen und Rainers Leben zu verschonen. Doch dann musste er an das Szenario bei Tagesanbruch denken, als Rainer mit seiner Frau in trauter Zweisamkeit aneinandergelehnt am Strand gesessen war und das Schwein seine Hände auf ihren Bauch gelegt hatte, wo dieses unnötige Balg heranwuchs.
Zutiefst verbittert musste er daran denken, mit welcher Vertrautheit sich die beiden umarmt und schließlich geküsst hatten, während ihm die Sehnsucht nach seiner Frau fast unerträgliche Schmerzen bereitete. Plötzlich waren alle Wehmutsgefühle an eine längst vergangene Freundschaft wie weggeblasen. Dieser Mann konnte ganz einfach nicht mehr sein Freund sein, denn kein Freund nimmt seinem Freund die Frau weg. 

Kapitel 97

Rainer hatte nun ebenfalls seine Sonnenbrille abgenommen und begann langsam den Hügel hinaufzusteigen. Rainer hatte keine Ahnung, was ihn hier erwarten würde. Doch er wusste, dass dies der Ort der Entscheidung war. Seine Nervosität und die bohrende Angst hatten sich seit dem Zwischenstopp bei der Kultstätte vollends gelegt. Jede Form von Ressentiments war von ihm gewichen und nur noch ein Gefühl von Schwermut und unwiderruflicher Endgültigkeit war geblieben. 
Instinktiv nahm Rainer das negative Spannungsfeld in sich auf, das mit jedem seiner Schritte zunahm. Doch unbeirrt ging er seinen Weg weiter. Mit keinem Blick achtete er auf Steine und Felsbrocken, die im Sand verstreut lagerten und seinen Weg kreuzten. Rainers Interesse galt nur Max, in dessen tiefblauen Augen dieselbe Wehmut lag, die er selbst empfand. Plötzliche Zweifel beschlichen Rainer und ein unerwarteter Hoffnungsschimmer glomm in ihm auf. Vielleicht hatte er sich geirrt und Max war nicht sein Feind. Schließlich hatte sie einst eine tiefe Freundschaft verbunden, wie es nur wenige gab. Es konnte nicht sein, dass sein Freund ihn töten wollte.
Doch in Sekundenschnelle wandelte sich Max schwermütiger Gesichtsausdruck. Er hatte sein Kinn vorgeschoben, sodass seine Backenknochen markant hervortraten. Der verbitterte Zug um seinen Mund war nun wieder da und sein eiskalter Blick fixierte Rainer, dass dieser betroffen zusammenzuckte. Dieser grausame Ausdruck der strahlend blauen Augen war ihm seit mehr als 5000 Jahren vertraut. Nein, Rainer hatte sich nicht geirrt. Dieser Blick war die stille Ankündigung seines bevorstehenden Todes. 
In der Zwischenzeit hatte Rainer die halbe Strecke des Weges zurückgelegt. Ohne Max aus den Augen zu lassen, setzte er einen Schritt vor den anderen. Das frische Morgenlüftchen von vorhin hatte sich zu einem heftigen Sturm gewandelt. Der Scirocco jagte vertrocknete Dornbüsche vor sich her und wirbelte den losen Sand zu dunklen Wolken auf. Laut pfeifend verfing er sich in den Unebenheiten des Bodens, dass man kaum noch sein eigenes Wort hätte verstehen können. Die Böen begannen wild an Rainers Kleidung zu zerren. Doch Rainer ließ sich von der Heftigkeit des Windes nicht beeindrucken und ging unbeirrt weiter. 
Max ließ Rainer keine Sekunde aus den Augen. Bei jedem seiner Schritte wartete Max auf die fällige Explosion. Er konnte es einfach nicht glauben, dass Rainer einen Großteil des Feldes bereits durchquert hatte, ohne auf eine dieser verdammten Minen zu treten. Der heftige Sturm hatte auch Max taub und blind für alles andere um ihn herum gemacht. Für ihn gab es nur Rainer, der immer näher kam.

Kapitel 98

Das Taxi, mit dem Isabell und Lisi unterwegs waren, hatte sich zweimal verfahren. Es war unfassbar, dass sie gerade jetzt an den schlechtesten ganz Ägyptens geraten war. Wenn Isabell nicht aufgepasst hätte, dann würden sie immer noch irgendwo im Ras Mohammed Nationalpark herumirren. Die letzte Abzweigung hätten sie fast verpasst, da der Sturm riesige Sandfontänen aufgewirbelt hatte, die die Sicht auf den Wegweiser fast unmöglich machten. Im letzten Augenblick konnte Isabell die Aufschrift „Coleman-Foundation - Präsentation Camp“ lesen und schrie den Taxilenker hysterisch an abzubiegen. 
Die schmale Seitenstraße mündete direkt in das Testgelände ein. Isabells Panik nahm zu, als sie Max’ Leihwagen erkannte, hinter dem bereits ein anderes Auto parkte. Rasch suchte sie die Gegend nach den beiden Männern ab. Der aufgewirbelte Sand nahm ihr aber fast jede Sicht. Als sie Rainer endlich in diesem Inferno sah, blieb ihr vor Schreck fast das Herz stehen. Die Russin hatte die Wahrheit gesagt. Max war drauf und dran, Rainer zu töten.
Isabell sprang aus dem fast noch fahrenden Wagen und schrie verzweifelt nach Rainer, der geradewegs durch das dicht verminte Feld ging. Doch der heftige Sturm verschluckte jeden ihrer Schreie. Außer sich vor Angst musste sie mitansehen, dass jeder seiner Schritte den Tod bedeuten konnte.
Lisi war völlig verwirrt. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sich hier abspielte. Seit sie heute Morgen diese fremde Frau mit ihrer Mutter sprechen gesehen hatte, war ihre Mutter wie ausgewechselt. Schreckliche Angst war in ihrem Gesicht zu lesen gewesen. Auch während der Fahrt war sie völlig durcheinander und schrie den armen Taxifahrer ständig an. Lisi wusste zwar nicht, was los war, doch sie fühlte, dass es hier ein Megaproblem gab. 
Durch Isabells Nervosität angesteckt, war die Kleine ebenfalls aus dem Wagen gesprungen, obwohl Isabell ihr strikt verboten hatte, aus dem Taxi zu steigen. 
Lisi wollte ihre Mutter unterstützen und ebenfalls nach Rainer rufen, als sie zwischen den Sandschleiern plötzlich die Silhouette ihres Vaters auf der Kuppe des Hügels stehen sah.
Die Freude ihn zu sehen, war so groß, dass sie völlig auf das Rufen vergaß und geradewegs hinter Rainer durch das Minenfeld zu ihrem Vater zu laufen begann. 
So schnell wie der Scirocco gekommen war, hatte er sich auch wieder gelegt. Die plötzlich eingetretene Stille ließ Isabells Verzweiflungsschreie nun noch durchdringender klingen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Lisi ihre Anordnung ignorierte und ebenfalls aus dem Auto gestiegen war. Völlig auf Rainer konzentriert war die Kleine ihrer Aufmerksamkeit entgangen. Erst viel zu spt erkannte sie, was Lisi im Sinn hatte. Angst und Verzweiflung ließ ihre Stimme in ein hysterisches Geschrei anschwellen, auf das nun auch Max aufmerksam wurde. Es dauerte einen Moment, bis er realisieren konnte, warum Isabell wie von Sinnen schrie. Lisi lief in Rainers Windschatten, sodass er sie nicht gleich hatte sehen können. Sein Herzschlag setzte aus, als er seine Tochter mitten in der Todeszone auf ihn zulaufen sah. Jeder ihrer Schritte konnte ihr letzter sein. Sein kleiner Engel. Das Beste, was er jemals in seinem Leben vollbracht hatte, würde jeden Augenblick in tausend Stücke zerrissen werden. Nein, das durfte nicht passieren. Nicht sein Kind! In höchster Verzweiflung stieß er den Tisch zu Seite und rannte seitwärts den Hügel hinunter. 
Dabei versuchte er, sich genau an seine Markierungen zu halten, die das sichere, entminte Feld anzeigten. Während er den Hang hinabstolperte, schrie er Lisi hysterisch an:
„Lisi, bleib sofort stehen und rühr dich nicht mehr vom Fleck, hast du mich verstanden?“
Schlagartig erlosch das glückliche Lächeln auf Lisis Lippen und sie blieb wie angewurzelt stehen. Noch nie hatte ihr Vater sie so scharf angebrüllt. 
Wie ein Besessener lief Max weiter und ließ sein Kind nicht aus den Augen. Plötzlich strauchelte er über einen größeren Felsbrocken und Max verlor das Gleichgewicht. Automatisch versuchte er den Sturz abzufangen und taumelte einige Schritte weiter. Doch die Wucht war einfach zu groß. Max konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und fiel der Länge nach auf einen kreisrunden Stein. Noch während des Falls wusste Max, dass er auf keinen Stein fallen würde. 
Die Detonation zerriss nicht nur die Stille der Wüste, sondern auch Max’ Körper. Schon im nächsten Moment war alles wieder so unverändert und friedlich still wie zuvor. Doch für vier Menschen hatte dieser kurze, dumpfe Knall ihre bisherige Welt zerstört.
Rainer brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, was passiert war. Vor ihm lag Max zusammenkrümmt am Boden und versuchte den Darm zurückzudrängen, der aus seiner blutenden Bauchwunde quoll. Sein verstörter Blick ließ keinen Zweifel aufkommen, dass diese Tretmine eigentlich für Rainer bestimmt war. Er wollte ihn töten. Doch das war jetzt absolut bedeutungslos. 
„Neeeiinnn!!!“, schrie Rainer verzweifelt auf und ein ungeheurer Schmerz zog sein Herz zusammen, als er seinen Freund im blutgetränkten Sand liegen sah. Rainer wollte Max zu Hilfe eilen, doch dieser rief ihm keuchend zu:
„Nein, komm nicht näher. Nimm Lisi und bring sie in Sicherheit. Bitte, sie darf nicht sterben.“
Rainer konnte nur stumm nicken und wandte sich nach dem Kind um. Gott sei Dank konnte die Kleine ihren schwer verletzten Vater nicht sehen, da Rainer ihr die Sicht versperrt hatte. Rasch ging er auf die Kleine zu und hob sie hoch. Dann hob er das Mädchen hoch und drückte ihren Kopf an seine Schulter, damit sie auch weiterhin ihren Vater nicht sehen konnte. Rainer lief den Hügel hinab. Er hatte keine Ahnung, wohin er trat. Doch das war jetzt unwichtig. Intuitiv fühlte er Angelinas Aura, die ihn wie damals vor mehr als 5000 Jahren sicher aus dem dichten Nebel geführt hatte. Er wusste, sie würde seine Schritte lenken und ihn sicher aus dem Minenfeld führen.
Wie in Trance stand Isabell vor dem Taxi und starrte schockiert auf Rainer, der ihre Tochter vorsichtig durch diese Todeszone trug. Doch ihr fassungsloser Blick wanderte auch immer wieder zu ihrem Mann, dessen Kopf sich langsam in den Sand senkte.
„Bring sie weg von hier.“
Erleichtert drückte Isabell ihre Tochter an sich, doch ihre Stimme bettelte verzweifelt:
„Bitte Rainer, hilf Max. Lass nicht zu, dass er…“. Sie konnte nicht mehr weitersprechen, denn Tränen und unsägliche Angst schnürten ihre Kehle zu.
Stumm nickend wandte sich Rainer rasch wieder dem Hügel zu und ein mulmiges Gefühl begann sich nun doch in ihm auszubreiten. Jeder Schritt, den er nun vor den anderen setzen würde, konnte seinen Tod bedeuten. Doch dann griff er nach dem Glücksbringer, den ihm Angelina vor seiner Abreise geschenkt hatte und spürte wieder ihre Nähe. Wie ein Schild ruhte er ungewöhnlich schwer auf seiner Brust. Rainer fühlte ihren Schutz wie einen sicheren Mantel, der ihn einhüllte. Keine Mine dieser Wüste würde ihm nun mehr etwas anhaben können.
Rainer achtete nicht mehr darauf, wohin er trat, sondern sah nur noch das aschfahle Gesicht seines Freundes in Sand liegen, dessen sterbende Augen ihn anblickten. Keuchend kniete Rainer vor Max nieder und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Ein einziger Blick auf seinen Oberkörper bestätigte seine traurige Vermutung. Verzweifelt zog Rainer sein Polo-Shirt aus und drückte das Trikot auf die riesige Wunde. Rainer konnte nicht tatenlos mitansehen, wie sein Freund verblutete. Er musste etwas tun, er musste um ihn kämpfen, auch wenn es noch so aussichtslos war, sonst würde dieser übermächtige Schmerz völlig über ihn hereinbrechen.
„Lass gut sein, Rainer. Wir beide wissen doch, dass es sinnlos ist“, keuchte Max leise.
„Ist Lisi in Sicherheit?“ 
„Ja, es geht ihr gut. Ihr ist nichts passiert.“ 
Erleichtert schloss Max die Augen und atmete einige Male schwer durch, während Rainer seinen Kopf in seinen Schoß bettete. Verzweifelt strich Rainer dem sterbenden Mann das schweißnasse Haar aus der Stirn. Dann lächelte Max traurig begann Max stockend zu sprechen:
„Weißt du, manchmal schlägt die Ironie des Schicksals schon heftig zurück. Eigentlich wollte ich dir hier den Garaus machen, damit du mir meine Familie nicht mehr wegnehmen kannst. Und nun muss ich dich sogar bitten, dass du dich um meine beiden Mädchen kümmerst. Weißt du, ich liebe sie so sehr, auch wenn es nicht immer so aussah.“
Eine heftige Schmerzwelle erfasste Max und ließ ihn husten. Helles Blut rann aus seinem Mund und hinderte ihn weiterzusprechen. 
Rainers Augen füllten sich mit Tränen und ein tiefer verzweifelter Seufzer aus entwich seiner Brust. Rainer versuchte das hervorquellende Blut aus Max‘ Gesicht zu wischen, doch es war sinnlos. Stoßweise wurde jetzt immer mehr Blut aus seinem Mund gepresst.
„Max, du kannst dich auf mich verlassen, ich werde mich um deine Mädels kümmern. Es tut mir so schrecklich leid, dass das alles passiert ist.“
Max konnte nur noch leicht mit dem Kopf nicken und drückte sanft seinen Arm. Und plötzlich spürten die beiden Männer wieder dasselbe tiefe Gefühl der Freundschaft, dass sie schon immer miteinander verband. 
Mit letzter Kraft langte der Sterbende nach Rainers Hand und lächelte ihn noch einmal verbindlich an. Aus seinen strahlend blauen Augen waren Hass und Kälte gewichen. Dieser letzte, vertraute Blick erinnerte Rainer an jenen jungen und schlaksigen Burschen, den er vor so vielen Jahren im Gymnasium kennen gelernt hatte und mit dem ihn eine so wunderbare Männerfreundschaft verband.

Epilog

Rainer saß an seinem Schreibtisch und suchte in den Unterlagen nach der Unfallstatistik der letzten 5 Jahre. Gestern Abend hatte ihm Luise diese noch rasch ausgedruckt und in seinen Aktenkoffer gesteckt, ehe er das Büro verlassen hatte. Die Weltgesundheitsorganisation hatte ihn nach Genf eingeladen und gebeten, bei ihrer jährlichen Generalversammlung einen Vortrag über die Budgetoptimierung zwischen Prävention und Nachbehandlung von Minenopfern zu halten. Rainer hatte diese Einladung sehr gerne angenommen, da er keine Möglichkeit verstreichen ließ, um das Interesse für die Versorgung und Erziehung von Waisenkindern der dritten Welt zu wecken.

Rainer Barkhoff konnte stolz auf seine Arbeit sein. In den letzten fünf Jahren hatte er Jake Colemans Traum wahr werden lassen und ein kleines Imperium der Menschlichkeit aufgebaut. Trotz der Wirtschaftskrise hatte Rainer aus der Vision seines Freundes eine Organisation geschaffen, die für viele Menschen Frieden und eine neue Zukunft bedeutet. Sein Kismet hatte ihm Scheich Mohamed in die Arme laufen lassen, der ihm nicht nur das notwendige Startkapital für sein Projekt anvertraut hatte, sondern der „Coleman-Foundation“ auch viele verschlossene Türen öffnete.
In all den Jahren hatte Rainer kein einziges Mal das Vertrauen seines Mentors missbraucht, sodass zwischen den beiden Männern eine aus Hochachtung und Anstand getragene Freundschaft entstanden war.
Rainer hatte während dieser Zeit nie sein Ziel aus den Augen verloren. Unermüdlich arbeitete er daran, seine Visionen zu verwirklichen und seine Kraft, seine Stärke und sein Wissen für jene Menschen einzusetzen, die vom Schicksal weniger begünstigt waren. 
Obwohl die Präsentation in Ägypten von Max’ Tod überschattet gewesen war, war die Darbietung ein absoluter Erfolg geworden und hatte bei den Delegierten der betroffenen Länder großes Interesse und Zustimmung ausgelöst. Seine beiden Techniker hatten bei der Vorstellung ein eindrucksvolles Spektakel auf höchstem technischen Niveau mit bis ins kleinste Detail durchdachter Hightech und medialem Know-how abgeliefert, das seine Wirkung auf die anwesenden Gäste nicht verfehlt hatte. Innerhalb weniger Wochen waren der „Coleman-Foundation“ mehr Aufträge ins Haus geflattert als sich Rainer in seinen kühnsten Träumen erwartet hatte. 
Außerdem hatte Rainer mit Khalil Shawari den absoluten Glücksgriff gemacht. Der junge Mann hatte sofort begonnen, sich auf die neue Technologie einzustellen und seinen eigenen Betrieb umzustrukturieren. Wovor Rainer die anderen Entminungsfirmen gewarnt hatte, war bald eingetreten. Schon nach einem Jahr waren deren Aufträge deutlich zurückgegangen und alle drei Konkurrenten mussten sich im Laufe der folgenden Monate immer mehr auf die verbleibenden kleineren Marktnischen konzentrieren. Während das Unternehmen des Kopten wuchs und wuchs, schrumpften die anderen drei Firmen immer mehr zusammen. Khalil hatte Rainer aber davon abgeraten, den Eigentümern dieser Firmen zu früh ein neues Angebot zu unterbreiten, obwohl man dringend größere Kapazitäten gebraucht hätte. Khalils kleines Unternehmen war zu Beginn noch nicht in der Lage gewesen, alle Aufträge sofort zu erfüllen, sodass Rainer ernsthaft überlegt hatte, noch einmal an die drei Unternehmer heranzutreten. Wohlweislich hatte Khalil aber seine Fühler nach den drei Unternehmen ausgestreckt gehalten und hatte wie eine Muräne in ihrer Höhle darauf gelauert, zum richtigen Zeitpunkt zuzuschlagen. Nach nicht einmal zwanzig Monaten war es dann soweit gewesen. Auf Khalils Rat hin gelang es der „Coleman-Foundation“, alle drei Firmen zu einen Spottpreis aufzukaufen, sodass diese nun zu 100% der Foundation gehörten und nicht – wie Rainer einst vorgehabt hatte – nur zu 51%. Die Firmen wurden sofort mit Khalils Unternehmen fusioniert. Damit war es möglich geworden, auch die größten verminten Gebiete rasch und effizient zu räumen.
Doch noch bevor mit der Räumung konterminierter Flächen in den verschiedenen Ländern begonnen wurde, hatte Rainer zu Billigstpreisen bestimmte Gebiete aufgekauft.
Nach der Entminung war ein Großteil dieser Flächen sofort wieder verkauft worden, was der „Coleman-Foundation“ zusätzlich hohe Gewinne bescherte. Dieses Kapital war wiederum in unzählige andere Projekte investiert worden, deren Gewinn in der Folge dann hauptsächlich in humanitäre Einrichtungen gesteckt wurde.
Die „Coleman-Foundation“ hatte begonnen, auf den attraktivsten Grundstücken Waisenhäuser, Schulen und Ausbildungszentren zu errichten, deren Zielrichtung es war, elternlosen Kindern die Chance zu geben, in halbwegs normalen und geordneten Verhältnissen heranzuwachsen und mit der nötigen Ausbildung ihren Weg in ein menschenwürdiges Leben zu beginnen. Besonderes Augenmerk wurde auf die Ausbildung der Mädchen gelegt, die in diesen Ländern ohnehin nur wenig Chancen hatten.
Die Leitung dieses Zweigs der Foundation hatte Grace übernommen.
Nach langem Bemühen war es Rainer gelungen, sie aus ihrer Lethargie wachzurütteln. Er hatte Grace zu einem Besuch in eines der vielen schlecht organisierten, völlig desolaten und verarmten Waisenhäuser Ägyptens überreden können. Grace hatte bald erkannt, dass ihr Schmerz um den verlorenen Mann in keiner Relation zu dem Leid dieser unterernährten und verwahrlosten Kinder gestanden hatte.
Erschüttert war sie durch die verschmutzten Säle gegangen, wo sie Kinder mit stummen Blicken nach Hilfe schreien sah.
Dieser ernüchternde und aufrüttelnde Besuch hatte Grace’ Leben schlagartig verändert. Sie kroch aus ihrem Schneckenhaus und wurde aktiv. Ihre Herausforderung lag nun darin, sich dieser armen Kinder anzunehmen, sie zu unterstützen und ihnen Perspektiven zu bieten.
Seit diesem Augenblick gab es keinen Platz mehr für ihr grenzenloses Selbstmitleid. Mit Rainers Hilfe und den Geldern aus der „Coleman- Foundation“ konnte sie für Hunderte von Kindern ein neues Zuhause und eine positive Zukunft schaffen. 
Grace hatte keine eigenen Kinder, obwohl sie sich immer danach gesehnt hatte, Mutter zu sein. Nun hatte sie die Möglichkeit, für andere Kinder da zu sein. Ihr Leben hatte plötzlich wieder Sinn bekommen. Im Namen Jakes würde sie seine Vision für mehr Menschlichkeit weitertragen, um in Asien, Afrika und Südamerika, aber auch in Teilen Osteuropas Waisenhäuser zu errichten, die sich durch Ackerbau und Viehzucht, aber auch Handwerk und Handel zumindest teilweise selbst erhalten konnten. Grace wusste, dass nichts und niemand ihr jemals mehr Jake wiederbringen würde. Doch mit dieser Aufgabe konnte sie ihm doch ein kleines Stückchen näher sein.

Nach der erfolgreichen Präsentation in Ägypten hatten die Bosse des Waffensyndikats erkannt, dass sie verloren hatten. Sie rechneten sich nun keinerlei Chancen mehr aus, doch noch an die „Coleman-Foundation“ und ihre Patente heranzukommen. Ihr einziger Verbündeter unter den Eigentümern war tot und die Schirmherrschaft der Foundation war von einem arabischen Prinzen übernommen worden, mit dem man sich besser nicht anlegte. 

Während Rainer noch immer nach dieser verdammten Statistik suchte, hörte er das unbeschwerte Lachen seines kleinen Engels. Von tiefer Freude erfüllt, ging Rainer zu einem der hohen Fenster seines Hauses. Vor mehr als drei Jahren hatte er sich in dieses alte, damals ziemlich verwahrloste und desolate Herrenhaus aus der Gründerzeit verliebt, das unweit von Wien in einem riesigen Park eingebettet lag. 
An einem trüben Spätherbsttag betrat Rainer zum ersten Mal durch das verrostete Schmiedeeisentor das Grundstück. Sofort fühlte er die besondere Auraas besondere Flair des Anwesens auf sich einwirken. Je mehr er sich durch den verwilderten Park dem einst sehr eleganten, zweistöckigen Haus näherte, umso mehr fühlte er sich von diesem Ort angezogen. Es war nicht nur das halb verfallene Schlösschen, das dieses besondere Gefühl in ihm auslöste, sondern auch eine uralte Linde, die seitlich des Hauses stand. Noch nie hatte Rainer so einen prachtvollen Baum gesehen. Die Besonderheit dieser Linde lag in ihrem Stamm, der sich knapp über der Erde in zwei gleich starke Stämme teilte. Ihr imposanter Wuchs zog ihn sofort in ihren Bann. Wie wunderschön musste dieser majestätische Baum erst sein, wenn an seinen runden Ästen im Frühling Blätter sprießen und er in der Hitze des Sommers angenehm kühlen Schatten spenden würde. 
Rainer stellte sich vor die Gabelung des Baumes. Mit beiden Händen berührte er gleichzeitig die mächtigen Stämme der Linde und schloss seine Augen. Plötzlich begann ihn ein unsäglich ergreifendes Gefühl von Freude, Zuversicht und Hoffnung zu durchströmen. Dieses besondere Empfinden war ihm nicht fremd. Eine ähnliche Intensität hatte er damals im Nationalpark Ras Mohammed erlebt, als er die uralten Spiralen des nördlichen Ringsteines berührte. Rainer sog den wunderbar herben Duft dieses Baumes des Lebens tief in seine Brust. Plötzlich hatte er das unbestimmte Gefühl, als ob die Linde ihn willkommen hieße.
Ohne noch einen Blick in das Haus zu werfen, kaufte er das Anwesen. Es war ihm egal, wie hoch der Preis und in welch schlechtem Zustand die Villa war. Rainer wusste, hier würde er mit seiner Familie zu Hause sein.

Erneut riss ihn die kleine Angelina mit ihrem herzerwärmenden Jauchzen aus seinen Erinnerungen. Lisi spielte mit ihr und den anderen Kindern im Schatten der Linde die blinde Kuh. Mit ihrer gespielten Tollpatschigkeit brachte Lisi nicht nur Angelina zum Lachen, sondern auch Karim und Leyla. 
Der Junge und das Mädchen waren Grace’ Adoptivkinder. Karim war ein 7-jähriger libanesischer Junge, den Grace vor drei Jahren sofort ins Herz geschlossen hatte. Der große, schlaksige Junge war ein typisches Minenopfer. Beim Spielen mit seinen Brüdern war er über eine Tretmine gelaufen, die ihm „nur“ ein Bein wegrissen hatte. Er war das jüngste von sieben Geschwistern. Seine Eltern hatten es sich aber nicht leisten können, ein behindertes Kind großzuziehen. Der schwer verletzte Kleine war völlig verzweifelt gewesen, weil ihn seine Eltern im Waisenhaus abgegeben hatten und wortlos gegangen waren. 
Zufällig war Grace bei der Übergabe des Kindes in dem neu eröffneten Waisenhaus der „Coleman-Foundation“ anwesend. Zum ersten Mal erlebte sie hautnah mit, was wirkliche Verzweiflung war. Grace‘ unterdrückter Mutterinstinkt war sofort geweckt worden. Ohne lange zu überlegen, hatte sie sich des unglücklichen Kindes angenommen. Sie nahm ihn dann gleich mit nach Österreich, damit er so schnell wie möglich beginnen konnte zu vergessen.
Mittlerweile hatte Karim gelernt, mit seiner Beinprothese zu gehen. Kaum jemand merkte noch, dass das fehlende Bein durch eine hochwertige Prothese mit hydraulischem Knie- und Fußgelenk ersetzt wurde. Karim würde zwar nie ein Spitzensportler werden, doch er hatte eine hohe Bewegungsfreiheit, die ihm ein ziemlich normales Leben ermöglichte. 
Ein knappes Jahr später hatte Grace dann Leyla adoptiert. Sie war ein süßes kurdisches Mädchen von knapp zwei Jahren gewesen, deren Eltern und zwei Brüder bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen waren. Leylas Mutter hatte ihr Kind mit ihrem Körper geschützt, sodass die Kleine unverletzt geblieben war. Es hatte aber fast zwei Tage gedauert, bis man das Kind aus den Trümmern des eingestürzten Hauses bergen konnte. Schwer traumatisiert hatte man die kleine Leyla in die Krankenstation des Waisenhauses eingeliefert. Grace hatte sich auf Anhieb in diesen entzückenden, aber völlig verstörten Wonneproppen verliebt und zu sich genommen. Mit viel Aufmerksamkeit, Geduld und Liebe war es Grace schließlich gelungen, der Kleinen wieder ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
Kein Außenstehender hätte vermutet, dass diese scheinbar so fröhlichen und unbelasteten Kinder mehr oder weniger traumatisiert waren. Bis auf Angelina waren alle drei Kinder in regelmäßiger therapeutischer Behandlung. Auch Lisi suchte seit beinahe fünf Jahren ihren Therapeuten auf. Obwohl sie nicht genau gesehen hatte, wie ihr Vater gestorben war, war sie doch alt genug gewesen, um sich die Schuld an seinem Tod zu geben. Die regelmäßigen Sprach- und Spieltherapien begannen nun langsam Früchte zu tragen. Seit einigen Monaten schrie sie nachts nicht mehr auf. Es gab auch schon längere Perioden, in denen sie überhaupt nicht mehr von Max und diesem grauenvollen Zwischenfall in der Wüste träumte. 
Die Einzige, die scheinbar unbelastet aus dieser Tragödie davon gekommen ist, war Angelina. Doch noch konnte man nicht genau absehen, ob sie im pränatalen Stadium Schäden davongetragen hatte. Normalerweise würden sich derartige Probleme erst im Volksschulalter zeigen. Doch Rainer und Isabell setzten alles daran, damit ihre beiden Töchter eine glückliche und unbeschwerte Kindheit und einen guten Start ins Leben hatten.

Mit traurigem Lächeln wanderte Rainers Blick zu dem unbehauenen, dunkelgrauen Granitstein, der in einer stillen Ecke des Parks unter einer riesigen Eiche lag. Die Urne mit Max’ Asche war unter dem unscheinbaren Stein beigesetzt worden, auf dem weder sein Name noch seine Lebenszeit vermerkt war. Es war Rainers Wunsch gewesen, Max nicht im Familiengrab der Hennings beizusetzen, sondern ihn hier in im Park direkt bei seiner Familie seine letzte Ruhe finden zu lassen. 
Niemals würde Rainer vergessen, wie hilflos und verzweifelt er damals zusehen musste, wie mit dem vielen Blut aus Max’ Körper auch das Leben seines Freundes erlosch. In dieser kurzen Zeitspanne zwischen Leben und Tod hatten sich alle Ressentiments gegen Max gelegt und jenes Gefühl der Freundschaft und Verbundenheit stellte sich wieder ein, das so viele Jahre ihrer beider Leben geprägt hatte.
Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass Max nach wie vor in seiner Nähe war. Manchmal, wenn Rainer nicht schlafen konnte, stand er auf und ging zu ihm hinunter in den Park. Dann lehnte er sitzend an dem mächtigen Stein und unterhielt sich mit Max, so wie sie es früher getan hatte. Max würde immer ein Bestandteil dieser Familie bleiben, auch wenn er nicht mehr da war.

Wie biedere Hausmütterchen saßen Isabell und Grace in ihren Liegestühlen und beobachteten amüsiert das lustige Treiben ihrer Kinder. Die Verantwortung, die die beiden Frauen trugen, ließ sie diese besonderen Augenblicke noch intensiver genießen. Isabell hatte nicht nur ihren Job als Lehrerin aufgegeben, sondern auch komplett mit ihrem alten Leben gebrochen. Das Haus im 19. Bezirk war ohnehin schon verkauft gewesen und das Hotelprojekt in Thailand hatte sie mit Zustimmung der Regierung umwidmen lassen. Mit Hilfe der Foundation hatte Isabell eine Ferienanlage für Kinder aus den verschiedensten Kinderheimen der „Coleman-Foundation“ errichten lassen.
Isabell wollte einen weitgehend unbelasteten Start in ihr neues Leben mit Rainer. 
Doch die Altlasten, die manchmal noch immer auf ihre Seele drückten, waren besonders in der ersten Zeit eine ziemlich schwere Bürde gewesen. Eines dieser Probleme war Ekaterina gewesen. Obwohl diese Frau in Isabell einen nur zu verständlichen Widerwillen ausgelöst hatte, war sie ihr doch zutiefst dankbar. Gott sei Dank hatte sich die Russin damals nicht abwimmeln lassen. Ihrer Unnachgiebigkeit war es zu verdanken, dass Isabell ihre Warnung ernst genommen hatte und sie Rainer in die Wüste gefolgt war. Wäre Ekaterina nicht gewesen, dann würde heute alles ganz anders aussehen.
Dass Max’ Geliebte natürlich in erster Linie aus reinem Eigennutz gehandelt hatte, war für Isabell bedeutungslos. Diese Frau hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass das Leben jenes Menschen gerettet worden war, den sie aus tiefster Seele heraus liebte. Isabell hatte den Verkauf der Wohnung im 8. Bezirk wieder rückgängig gemacht und diese an Ekaterina überschreiben lassen. Mit der finanziellen Unterstützung der Foundation konnte Ekaterina ihre Ausbildung beenden. Doch zu einem längerfristigen beruflichen Einsatz war es für die Russin nicht wirklich gekommen. Rasch hatte sie sich einen älteren, aber ziemlich wohlhabenden Radiologen im Krankenhaus geangelt, der ihr endlich jenes Leben in Wohlstand und Sicherheit bieten konnte, nachdem sie sich immer gesehnt hatte. Wenn sie auch nicht fähig war zu lieben, so war sie doch dankbar und loyal ihrem Mann gegenüber. 

Nach Max’ Tod war seine Teilhaberschaft an der „Coleman-Foundation“ automatisch an Isabell übergegangen, wodurch sie zusammen mit Rainer und Grace je ein Drittel der Anteile besaß.
Vor mehr als zwei Jahren hatte Grace Isabell gebeten, nicht nur passive Teilhaberin der Foundation zu sein, sondern auch aktiv mitzuarbeiten. Im Laufe der Zeit wurde Grace` Job immer umfangreicher und aufwändiger, sodass ihr die Arbeit über den Kopf zu wachsen begann. Es war zwar genügend administratives Personal zu ihrer Entlastung vorhanden gewesen, doch Grace brauchte eine Vertrauensperson, mit der sie über alle Probleme und Zweifel sprechen konnte, die ihr am Herzen lagen.
Für Isabell war dieser Job neben ihrer Familie bald zu einem wichtigen Bereich in ihrem Leben geworden. Ihr organisatorisches Talent stand dem von Grace um nichts nach. Es war bewundernswert, mit welch unglaublichem Geschick diese nun schon ein klein wenig in die Jahre gekommenen Freundinnen diese schwere, aber auch erfüllende Aufgabe bewältigten. Doch gerade diese Verantwortung hatte die beiden Frauen noch mehr wachsen lassen. Isabell hatte in den letzten beiden Jahren sehr an Persönlichkeit dazugewonnen und war endgültig aus dem Schatten ihres verstorbenen Mannes getreten. 
Rainer war unsäglich stolz, mit welchem Selbstbewusstsein seine Frau nun auftrat. Diese besondere Ausstrahlung machte sie für ihn nur noch attraktiver und begehrenswerter, obwohl ihre manchmal ein wenig zu große Selbstsicherheit schon einige heftige Diskussionen ausgelöst hatte. Es liegt in der Natur der Sache, dass zwei gleich starke Pole nicht nur Harmonie und Anziehung auslösen. Ab und zu kann es schon zu einigen heftigen Gewitterstürmen kommen. Doch diese starke Liebe war auf einem festen Fundament gebaut, so dass jeder Streit letztendlich nicht mehr als ein Sturm im Wasserglas war.

Mit jedem neuen Tag liebte Rainer seine Frau mehr. Es gab Zeiten, wo er nachts wach wurde und sein Glück immer noch nicht zu fassen vermochte. Ihr weicher und warmer Körper lag dicht an seinen geschmiegt, als ob es niemals anders gewesen wäre. 
Von unermesslicher Freude erfüllt, drückte Rainer sie dann noch fester an sich. In solch besonderen Momenten musste er immer an Angelina denken...

Seit Rainer aus Ägypten zurückgekehrt war, wusste er, dass ihn keine Albträume mehr heimsuchen würden. Er hatte endlich den Sinn dieser Träume erkannt. Sie waren nichts weiter als Wegweiser in seine Zukunft gewesen und führten ihm zu seinem wahren Ich. Seine vom Schicksal gestellte Aufgabe hatte aber nicht darin bestanden, dem Sterben zu entrinnen. Der Tod hatte Ruak, Raoul und Ranolfo nur daran gehindert, ihre wahre Berufung zu erfüllen. Ruak wäre bestimmt in der Lage gewesen, seinen Stamm und vielleicht auch noch viele andere Sippen zu retten. Raoul hätte sicherlich mit noch weiteren seiner wunderbar positiven Geschichten Leser aus aller Welt bezaubert und ihr Leben dadurch bereichert. Und Ranolfo wäre mit seinem revolutionären Gedankengut sicherlich irgendwann fähig gewesen, den Menschen mehr Verständnis für Veränderungen, Neuordnungen und Akzeptanz nahezubringen. 
Doch in seinem vierten Leben hatte es Ruak endlich geschafft, die Hürde des Todes zu überspringen. Als Rainer war er nun in der Lage, die Berufungen seiner vorherigen Leben zu erfüllen. Durch die „Coleman-Foundation“ war es ihm möglich, nicht nur auf seine Art Leben zu retten, sondern auch Bildung, Sinn für das Schöne, Anerkennung neuer Inhalte und Ideen, doch vor allem Toleranz zu fördern. Indem er diese Mission nun erfüllte, würde sich nach mehr als 5000 Jahren der Kreis endlich schließen. Im Bewusstsein, dass diese Reise nun seine letzte sein würde, wollte er dieses Leben in allen Facetten so bewusst wie nur möglich erleben. Diese geistige Metamorphose verdankte er vor allem Angelina.
Angelina, seine rätselhafte, wunderbare und unvergleichliche Angelina. Wie so oft, wenn er sich an sie erinnerte, fühlte er den Kloß in seinem Hals und sein Blick ging ins Leere…

Sein erster Weg nach der Heimkehr aus Ägypten führte in den Resselpark. Rainer musste Angelina unbedingt von dieser schicksalhaften Reise erzählen. In der stillen Hoffnung, dass sie da sein und auf ihn warten würde, eilte er zu ihrer Bank und ließ sich dort nieder. Doch Stunden des Wartens vergingen, ohne dass er sie zu Gesicht bekam. Immer wieder blickte Rainer erwartungsvoll um sich. Doch je länger er wartete, umso mehr schwand die Hoffnung, dass sie auftauchen würde. 
Enttäuscht stand Rainer auf und wandte sich an jene Obdachlose, die beinahe jeden Tag im U-Bahn-Durchgang herumlungerten.
Jenen, der am nüchternsten aussah, fragte er schließlich:
„Hast du in den letzten Tagen die alte, bettelnde Frau gesehen, die fast jeden Tag auf der Parkbank unter der großen Linde saß?“
Verwirt schaute der Mann in jene Richtung, in die Rainers Hand zeigte.
„He Alter, dort ist noch nie eine bettelnde Alte gesessen. Wir halten uns nur hier im U-Bahn-Bereich auf.“ 
„Aber auf dieser Bank sitzt doch immer Angelina, eine alte, blinde Frau mit schlohweißem Haar und mit einer Unzahl von Plastiktragetaschen um sich herum. Die musst du doch kennen, wenn du dich hier jeden Tag herumtreibst.“
„Red keinen Scheiß, Alter. Ich kenn keine Angelina. Glaubst du, wir würden bei diesem herrlichen Wetter nicht lieber im Park in der Sonne sitzen als hier in diesem dunklen Loch, wo es immer zieht? Wenn uns diese Scheiß-Kieberer sehen, verjagen sie uns doch sofort von den Parkbänken. Wir sind nicht unbedingt beliebt bei diesen Typen, besonders, wenn wir uns in ihren sauberen Parks ein wenig die Sonne auf den Bauch scheinen lassen wollen. Auf dieser Bank dort hat nie und wird nie jemand von uns sitzen dürfen. Und jetzt verschwinde, damit ich in Ruhe mein Bier trinken kann.“
Verwirrt entfernte sich Rainer von dieser Gesellschaft heruntergekommener Aussteiger. Doch instinktiv fühlte er, dass hier etwas nicht stimmte. Rainer ging nun den Korridor entlang, der zu dem Lokal führte, in dem er mit Angelina seinen ersten Kaffee getrunken hatte. Vielleicht hatte der Wirt eine Ahnung, wo sie steckte. Rainer irrte durch den weitverzweigten U-Bahn-Bereich, bis er endlich die Spelunke fand. Erstaunt blieb er jedoch vor einer mit Brettern verschlagenen Tür stehen, auf der stand: „Achtung Baustelle, betreten verboten!“ 
Was ging hier ab? Hier hatte sich doch noch vor einem halben Jahr die nach kaltem Zigarettenrauch und Alkohol stinkende Gaststube befunden. Neugierig blickte Rainer durch die breiten Ritzen der Bretter. Im einfallenden Licht der grellen Neonröhren erkannte er hinter dem Bretterverschlag aber nur einen riesigen Berg Geröllschutt und altes Bauholz. Es war unmöglich, dass sich in diesem Loch jemals eine Gaststube befinden konnte.
Was war bloß los mit ihm? Er litt doch nicht unter Gedächtnisschwund, Schizophrenie oder Halluzinationen? Ziemlich durcheinander verließ Rainer den U-Bahn-Bereich und suchte nun jenes Cafe neben seiner Wohnung auf, wo er mit Angelina auch schon einmal eingekehrt war. Er ging geradewegs auf die Kellnerin zu, die es damals gar nicht gern gesehen hatte, dass er Angelina mit ins Lokal nahm.
„Entschuldigen Sie bitte, aber vielleicht können Sie sich noch an mich erinnern? Ich war vor ca. drei oder vier Monaten mit einer alten, blinden Frau hier.“ 
Verwundert sah die Kellnerin den großen Mann mit dem verwirrten Blick an.
„Ja, an Sie kann ich mich noch recht gut erinnern“, erwiderte sie und ließ keinen Zweifel offen, dass Rainer einen ziemlich befremdenden Eindruck hinterlassen hatte.
„Sie waren aber alleine. Zumindest habe ich keine Frau in Ihrer Begleitung gesehen.“
„Nein, ich war nicht alleine. Sie müssen sich doch an eine alte, ein wenig heruntergekommene Frau erinnern, die mich begleitete“, beharrte Rainer.
Doch die dralle Kellnerin schüttelte aber nur mitleidig den Kopf. 
„Glauben sie mir, sie waren alleine. Doch als ich Ihnen die zwei Kaffee und den doppelten Slibowitz servierte, ist mir aufgefallen, dass sie von einer gewissen Angelina redeten, die nicht da war. Außerdem haben sie den einen Kaffee und den Slibowitz nicht getrunken.“
„Wollen Sie etwa behaupten, dass ich mit einer imaginären Person gesprochen habe?“
„Mit einer was? Ich weiß nur, dass Sie alleine waren und ständig Selbstgespräche führten.“
Rainer starrte die Kellnerin betroffen an. Anfänglich hatte Rainer an ihren Aussagen gezweifelt. Doch je länger er nachdachte, umso mehr musste er sich eingestehen, dass die ziemlich nüchtern wirkende Frau weder wirres Zeug redete noch verrückt war.
Irgendetwas war hier absolut nicht in Ordnung. Ist er jetzt total verrückt geworden oder hatte ihm sein Schicksal wieder eine seiner seltsamen Possen gespielt? Angelina war doch real gewesen. Sie konnte doch unmöglich nur in seiner Traumwelt existieren?
Völlig durch den Wind eilte er in seine Wohnung hinauf. In wilder Panik riss er den Einbauschrank seines Vorzimmers auf, wo er den alten Mantel seiner Mutter für Angelina aufgewahrte. Rainer zog den Mantel vom Bügel, drückte den abgesteppten Stoff an seine Nase und atmete tief ein. Voller Erleichterung schloss Rainer seine Augen. Nein, er war nicht verrückt. Noch immer hing im Mantel Angelinas besonderer Duft. Noch einmal sog er ihren vertrauten Geruch tief in seine Nase, so als ob er sie damit heraufbeschwören könnte. Ein wenig ruhiger wollte Rainer den Mantel wieder zurück in den Kasten hängen, als plötzlich einer von Angelinas löchrigen Halbfingerhandschuhen aus einer der Manteltaschen fiel. Rainer hob den Handschuh auf und eine heftige Sehnsucht nach seiner Freundin ergriff ihn.
„Wo bist du nur, Angelina?“, flüsterte Rainer traurig und drückte den Handschuh in sein Gesicht.
Den ganzen Abend über dachte Rainer an nichts anderes als an Angelinas rätselhaftes Verschwinden. Niemand hatte sie gekannt oder wusste von ihr. Schon als er das erste Mal in den verschiedensten U-Bahn-Stationen auf der Suche nach ihr war, hatte niemand von ihr gewusst. Damals hätte ihm das schon zu denken geben müssen. Doch Angelina war in ihrer Argumentation so überzeugend gewesen, warum niemand sie kannte, dass Rainer ihr geglaubt hatte.
Doch Rainer hatte immerhin einen ihrer alten Handschuhe gefunden und auch der Mantel seiner verstorbenen Mutter trug immer noch ihren intensiven Duft, so als ob sie ihn erst gestern getragen hätte. Außerdem trug er ihren Talisman noch um seinen Hals. Untrügliche Zeichen, dass sie existieren musste.
Rainer ging zur Kommode, wo er die kleinen Gegenstände aufbewahrte, die mit seinen Träumen in Verbindung standen. Angelina hatte ihm zu Weihnachten die Pfeilspitze geschenkt, die er jetzt in seiner Hand hielt. Sie war auch dabei, als er die Zeichnung von Irenes Gesicht gefunden hatte. Er konnte es drehen und wenden wie er wollte. Er konnte sich keinen Reim daraus machen. 
Rainer kannte weder ihren vollständigen Namen noch wusste er, wo und wann sie geboren war. Sie hatte weder sein Handy angenommen, noch hatte er sie zu ihrem Schlafplatz begleiten dürfen. Obwohl Angelina alles von ihm gewusst hatte, hatte er doch keine Ahnung von ihr. Immer wieder war sie seinen Fragen geschickt ausgewichen und hatte geschickt von ihr selbst abgelenkt.
Die bittere Erkenntnis, dass er seine Freundin nicht mehr auf ihrer Parkbank antraf, schmerzte ihn sehr. Wen konnte er jetzt sein Herz ausschütten, wenn er Rat und Hilfe brauchte? Dieses kalte Gefühl des Verlassenseins machte ihm sein Herz schwer.
Wie gerne hätte er mit Isabell über Angelina gesprochen. Doch gerade damals war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, sie mit seinem ungewöhnlichen Problem zu konfrontieren. Isabell hatte durch den plötzlichen Tod von Max ohnehin eine Menge Probleme am Hals. Obwohl Rainer ihr geholfen hatte, wo es nur ging, rotierte sie in diesen Tagen und war nicht noch zusätzlich belastbar. Die Überstellung des Leichnams, die Vorbereitungen für die Trauerfeierlichkeiten, ihre verängstigte Tochter, die Schwangerschaft und vieles mehr hatten nicht unbedingt dazu beigetragen, dass sie sich mental im Gleichgewicht befand. So behielt Rainer sein Problem mit Angelina für sich. 

Isabell hatte es nicht ausgehalten, in dem alten Haus in Sievering zu bleiben, das sie unentwegt an Max erinnerte. Auch Lisi wollte nicht in ihrem alten Zuhause bleiben. Mutter und Tochter wollten erst einmal den nötigen Abstand gewinnen, um Max’ Tod langsam zu verkraften und wirklich zur Kenntnis zu nehmen. 
So waren die beiden nach ihrer Rückkehr in Rainers Wohnung gezogen. Isabell und Lisi suchten seinen seelischen Rückhalt und seine Stärke, obwohl Rainer durch Max’ tragischen Unfall selbst noch ziemlich mitgenommen war. 
Wenn Lisi eingeschlafen war, stahl sich Isabell aus dem Zimmer und schlüpfte zu Rainer ins Bett. Seine Nähe und Zärtlichkeit, aber auch die vielen Gespräche über Max ließen sie ruhiger und gefasster werden. 

Nach zwei Wochen des Wartens musste sich Rainer nun endgültig damit abfinden, dass er Angelina nie mehr wiedersehen würde. Jeden Tag ging er in den Ressel-Park, um zu sehen, ob sie vielleicht doch noch gekommen ist. Doch mit jedem Tag wurde das Fünkchen Hoffnung blasser, bis es schließlich völlig erloschen war. Die Wehmut, Angelina nie mehr wiederzusehen, ihre kalten Hände zu fühlen und ihren besonderen Duft zu riechen, aber auch ihre guten Ratschläge und den feinen Spott zu hören, hatte Rainer noch zusätzlich schwer getroffen.
Doch niemandem konnte er von seinem Schmerz um seine Freundin erzählen. Sicherlich hatte man ihn mitleidig belächelt und für äußerst exzentrisch, wenn nicht sogar für verrückt gehalten.
Es war eine helle Vollmondnacht, als Rainer und Isabell am späten Abend zu Bett gingen. Der Tag war äußerst anstrengend gewesen. Heute hatte das Begräbnis stattgefunden. Mit aller Heftigkeit wurden nun noch einmal die unterschiedlichsten Gefühle in Rainer wachgerufen. Doch nach Eifersucht, Zorn und Hass waren letztendlich nur unsägliches Bedauern und tiefe Traurigkeit übrig geblieben.
Isabell hatte noch einmal nach Lisi gesehen, ehe sie erschöpft in Rainers Bett gekrochen war. Keinem der beiden war nach diesem schweren Tag noch nach Reden zumute. Morgen, übermorgen oder aber auch erst in einigen Tagen würden sie mit der Aufarbeitung dieses schrecklichen Schicksalsschlages beginnen können. Wenn sich der erste Stress und Schock endlich gelegt hatten und wieder der normale Alltag eingetreten war, würde sich endlich diese innere Blockade lösen und sie konnten mit der wirklichen Trauerarbeit beginnen. Doch jetzt wollten sie nur noch schlafen und in diesem Schlaf seliges Vergessen finden. 
Doch dieses Vergessen war Rainer nicht beschieden. Es war lange her, dass er geträumt hatte. Dieses Gefühl der besonderen Anspannung war ihm aber noch zu vertraut. 

Zuerst wusste Rainer nicht, wo er sich befand. Es war stockdunkel und still wie in einem Grab. Nur der kühle Nachtwind der Wüste wehte ihm leicht ins Gesicht. Rainer fühlte nun wieder diese unendliche Ewigkeit, aber auch, wie Ruhe und Frieden in seine Seele flossen. Obwohl er fast nichts erkennen konnte, so spürte er doch, dass er wieder in der Nähe dieses flachen Hügels im Ras Mohammed Nationalpark war, auf dessen Hochplateau sich die alte Kultstätte befand. Mit angehaltenem Atem blieb Rainer in der Mitte des ansteigenden Hügels stehen. 
Plötzlich trat der Mond hinter einer Wolke hervor und tauchte diesen besonderen Ort in ein irisierendes, bläuliches Licht. Langsam löste sich aus dem nördlichen der vier Steine ein bläulich-weißer Schleier. Sachte wuchs dieses leicht im Nachtwind flatternde Gewebe in der Luft und schwebte über dem Stein. Nach und nach erkannte Rainer, dass sich in diesem durchsichtigen, spiralförmigen Schleier eine Gestalt abzuzeichnen begann.
Rainer traute seinen Augen nicht. Die Überraschung war so groß, dass er sogar zu atmen vergaß. Spontan wollte er den kleinen Hügel hinauflaufen. Doch er konnte sich nicht von der Stelle bewegen.
„Hallo Junge, wie schön, dass du gekommen bist“, rief ihm Angelina zu, deren milchig-weiße Augen direkt auf ihn gerichtet waren. In ihrer weichen, sanften Stimme schwang unendlich viel Liebe, Wärme und Sanftmut mit, als sie ihm zulächelte. Mit aller Kraft versuchte Rainer näher an sie heranzukommen, doch es gelang ihm nicht. „Angelina, meine Angelina, wo warst du nur so lange? Ich habe dich überall gesucht, doch ich konnte dich nirgendwo finden“, rief er ihr glücklich, aber zugleich doch ein wenig vorwurfsvoll zu.
„Junge, ich hab dir doch gesagt, dass ich immer da sein werde, wenn du mich brauchst.“
„Du warst aber nicht da, Angelina“, erwiderte Rainer beinahe trotzig wie ein kleiner Junge.
„Ich bin so oft auf deiner Parkbank gesessen und hab auf dich gewartet.“
Angelina schwebte noch ein wenig höher über dem Kreis. Der silberne Glanz des Mondes schien jetzt aus ihr zu strahlen. Wie immer trug sie ihren zerlumpten, alten Lodenmantel und ihre schon sehr mitgenommenen Herren-Moonboots. Rainer fiel aber sofort auf, dass sie nur einen Halbfingerhandschuh trug. Ihr weißes, strähniges Haar war auch dieses Mal nicht gekämmt und wehte lose im Nachtwind. Sogar ihr kleiner Hurensohn wurde durch ihr breites Lächeln sichtbar. 
„Ich weiß, mein Lieber, doch die Zeit unserer anregenden Gespräche ist nun leider vorbei.“ 
Die traurige Heiterkeit ihrer Stimme ließ Rainer eine unabwendbare Endgültigkeit fühlen. 
„Wieso vorbei? Es gibt noch so vieles, worüber ich mit dir sprechen möchte.“
„Rainer, es ist nun an der Zeit, dir zu sagen, dass mir eine ganz besondere Gunst gewährt wurde. Ich durfte dir in diesem Leben beistehen, um das zu vollenden, was dir in deinen bisherigen drei Leben nicht möglich gewesen war. Du warst immer schon dazu auserkoren, Gutes zu tun und Frieden zu bringen. Doch leider hast du immer ein viel zu rasches Ende gefunden und konntest deshalb deine Aufgabe nie erfüllen.“
„Angelina, das weiß ich doch schon längst. Sag mir jetzt endlich, wer du wirklich bist“, unterbrach Rainer sie ungeduldig. Er wollte nun endlich die Antwort auf diese so oft gestellte Frage erhalten.
Die alte Frau blickte ihn lange an. Von ihren Augen begann sich nun langsam der milchig-weiße Schleier zu lösen.
„Ich bin dein Schutzengel, deine gute Fee und dein Lichtstrahl in dunkler Nacht. Doch im Grunde genommen bin ich nur die Frau, die immer an deiner Seite war.“
Verwirrt versuchte Rainer, ihre Worte zu verstehen. Doch es fehlte ihm die Überleitung, um den Zusammenhang zu erkennen. 
„Angelina, hör bitte auf in Rätseln zu sprechen. Dieses Mal kommst du mir nicht aus. Gib mir endlich Antworten auf meine Fragen.“
„Ich bin weit mehr als 5000 Jahre alt und fast so alt wie du, Ruak.“
Angelina hatte begonnen, in einer Sprache zu sprechen, die er noch nie gehört hatte, aber die ihm doch seltsam vertraut war. Rainer verstand jedes ihrer Worte. 
„Ich habe dich immer geliebt, mein Liebster. Diese Liebe war so unermesslich stark, dass sie dich immer begleitet hat“, fuhr Angelina mit traurig leiser Stimme fort.
Plötzlich bildeten sich über den drei anderen Steinen ebenfalls Schleier. Wieder begannen sie spiralförmig zu schweben, bis sich auch aus diesen zarten Geweben Gestalten zu formen begannen. Rainer konnte es kaum fassen, was sich vor seinen Augen abspielte. Ungläubig blickte er in die grünen Augen von Elia, Isidora und Irene, die ihn stumm, doch unsäglich liebevoll anlächelten. Die drei Frauengestalten schwebten nun langsam zu Angelina in die Mitte des Kreises empor und verschmolzen mit ihr zu einer einzigen Person. Ihr dünnes, silbriges Haar wurde plötzlich wieder dicht und nahm diese besondere rötliche Farbe an, die Rainer so vertraut war. In weichen Wellen fiel es nun über ihre runden und straffen Schultern. Aus einem jungen Gesicht strahlten ihm plötzlich wundervolle, smaragdgrüne Augen entgegen, die ihn an Elia, Isidora und Irene erinnerte. 
Rainer lief es heiß und kalt über den Rücken. Vor ihm schwebte nicht mehr Angelina, sondern Isabell in ihrem weißen, langen Nachthemd, das sie erst heute angezogen hatte.
Rainer wollte atmen, doch er konnte nicht. Er wollte schreien, doch seine Stimme versagte. Fasziniert blickte er zu Isabell, die nun über der Mitte des Steinkreises schwebte und ihm ihr vertrautes Lächeln schenkte.
„Isabell?“, flüsterte Rainer zutiefst aufgewühlt.
„Ja, ich bin Isabell, aber ich bin auch Elia, Isidora und Irene, die in mir vereint sind. Das, was du hier von mir siehst, kommt aus meinem Unterbewusstsein und es ist niemals in mein Bewusstsein vorgedrungen.“
„Aber warum?“
„Liebster, du fragst nach dem Warum? Ich hätte es nicht mehr ausgehalten, wenn man dich noch einmal getötet hätte. Dreimal musste ich miterleben, dass man dich mir wegnahm. Die Trauer und der Schmerz um dich haben mich jedes Mal fast zugrunde gerichtet. Mein Leben war nach deinem Tod vorbei. Doch ich musste noch lange mit genau den Männern leben, die mir das Liebste auf der Welt genommen hatten, denn ich musste ja unsere Töchter großziehen. Ich konnte und ich wollte dieses unermessliche Leid nicht noch ein weiteres Mal ertragen. Ich wollte nicht immer wieder mit dir neu geboren werden und zusehen müssen, wie man uns erneut ins Unglück stürzt. Dieses Mal wurde mir die Gunst zuteil, dir behilflich sein zu dürfen, damit du eine Chance hattest, mit dem Leben davonzukommen. Ich habe die Geschicke ein wenig gelenkt und beeinflusst und dir in deinen Träumen deine früheren Leben geschickt, damit du erkennen konntest, wer du bist und welche Aufgabe du noch zu erfüllen hast. Ich bin so unsäglich glücklich, dass du dieses Mal dem Tod entronnen bist. Dieses Leben wird unser letztes, aber auch unser glücklichstes sein. Du hast gerade begonnen, die dir auferlegten Aufgaben zu erfüllen. Du als Schamane aus grauer Vorzeit erfüllst nun mit modernsten Mitteln die Aufgabe, zu der Ruak, Raoul und Ranolfo nicht mehr gekommen sind. Und wenn unsere Stunde geschlagen hat, werden wir gemeinsam zurück durch das Tor der Ewigkeit schreiten und dann vielleicht zusammen als kleiner, leuchtender Stern am weiten Firmament wieder geboren werden.“
Ein blauer Nebel begann nun Isabell einzuhüllen. Noch einmal schenkte sie ihm ihr wunderbares, erwartungsvolles und von tiefer Liebe erfülltes Lächeln, ehe sie sich vor ihm ins Nichts aufzulösen begann...

Mit einem plötzlichen Ruck wurde Rainer wach und blickte auf Isabell, die friedlich an ihn geschmiegt schlief. Vorsichtig hob er die Bettdecke und betrachtete im Schein des hellen Mondlichtes ihr Nachthemd. Erleichtert und nun völlig eins mit seiner Seele und seinem Herzen drückte er Isabell an sich und küsste zärtlich ihr Haar. Jetzt wusste er auch, dass ihm ihr besonderer Duft schon immer vertraut war. Fast ehrfürchtig griff seine Hand nun nach dem kleinen Glücksbringer, den er seit dem letzten Treffen mit Angelina um den Hals trug. Er wusste nun, dass dieser vermeintliche Feenstaub in dem kleinen Fläschchen nichts anderes als die Asche seiner geliebten Frauen war.

„Vati, komm runter und spiel mit uns blinde Kuh!“, rief Angelina aufgeregt. Die Kleine hatte ihren Vater am Fenster lehnen gesehen und winkte energisch mit ihren kleinen Händchen, während sie erwartungsvoll auf ihren Zehen wippte. Eine ihrer vielen roten Locken klebte an ihrer feuchten Stirn, während ihre wundervollen, grünen Augen leuchteten und ihr feuriges Temperament noch unterstrichen. Sie war ein richtig kleiner Wildfang, der in einigen Jahren sicherlich so manches Männerherz höher schlagen lassen wird. Doch davon war noch lange keine Rede. Jetzt gehörte sie noch uneingeschränkt ihm. Seine Tochter war das absolut Tollste und Beste, was er in seinem Leben zustande gebracht hatte. 
Rainer winkte lächelnd zurück. Die Fertigstellung des Vortrages konnte warten, doch seine Familie nicht. Er hatte viel, sehr viel gutzumachen. Seitdem Rainer wusste, wer Isabell war, fühlte er sich seiner Frau noch näher und verbundener. In tiefer Demut und Dankbarkeit lief er die Stufen seines schönen Hauses in den Park hinunter. Bisweilen ließ das Glück eben ein wenig länger auf sich warten, manchmal konnte dies schon über 5000 Jahre dauern. Doch dafür trug er die Überzeugung in seinem Herzen, dass dort unter seiner Linde die Frau saß, die ihn gestern, heute und bis ans Ende seiner Tage lieben und begleiten würde.

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Tag der Veröffentlichung: 20.11.2011

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